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Language:
Deutsch
Stats:
Published:
2021-12-29
Updated:
2022-12-30
Words:
50,535
Chapters:
12/22
Comments:
2
Kudos:
15
Bookmarks:
3
Hits:
2,255

The Daughter of...

Chapter Text

(Klopf, Klopf), hallte es im Gebäude wider. Wie die Hammerschläge eines Schmiedemeisters, so laut hörte man es im ganzen Haus.
»Wie entwürdigend!«, murmelte der hochgewachsene Mann vor sich hin, der er an der Tür des riesigen Tempels in New York klopfte und auf dessen Wächter wartete. Bemüht darum, so unauffällig wie möglich zu bleiben, trug dieser einen langen, dunklen Trenchcoat und seine Waffe, getarnt als passenden, noblen Gehstock und beobachtete seine Umgebung mit wachsamem Blick. Alles hatte Augen und alles hatte Ohren, so wusste er. Doch durfte niemand wissen, welches Motiv der Mann für sein Erscheinen wirklich hatte. Zu groß war das Risiko, dass er enttarnt und zur Rechenschaft gezogen werden würde und das musste er unter allen Umständen verhindern. Denn der Grund seines Besuches war nicht etwa eine simple Plauderei mit dem im Tempel lebenden Doktor. Vielmehr war der eigentliche Anlass, die wahre Geschichte hinter einer Cartoon-ähnlichen Interpretation der Herkules Sage, in welcher der namensgebende Held bei den Menschen aufwuchs, fernab seiner wirklichen Familie und unwissend über seine Macht. So hatte der Gott in unserer Erzählung seine neugeborene, außereheliche Tochter ebenfalls bei Fremden untergebracht, dort, wo sie seine eifersüchtige Ehegattin niemals finden würde. Bei den Sterblichen, welche ihr so fremd und gleich völlig verhasst waren. Der Name des Mädchens war Una. Die Erste, so man will, zumindest wenn man ihrer Geburtsurkunde Glauben schenkte. Wie in der Herkules-Novelle beschrieben, war auch die Heldin unserer Geschichte ratlos über ihre Herkunft oder ihrer wahren Abstammung. So wurde dieses Kind behütet von einem lebenden Ehepaar aufgezogen, lernte ihre Sitten und Gesetze und wuchs zu einer selbstbewussten, wunderschönen, jungen Frau heran. Doch wurde ihr schon früh bewusst, dass die Menschen um sie herum, völlig anders waren, als sie selbst. Sie erkannte, dass sie, nicht wie die anderen Mädchen sorglos, mit Puppen spielte oder über Träume von ihrem Märchenprinzen schwärmte, der mit ihr in den Sonnenuntergang ritt. Ganz im Gegenteil plauderte sie stattdessen lieber mit den Limnaden in Seen und Dryaden in den Bäumen, die direkt vor ihrem Haus lebten, über die Natur und ihre Geheimnisse. Sie tanzte im Regen, liebte das Toben der Gewitter und wünschte sich nichts sehnlicher, als über ihr kleines Dorf fliegen zu können. Und mit der Zeit akzeptierte sie, dass sie nicht Teil ihrer Welt sein konnte. Schon als kleines Mädchen, befasste sie sich also mit den alten Legenden und Mythen derer Wesen, die sie ihre Freunde nannte. Sie lernte ihre Sprache, studierte ihre Götter, Daimonen, Monster und die Lehren der Engel und allmählich wurde ihr bewusst, dass sie zu Ihnen gehören musste. Wie sonst, konnte sie viele der Dinge bereits instinktiv wissen, ohne sie je vorher vernommen zu haben? Oder wie konnte sie ihre Sprache bereits binnen weniger Stunden fließend lesen und sprechen?
Getrieben durch ihre Neugierde, ihrem Wissensdurst und dem Verlangen, noch mehr über sich und die Welten zu erfahren, führte ihr Weg sie dann an ihrem Geburtstag im Frühjahr zum Schutztempel New Yorks, dem Sanctum Sanctorum und somit direkt in die Hände des obersten Zauberers ihrer Dimension, vor dessen verschlossener Tür ihr Vater nun wartete.
Nur wenige Minuten waren vergangenen, in denen sich der Gott die Beine in den Bauch gestanden hatte, als ihm endlich die Tür geöffnet wurde und zwei kleine Kornnattern ihn aus ihren Reptilienaugen ansahen.
»Sieh nur, ein Reisender«, sagte die Eine und glitt zurück, um dem Mann Eintritt zu gewähren.
»Kein Reisender, ein Besucher, du Dummkopf!«, korrigierte die Zweite und folgte ihr zurück in den Schatten des Hauses. Gewillt ihr weiteres, sinnloses Geflüster zu ignorieren, betrachtete der Mann den großen, Licht durchfluteten Raum, der die Eingangshalle des Tempels bildete.
(Klack, Klack), echote das taktvolle Geräusch seines Gehstocks im Raum und brach die ohrenbetäubende Stille des ausklingenden Abends. Zumeist isoliert von der Außenwelt lebend, hatte der Gott nur eine vage Vermutung, wie sich die Sterblichen dieses Jahrhunderts in der Regel kleideten und traf mit seinem Verdacht gewiss nicht ins Schwarze. So glich sein Erscheinungsbild eher dem der Shelby-Brüder aus dem frühen zwanzigsten Jahrhundert. Er wirkte damit zwar einflussreich und unnahbar, doch versuchte er genau genommen unauffällig und unentdeckt zu bleiben. Allerdings fiel er damit in der großen, lauten und modernen Großstadt des gleichnamigen Bundesstaates New York doch eher so auf wie ein bunter Hund in einer stillen Kleinstadt.
Der Sorcerer Supreme, so wurde der Doktor genannt, beobachtete seinen mysteriösen Gast, den er bereits seit Wochen erwartet hatte unterdessen aus dem Dunkeln heraus. Dennoch oder gerade aus diesem Grund war sein Blick auf ihn von Missbilligung und Argwohn geprägt, wusste er noch immer nicht, was er nun zu erwarten hatte.
»Auch wenn ich schon seit längerem weiß, dass Ihr kommen würdet, bin ich doch neugierig, was für ein Wesen in der Lage ist, eine solch mächtige Aura wie Eure in einem menschlichen Körper beherbergen zu können«, sprach dieser nun seine Gedanken aus und trat in das Blickfeld seines Besuchers.
Der Gott feixte: »Gewiss unter vielen Namen bekannt, bin ich von unzähligen gefürchtet, von einigen verehrt und von ebenso vielen verhasst. Doch wissen sie alle um meinen Rang in dieser Welt Bescheid«, begann er, »Ich bin Vater der Pferde und Herr über die Tiefen. Ich bin der Mürrische und Launische. Doch für dich, Quacksalber, bin ich von nun an nur der Erschütterer!«
Mit diesem geschwollenen Monolog hatte er wohl offensichtlich Stranges Interesse geweckt.
»Was könnte der Gott des Meeres von mir wollen?«, fragte er. Poseidon schnaubte.
»Das weißt du doch gewiss schon, seit Du mein Erscheinen erwartest!«, spottete der Gott.
»Es geht um meine Tochter, die vor wenigen Monaten bei dir in die Lehre gegangen war.«,
»Meint Ihr die Tochter, die Ihr so feige weggabt, um Eure eigene, unsterbliche Haut zu retten?« Ein leises Beben bedeutete dem Meister, sein nächstes Vorhaben gründlich zu überdenken. Würde er nur noch eine falsche Bemerkung von sich geben, so würde New York vermutlich binnen weniger Sekunden in Schutt und Asche liegen. Bedrohlich langsam trat der Gott sogleich näher an den Doktor heran und flüsterte in einer solch tiefen Stimmlage, als würde nicht der Körper vor ihm, sondern das Beben selbst zu ihm sprechen: »Zügel deine Zunge und wähle deine nächsten Worte äußerst weise, Unwissender!« Der Zauberer schluckte. Er spürte wie seine Haut unter, der bloßen Anwesenheit des Gottes, anfing zu prickeln. Geleitet vom Schmerz und der Angst, sich jeden Moment in seine Einzelteile aufzulösen, zog Strange scharf unter einem Stöhnen die Luft ein.
»Wie habt Ihr …?«, fragte er aus zusammen gebissenen Zähnen. Augenblicklich versiegte das Prickeln und Poseidon entfernte sich erneut ein paar Schritte von dem Zauberer und sah ihn emotionslos an.
»Meine Tochter: du sollst sie den Bräuchen und Künsten der Dimensionen unterweisen und ihr zeigen, wer sie wirklich ist!« Der Meister sah ihn unter den noch immer wehrenden Ohrgeräuschen, die Poseidons energetische Folter verursachte, fragend an. Eigentlich war er in der Lage gewesen, die Gefühle seiner Gesprächspartner zu lesen, waren sie übernatürlich oder nicht, doch bei diesem Gott wollte ihm das nicht so recht gelingen.
»Wer ist sie denn?«, fragte er also skeptisch. Die Art, wie Poseidon die Aufforderung formulierte, versetzte Strange in eine vertraute Angst, die er verspürte, als Wong ihm erklärte, wofür die Meister eigentlich kämpften und unter welcher Last der Verantwortung sie die alten Relikte verwendeten. Die Augen des Gottes leuchteten in einem gefährlich, blauen Licht auf.
»Sie ist meine Tochter, mehr hat dich vorerst nicht anzugehen, Sterblicher!« Dass Strange gewiss nicht so sterblich war, wie der Gott vermutete, ließ er bewusst nicht zur Sprache kommen. Er hatte in den vergangenen Jahren, in denen er das Auge nun trug, gelernt, sein Ego zurückzunehmen und Herausforderungen demütig anzugehen. Wer weiß, welche Konsequenzen ihm wohl geblüht hätten, hätte er so manche Informationen über sich im Vorhinein preisgegeben.
Der Gott hielt einen Moment inne und trat noch einmal so nah an den Zauberer heran, dass dieser glaubte, den salzigen Geruch des Meeres zu riechen, als Poseidon so leise flüsterte, dass er auch der Wind hätte säuseln können: »Doch eines merke dir, Taugenichts: Sie ist dir in jeglichen Dingen um Welten überlegen.« Ohne dass der Doktor es wollte, verursachte diese Nachricht bei ihm eine unangenehme Gänsehaut. Poseidon wusste natürlich um die Versagensängste, der Schwäche des Meisters Bescheid. Eine Angst, die ihn so fest im Griff hatte, dass sie es für ihn unmöglich machte, ein Wesen zu akzeptieren, das ihm den Platz des obersten Zauberers streitig machen könne.
»Ich wusste von Anfang an, dass Una nicht reinblütig menschlich ist«, erklärte er nachdenklich, »Seit ich von Eurer Ankunft wusste, war mir auch klar, von welcher Abstammung sie sein muss, doch da ist noch mehr-«
»Mehr zu wissen, wäre für dein kleines, menschliches Gehirn gewiss zu schwer. Das, was ich sagte, reicht, fürs Erste!«
Plötzlich wurde es Strange schlecht. Doch nicht etwa, weil sein Gleichgewichtsorgan aufgrund des Bebens noch immer sehr mitgenommen war. Vielmehr war es der Gedanke, dass seine Schülerin, bei der er seit ihrer Ankunft glaubte, sie beschützen zu müssen, sich nun als halb Omniwesen herausstellte und ihm nun prophezeit wurde, dass sie ihn überwältigen könne.
»Wer ist ihre Mutter?«, platzte Strange mit der ersten sinnvoll formulierten, der vielen Fragen in seinem Kopf heraus und kassierte dafür sofort ein erzürntes Donnergrollen. Ihm war der Sturm, der seit des göttlichen Besuches außerhalb des Tempels wütete, bis zu diesem Zeitpunkt nicht einmal aufgefallen. Doch indessen ahnte er, dass das Thema der Mutter wohl keine reifen Früchte tragen würde und Poseidon eher gewillt war, das Thema zu wechseln. Doch erhoffte er sich eine halbwegs brauchbare Antwort.
»Doktor?«, rief, wie das Schicksal es so wollte, im selben Moment allerdings die engelsgleiche Stimme seiner Schülerin nach Strange und bescherte dem Gott die Chance, sich, verwandelt in eine frische Meeresbrise, aus der Affäre zu ziehen.
»Denk an meine Worte, Zauberer!«, vernahm Stephen noch schwach Poseidons ermahnende Worte, bevor sie nur wenige Sekunden später die Treppe hinunter ins Foyer rannte.
Besagte Frau platzte fast vor Aufregung, hatte sie doch soeben ein neues Kapitel ihrer derzeitigen Lektüre studiert und nun Fragen zu der dort drin beschriebenen Praktik, die ihr seltsam vertraut und gleichzeitig so unsagbar fremd erschien. Unten angekommen, merkte sie zunächst Stranges entgeistertes Erscheinen ihr gegenüber nicht, bis sie ihm, mit ihrer Frage bereits auf der Zungenspitze, interessiert gegenüberstand. Er schien am ganzen Leib zu zittern und auch Levi, sein Schwebemantel legte sich schützend um ihn, als hätte das Böse selbst den Raum eingenommen.
»Stimmt etwas nicht?«, fragte sie ihn also etwas besorgt und zugleich neugierig, was ihn wohl in solch eine Furcht versetzt hatte. Doch kaum hatte sie ihre Frage gestellt, schien dieser kurze, schwache Moment wie weggeblasen und ihr Lehrer stand bereits wieder erneut mit distanzierter und doch wohlwollender Arroganz vor ihr.
»Du störst mich bei meinem Studium«, murrte er und blickte leicht, wenn auch nur kurz lächelnd auf sie herab.
»Was gibt es so Dringendes, dass du wie ein lebendig gewordener Wirbelwind hier hereinplatzt?« Sie grinste über seine Bemerkung. Es stimmte wohl, dass sie diese Frage etwas in Ekstase versetzte.
»Seht Ihr, dieser Abwehrzauber«, begann sie, »er ist in meinem Gedächtnis allgegenwärtig, als würde ich ihn bereits kennen und doch … kommt er mir so fremd und neuartig vor, als wäre es nicht derselbe? Erinnere ich mich an einen Weiteren? Wie ist das möglich?« Stephen schauderte. Wieviel mochte diese so junge Frau vor ihm wohl wirklich wissen? War sie denn tatsächlich so jung?
Sein Schädel zerbarst beinah vor all diesen Fragen. Noch immer tropfte ihm der Angstschweiß von der Stirn, von der Botschaft Poseidons, doch er durfte sich nichts anmerken lassen. Sie durfte nicht wissen, was für Gefühle sie in ihm erweckte. Zu groß war das Risiko, seinen Platz als mächtigster Zauberer seiner Dimension zu verlieren und zu groß, die Gefahr, die von Una ausging. Seine erste Intension deshalb war es, das Thema zu wechseln, ehe sie noch weitere wohl möglich fatale Fragen hätte stellen können: »Logan hat heute Mittag hier angerufen.«, platzte er also mit der erstbesten Information heraus, die für sie hätte wichtig sein können. Völlig überrumpelt mit dieser Neuigkeit, legte sie entgeistert die Stirn in Falten.
»Ach so?«, murmelte sie und senkte leicht beschämt den Kopf.
»Er erkundigt sich seit Tagen nach dir«, antwortete er, »Er fragt immer wieder, wie es dir geht, doch er ist mit meinen Antworten nie zufrieden.« meinte er schulterzuckend.
»Er möchte dich demnächst persönlich sprechen.« Diese Nachricht musste sie erst einmal verarbeiten. Sie hatte Logan seit Jahren nicht mehr gesehen und, dass er sich nach all dem, was passiert war, ausgerechnet nach ihr erkundigen würde, geschweige denn, dass er sie erinnern würde, erschien ihr sehr absurd. Sie wusste zunächst nicht, wie sie sich fühlen sollte oder was sie im Allgemeinen mit dieser Botschaft nun machen sollte.
So setzte sie sich irgendwann gedankenverloren in ihr Zimmer, um zu zeichnen und merkte nicht die Stunden, die vergingen, in denen sie in ihrem Heft kritzelnd darüber nachgrübelte, wie dieses Treffen wohl ausgehen würde. Was war sein Motiv, sie wiedersehen zu wollen? Würde er sie denn wiedererkennen? Die Fragen waren unzählige. Fragen, die nur er ihr beantworten konnte.
Irgendwann jedoch muss sie dann allerdings eingeschlafen sein. Aber wie üblich, schlief sie auch in dieser Nacht, vielleicht sogar wegen der vielen Gedanken, nicht besonders gut. Eigentlich schlief sie nie besonders gut.
Immerzu quälten sie eigenartige, zuweilen verstörende Alpträume, von denen sie im Nachhinein nicht mehr eruieren konnte, ob sie vielleicht wirklich passiert waren oder welchen Ursprung sie hatten. Sie wusste, dass die Träume der Menschen aus Erinnerungen, Erlebnissen, Sehnsüchten und Ängsten bestehen konnten. Aber diese Träume waren anders. Sie erschienen ihr jedes Mal so real, als wäre sie wirklich dabei gewesen, doch sie erinnerte dann nicht, diese Sachen je erlebt oder je im Entferntesten an sie gedacht zu haben.
»Ist sie das, hoher Herr?«, vernahm sie in dieser Nacht eine ihr unbekannte Stimme. Einige Meter vor ihr saß ein schwarzhaariger, bärtiger Mann, der betrübt auf eine Art Mosaikboden blickte und seufzte. Er antwortete nicht auf die zuvor gestellte Frage, stattdessen schien es so, als würde er allein beim Anblick des dort abgebildeten Frauengesichts um Jahrhunderte altern. Doch zierte gleichzeitig auch ein stolzes Lächeln sein Gesicht, als er langsam nickte.
»Ja Delphin und wie wunderschön sie ist, nicht wahr? Sie scheint so willensstark wie ihre Mutter und gleich so stur wie ich.« Una entdeckte nun denjenigen, der Delphin genannt wurde und erkannte, dass es sich dabei wirklich um das Tier handelte. Der Delphin schien die Emotionen des Mannes zu spüren, als er langsam neben ihm herschwamm. Erst jetzt bemerkte sie auch, dass sie sich unter Wasser und bemerkte sofort wie ihre Atmung schwerer wurde. Sie spürte die Kälte der Umgebung und den Druck, der auf ihr lastete. Ihr Instinkt rief in ihr den Drang zur Flucht hervor, doch wohin? Sie studierte den Palast, in dem sie sich befand, seine Gänge und Zimmer, doch ihr kam an diesem Ort nichts bekannt vor.
»Zehn, Neun,…«, begann sie die Entspannungsübung, welche ihr einst ihr Therapeut gegen ihre Angststörung empfohlen hatte. Doch aus irgendeinem Grund funktionierte diese in einem so real wirkenden Traum nicht.
»Sie ist hier!«, sagte der Mann nun, der ihr wimmern anscheinend gehört hatte und sogleich aufstand, als er sie direkt ansah.
»Leia…« Aber ehe der Mann sie hätte erreichen können, verblasste sein Bild. Nur die Stimme einer Frau und das Gefühl des Zorns waren verblieben, als Una zitternd in ihrem Bett hochschreckte.
Selbstredend war sie am nächsten Morgen deshalb nicht sonderlich fit oder gar motiviert, ihre neu begonnene Lektion weiterzustudieren. Entschlossen ging sie also zunächst einmal raus und suchte einen der kleinen Höfe des Kamar-Tajs auf. Sie genoss die sich soeben offenbarenden Sonnenstrahlen, vermischt mit der noch morgendlichen Frische, welche die Haut auf ihrem Gesicht kitzelte und schloss gelassen für einen Moment die Augen. Nach ein paar Minuten ruhigem Erwachens, entschloss sie sich dazu ein paar der Tai-Chi Übungen zu perfektionieren, die Wong ihr gezeigt hatte. Das hatte ihr der Meister empfohlen, nachdem sie ihre erste Lektion in seinen Augen wohl in einem geringen Maße zu energisch angegangen hatte.
»Tai-Chi wird dir helfen, deine Mitte zu finden, erst dann kannst du beginnen, die Dinge ruhiger und konzentrierter anzugehen.«
Toller Tipp von jemandem, der innerhalb weniger Monate lernte selbstständig eigene Zauber zu wirken, bereits kurze Zeit später zum Meister des dritten Tempels ernannt wurde und eigenhändig Dormammu besiegte. Mehr oder weniger. Aber natürlich widerspricht man seinem Meister und Lehrer nicht und so begann sie, sich langsam mit den Tai-Chi Praktiken zu beschäftigen. Anfangs fiel es ihr noch schwer, die anstrengenden Positionen lange und akkurat zu halten. Doch wurde es mit der Zeit einfacher, sie fühlte sich leichter und sorgloser, je länger sie die Übungen machte. Es war fast so, als würde sie die Winde und ihre Lieder stärker wahrnehmen, fast schon ihr Summen spüren und verstehen, was sie sagten. Ihre Bewegungen verschmolzen mit jeder Sekunde mehr und mehr mit den Tänzen der Lüfte, beinahe, als wäre sie eins mit ihnen und ihr Herzschlag bilde den langsamen Takt zu ihrer Musik.
»Nun sieh sich das einer an …«, murmelte Stephen zu sich selbst, als er sie aus dem Inneren des Kamar-Tajs heraus beobachtete. Er möge es sich nicht eingestehen, doch er hatte ohne Zweifel Angst vor dieser Frau. Er hatte Glück, dass sie gestern nach dem Gespräch über den Mutanten Logan, den restlichen Abend in ihrem Zimmer verbrachte. Aber da er sie jetzt so sah, mit ihrem sorglosen Lächeln, unwissend über ihre Macht und doch bereits in der Lage sich selbst zu dematerialisieren, als wäre es ein Kinderspiel, löste in ihm einen solch starken Ekel aus, dass er die Gänsehaut an seinem Rückgrat emporsteigen spürte. Er wollte sie loswerden, das war klar. Seit dem Besuch ihres aufgeblasenen Vaters ging dem Meister dieser Gedanke nicht mehr aus dem Kopf. Immerzu, auch wenn er es zu verhindern versuchte, wanderten seine Fantasien hin zu Szenarien, deren Vorstellung er noch vor einigen Jahren nicht einmal für möglich gehalten hätte. Aus dem Beschützerinstinkt eines Lehrers wurde unüberwindbarer Hass. Oder war es doch die Angst eines gebrochenen Mannes? So genau wusste auch der voraussehende Doktor Strange keine plausible Antwort auf dieses Dilemma. Er wusste nur, seine Missgunst war groß. Doch wie sollte er sie mit diesen Gefühlen unterrichten? (Gar nicht natürlich!), sagte ihm ein kleines Flüstern in seinem Kopf. Er blickte auf die nun nach Aufmerksamkeit lechzenden Visagen der Winde und diese taten ihr Übriges. Er spürte nicht einmal, wie sich seine Finger in seine Faust bohrten und dort blutige Wunden hinterließen, als er einen Schritt auf sie zu machte. Doch wie sie sich im selben Moment umdrehte, um zu sehen, wer sie dort beobachtete, war im Fenster niemand zu sehen. Sie hatte ihre Einheit bereits beendet, als sie die Blätter der Bäume erblickte, die um sie herum verteilt auf dem Boden lagen.
Zurück im Sanctum angekommen, zwang sie sich dann doch, endlich das nächste Kapitel ihres Studiums weiterzulesen. Die Lehre der Abwehr, Schilde und Verteidigung. Sie setzte sich in einen der Sessel am Kamin und genoss die Wärme des darin lodernden Feuers, die den frühjährlich, kühlen Raum des Tempels erfüllte. Auch wenn sie zunächst nicht verstand, wie man irgendwelche Schilde oder peitschenartige Seile aus dem Nichts entstehen lassen konnte, fesselte sie das Buch mit jeder Seite mehr, die sie las. Nach all der Zeit ist schwer zu sagen, wie lange sie bereits dort gewesen sein musste, geschweige denn wie lange Strange ihr gegenüber gesessen hatte, bevor sie ihn bewusst wahrnahm.
»Bei den Göttern, Doktor! Haben Sie mich erschreckt«, keuchte sie auf, »Wie lange sitzen Sie denn schon hier?« Er schien ihre Frage allerdings überhört oder zumindest ignoriert zu haben, so genau hatte sich das nie aufgeklärt. Jedoch erinnerte sie noch genau den wütenden, beinahe schon rasenden Blick, als er von seinem Buch aufblickte und die Frau direkt ansah.
»Schlechtes Gewissen, Una?« Eine Anmerkung, die sie damals nicht verstanden hatte. Selbst wenn sie allerdings zu einer Antwort hätte ansetzen wollen, wäre ihr keine Kluge eingefallen. Doch das hatte er wohl auch nie erwartet. Denn seine Körpersprache und sein im Buch versunkener, lesender Blick, verrieten ihr, dass er bereits wieder mit seinem Studium fortfuhr. Offenkundig hätte sie es ihm gleich tun sollen, doch ihre Gedanken wanderten unterdessen erneut zu ihrem alten Tutor Logan. In Momenten wie diesen, schien sie ihn tatsächlich doch ein wenig zu vermissen und fragte sich, wie es wohl gewesen wäre, wenn er damals nicht verschwunden wäre. Es hätte vielleicht so vieles leichter gemacht. Womöglich würden dann sogar einige von ihnen heute noch leben. Sie erinnert nicht genau, wie lange die Ereignisse des Blips her waren, alles verschwimmt mit der Zeit ineinander, doch die ersten Tage und Wochen, hängen ihrem Gedächtnis auch nach all diesen Jahren noch immer nach. Ihr fiel ein, wie viele Menschen umgezogen waren, auf der Suche nach ihren Verwandten oder Freunden und wie diese dann trauerten, weil ihre Geliebten Opfer der Auslese waren. Man kann nur grob schätzen, wie viele sich in den Selbstmord getrieben sahen, weil ihnen die Lage so unsagbar aussichtslos erschien und sie lieber ein Leben im Jenseits führten, als auf dieser trostlosen Welt, die ihre Helden verlor. Auch wenn sie das niemals zugeben würde, fühlte auch sie es Ihnen damals nach. Sie weiß noch, wie sie sich gefühlt hatte, als sie hautnah mitbekam, wie ihr Studienpate Logan, Geschichtslehrer an der Uni, an der sie studierte, auch vom Blip betroffen war und wie einige andere einfach so zu Staub zerfiel. Es schien, als wäre die Welt zusammengebrochen und hätte ihre leuchtenden Farben verloren. Die wenigen, verbliebenen ihrer Mitschüler hatten enorme Schwierigkeiten das Studium oder geschweige denn ihre Leben aufrechtzuerhalten, sodass nur wenige ihren Abschluss machten. Doch wurde es mit der Zeit leichter. Man fing an, das Beste daraus zu machen, den Alltag zu genießen, denn wir lebten noch. Der Schmerz des Verlustes wurde dumpf, man gewöhnte sich daran. Man ging ein oder zweimal zu den Selbsthilfegruppen, die Captain America veranstaltete. Lernte neue Gesichter und Schicksale kennen. Allerdings kann sie sich bis heute nur schwer ausmalen, wie es für den Meister gewesen sein musste, indes er als einer der anderen Hälfte des Universums fünf Jahre später wieder auferstanden war. Sie kannte ihn nicht, wie er vor diesen Ereignissen des Krieges gewesen sein musste, doch merkte sie wohl, dass er sich seit ihrer gestrigen Frage über diesen einen Abwehrzauber komisch verhielt. Er hatte ihre Anwesenheit ignoriert, bis sie es nicht mehr aushielt und auf ihr Zimmer ging. So wie auch jetzt, da sie schon seit einigen Stunden einander gegenüber am Kamin saßen und schweigend in ihren Lektüren lasen, schien ihn ihre bloße Existenz zu beunruhigen. Jedes Mal, wenn sie ihre Aufmerksamkeit auf ihn lenkte, sank er buchstäblich tiefer in seinen Platz und wich ihren Blicken weiterhin aus. Er wirkte dann weit entfernt, als würde er die Angst daran hindern wollen, wieder Besitz von ihm zu ergreifen.
»Wie erging es Ihnen gestern noch?«, fragte sie ihn räuspernd, um diese quälende Stille endlich zu brechen und klappte dabei demonstrativ ihr Buch zusammen.
»Ich habe Sie kaum sprechen können und hatte schon vermutet, Sie würden mir aus dem Weg gehen.« Jetzt musste er doch antworten. Noch offensichtlicher konnte sie ihre Sorgen nun wirklich nicht zum Ausdruck bringen. Stephen rutschte nervös auf seinem Sessel herum und klappte sein Buch inzwischen ebenfalls zu.
»Mir, ähm, nein, es ist alles in Ordnung«, stammelte er eine halbwegs verständliche Antwort und lächelte sie danach leicht gezwungen an. Stephen war sich unterdessen noch immer nicht im Klaren, wie er nun mit ihr umspringen sollte. War sie weg, so spürte er den Hass in seinem Magen brodeln und wollte sie am liebsten sofort zur Strecke bringen. Aber wenn sie ihren Blick auf ihn richtete, mit diesen Augen so blau wie die Karibik, ihrem Duft nach frischer Meeresluft und ihrem so engelsgleichen Lächeln, nervte sie ihn umso mehr und schürte sogleich die Angst nicht von Bedeutung zu sein. Ihre bloße Anwesenheit erweckte in ihm das Gefühl nur ein kleines weiteres sinnloses Sandkorn in einem unendlichen und gleichgültigen Universum zu sein, an das sich womöglich Morgen bereits niemand mehr erinnern würde. Die ganze Situation alarmierte ihn jedoch schon beinahe eine gefühlte Ewigkeit, dabei war nicht mal ein vollständiger Tag vergangen. Ihre Neugierde allerdings machte ihm die Sache auch nicht wirklich leichter.
»… Sie soll besser sein, als wir alle! Und uns anleiten, in den Kriegen, die noch kommen mögen!« Hallten die letzten Worte ihres Vaters fern in seinem Kopf wider, bevor dieser Stephen mit ihr zusammen allein im Tempel zurückgelassen hatte. Doch wie sollte er ein Wesen unterrichten und zu einer Zauberin machen, welches er selbst nicht einmal verstand?
»Stephen!«, holte ihn die rufende Stimme seiner Schülerin wieder zurück in die Gegenwart.
»Oh nein…«, bemerkte er den riesigen Fleck Tee auf seiner Hose und die noch immer schräg in seiner Hand hängende Tasse.
»Wenn Ihnen der Tee nicht schmeckt, können Sie das auch sagen und müssen ihn nicht gleich auf Ihrer Kleidung entleeren.« Sie reichte ihm ein paar Servietten, damit er das Gröbste des Ausmaßes bereits beseitigen konnte und schmunzelte leicht amüsiert. Seine unbeholfene Tollpatschigkeit ließ ihn trotz seiner Distanz und Strenge doch ein wenig menschlicher erscheinen. Sie nahm ihm das Buch ab und untersuchte es auf möglicherweise zu trocknende Stellen, doch glücklicherweise blieb dieses verschont.
»Deine nächste Lektion wird die Praxis der Selbstverteidigung sein«, erklärte er, während er sein Gewand reinigte und sie danach mit einem erwartungsvollen Ausdruck auf seinem Gesicht ansah. Sie richtete ihre Aufmerksamkeit irritiert auf seine Hände. Sie fingen wieder an, zu zittern.
»Aber Ihr habt mir doch aufgetragen, vorerst nur theoretisches Wissen zu erlernen. Ich weiß nicht, ob-« Doch erneut würdigte er sie keines einzigen Blickes. Stattdessen sah er gedankenverloren die im Kamin vor sich hin zuckenden Flammen an, als er den Rest des Tees aus seiner Tasse austrank.
»Ich weiß«, meinte er nur schulterzuckend.
»Schön, dass Sie das wissen!« Sie war genervt. Was auch immer in ihm vorging, welchen Grund er auch hatte, sie so respektlos zu behandeln, sie würde es nicht zulassen, dass ihre Ausbildung darunter leidet. Strange wusste nicht, wie er darauf antworten sollte, er war es nicht gewohnt, dass ihm jemand widersprach. Möglicherweise gefiel es ihm sogar, doch das würde er sich natürlich nie eingestehen.
»Na schön, beende erst das theoretische Kapitel, du bist ohnehin gerade bei der Verteidigung, richtig?«
»Ja, aber-«,
»Gut«, sagte er, »Danach zeige ich dir, wie man diese in die Praxis umsetzt!«, beendete er seinen Kompromiss und sah sie dann mit einem Blick an, der nur einen kurzen, erschreckenden Einblick über die nächsten Tage gewähren ließ.

Chapter Text

Antilope und Löwe. Ein ewiges und komplexes Jagdspiel, bei dem es schlichtweg um das pure Überleben geht. Dabei ist die Frage, wer aus gutem Gewissen und wer aus bösen Absichten handelt, vollkommen fehl am Platz. Denn es geht schlichtweg nur um die Instinkte des Wesens, fressen oder gefressen werden. So ähnlich musste auch Una sich gefühlt haben, bei den mit der Zeit offensichtlicher werdenden Versuchen seitens ihres Mentors, sie loszuwerden. Jüngst mit von ihm eigens unterrichteten Kampflektionen. Der Instinkt, der dabei die größte Rolle spielte, war der Überlebensinstinkt. Sie hatte zuvor noch allerlei Gerüchte gehört über das Talent des Zauberers in den verschiedensten Kampfkünsten wie Taekwondo, Martial Arts oder Muay Thai. Dazu sollte er ebenfalls ein hervorragender Schwert- und Axtkämpfer gewesen sein. Natürlich solle man nicht jedem Gerücht Glauben schenken und sich immer erst ein eigenes Bild von den Umständen machen. Doch gesellte sich zu ihrem Drang zu überleben in kurzer Zeit, ganz schnell der Fluchtinstinkt. So hatte sie aus Besorgnis noch versucht, ihn umzustimmen, nach seinem plötzlichen Sinneswandel, sie in einige seiner Techniken einzuweihen und es vorerst allenfalls erstmal bei den theoretischen Lehrstunden zu belassen. Doch bei Zeus Herrscherblitz, er ließ sich nicht beirren. Es erhärtete sich fast der Eindruck, als würde man gegen eine leicht nervös wirkende, frustriert vor sich hin stammelnde Wand reden.
Seit dem war es ein nervenaufreibender, immerwährender Kreislauf der Ereignisse, bei dem sie um 5:00Uhr Morgens, einer durchaus gottlosen Tageszeit, auf dem größten Hof des Kamar-Tajs stand und zitternd auf den Meister wartete. Durchaus mag es der Fall sein, dass in Kathmandu das ganze Jahr über angenehme Temperaturen herrschten und man auch zu dieser Jahreszeit leicht bekleidet durch die Stadt schlendern konnte. Doch nachts wie auch morgens, wenn die Sonne noch nicht scheint und die Erde sich über Nacht abgekühlt hatte, sinken die Grade gerne bis unter die zweistellige Grenze. Dann ist es gewiss nicht sehr klug, übersät mit Hämatomen, die aussahen, als hätten wild gewordene Kinder mit bunten Farben ihrer Fantasie freien Lauf gelassen, einem Sport-BH und einer ergonomischen Leggings, draußen auf seinen Lehrer zu warten. Allerdings interessierte ihn das ganz und gar nicht. Auch nicht, die sich in jeder Unterrichtseinheit wiederholenden, flehenden Versuche, ihn davon abzuhalten, noch einmal auf ihre ohnehin bereits geprellten Rippen einzuschlagen. Oder ihr erneut mit einem der Messer in das rohe Fleisch ihrer Wange zu schneiden, tief genug, dass es blutete. Er wollte sie leiden sehen, davon war sie bereits nach den ersten Minuten überzeugt. Die Gier oder eher die Angst, ihr zu unterliegen, trieb ihn an, immer weiterzumachen. »Steh auf!«, knurrte er sie jedes Mal an, nur um erneut einen Treffer setzen zu können, egal wie wackelig sie bereits auf den Beinen war. Einmal, nachdem er sie mit einem Tritt direkt auf ihren Os Femoris, ihrem Oberschenkelknochen, vor Schmerz wimmernd in die Knie zwang, versuchte sie erneut um seine Gnade zu bitten. »Bitte, Sir …«, doch der Meister brummte nur und rieb sich seine Hände an einem Handtuch ab, welches die Spuren der letzten Kämpfe in frischen und teils bereits oxidierten Tupfen ihres Blutes wiedergab. »Denkst du, deine Feinde werden gnädig sein und aufhören, wenn du am Boden liegst?«, redete er seine harten Schläge, womöglich vor allem sich selbst schön. Immerhin war er sich zu mehr als 90 % sicher, dass Una sich mit ihren Kräften, wie auch immer die aussehenmochten, durchaus hätte verteidigen können. »Nein, werden sie nicht«, beantwortete er sich selbst seine rhetorische Frage und reichte ihr diplomatisch seine Hand. Als sie diese allerdings zu fassen bekam, zögerte sie zunächst, sich an ihr wieder auf ihre Füße zu ziehen. Nicht nur ihr Körper, sondern eben auch ihr Vertrauen zu ihm litten die letzten Wochen unter seinen Methoden. Aber es ist egal, wie sehr er sie auch zerschunden haben mag, Tränen hat sie nie auch nur eine einzige vergossen. Nun bleibt zu erwähnen, dass sie keinesfalls schwach oder gar nur untrainiert war. Ganz im Gegenteil war die Halbgöttin sogar recht muskulös. So hatte sie an ihrer Uni sogar einige Kampfkurse gehalten und das ein oder andere Mal mit Logan geboxt. Einmal hatte sie den Mutanten Beast in einem Mann gegen Frau Kampf auch auf die Matte geschickt. Allerdings war ihr vielleicht laienhaftes Training in keiner Relation zu Stephens Fähigkeiten, die er ihr buchstäblich an jedem Trainingstag unter die Nase rieb. Es schien fast so, als wäre sie noch nicht einmal in der Lage ihm auch nur eine Schramme zu verpassen. »Konzentriere dich!«, trichterte er ihr ein, als sie einmal benommen von den Schlägen vor ihm stand und nur noch ein kleiner Teil ihres Gehirns in der Lage war, sie vor einer Ohnmacht zu bewahren. Dabei umkreiste er sie wie ein Künstler sein Werk und musterte sie langsam, von oben bis unten. »Achte auf meine Bewegungen und komm ihnen zuvor!« Sie tat wie ihr geheißen und versuchte ihre Aufmerksamkeit auf den Klang seiner Schritte zu fokussieren. Sie lauschte seiner Atmung, seiner sich bewegenden Hände, dem Klopfen seines Herzens. Und dann, nachdem sie wieder ihre Kampfposition eingenommen und ihre Fäuste schützend vor ihrem Gesicht erhoben hatte, setzte er auch schon zu einem weiteren Schlag an. Diesmal allerdings, mehr dank des Glückes, als ihres eigenen Verstandes, blockte sie ab. Sie konnte seine Reaktion nicht sehen, aber sie konnte sich den verdutzten Gesichtsausdruck des Meisters sehr gut vorstellen. Neuen Mut gefasst, traute sie sich dann auch noch zum entscheidenden Schlag anzusetzen. Die Frau drehte sich aus seinem Sichtfeld, kugelte ihm damit beinahe die Schulter aus, versetzte ihm Schwung und trieb ihm mit seinem eigenen Körpergewicht in einem Salto vorwärts zu Boden. Wütend und womöglich auch ein kleines bisschen beeindruckt, fluchte er auf. »Na warte-!«, »Schluss damit!« Nur die Götter mögen wissen, was vielleicht passiert wäre, hätte Wong Strange in diesem Moment nicht mit seiner Aufforderung gestoppt. »Das reicht für heute. Una, komm mit, ich reinige deine Wunden« Aufs Wort folgte sie dem Bibliothekar des Kamar-Tajs in das Innere des Gebäudes.
So war es schlussendlich immer Wong, der sie in jeder Unterrichtseinheit vor einer Erschöpfungsohnmacht errettete und darauffolgend behandelte. Welch eine Ironie, dass der eigentliche Arzt des Hauses sie erst in diese Zustände versetzte. So war es die letzten Wochen und genauso lief es auch an diesem Tag ab. Auch wenn sie dazu lernte und derweilen immer öfter Treffer setzte, mit den Schwertern parierte und manchmal sogar, mit viel Glück, Strange zu Boden schickte, wurden ihre Wunden nicht weniger. Sie wunderte sich, wie sie diese Tortur jeden zweiten Tag der Woche ertragen konnte, geschweige denn, wie ihre Wunden, meist ohne Narben zu hinterlassen, so schnell heilen konnten. Sie redete sich ein, dass das meditieren ihr dabei half, da es ihre Seele beruhigte, ihren Kopf leerte und darauf, so sagt man, folgt zumeist eben auch der Körper. Allerdings entging ihr dabei ein kleines, wenn nicht doch sehr entscheidendes Detail bei den Wundbehandlungen. Denn Wong rieb ihre Wunden jedes Mal mit Nektar ein und mischte ein wenig davon in ihr Glas Wasser, welches sie sich jede Nacht zu Bett auf ihren Nachttisch stellte. Woher er diesen hatte? Nun, selbst wenn Strange den Drang verspürte, sie für Dinge bestrafen zu müssen, die Styx weiß, wann auch immer sie die getan hat oder noch tun mag, sorgte sich ein nicht unwichtiger Teil in ihm immer noch um sie. Auch wenn der Drang immer stärker zu werden schien, mit jedem Tag, der vorüberzieht. So forderte er von ihrem Vater, dem Meeresgott selbst, einen kleinen, nicht unerheblichen Vorrat des Göttertranks, der für Halbgötter als Medizin genutzt wird. Das alles aber natürlich, ohne dass sie es mitbekam.
»Du musst aufhören, sie so zuzurichten bei den Trainingsstunden«, forderte Wong eines Abends, an dem die Beiden zusammen in der Bibliothek die Bücher sortierten. »Sie ist stark«, meinte Strange darauf nur schulterzuckend. »Sie hält das aus« »Nicht mehr lange, wenn wir demnächst keine Medizin mehr für sie haben!« Man konnte Wong seinen Zorn anhören. Wer konnte ihm den auch verdenken, natürlich ärgerte es ihn sichtlich, dass Strange, der das Kamar-Taj einst als gebrochener Mann und selbst anfangs sehr schwach aufsuchte, bei ihrer Ausbildung all seine Prinzipien augenscheinlich über Bord warf. »Dir geht es doch schon längst nicht mehr allein um ihre Ausbildung!«, drängte Wong ihn in die Bredouille, wohl in der Hoffnung, dass der eigentlich logisch und moralisch denkende Teil des Arztes noch bei Sinnen war. »Du hast sie in der letzten Einheit beinahe getötet, wäre ich nicht dazwischen gegangen, Stephen!«, schrie er inzwischen. »Sei nicht so laut, oder willst du die anderen Meister noch wecken?«, flüsterte Strange und ließ sich von Levi, seinem Schwebemantel wieder auf dem Boden absetzen. Wong schüttelte nur den Kopf, als er wieder anfing, die Bücher einzusortieren. »Was auch immer in dich gefahren ist … krieg das wieder in Ordnung!… Das Sanctum Sanctorum war vor ihrem Einzug schon seit Jahren nicht mehr so belebt, … es wäre schade sie deinetwegen zu verlieren« »Höre ich da sowas wie Gefühle Wong?«, stichelte Strange und sah ihn mit hochgezogener Augenbraue an. »Ich sage nur, dass ihre Energie sie zu einer guten Zauberin werden lassen könnte« Stephen überhörte die starke Betonung des Wortes »gut« und verließ die Bibliothek. Offenkundig wusste Stephen ganz genau, was Wong mit seiner Forderung meinte, doch ehrlicherweise war er sich selbst nicht sicher, was da genau in ihn gefahren war. Er sagte sich nach dem letzten Vorfall immer wieder, dass er sie niemals getötet hätte. Aber mittlerweile, wusste er das nicht mehr. Hätte er vielleicht doch?
Derweilen vollkommen ahnungslos über Stranges Dilemma oder Wongs Wut, machte sich Una unterdessen für ein Treffen mit Yelena zurecht. Sie hatte sich am Abend zuvor einen sandfarbenen Rock, einen weißen Pullunder und ihren Schmuck zurechtgelegt. Die Frau lächelte leicht, als sie über das Outfit einen schwarz silbernen Harness legte, der seit ihrem ersten Treffen mit der Black Widow vor wenigen Monaten wohl zu ihrem Markenzeichen geworden sein musste.
Als sie kurze Zeit später bei Yelena im Hotel angekommen war, war der Stress der letzten Tage beinahe restlos aus ihren Muskeln verschwunden. Die Russin schaffte es auf wundersame Weise, die Sorgen der Frau nur allein mit ihrer Anwesenheit nicht mehr so wichtig erscheinen zu lassen. In diesen kurzen Momenten, zählten nur sie, der Alkohol und die unzähligen Geschichten ihrer Kindheit, die unterschiedlicher nicht sein konnten. Es gab nur noch eine weitere Person, seit dem Tod ihrer Eltern, die diese Art der Sicherheit in der Frau auslöste. »Du siehst scheiße aus, Una Rea«, lachte Yelena in ihrem wunderschönen, unverkennbaren russischen Akzent, nachdem sie sich mit einem Bier ihr gegenüber auf das Bett setzte und Una ihr Glas süßen Weißwein überreichte. Nicht das billige Zeug aus den Supermärkten, bei dem die Jugendlichen, die sagen, dieser würde schmecken, sofort dachten, sie seien nun echte Wein-Kenner. Die Frau lächelte dankend und genoss den ersten Schluck des noch leicht prickelnden Weines, der langsam ihre Kehle hinunterfloss. Federweißer, einer ihrer Lieblingsweine, da man nie weiß, ob das zweite Glas noch genauso schmeckt, wie das Erste. Yelena hingegen war, was das Thema Alkohol angeht, eher etwas rustikaler gesinnt. Bier oder Schnaps, Hauptsache es war herb und hatte viele Prozente. »Sag schon, was ist passiert? Du siehst aus, als wärst du in eine Autopresse geraten«, hakte sie nach, als sie auf ein paar der neuen blauen Flecken deutete und verzog angewidert das Gesicht. »Glaub mir, so fühle ich mich auch…«, gab sie zu und schüttelte ungläubig den Kopf. »mein Lehrer macht mich in den Trainingseinheiten ganz schön fertig« Yelena nickte zustimmend. Sie wusste über solche Methoden Bescheid. Im roten Raum hatte sie ähnliches, wenn nicht sogar weitaus schlimmeres erlebt, damals zusammen mit ihrer Schwester Natasha, die allerdings irgendwann fliehen konnte und zu einem Avenger wurde. »Ich weiß gar nicht, wie mein Körper es schafft, trotz seiner kontinuierlichen Torturen, weiterzumachen. Meine Wunden können kaum so schnell heilen, wie er wieder auf mich einschlägt«, »Meditierst du noch?« Una nickte. »Jeden Tag. Sogar mehrmals, aber-« das Klingeln ihres Handys unterbrach sie. »Logan. Logan…«, kündigte es wiederholend den Anrufer an. Una drückte ihn weg. Sie hatte seine Nummer erhalten, kurz nachdem sie einem Treffen mit ihm via E-Mail zugestimmt hatte. Eigentlich war sie sich nicht sicher, ob sie ihm wirklich hätte einwilligen sollen, so auch nicht, als es bereits zu spät war. Seit dem drückte sie jeden seiner Anrufe weg, in der Hoffnung, er würde irgendwann vielleicht aufgeben und ihr somit das immer näher kommende Gespräch mit ihm ersparen. Yelena fiel in Momenten wie diesen immer ihre erste Begegnung mit der Frau ein, die sie ab und zu Cari nannte. Wegen ihrer karibisch blauen Augen, die sie nur denen zeigte, denen sie vertraute.
Die beiden trafen einander das erste Mal nach einem von Yelenas Aufträgen vor einem halben Jahr, kurz bevor Una ihr Studium an der Xavier School für begabte Jugendliche absolvieren und wenige Monate später den Weg zum ehemaligen Chirurgen Doktor Stephen Strange finden sollte. Sie hatte gerade die Bezahlung für zuvor erwähnten Auftrag eingeräumt und wollte sich nun, nach getaner Arbeit in einer Bar in der Innenstadt betrinken. Una fiel der Russin sofort ins Auge, als sie die Bar betrat. Allein an einem Tisch sitzend, mit einem Glas Spätburgunder in der einen und einem Buch mit augenscheinlich vollkommen leeren Seiten in der anderen Hand. Sie wirkte so ruhig, als könne sie nichts und niemand aus der Fassung bringen. Wie das Auge des Sturms saß sie dort, mitten zwischen betrunkenen Idioten und dealenden möchte gern Hehlern. Doch es war nicht das leere Buch oder die Tatsache, dass die Frau mit einem Glas guten Wein in einer schäbigen Bar saß, die sie so fasziniert fesselte. Es war auch nicht ihr neongrüner, halbarm Jumper, ihr schwarzer Harness mit goldenen Details, wie die ihrer Handtasche, die zum Schmuck und ihrem braunen Barett passte. Nein, doch auch wenn ihr Kleidungsstil auf sie aufmerksam machte, genauso wie ihre Tattoos, welche ungeniert unter ihrer Kleidung hervorblitzten, war Yelenas Aufmerksamkeit nur einem kleinen und doch sehr markantem Detail gewidmet. Nämlich ihrer schmalen, schwarzen, seidenen Augenbinde, die sie einfach so in der Öffentlichkeit trug. Diese Begegnung hatte sich in Yelenas Gedächtnis gebrannt wie eine Brandmarke und doch, jetzt, da sie sich kennen, und Una ihre Augenbinde in Yelenas Gegenwart nicht mehr trägt, vergisst sie manchmal, dass die Frau eigentlich vollständig blind war. Unheilbar, sagten ihr die Ärzte, doch das behinderte sie im Alltag keineswegs.
»Was wird das, wenn es fertig ist, Yelena?« Die blonde Frau war völlig überrumpelt von der plötzlichen, sehr defensiv wirkenden Frage. »Was meinst du?« »Deine Augen tasten mein Gesicht seit fünf Minuten ab und deine Körperwärme ist leicht erhöht« Yelena senkte den Blick. Sie hatte gar nicht bemerkt, dass sie die Halbgöttin anstarrte, so sehr war sie in ihren eigenen Gedanken versunken. Sie bemerkte nicht einmal die schon eine Weile glühende Hitze in ihren Wangen, die sie nunmehr zu unterdrücken versuchte. »Ich musste nur gerade an die Jahre denken, die ich verpasst habe, mit meinen Eltern … und seit dem Tod deiner, war Logan einer der wenigen, die dir wichtig erschienen … ich will einfach nicht, dass du es vielleicht irgendwann bereust« Dabei zeigte sie auf das erneut leuchtende Telefon, welches munter vor sich her brummte. Una wusste unterdessen ganz genau, dass Yelena damit nicht die Wahrheit gesagt hatte. Die Black Widow konnte zwar ihren Herzschlag und ihre Atmung kontrollieren, sodass es für einen Lügendetektor nicht einfach gewesen wäre, sie zu entlarven. Allerdings waren die Sinne der Blinden anders gestrickt als die, der meisten Menschen. Ihre Ohren waren besser, als die der Fledermäuse, ihre Nase empfindlicher als die eines Spürhundes und sogar ihr Tast- und Geschmackssinn sind besser als die des geschätzten Durchschnittsbürgers von New York. Warum sich das so entwickelt hatte, wusste sie nicht, aber nützlich war es allemal. Doch das war nicht der ausschlaggebende Grund, warum sie wusste, dass Yelena log. Vielmehr war es ihre Menschenkenntnis und Beobachtungsgabe, im übertragenen Sinne. Ohne Frage, war Yelena ihre Familie wichtig, vielleicht sogar mehr als irgendetwas sonst. Aber wenn man sie genau kannte, wusste man, dass sie das, was sie behauptete, so und in dem Wortlaut, nie zu Una gesagt hätte. Immerhin hasste sie den Mutanten genauso, wie ihre Schwester es ebenfalls tat, als dieser sie in jungen Jahren in der Kampfsportart Martial Arts trainierte. Sie wusste, dass Yelena nicht gerne über ihn, geschweige denn über ihre Schwester sprach, die vor nicht allzu langer Zeit im Krieg gegen Thanos ihr Leben opferte, um vor allem sie wieder zurückzuholen und doch kannte Una die Geschichte der beiden.
Aber dessen ungeachtet konnte sie Logan in diesem Moment nicht gebrauchen. Sie wollte nur für ein paar Stunden den Stress und die Verpflichtungen beiseite lassen und den Abend mit ihrer Freundin genießen.
Una erwachte, als Yelena sie am nächsten Morgen buchstäblich aus dem Kingsize-Bett ihres Hotelzimmers trat. Da es am gestrigen Abend oder eher gesagt heute Morgen zu spät wurde, entschieden sie sich dazu, dass Una die restliche Nacht bei Yelena verbringen sollte. Jedoch hatte Una dabei nicht an ihr Studium gedacht und dass Strange einen sehr großen Wert auf Pünktlichkeit legte. »Um Gottes willen, Una bitte geh endlich an dein Handy!« Erst dann hörte sie die technische Stimme, die bereits zum dritten Mal an diesem Morgen den Anrufer ankündigte: »Doktor Strange. Doktor …« Augenblicklich war sie hellwach und stolperte zur Kommode, auf der ihr Handy vibrierte. »Sir?«
Als die junge Frau wenig später vor der Tür des Sanctum angekommen war, atmete sie noch einmal tief durch. Mit dem Wissen, dass sie mehr als eine Stunde zu spät war, begleitete sie doch ein mulmiges Gefühl im Magen. Sie fragte sich, ob Stephen womöglich gerade abwägte, sie zu erwürgen oder in eine Schlange zu verwandeln und als neues Mitglied seinen Haustieren vorzustellen. Auch wenn er seine Missgunst am Telefon nicht konkret zum Ausdruck gebracht hatte und er sogar beinahe etwas besorgt klang, wusste sie, dass er in Wahrheit fuchsteufelswild sein musste. Gerade als sie sich dann jedoch ihrem Schicksal und der Standpauke des Meisters stellen wollte und im Foyer des Tempels nach ihm suchte, bemerkte sie Gemurmel aus der Galerie. Eine der Stimmen war ganz klar ihr Meister Strange, jedoch konnte sie die andere ebenfalls tiefe und männliche Stimme niemandem zuordnen. Aus irgendeinem Grund kannte sie die Stimme. Doch woher? Sie hatte keine Ahnung. Neugierig wie sie war, lauschte sie den beiden Männern und hoffte vielleicht eine Kleinigkeit aufzuschnappen, die einen Hinweis auf den mysteriösen Besuch hätte liefern können. Allerdings waren sie bereits zu weit in der Konversation vorangeschritten, als dass sie den Sinn ihres Getuschel hätte erfassen können. Nur allein den Klang der Stimme des männlichen Besuches konnte Una vernehmen. Im Begriff zu erspähen, wer dort saß, so gut ihr das möglich war, stieg sie ein paar Stufen der Treppe empor, um ihre Bewegungen vernehmen zu können und sie überkam eine Mischung aus panischer Angst und wohlwollender Zuneigung. Das Gesicht des Mannes, das sie trotz seines fast schon steinernen Ausdrucks spüren konnte, war ihr seltsam vertraut. Doch wer war dieser Mann und was wollte er?
»Also Quacksalber, weshalb hast du mich gerufen?«, »Ich brauche neue Medizin«, fiel er sofort mit der Forderung ins Haus und sah Poseidon unbeeindruckt an. »Für sie« Poseidon schnaubte mürrisch. »Hmpf. Ich habe dir erst vor nicht einmal zwei Monaten eine Menge zukommen lassen, wie kommt es, dass dieser bereits leer ist?« »Nun sie …« Strange räusperte sich. Er war sichtlich nervös in Gegenwart des Gottes, das konnte auch sein Pokerface nicht verstecken. Er schwitzte förmlich und sein Herz schien ihm bis zum Hals zu schlagen, wegen des plötzlichen Adrenalins, dass nun durch seine Adern schoss und seinen Puls erhöhte. »Strange?«, fragte der Herr der Meere indessen neugierig, wie es dazu kam, dass seine Tochter wohl offensichtlich viele Male verarztet werden musste. Doch Strange wusste nicht recht, wie er dem Gott erklären sollte, dass er seine Tochter das ein oder andere Mal beinahe zur Strecke gebracht hätte. Dieser wurde jedoch sichtlich ungeduldig und beobachtete mit jeder Sekunde genervter die kläglichen Versuche des Doktors, einen vernünftigen Satz herauszubringen. »Nun rede!« »Ich trainiere sie in Kampfkunst«, platzte es aus ihm heraus wie das Wasser aus einem Ballon, der zu prall gefüllt wurde. Doch das schien ihn nicht erleichtert zu haben. Im Gegenteil saß er wie ein wild gewordenes Eichhörnchen zitternd vor dem hohen Herrn. »Strange? Was ist los mit Euch?« Als dieser in die Augen des Gottes blickte, war der Wahnsinn, der eben noch durch seine Adern zu strömen schien, wie verflogen. »Ich-«, doch bevor er die Frage beantworten konnte, hörten die beiden Wongs Stimme im Foyer flüstern: »Was machst Du denn hier?«, fragte dieser die Frau, als er sie an dem Aufgang zur Galerie erwischte. »Komm, wir bringen dich lieber auf dein Zimmer. Hast Du Hunger? Ich bestell uns Chinesisch« »Mit wem spricht Strange dort oben?« Wong schluckte. Eigentlich hätte er wissen müssen, dass sie sich nicht so leicht abwimmeln lassen würde. »Das ist nur ein Interessent, nicht von Bedeutung« Also Interesse an etwas hatte der Gott definitiv, damit lag Wong immerhin nicht ganz der Wahrheit fern. Aber damit konnte er Una dennoch nicht wirklich überzeugen, die Sache ruhen zu lassen. Sie vertraute ihren Instinkten seit ihrer Geburt fast schon mehr als ihren übernatürlich ausgeprägten Sinnen, die den Fakt ihrer Blindheit immer ausgeglichen hatten. Und ihre Instinkte sagten ihr, dass dieser Mann dort oben womöglich mehr von Bedeutung sein würde, als Wong ihr gerade notdürftig vorgelogen hatte. Und nur um das klarzustellen: Er war ein miserabler Lügner. In ihrem Zimmer angekommen bedankte sie sich bei Wong und legte ihren Blindenstock auf ihr Bett. Als Wong sich dann zur Tür umdrehte, um das Zimmer wieder zu verlassen, stoppte sie ihn jedoch nochmals. »Wong?« Stirnrunzelnd blickte er sie an. »Ja?« »Wird Strange im Laufe des Tages irgendwann für ein Gespräch verfügbar sein? Ich muss ihn noch über einen baldigen Termin in Kenntnis setzen« Wong lächelte. »Heute wird er wahrscheinlich für niemanden mehr Zeit finden. Der Meister wollte seinem Körper in seinem Schlafzimmer Ruhe gönnen und derweilen weitere Zauberformeln studieren« Übersetzt ergab diese Aussage in der menschlichen Welt definitiv absolut keinen Sinn. Doch in unsere bedeutete es nur, dass Stranges Körper schläft und er in der astralen Dimension Bücher verschlang. Una lächelte nun ebenfalls und nickte Wong zu. »Vielleicht sollte ich es ihm gleich tun, aber natürlich erst nach dem Essen« Er nickte und verließ daraufhin Unas Gemach und ließ sie dort allein zurück. Sofort ließ sie sich auf ihr großes Bett fallen und genoss die angenehme Stille des Tempels. (Fss, Fss) hörte sie die Schlange über den Boden des Sanctum umherschleichen und vor ihrem Zimmer hin und her patrouillieren. Sie wusste nicht, wie es sich für andere anhörte, doch für sie klang ihr Schleichen wie Sandpapier, welches kontinuierlich über Holz schliff. Sie lächelte in sich hinein, in dem Wissen, dass sie nicht allein war und las weiter das Buch „Astronomia Nova“. Eines der vielen Bücher, die Strange zu ihrer Leseliste hinzugefügt hatte. Später am Tag, es muss so um die Mittagszeit herum gewesen sein, klopfte Wong dann an ihre Tür, um ihr das versprochene Essen vorbeizubringen. Sie hatte ihren Hunger bis dahin nicht wahrgenommen, aber als sie das gebratene Hühnchen roch, knurrte ihr Magen so laut, dass sie befürchtete, Wong hätte es hinter der noch verschlossenen Tür vielleicht auch hören können. »Danke Wong«, sagte sie, mit den Fingern noch immer die Seiten des Buches überfliegend. Der Geschmack des Hühnchens erweckte in ihr erneut frühkindliche Erinnerungen.
Es war ein sommerlicher Abend und sie kamen gerade vom Strand zurück, als Una, damals noch als sechs jähriges Mädchen, den Geruch von asiatischem Essen aus dem Inneren eines Restaurants vernahm. Sie wollte unbedingt dorthin und sich am liebsten den Bauch vollschlagen nach dem langen Tag, an dem sie ihren Eltern mal wieder viel abverlangt hatte. Maria und John hatten es nicht immer leicht mit ihr. Nicht selten brachte sie die beiden in erschreckende und oft auch sehr gefährliche Situationen, so auch an jenem Tag am Meer. Ihr Vater John musste sie an diesem Tag aus dem kleinen Nichtschwimmerbereich des Strandes retten, als ein Hammerhai sich wohl verirrt hatte und direkt auf das kleine Mädchen zu schwamm. Er und auch Maria konnten sich damals nicht erklären, warum das Tier ausgerechnet geradewegs auf sie zu geschwommen kam. Aber anscheinend wie in einem Tunnelblick, ignorierte der Hai die anderen Kinder vollkommen, obwohl diese, ganz im Gegensatz zu Una, vollkommen panisch anfingen zu schreien und zu ihren Eltern an Land wateten. Seit dem hatte sie das Meer nie wieder betreten und entwickelte sogar eine phobische Angststörung gegenüber den tiefen und dunklen Gewässern. Naja nicht nur gegenüber den Tiefen. Über die Zeit hinweg übertrug sich ihre Angst auch auf andere Badestellen, wie dem hauseigenen Pool, den sie bei sich in Garten in Phoenix hatten. Doch das chinesische Essen hatten sie seither beibehalten. Es war ein kleiner Familienscherz, den sie pflegten, immer wenn sie eine der gefährlichen Ereignisse überlebten und einen weiteren Tag überstanden hatten. Diese Tradition hatten sie gepflegt, bis ihre Eltern vor fünf Jahren bei einem Autounfall umkamen und sie unter Logans Anleitung an der Xavier School studierte, kurz bevor Thanos die Hälfte allen Lebens, darunter auch seines vernichtete. So sehr sie in die Handlung des Buches auch vertieft gewesen sein mochte, spürte sie dennoch, wie auch die beiden Schlangen, die plötzlichen schweren Schritte, die sich dem Tempel immer weiter näherten. Sie vernahm den Geruch von Leder und Wald. Eine Geruchsmischung, die sie unter Millionen von Menschen wiedererkennen würde. Es war die Art von Geruch, die man gerne nach einem langen Tag harter Arbeit vernahm, wenn man von der kalten, frostigen Nacht in das warme, Zuhause trat und sich vor dem Kamin auf die Couch kuschelte.
Mit der Schale chinesischen Essens in der Hand ging oder beinah rannte Una barfuß die Treppe hinunter und dann den langen Flur des Foyers entlang zur Tür und öffnete diese, ehe der mehr oder weniger ungebetene Gast auch nur hätte klopfen können. Der Mann, der ihr dort gegenüber stand, war der Inbegriff eines Einsiedlers und machte seinem Pseudonym auch nach all diesen Jahren die größtmögliche Ehre, die er in seinem muskulösen Körper überhaupt aufbringen konnte. »Hey Kid«, sagte Logan mit einem kurzen schiefen Lächeln und stand mit sanftem Blick auf sie herabschauend ihr gegenüber und hielt ihr seine große Hand für eine Begrüßung entgegen.

Chapter Text

»Also … warum bin ich hier?«, fragte sie den Mutanten, dem sie nun schon seit geraumer Zeit versuchte, aus dem Weg zu gehen und deshalb sichtlich nervös war, nun leibhaftig mit ihm allein in einem Raum zu sein. Natürlich wusste sie, dass sie einem Treffen mit ihrem alten Mentor nicht auf ewig hätte ausweichen können und sich früher oder später den Erinnerungen, die er mit sich brachte, stellen musste. Jedoch wäre ihr später um einiges lieber gewesen.
Charmant wie er war, hatte Mr. Howlett sie nach seinem Spontanbesuch im Tempel überreden können, sich von ihm zu einer kleinen Tee einladen zu lassen. So ließ sie sich gewiss nicht zweimal bitten, war es ihnen damit immerhin möglich ungestört zu reden, ohne dass gewisse Schlangen hätten zuhören können.
Seit sie jedoch im Café angekommen waren, und Una ihre Augenbinde aus Respekt abgestreift hatte, schien James besorgter zu sein, als er es bereits am Eingang des Tempels war. Sie konnte den metallischen Geruch seines Endoskeletts riechen, so wie er seine mit Vibranium überzogenen Krallen auf Spannung hielt, als könnten sie jede Minute von einem Daimon angegriffen werden. »Hey …«, versuchte sie so sanft wie möglich die Aufmerksamkeit des Mutanten auf sich zu ziehen. Sie hatte seit jeher die Fähigkeit, als eine der wenigen auf ihrer alten Schule, Wolverine mit ihrer Anwesenheit beruhigen zu können. Denn, Alias oder nicht, war der wahre Grund hinter dem Spitznamen nicht von der Hand zu weisen. »Was ist denn los, hm?«, fragte sie leicht lächelnd. Logan sah die Frau, die einst seine Schülerin war nun zum ersten Mal direkt an. Sie hatte sich kein bisschen verändert. Er sah ihr noch immer so lebhaftes, zierliches Gesicht, mit ihrem verschmitztes Grinsen und den Lachfältchen, die ihm zeigten, dass sie trotz ihrer harten Vergangenheit, noch immer gern und, so hoffte er, sehr viel lachte. Er seufzte glücklich, als er merkte, dass es ihr gut ging und augenblicklich konnte auch sie spüren, wie die seinen Muskeln sich immer weiter zu entspannen schienen. »Entschuldige Kleines, alte Gewohnheit«, erklärte er leise und brachte ein gezwungenes, kurzes und doch ehrliches Lächeln zustande, als er versuchte sich in einer lockereren Position auf seinen Stuhl zu setzen. Leider war das nicht nur eine lieb gemeinte, fürsorgliche Floskel seinerseits, sondern die erschreckende Realität. Schon als James sie nach dem Tod ihrer Eltern in seine Obhut an der Schule genommen hatte, gingen die eigenartigen Ereignisse, die sie seit ihrer Kindheit verfolgten, weiter. Immer zu geschah es, dass, egal wo sie war, Unfälle passierten, bei denen sie im Nachhinein nie wusste, ob sie diese selbst verursachte oder ob sie nur weitere Streiche des Schicksals waren, bei denen sie die Pointe nie verstand. Ihre Mitschüler nannten sie mit der Zeit nur noch Miss Fortune, die, die Unglück brachte. Natürlich hatten sie auf eine gemeine Art und Weise doch irgendwie recht, doch das war nie ihre Absicht.
Nur James, Charles und einige der anderen Lehrer an der Schule schienen sich mit der Zeit noch in ihre Nähe zu trauen oder gar nur mit ihr zu reden. Umso schlimmer war es dann, als die Meisten in der Zeit des Auslese nicht mehr da waren. Nur Rogue und Storm halfen ihr diese Zeit zu überstehen, aber Una wusste, dass auch sie insgeheim Angst vor ihr und ihrem Fluch hatten.
So hatten es ihre christlichen Eltern genannt, einen Fluch. Aber gaben sie niemals ihr die Schuld dafür.
Im Gegenteil suchten Maria und John eher die Schuld bei sich selbst und glaubten, sie hätten in ihrem Leben eine schwere Sünde begangen, sodass sie von ihrem Gott dafür bestraft würden. Doch selbst wenn man die Frage nach der Existenz ihres Gottes nun beantworten könnte oder nicht, selbst wenn es sowas wie Sünde und Bestrafung oder Karma gäbe, hätte das nicht die Dinge erklärt, die ihnen all die Jahre über passiert waren.
Andere hätten höchst wahrscheinlich schon längst die weiße Fahne gehisst und sich ihrem Schicksal ergeben. Sie wären bei dem Angriff der Hydra von vor zwölf Jahren auf der Stelle verbrannt oder hätten sich bei dem Kampf gegen einen Laistrygonen am Tag ihrer Jugendweihe bei lebendigem Leib fressen lassen.
Aber nicht ihre Eltern.
Sie kämpften weiter, gingen zu Boden, wurden verwundet, doch sie standen immer wieder auf. Sie kämpften für ihre Familie, komme was wolle.
Und doch sollten auch sie Una am Ende verlassen.
Es war der Duft des Jasmintees, welchen die Kellnerin brachte, der sie aus den Tiefen ihrer Gedanken, erneut zurück in die Gegenwart holte. Sie erkannte unterdessen, dass Logan ihr wohl kurz zuvor eine Frage gestellt hatte. »Entschuldige«, beteuerte sie und schüttelte ihre Benommenheit ab. »Was war deine Frage?« Er nahm seinen Kaffee entgegen und schüttelte leicht lächelnd den Kopf. »Ich war nur interessiert, wie es dir jetzt im Tempel ergeht«, meinte er und trank einen Schluck des heißen bitteren Getränks, dem Una noch nie etwas hatte abgewinnen können. »Ich habe gehört, der Wächter sei ein guter Lehrer« Bei diesen Worten lief es der jungen Frau augenblicklich kalt den Rücken hinunter, erinnerte sie sogleich die Besorgnis in Stranges Stimme bei ihrem kürzlichen Telefonat. Ein kleiner Funke seines einstigen Selbst, als sie einander am Anfang ihrer Ausbildung kennengelernt hatten. Doch seit dieses einen Abends scheint dieser verschwunden.
»Nun also, er ist jedenfalls kein so guter Lehrer, wie du es warst«, grinste sie. Logan lachte auf. »Auch nach all den Jahren, hast du deinen Sarkasmus nicht verloren, Fortuna« Da war er. Der bitter süße Schlag mitten in die Magengegend. »Bitte nenn mich nicht so …«, sagte sie flüsternd, sodass er es beinahe nicht verstehen konnte. Sofort starrte Logan schuldbewusst in seine Tasse und nickte. »‘tschuldige«, sagte er reumütig. »Weshalb hast du mich aufgesucht, James?« Da die soeben noch ungezwungene Stimmung ohnehin wie vom Winde verweht war, konnte man ihr für diesen trotzigen Ton definitiv nicht nachtragend sein. Der Mutant räusperte sich und tat dann das, was er früher oft getan hatte, wenn es ihr wieder einmal zu viel wurde. Er malte kleine Kreise auf ihre Hand. »Ich suche«, augenblicklich kratzte er sich am Kopf, als überlege er, wie er ihr diese Hiobsbotschaft so schonend wie möglich übermitteln könnte und sie ihm nicht hier und jetzt eine reinhaut. Jedoch gab dann allerdings auch genauso schnell seufzend auf. »Ich suche den Roten und dachte, du hättest ihn vielleicht gesehen«
Von einer auf die nächste Sekunde begann Unas Herz so schnell zu schlagen, dass sie fast schon die Befürchtung hatte, Logan könne es hören oder sogar sehen. Doch war es nicht etwa die Frage an sich, die ihr dieses Gefühl bescherte, sondern vielmehr die Person, nach der Logan fragte. So geschah es, dass sie, ihre Augen auf der Höhe seines Gesichts rastend, spürte, wie ihr langsam eine einsame Träne die Wange hinunterrannte.
»Wieso willst du das wissen?«, fragte sie flüsternd und ballte instinktiv ihre Hände zu Fäusten zusammen. Blind vor Zorn und Trauer über diese Frage, merkte sie gar nicht, wie das Wasser in der Kanalisation unter ihnen allmählich anfing zu brodeln. Erst als die Kanaldeckel, draußen auf den Straßen plötzlich begannen überzuschäumen und die Verkehrsteilnehmer verwundert nach unten sahen, ließ sie locker. Sofort vergrub sie beschämt ihre Hände im roten Halstuch ihrer Mutter, das sie als Glücksbringer zu diesem Treffen mitgebracht hatte. Wenn sie sich auch nur eine Sekunde länger nicht unter Kontrolle gehabt hätte, würde New York nun wohl unter Wasser stehen. James richtete inzwischen seine Aufmerksamkeit von den angewiderten Gesichtern der Passanten, erneut auf sie und fuhr mit seiner Erklärung fort: »Erinnerst du dich noch, als ich dich damals fand? Als Mary und John … als ich dir zeigte, wie man kämpft, wie du deine Kräfte einsetzt« Dumme Frage, wie hätte sie das auch vergessen können. Sie wusste genau, wie oft er ihr aus der Misere geholfen und sich dafür etliche Verwundungen eingehandelt hatte. Wie viele Male er sie vor allen, auch vor Professor Xavier verteidigt hatte und sie bat, sie nicht der Schule zu verweisen. Dafür würde sie ihm auf ewig dankbar sein. »Ich unterwies dich, beschützte dich, egal was auch kam-« »Ich bin sicher, er wohnt immer noch in derselben Wohnung wie vor fünf Jahren Logan. Warum suchst du dort nicht nach ihm und hältst mich aus euren Angelegenheiten raus?« »Una …« Sie schüttelte den Kopf und legte sich schnaubend ihre Augenbinde wieder an. »Fahr zur Hölle, Logan!«, flüsterte sie, als sie kurz darauf auch bereits aufstand und das Café verließ.
Es war gut möglich, dass ihre Abfuhr ihm gegenüber ein wenig zu harsch gewesen war, da sie immerhin nicht einmal seine Beweggründe kannte, ausgerechnet nach ihm suchen zu müssen. Doch war ihr Abschied gleich nicht nur eine Art der Unmutsäußerung, sondern vielmehr ein Hinweis.
Immerhin war die Hölle das Zuhause des Teufels.

Auf dem Weg zurück zum Tempel, als sie sich konzentriert auf ihre Umwelt fokussierte, um einen erneuten Ausbruch wie den im Café zu verhindern, hörte sie plötzlich ein Schluchzen. Vollkommen überrumpelt von diesem doch recht unerwarteten Geräusch, erstarrte sie sofort und lauschte. Sie konnte jedoch nicht direkt lokalisieren, woher es kam. Doch plötzlich, als das Schluchzen zu gequälten, algetischen Schreien wurde, die beinahe flehend ihren Namen riefen, erkannte sie Person, die in Not zu sein schien. Aber wurde das Szenario genau deshalb noch verstörender, als es noch vor einem Moment war.
Hätte sie immerhin jeden, nur nicht Stephen erwartet, der dort nach ihr rief. Ohne nachzudenken, ohne sich auch nur darüber klar zu werden, dass es sich dabei auch um die Falle eines nach Fleisch lüsternen Kyklopen handeln konnte, die, wie jedem bekannt war, perfekte Stimmenimitatoren waren, rannte sie in die Richtung, aus der die Rufe kam.
Im Laufschritt faltete sie ihren Blindenstock wieder auf Taschenformat zusammen, die Blicke der vorbeigehenden, neugierigen Passanten waren ihr völlig gleich.
Dann endlich, leicht außer Atem, am Tempel angekommen, sprang sie zielstrebig und voller Adrenalin die Stufen des Sanctums hinauf und riss außer sich vor Sorge dessen Türen auf. Augenblicklich rannte sie hinein, merkte jedoch schnell, dass Stephen nirgends zugegen war.
Sie spürte seine Anwesenheit, der er noch immer im Schlafgemach war, doch fehlte das vertraute Summen seiner astralen Form, welche bereits seit längerem erneut mit seinem Körper verschmolzen zu sein schien.
So schnell wie sie konnte, gleich drei auf einmal nehmend, rannte sie hinauf, riss die Tür zu seinem Gemach auf.
»Stephen! Hey! Wach auf, es ist alles gut …« Schweißgebadet und doch bei Bewusstsein, richtete sich Strange in seinem Bett auf und vergrub instinktiv, panisch sein Gesicht in seinen Händen, bevor er Una in ihre blinden, besorgten Augen sah. Kaum hatte er sie entdeckt, zog er sie auch schon in eine feste Umarmung und seufzte.
»Una …«, flüsterte er an ihr Ohr und streichelte ihr über ihr braunes gelocktes Haar.
Erleichtert schloss er seine, aufgrund der Tränen, roten Augen.
Beinahe so befreit wie ihr Meister, vom Schmerz und Druck der letzten Wochen und glücklich darüber endlich wieder seine Wärme und sein Wohlwollen spüren zu dürfen, erwiderte sie seine Umarmung. Sofort drückte er sie noch näher an seine nackte, warme Brust und genoss den Geruch nach Jasmintee, gemischt mit dem salzig, frischen Meeres-Duft ihrer Aura.
Als sie sich kurz danach schweren Herzens doch voneinander lösten, streichelt er ihre Wange, wie er es noch vor dieser Wesensänderung getan hatte und blickte sie traurig an. Doch, noch bevor sie ihre vielen Fragen auch nur hätte ausformulieren können, änderte sich sein Gesichtsausdruck wieder.
Kaum nachdem sie fast geglaubt hatte, einen Hilfe suchenden Ausdruck auf seinem Gesicht vernommen zu haben, war der zornige, beinahe rasende Glanz wieder in seine grünen Augen zurückgekehrt.
»Doktor?«, konnte sie nur noch ungläubig fragen, ehe er ihr auch schon an die Kehle sprang und sie beide vom Bett auf den Boden fielen. Panisch nach Luft ringend, versuchte sie verzweifelt seinen festen Griff, um ihren Hals zu lockern, ihn zu desorientieren, aber irgendwas sagte ihr, dass er es diesmal geschafft hatte. So viele Gelegenheiten, So viele vergebliche Versuche, sie zu töten, doch nun würde sie hier sterben, allein, mit ihrem Mörder, in seinem Schlafzimmer. Sie hatte immer Angst davor, eines Tages dem Tode ins Auge zu blicken, den Hades zu durchqueren, das Gericht ihr Urteil fällen zu lassen und dann schlussendlich am Fluss Lethe ihr Gedächtnis, für immer zu verlieren. Aber jetzt, da sie die Wirkung des Sauerstoffmangels und die immer ruhiger werdende Welt wahrnahm, kam ihr der Gedanke nicht mehr so unheimlich vor, wie sie einst befürchtet hatte.
Vielleicht würde sie dort ein letztes Mal ihre Eltern sehen können. Sie würde ihnen sagen können, dass sie sie liebte und dass es ihr gut ginge, dass sie einen Weg fand, allein zurecht zu kommen.
Aber ehe sie sich dieses Treffen weiter ausmalen konnte, ehe sie den Weg ins Licht hätte wagen können, wurde Strange plötzlich von ihr herunter gezogen.
Hustend und würgend setzte sie sich auf und rieb sich die brennenden Stellen an ihrem Hals. Benommen und mit den wellenartigen Kopfschmerzen kämpfend, die ihr ein Meer aus Lichtblitzen vorgaukelten, bekam sie nur teilweise mit, was der Mann vor der Tür mit Strange besprach. Das und das noch immer brennende Gefühl seiner Finger, die ihre Kehle quetschten, war das Letzte, was sie wahrnahm, bevor ihre Sinne vollkommen nachgaben und sie sich gegen die aufkommende Ohnmacht nicht mehr wehren konnte.
Als sie das nächste Mal aufwachte, war sie noch immer wie benommen. Das Einzigen, was sie spürte, war, dass sie in einem Bett lag und eine große, muskulöse Person ihre Wunden verarztete, ehe erneut alles schwarz wurde und sie einschlief.
Sie erinnerte nur noch den Geruch von Eukalyptus und Salbei und den Geschmack von heißer Hühner-Nudelsuppe.
Fernes, unverständliches Gemurmel, schien sie allerdings nur eine Augenblicke später wieder aufzuwecken, doch als sie die Augen öffnete und sich auf ihre Umgebung konzentrierte, befand sie sich unter Wasser.
Sie hatte diese Art Traum nun schon so oft geträumt, dass ihr das Gefühl des Wassers nichts mehr ausmachte. Sie hatte sogar herausgefunden, wie sie trocken bleiben könnte und dass sie sich am besten nicht auf ihre Atmung konzentrierte, es sei denn, sie wolle von der Panik getrieben, nach Luft schnappend aufwachen.
Selbst der Mann, der diesen Palast bewohnte und der immerwährend zu ihr sprach, war ihr mittlerweile vertraut. Allerdings schien er sie in diesem Traum nicht wie sonst bemerkt zu haben, da es den Anschein erweckte, er würde noch immer gebannt mit einer in einem Regenbogen stehenden Person sprechen. Die junge Frau konnte allerdings nicht erkennen, ob diese eine Illusion war oder eine weitere merkwürdige Art der hier heimischen Meeresbewohner.
Wie ihre Sinne ihr verrieten, sprach er dort mit einem Mann, nicht größer als 1,75m, muskulös und offensichtlich ein wenig aufgebracht. Leider konnte sie nicht verstehen, was die beiden besprachen. Dennoch kam ihr bei dieser Auseinandersetzung etwas Entscheidendes bekannt vor.
Denn sie erkannte die Stimme des Palastbewohners als die des mysteriösen Besuches wieder, mit dem Strange am vorherigen Morgen gesprochen hatte.
Moment Mal, gestern? Das war doch gestern? Wie lange schlief sie schon?
In ihrem Grübeln versunken, wandte sie den beiden Männern in ihrem Grübeln den Rücken zu und würdigte ihrem Gespräch keinen Funken ihres Interesses mehr, als sie plötzlich merkte, wie ein zwei Meter langer Walhai sich liebevoll an ihrem Bein rieb.
»Bei den Göttern!«, fluchte sie mit zitternder Stimme und schwamm ein Stück von dem Tier weg. »Musst du mich so erschrecken?«, ermahnte sie den riesigen, wenn auch friedlichen Planktonfresser und atmete einmal tief durch, als würde sie dies in irgendeiner Weise beruhigen. »Verschwinde!«, versuchte sie ihm mit dem besten Befehlston, den sie in ihrer ängstlichen Starre aufbringen konnte, anzuweisen.
Zu ihrer Überraschung schien das jedoch auch tatsächlich zu funktionieren.
So ließ der Fisch mit einem gemurmelten »Verzeihung …« traurig von der Frau ab und schwamm langsam von dannen. Ein wenig beruhigter, wenn auch weiterhin beunruhigt, zitterte sie noch immer am ganzen Leib und schaute sich im Palast um. Doch bis auf den abziehenden Walhai und eine echte Karattschildkröte, die auf dem Mosaik des Bodens zu schlafen schien, war weit und breit kein anderes Lebewesen zu sehen. Das schien sie nun im Großen und Ganzen vollumfänglich zu beruhigen und sie konnte sich erneut dem Gespräch der beiden Männer widmen. Indessen es unter Wasser schwer war, Stimmen tatsächlich zu hören, man könnte es mit einer alten Tonrollenaufnahme vergleichen, die man auf einem Grammofon abspielte, konnte man mit viel Glück einzelne Worte verstehen. Doch die Stimme, die sie jählings im Gespräch der beiden erkannte, riss ihr beinahe den Boden unter den Füßen weg.
Nach Luft ringend und mit fürchterlichen Halsschmerzen, wachte sie dann tatsächlich nachts in ihrem warmen Bett im New Yorker Tempel auf. Es dauerte seine Zeit, bis sie sich beruhigt hatte, doch die Halsschmerzen waren auch dann noch allgegenwärtig. Sie spürte deutlich die Quetschung ihrer Luftröhre, dort wo Strange seine Finger um ihren Hals gepresst hatte und das Pfeifen ihres Atems ließ ihre Ohren schmerzlich klingeln. Jedoch schien bis auf ihre eigens erzeugten Geräusche, der Artefakte in der Galerie und Wong, der in seinem Zimmer meditierte, das Sanctum seltsam ruhig, beinahe wie ausgestorben. Wo war ihr Meister geblieben?
Kurzentschlossen entschied sie sich, Wong zu konfrontieren und ihn zu fragen, welche Ausrede Strange nun wieder hatte, ihr aus dem Weg zu gehen, jedoch war dies einfacher gesagt, als getan. Denn hatte sie kaum ihre Beine aus dem Bett geschwungen, spürte sie, sobald ihre Füße den Boden berührten, wie ihr augenblicklich schwindelig wurde. Der Angriff oder besser gesagt, der daraus resultierende, wenn auch kurze Moment der Bewusstlosigkeit hatten ihrem Gehirn ordentlich zugesetzt. Die Vibrationen im Boden, die ihre Gleichgewichtsorgane für gewöhnlich kompensierten, waren jetzt deutlich zu viel für ihren Kopf und ließen sie auf wackeligen Beinen zurück. Eher schwankend als aufrecht, begab sie sich jedoch ungeachtet ihrer Verfassung auf den Weg zu Wong, der zu ihrem Glück nur zwei Zimmer weiter sein Gemach hatte. Vor seiner Tür angekommen, klopfte sie auch bereits und stützte ihren benommenen Körper an dessen Rahmen ab, da sie, je länger sie stand, mehr befürchtete, sonst womöglich erneut ohnmächtig zu werden. Als die Tür aufging und Wong die junge Frau, fast schon kniend vor seinen Füßen vorfand, hievte er sie unlängst auf sein Bett. »Du hast vielleicht Nerven, aus dem Bett aufzustehen!«, ermahnte er sie und begutachtete stirnrunzelnd ihren in allen erdenklichen Farben schimmernden Hals. »Wie lange war ich bewusstlos?«, brachte sie heiser krächzend hervor und war fast schon erschrocken vom Gänsehaut erzeugenden, krächzenden Geräusch ihrer eigenen Stimme. »Drei Tage, was zu wenig ist in deinem Zustand, wenn du mich fragst« meinte er streng auf sie herabschauend und kniete sich dann in seiner üblichen Meditationspose vor ihr hin. »Weshalb bist du aufgestanden, Una?« Sie tat es ihm gleich und kniete sich auf sein Bett, um den schwindelerregenden Vibrationen der Stadt zu entkommen. »Wo ist er?«, übermittelte sie ihm den Grund ihrer Wanderschaft mittels der einzigen Frage, die ihr jetzt wichtig war. »Welchen Grund nannte er diesmal, mir aus dem Weg gehen zu müssen?« Doch Wong seufzte nur angespannt und stand wieder auf. »Ich habe ihm verboten, weiterhin in deiner Nähe zu sein«, erklärte er mit verschränkten Armen vor der Brust und schien eine Reaktion ihrerseits abzuwarten. »Er hat dir Lektüren und Anweisungen zurückgelassen, die du studieren sollst« Sie war einerseits erleichtert, dass sie nunmehr erneut durchatmen konnte, in gewisser Weise. Jedoch bedeutete dies auch, dass Stranges offenkundiger Hass gegen sie augenscheinlich nicht mehr zu bändigen war. Wusste Wong was mit ihm los war? Würde er es ihr sagen? Sie entschied sich dazu, ihm ihre Fragen am besten nicht zu stellen. Natürlich vertraute sie Wong, war es doch er, der sie jedes Mal aus den Fängen des Doktors errettete, der sie verarztete und der ihr in schlaflosen Nächten erlaubte, in der Bibliothek Bücher zu lesen. Was seine Loyalität dem Sorcerer Supreme anbelangte, vertraute sie ihm allerdings fast noch mehr, weswegen sie nicht im Geringsten glaubte, dass er ihr die Wahrheit sagen würde. Sie müsste also eigene Recherche betreiben, um den Grund für Stephens Wesensänderung herauszufinden.

An einem Samstagabend, als einige Wochen vergangen waren, fand sie dann ein wenig ersehnte Ruhe. Die letzten Tage waren nicht sonderlich erholsam für die junge Halbgöttin, hatte sie die Suche nach einer Lösung des, wie sie es liebevoll nannte, Strange-Problems begonnen und nahezu jeden Tag bis spät in die Nacht hinein nach einer Antwort recherchiert. Doch hatte sie, bis auf einen winzigen, hoffnungsbringenden Anhaltspunkt in alten Mythen, dem sie weiterhin nachgehen möchte, nichts Verwertbares außer weiterer unlösbarer Fragen gefunden. Ob in der menschlichen Medizin oder den Zauberern vorbehaltenen Zaubersprüchen, nichts schien eine Erklärung für seinen plötzlichen Hass und seine Wesensänderung zu liefern. Auch die alten Bücher aus dem Kamar-Taj, die ihr Wong trotz seiner Zweifel an der Suche zukommen ließ, führten immer zu in eine Sackgasse. Wong, der nun die Lehre an Stranges Stelle übernommen hatte, da dieser sich ihr weiterhin nicht nähern durfte, war, bis auf seine manchmal recht eigen wirkende Art und Weise, kein schlechter Lehrer. Das soll um Zeus Willen nur nicht falsch verstanden werden. Einerseits war sie erleichtert, denn so konnte sie auch ihren Sinnen wieder eine gewisse Art der Entspannung gönnen, die eine ständige Alarmbereitschaft ausschloss, allerdings löste das eben nicht den Ursprung seines offensichtlichen Hasses, sondern stoppte nur die Konsequenzen. Und auch dies konnte die Alpträume nicht von ihr fernhalten.
Una lag an diesem Samstag also, gezeichnet von den letzten Tagen, bereits im Bett und verband ihre zuvor versorgten Wunden, darunter ihre Hände, die von dem vielen Training im Freien aufgeplatzt waren. So tat sie es dann auch mit den indessen weiter abheilenden Würgemalen an ihrem Hals, doch fand sie nicht den Mut, endlich schlafen zu gehen. Seit Strange nicht mehr da war, sah sie auch den Mann aus dem Meer nicht mehr und es waren nun diese Alpträume, die stattdessen zur Gewohnheit für die junge Frau wurden. Auch wenn der Doktor inzwischen nicht mehr ständig versuchte, sie in ihren Übungen umzubringen, spürte sie Nacht für Nacht seine Fingerbeeren um ihren Hals und hörte sein wahnsinniges Knurren, wenn er seinen Willen immer wieder beinahe befriedigte.
»Kämpfe endlich als würde dein Leben davon abhängen!«, hallten seine Worte in ihren Träumen wider, während seine großen, vernarbten Hände ihr buchstäblich die Luft zum Atmen nahmen. »Bitte … nicht«, flehte sie unter dem Druck seiner Kraft und der drohenden Ohnmacht, immer und immer wieder um seine Gnade. Doch war es ihr eigener Körper, der sie, den Göttern sei es gedankt, immer kurz vor der hereinbrechenden Bewusstlosigkeit, verstört zitternd aufwachen ließ.
Sie hatte gehofft, die Alpträume würden aufhören, sobald sie eine Lösung gefunden hatte, doch je mehr sie las, desto klarer wurde ihr, dass dieser Tag wohl noch lange auf sich warten lassen würde.
Frustriert seufzte sie auf bei den Gedanken an die unzähligen Fragen, die ihr noch immer starke Kopfschmerzen bereiteten.
In ihrem seiden weißen Nachthemd auf ihrem Bett sitzend, verband sie sich nach ihrer abendlichen Routine nun wieder die Augen und flechtete sich ihre Haare zu einem französischen Zopf zusammen. Die Augenbinde half ihren empfindlichen Augen nicht nur bei Tageslicht, sondern auch bei Nacht, die Lichter auszublenden und immerhin ein wenig an Ruhe zu finden. Doch das hinderte sie nicht daran, die Dinge, die in ihrer Umgebung passierten, glasklar wahrzunehmen. Natürlich spürte sie weiterhin jede Bewegung, die sich um sie herum ereigneten. Sie spürte die kleinen Bewohner des Sanctums, die sie über die Zeit liebgewonnen hatte. Sie spürte die ruhende Stadt New York, die auch bei Nacht nie wirklich zu schlafen schien. Und natürlich spürte sie ihren ungebetenen Gast, der seit geschlagenen zehn Minuten still in der Ecke ihres Gemachs auf den passenden Moment wartete.
Amüsant wie sie fand, wusste sie offenkundig schon seit er zwei Blocks weiter das Dach bestiegen und von dort aus den Weg zu ihr begonnen hatte, dass er kommen würde.
Doch war sie sich auch genauso sicher, dass er ebenso wusste, dass sie ihn erwartete.
Mit einer schnellen Bewegung aus ihrem Bett gestiegen, drückte sie ihn also mit ihrem Arm an seiner Kehle gegen ihre Fensterbank. »Ganz schlechter Zeitpunkt, dich an mich anzuschleichen, Murdock!«, flüsterte sie ihm entgegen. Den Rahmen des Fensters in seinem Rücken, drückte Matthew langsam ihren Arm nach unten und fixierte dann ihre beiden Hände an seiner Hüfte, um sie so näher an sich heranzuziehen. »Du bist also wieder da?«, sprach er mit ruhiger Stimme. »Nach all den Jahren? Du bist mir ein paar Antworten schuldig, meine Hübsche!« Ihm seit langem wieder so nah, spürte sie die Waffen, die Melvin für ihn angefertigt hatte, an seiner Seite deutlich an ihrer Hüfte und konnte sich ihr Grinsen nicht verkneifen. »Sind das deine Schlagstöcke oder freust du dich einfach, mich zu sehen?«, säuselte sie mit leicht angehobenen Kopf an sein Ohr und spürte, dass sie offenbar mit beidem nicht falsch lag. Matt knurrte leise, ehe er, mit angespanntem Kiefer, seine Aufmerksamkeit auf sie lenkte. Ihre Handgelenke noch immer fest fixiert, ließ er seinen Griff nun etwas lockerer werden und schob sie nach hinten, bis sie mit ihrem Hintern auf dem Bett landete. Ohne ihr dabei den Rücken zuzuwenden, setzte er sich dann ihr gegenüber vor das große Fenster, das für einen Sehenden sicher eine fantastische Aussicht erbracht hätte und zog ihrer beider Sichtschutz ab. »Rede!«

»Rede mit mir« »Matty es geht mir gut … es war nur wieder dieser Traum« Derselbe beschissene Traum seit 5 Monaten. Ihr Körper noch immer zitternd, von dem Schock, den dieser immer wieder durch die Knochen jagte, zog sie ihre Decke noch enger um ihren Körper und drückte beruhigend seine Hand. Sie konnte es noch immer nicht glauben. Die junge Frau lag bei Matthew Murdock auf dem Sofa, dem Mann, den sie seit ihres Schulabschlusses kannte. Der ihr zur Seite stand, an diesem Abend, der ihr Leben aus den Fugen riss, an dem ihre Eltern bei dem Autounfall ermordet wurden. »Zur falschen Zeit, am falschen Ort«, sollte der Standardspruch der Polizei werden. Matthew hatte ihr noch geholfen, das Geld aus ihrer Lebensversicherung zu bekommen, damit sie sie wenigstens bei einer kleinen Beerdigung, mit Pater Lantem als Priester ehren konnte. Der Mann, der sie nachts weinend auf der Straße auflas und ihr ein warmes Bett und eine heiße Tasse Tee anbot, als wenige Monate später dann ebenfalls ihr Mentor sie verließ. Und jetzt, beinahe ein halbes Jahr später, träumte sie weiterhin davon, wie sie im Unterricht bei Professor Xavier sitzt und sich plötzlich einige ihrer Mitschüler, ihrer Freunde in Luft auflösen. Erneut in ihr damaliges Ich versetzt, rennt sie, in Gedanken zu allen erdenklichen Göttern betend, aus dem Klassenraum raus, sieht wie andere im Pausenraum ebenfalls verschwinden und hofft. Sie rennt wie jede Nacht in Logans Zimmer und spürt seine Verwirrung über ihr panisches Gesicht, da sie weiß, was gleich passieren würde, was immer in diesem Traum passiert. Damals erleichtert, rennt sie ihm in die Arme und genießt den Moment seiner Wärme, der allerdings kurz darauf von seinem verdutzten »Kid?« In den verzweifelten Versuch übergeht, seine sich auflösenden Überreste wieder zusammenzusetzen. Sie weinte und schrie, rief seinen Namen in der Hoffnung, er würde jede Sekunde wieder neben ihr sitzen und sie in die Arme nehmen, doch nichts geschah. In ihrer Verzweiflung gefangen, verlor sie die Kontrolle über sich selbst und so geschah es, dass über der sonst eher von der Umwelt verschonten Schule ein stürmisches Gewitter herrschte. Mit dem plötzlichen Platzregen, der die Lehrer anhielt, die übrig gebliebenen Schüler sofort ins Haus zu holen, befürchtete sie nun endgültig ihren Rauswurf. Aber anstelle des Professors, der sie verweisen würde, war es niemand geringeres als Storm, die ihre Nähe suchte und es schaffte, sie zu beruhigen und so das Gewitter zu stoppen. Doch wie jedes Mal, wachte sie dennoch schreiend aus diesem Traum auf, ihr Gesicht nass von ihren Tränen und Matt, der sie in seine Arme zog und ihr wie jede Nacht versicherte, dass alles gut war. Und wie jede Nacht, war auch er es, der sie von der Couch in sein Bett trug, um dort mit ihr, auf seiner Brust liegend, seinem Herzschlag lauschend zu verweilen, bis sie wieder eingeschlafen war. Und wie jede Nacht, war das Letzte, was sie außer ihr selbst noch unter Schock zitternd und schluchzend hörte, wie er ihr in ihr Haar mit den Worten: »Ich werde dich nie verlassen« ein gefährliches Versprechen gab.
Diese Erinnerung lag bereits fünf Jahre zurück und sollte sie jetzt, mit seinem Erscheinen anscheinend wieder einholen.

Chapter Text

»Stephen-, bitte-«, (Beende es!)
»Es tut mir leid Kleines…«, (Töte sie endlich!)
»Nein!«, erklang sogleich der gebrochene Schrei des Doktors und längst lag eine weitere Tasse in Scherben vor der Tür seines asketischen Gemachs.
Immerzu hörte er ihr flehendes Flüstern in seinen Gedanken, ihre Bitten um Erlösung des schmerzenden Gefühls eines nahenden Todes. Immer wieder herrschte in ihm derselbe Kampf, wie schon einmal vor Jahren. Der Kampf seiner ärztlichen Ethik, gegen den nun immer stärker werden Drang, sie zu vernichten.
Ob Tag oder ob Nacht, die Sekunden, in denen er den Glanz des Lebens aus ihren Augen verschwinden sah, brannten sich in sein Gedächtnis, wie das Mal der Athene. »Ich bin Arzt geworden, um Leben zu retten und jetzt habe ich jemanden getötet. Das werde ich nie wieder tun!«, erinnerte er sich wieder und wieder, gleichtönig an seinen Schwur, den er damals seiner Meisterin gegenüber geleistet hatte.
Als könne er seine Taten damit ungeschehen machen.
(Doch das kannst du nicht!) erinnerte ihn seine innere Stimme bestehend an die Realität.
Er wusste keine Antwort, auf die Frage, warum er weiterhin Bücher vor die Tür des Sanctum Sanctorum legte, oder weshalb er seitdem jeden Tag zu jeglichem Gott betete, der ihm womöglich zuhörte. Seit Wong ihn des Tempels verwiesen hat, nachdem er seine Hände erneut mit Blut befleckt hatte, hegte jedoch weiterhin ein kleiner Funke in ihm, sie würde vielleicht doch noch leben. Auch heute legte er, wie seit einigen Wochen schon, zwei neue Exemplare vor die Tür des New Yorker Tempels und nahm im Gegenzug die dort liegenden mit sich zurück in die Bücherei.
Routiniert, entschied er sich, wie jeden Morgen, einen Spaziergang zu machen und verließ deshalb das Kamar-Taj. Seit nicht allzu langer Zeit hatte er obendrein einen kleinen Gefährten. Womöglich dem in seiner Tasche befindlichen Proviant geschuldet, folgte ihm ein kleiner streunender Hund. Ängstlich und mit genügend Abstand zwar, doch Stephen schätzte mit der Zeit den schüchternen Begleiter und ließ ab und zu kleine Fetzen seines Brotes fallen. Als er an diesem Tag allerdings an einem ruhigen Platz zum Rasten kam, sah er seine neuen Verletzungen. Irgendjemand muss dem kleinen Wesen Leid zugefügt und ihm zu allem Überfluss dann auch noch das linke Vorderbein gebrochen haben.
Strange war gewiss kein Tierarzt und hatte Zeit seines Unfalls zudem auch nie wieder richtig praktiziert und doch kniete er langsam vor dem verletzten Tier nieder.
»Hey, keine Angst«, versicherte er dem Hund mit ruhiger Stimme und hielt ihm ein Stück seines Brotes vor die Schnauze.
Zweifelsohne kein Fremder mehr, schien der Hund dem ehemaligen Chirurgen nicht generell misstrauisch gegenüber zu sein und näherte sich langsam. Zaghaft, beinahe doch etwas unschlüssig, schnappte der Hund sich das kleine Stück und humpelte erneut ein Wenig von dem Arzt weg.
»So ist gut, ich will dir nichts tun«, lobte er ihn lächelnd. Während der Kleine fraß, hatte Strange ein paar Sekunden, sich die Wunde näher anzusehen. Und er stellte erleichtert fest, dass sie nicht offen war und demzufolge auch nicht genäht werden musste. Schnuppernd kam der Hund zurück zu Stephen und bedankte sich, indem er ihn mit seiner Schnauze anstupste. »Ja, ist schon gut«, sagte Strange sanft und kraulte kurz das Ohr des Kleinen.
»Lass mich nur kurz deine Pfote ansehen« Vorsichtig hob er also die linke Pfote des Streuners an und erntete dafür ein Leid erfülltes Fiepen.
Stephens Blick wurde weich: »Entschuldige … eigentlich sollte ich wissen, wie sich dieser Schmerz anfühlt«, antwortete er und schaute auf seine von Narben übersäten, noch immer leicht zitternden Hände.
Instinktiv versuchte der Hund, die Pfote abzulecken und den stechenden Schmerz ein wenig zu lindern, doch Strange hielt ihn auf. »Nein! Das würde sich mit der Zeit nur entzünden«, erklärte er, wohl in dem Wissen, dass er immer noch mit einem Hund sprach.
»Warte kurz …« Da Stephen keine Verbände dabei hatte, musste er offenkundig improvisieren und riss kurzerhand ein langes Stück Stoff aus seinem T-Shirt heraus.
Er fixierte die Bruchstelle der Pfote mit einem Stock, den er zuvor aufgesammelt hatte und verband dann die Schiene mit dem Stoff seines Gewandes, sodass diese an Ort und Stelle blieb. Als er fertig war, setzte er die Pfote des Kleinen behutsam auf dem Boden ab.
Von Dankbarkeit und Freude erfüllt, leckte der Hund liebevoll Stephens Hände ab und reichte ihm seine frisch geschiente Pfote. »Ist ja gut! Nichts zu danken, sei einfach vorsichtig«, sagte er streng, konnte aber dennoch ein leichtes Lächeln nicht unterbinden.
Der Kleine, voller Tatendrang, sprang nun auf Stephens Knie und legte seinen Kopf auf die Schulter des Zauberers. Im Nachhinein ist schwer abzuwägen, ob Stephen schlicht froh war, einem Lebewesen geholfen zu haben, etwas Gutes getan zu haben, oder ob es der kleine Akt der Dankbarkeit des Hundes war. Doch, als der Kleine munter sein Gesicht beschnupperte, als könne er nicht glauben, dass ihm jemand half, nach all denen, die ihn misshandelt hatten, brach Stephen an Ort und Stelle zusammen. Er fing an, zu schluchzen. Er fragte sich, wie viel Leid das Tier wohl erfahren haben musste, um ihm einerseits jeden Morgen ängstlich, versteckt im Schatten zu folgen, als befürchte er weitere Verletzungen und doch voller Mut zu stecken, ihm so nah zu kommen.
Mut, etwas, dass Stephen zu verlieren glaubte. Er hatte Angst, Angst seiner selbst zu verlieren, seine Willensstärke nicht wiederzufinden.
Es war, als wäre er nicht mehr Herr seiner Sinne, als würde etwas Anderes die Kontrolle haben. Er wollte, dass es aufhört, dass er seine Schülerin wieder unterrichten konnte, doch das war nun nicht mehr erdenklich.
Selbst wenn sie noch lebte, war sie, so wie er jetzt war, nicht sicher bei ihm. Und doch trotz des betäubenden Gefühls, das ihn die Welt nur noch dumpf wahrnehmen ließ, trugen ihn seine Füße den ganzen Weg zurück, bis er unentschlossen vor der Tür zum New Yorker Tempel stand.
Zögernd schwebte seine Hand über dem Knauf der Tür, bereit sie zu öffnen und hineinzutreten. Bereit, endlich seinem Gewissen Klarheit zu verschaffen.
Doch er konnte es nicht. Er konnte ihr Leben nicht erneut riskieren.
Leise floss ihm eine kleine Träne die Wange hinunter. Hinab auf die kalten Stufen. Unwissend über ihren Zustand, unwissend, ob sie überhaupt noch lebte, verließ er den magischen Zugang. Und er kehrte nicht wieder zurück.

Die Sonne hatte noch nicht ganz die Schwelle des Horizonts überschritten, als der Meister des Tempels bereits an Unas Tür klopfte.
»Guten Morgen«, krächzte, die sie ihn schon auf der Treppe gehört hatte und setzte sich schlaftrunken in ihrem Bett auf. »Hat er …?«, fragte sie wie jeden Morgen seit einigen Tagen, doch Wong schüttelte den Kopf.
Sie hätte es ihm gegenüber wahrscheinlich nie offen zugegeben, doch sie vermisste ihren Mentor.
Seit letzter Woche legte er nicht mehr, wie zu Anfang noch, ein bis zwei Lektüren auf die Schwelle des Portals oder hinterließ ihr kleine Anweisungen.
Es war fast so, als hätte er vergessen, dass es sie gab.
Wong hatte mitansehen müssen, wie das Licht der Hoffnung, er würde sie eines Tages wieder unterrichten können, immer weniger in ihren Augen zu leuchten schien.
Er seufzte: »Es ist Sonntag. Geh raus, joggen oder shoppen, aber trainieren werden wir heute nicht«, meinte er leicht lächelnd und sah dann zum Fenster hinaus.
»Es ist sonnig«, meinte er und zeigte auf den strahlend blauen, wolkenlosen Himmel, senkte allerdings sofort wieder seine Hand. »Du könntest ein wenig mehr Farbe vertragen«, sagte er augenzwinkernd und verließ danach ihr Gemach wieder.
Una und joggen, verrückter könne die Welt wahrlich nicht mehr werden. Das passte ungefähr so gut zusammen, wie der Gott des Weines und ausnüchtern. Doch sie musste ihren Geist entlasten. Seit dem teuflischen Besuch in jener Nacht bekam sie den Streit mit Matt nicht mehr aus ihren Gedanken. Die Gemeinheiten, die sie einander an den Kopf warfen, waren für beide sichtlich nicht leicht, trotz der vielen Zeit, die seit ihrem Verschwinden damals vergangen war.
Nur allein die Erinnerung an das verletzte Zittern in seiner Stimme, das er versuchte, so gut wie möglich zu verstecken oder der salzige Geschmack seiner aufkommenden Tränen, brachen ihr das Herz.
»Ich hätte dich niemals treffen dürfen, Red«, hatte sie geflüstert. »Das war ein Fehler…«, waren ihre letzten Worte an diesem Abend. Es war nicht fair, ihm damit so vor den Kopf zu stoßen, das wusste sie und natürlich bereute sie ihre Worte.
Doch es war das Beste, wenn er sie hasste und sie einander nicht mehr wieder sahen. So blieb er in Sicherheit. Selbstredend wusste sie, dass Matt es liebte, sich in lebensgefährliche Situationen zu begeben, sie war damals dabei, als er damit anfing. Als sein Doppelleben begann und er als Daredevil die Stadt beschützte.
Aber die Gefahr, die sie barg, war ohne Frage ein paar Nummern zu groß für ihn.
Gesagt, getan, begab sie sich nach einem leichten Frühstück, mit leiser Rock-Musik auf den Ohren, also auf den Weg. Versucht ihre lauten Gedanken mit dem Dröhnen des Basses zu übertönen, brachte sie mit jedem Schritt, den sie an der frischen Luft machte, allmählich auch ihre Gefühle wieder unter Kontrolle.
Eine völlig unsinnige Idee könnte man meinen, ausgerechnet mit Musik auf den Ohren laufen zu gehen, berücksichtigte man die Tatsache ihrer Blindheit. Aber, ihre Augenbinde abgestreift und gegen eine fürwahr hässliche Sonnenbrille eingetauscht, würde ein fremder Mensch diese wohl niemals wahrnehmen.
Außerdem wollte sie schließlich auch nicht lange joggen. Sie wollte lediglich ein wenig Zeit für sich allein haben. Zeit, in der sie nicht ständig von sorgenvollen Argusaugen beobachtet wurde. Sie wollte vergessen. Nur für einen Augenblick sollte sie nicht interessieren, was mit Strange passierte, was mit Logan war oder welcher Fluch auf ihr lastete. Jetzt war nur der Wind auf ihrer Haut wichtig und die warmen Strahlen des Sonnenwagens, der langsam am Himmel empor stieg.
Als jedoch, nach vielleicht zwanzig Minuten, die Sonne plötzlich verschwunden zu sein schien, merkte sie, dass sie vor dem Empire State Building angekommen war und fing an, an einer Treppe zu rasten und ihre Beine ein wenig zu dehnen.
»Wie kann man sich sowas nur antun?«, hörte sie keine Sekunde später die meckernde Stimme einer kleinen, alten Frau, die sie, auf ihrem Rollator sitzend, kopfschüttelnd ansah. »Ja das frage ich mich auch, joggen ist eigentlich nicht so mein-«, antwortete Una ohne ihre Aufmerksamkeit auf sie zu richten. »Nein, du dummes Gör, deine Tattoos!«, korrigierte die murrende Alte und ließ sie mit offenem Mund sprachlos zurück. »Du weißt doch sicher, dass du die nicht mehr loswirst, oder?«, fuhr sie mit tadelndem Finger fort. »Mhm«, antworte Una, als sie sie dann ansah und langsam nickend die Lippen aufeinander presste, um einerseits ihr Lachen, andererseits aber auch den Drang zu unterdrücken, die Frau zu fragen, weshalb diese sie einfach so duzte. Die Rentnerin lachte schnippisch.
»Kindchen, weißt du denn nicht, wie teuer die sind? Aber du musst ja sehr viel Geld haben, dass du es einfach so zum Fenster rauswerfen kannst!« Damit hatte sie das Fass allerdings zum Überlaufen gebracht.
Una überlegte nun, wie viele Zähne die Schreckschraube noch im Mund hatte, die sie ihr hätte ausschlagen können oder ob die Rentnerin ohne ihren Rollator überhaupt weiterlaufen könne. Aber ihre innere Stimme riet ihr diese Gedanken schnell wieder zu vergessen, denn sowas gehörte sich ja nicht. (Zähl bis Zehn, dann ist die Zicke vielleicht verschwunden), riet ihr ihre innere Stimme.
»Gnädige Frau, haben sie Kinder?«, fragte Una mit dem ehrlichsten Lächeln, das sie für diese Schrulle aufbringen konnte und verschränkte dann innerlich grinsend die Arme vor der Brust. Sichtlich verwirrt über diese Frage, gluckste die Frau auf. »Natürlich habe ich Kinder, vier sogar und alle-« Doch bereits bei der Bestätigung ihrer Frage brach die junge Frau in schallendes Gelächter aus.
Sie warf sich, weiterhin herzhaft lachend, ihr Handtuch erneut über ihre Schulter, nickte der Frau zum Abschied zu und ließ sie dann empört schimpfend vor dem riesigen Gebäude schnatternd zurück.
Doch dieser Moment des Triumphs hielt passenderweise leider nur so lange an, bis sie um eine Ecke bog und unerwartet mit Jemandem zusammenstieß.
»Götter! Tut mir so leid!«, entschuldigte sie sich sofort, ihr Grinsen abermals abgelegt, bei der blonden jungen Frau und half ihr wieder auf die Füße. Zumindest nahm sie an, dass die Frau blond war, da, trotz dieses frühsommerlichen Tages, von ihren Haaren nicht sonderlich viel Wärme abgegeben wurde.
»Ach, das macht doch nichts! Ich hätte aufpassen müssen«, entgegnete sie und sammelte ihre Zeichnungen und Stifte wieder auf. Sie sprach mit einer angenehmen, gleich kräftigen Stimme, als würde sie sich oft über schreiende Mengen hinwegsetzen müssen.
Ihre Statur war muskulös und doch zierlich, als würde sie oft hart arbeiten, die meiste Zeit allerdings weniger körperliche Tätigkeiten verrichten, wahrscheinlich zeichnen, so schätzte Una. Sie hörte das Reiben der Knochen der Frau aufeinander, was ihr verriet, dass sie wohl sehr oft Brüche erlitten hatte, die bis heute nicht gänzlich verheilt waren.
»Oh herzlichen Glückwunsch übrigens«, platzte es sogleich aus Una heraus, als sie ihre Augen lächelnd auf die Höhe der Nase der Frau richtete. Diese schaute irritiert auf.
»Was?« Prompt spürte Una die Röte des warmen Blutes in ihre Wangen steigen. Sie ging davon aus, die schöne Frau wisse bereits um ihr Glück des Lebens, das in ihrem Körper heranwuchs, doch da war sie wohl in ein Fettnäpfchen getreten.
»Ach nichts, entschuldigen Sie!«, entgegnete sie mit peinlich berührter, piepsender Stimme. »Schönen Tag noch«, wünschte sie der werdenden Mutter und fing sogleich erneut an zu joggen.
Abermals im Sanctum angekommen, holte sie umgehend ihr Telefon heraus und schickte Yelena eine Nachricht, ob sie am Abend Lust auf ein oder zwei Drinks hätte.
Wahrlich so verrückt, wie dieser Tag war, brauchte sie zweifellos einen Realitätscheck und dabei hatte er noch gar nicht wirklich angefangen

In vino veritas war das Sprichwort der antiken Römer, wenn es darum ging, bei abendlichen Trinkgelagen, die sich nicht selten über Stunden hinwegzogen, seiner Seele freien Lauf zu lassen.
Diesen Brauch wollte sich an diesem Abend auch Una zu Nutzen machen. Sogleich sie Wongs Bitte, es heute ruhiger angehen zu lassen, auch beherzigt hatte, fühlte sie sich, als wäre sie von einem LKW überrollt worden. Nicht körperlich, sie hatte weder Muskelkater, noch irgendwelche anderen Verletzungen, was der einzige Vorteil von Stranges Besuchsverbot war. Vielmehr war es ihr Geist, der ein wenig Erholung brauchte, als sehne sich ihre Seele nach einer peinlichen Menge Schlaf. Sie fühlte sich beinahe noch älter, als die alte Frau von heute Morgen.
Yelena, die nur wenige Minuten nach ihr die kleine Bar, welche sich Josie’s schimpfte, betreten hatte, erging es augenscheinlich ähnlich, da sie die Begrüßung übersprungen und gleich zum Bier gegriffen hatte.
Die beiden Frauen unterhielten sich eine Weile über allerlei Dinge, die die letzten Wochen passiert waren. Una erzählte ihr von Strange und den beiden unerwarteten Besuchen, die sie zunehmend beschäftigten.
Yelena, eine ausgezeichnete Agentin, schien bei der Erwähnung Logans allerdings nicht verbergen zu können, dass diese Information nicht neu für sie war. Una wusste somit, dass er auch mit ihr gesprochen haben musste, doch das war ihr an diesem Abend egal.
Als nach einem weiteren Glas Wein der in hinteren Ecke der Bar stehende Billardtisch frei wurde, entschieden sich die Beiden ein Spielchen zu wagen.
»Ich versuche mal, es dir leicht zu machen«, lächelte Yelena augenzwinkernd und spielte die Kugeln an. Sie bekam die Vollen und Una die Halben.
Trotz, dass Una ihre Augenbinde und auch ihre Sonnenbrille nicht trug, zog sie mit jeder eingelochten Kugel wiederholt die Blicke der Besucher auf sich. Sie begannen zu tuscheln, doch was auch hätte passieren können, Una und Yelena waren auf jede Eventualität vorbereitet.
Ganz besonders von einem Mann hatte sie seit geraumer Zeit die ungeteilte Aufmerksamkeit. Matthew, der mit seinem Partner Franklin, besser bekannt als Foggy an der Bar saß, gab sich nicht einmal die Mühe seinem Freund diskret mitzuteilen, dass sie da war. Zumindest nicht, wenn man das Gehör der beiden hatte.
Sofort wurde ihr Herz schwer und schlug ihr bis zum Hals. Ihre Muskeln waren vor Aufregung verkrampft. Doch natürlich ließ auch Matty ihre Anwesenheit nicht kalt. Es hätten wohl beide nicht damit gerechnet, einander nach ihrem Streit so schnell wieder über den Weg zu laufen. Kurzerhand entschloss sich Franklin, ihrer beider ehemaligen Freundin Hallo zu sagen.
»Miss Rea«, sagte er so laut, dass er auch Yelenas Aufmerksamkeit bekam, aber dennoch gedämpft genug, dass er Una nicht unnötig weh tat. Wie sie es von Foggy gewohnt war, zog er sie ohne zu zögern in eine bärenstarke Umarmung, ehe er sich zu Yelena umdrehte.
Matthew, der nun ebenfalls dazu gestoßen war, wahrte weiterhin seine Distanz, doch konnte sie dennoch seine Wärme spüren.
Sie roch seinen Eigengeruch gemischt mit dem zitrischen Moschus Duft seines Parfüms. Es lockte ihr ein kleines Lächeln auf die Lippen, dass er nach all den Jahren noch immer das Parfüm trug, das sie ihm damals zum Geburtstag geschenkt hatte.
»Wie kommt es, dass eine blinde Frau so gut Billard spielen kann?«, raunte er hinter ihr, nah genug, dass ihre Hände einander streiften und sie einander elektrische Gefühle entlocken konnten.
Doch sie antwortete nicht, sondern richtete ihre Aufmerksamkeit erneut auf Yelena und räusperte sich:
»Wo bleiben meine Manieren… Murdock, Nelson? Yelena. Yelena? Das sind Matt Murdock und Franklin, Foggy Nelson von Nelson, Murdock & Page«, stellte sie alle einander vor und besann sich darauf, ihre Fassung zu wahren und Atmung erneut unter Kontrolle zu bringen.
»Sie sind Anwälte«, erklärte sie abschließend und trank einen großen Schluck ihres Bordeaux, in der Hoffnung ihre Muskeln wieder entspannen zu können.
»Ah, na dann weiß ich ja, wen ich anrufe, wenn ich einen brauche«, antworte Yelena und zwinkerte Foggy grinsend zu.
»Wollt ihr was trinken?«, fragte er die beiden Frauen lächelnd, doch sie verneinten. Bier und Wein hochzeigend, lachten sie und bedeuteten ihm im Gegenzug, dass sie dennoch nichts gegen ein wenig männliche Gesellschaft hatten.
Una bot ihm obendrein ihren Part beim Billard an, da sie Yelena eine faire Chance bieten wollte. Er lachte, und tat so, als hätte sie ihm damit soeben sein Herz gebrochen. Während die beiden spielten, entstand zwischen Matt und ihr zunehmend eine angespannt, aufwühlende Stimmung. Was sollte man sich, nach ihrem letzten Abschied auch zu sagen haben?
»Ich …«, fingen beide gleichzeitig an. Sie konnte ihr Lächeln nicht verbergen, als sie ihm ihr Gesicht zuwandte und ihm zunickte. »Du zuerst«, gewährte sie ihm den Anfang und ging einen Schritt von ihm weg.
»Wegen neulich Abend…«, begann er also. »Matty ich…«, unterbrach sie ihn allerdings sofort und senkte traurig ihren Blick. Matt schüttelte mit geschirmten Lippen den Kopf. »Nein, ich verstehe schon«, erklärte er. »Ich werde dich nach heute Abend nicht wieder belästigen«, »Du hast mich nie belästigt …«, widersprach sie ihm flüsternd und schloss die von ihr zuvor aufgebaute Distanz.
Sie hatte fast den sanften Klang seiner Stimme vergessen. Sie war damals schon und so auch jetzt immer eine Erleichterung für ihre Ohren.
»Wie läuft es mit der Arbeit?«, fragte sie, gewillt das Thema zu wechseln. Matt zuckte mit den Schultern.
»Karen und ich haben einigen geholfen. Durch den Blip haben wir viele neue Kunden bekommen« Una nickte langsam und spitzte wissend die Lippen. »Und dein Alias? Existiert der Teufel von Hell’s Kitchen noch?« Sie hörte sein Lächeln. Das breite, ehrliche Lächeln, in das sie sich damals verliebt hatte. Doch Ehe er antworten konnte, kamen Yelena und Foggy bereits zurück. »Shots!«, riefen sie sogleich, als sie mit einem Tablett nach Tequila riechenden Getränken wiederkamen.
»Auf das Leben!«, sagte Franklin, worauf Yelena sofort mit ihm anstieß. Matt nahm sich ebenfalls einen und überreichte Una den letzten. Er trat einen Schritt an sie heran und beugte sich leicht zu ihr hinunter.
»Auf gute Freunde«, säuselte er so kalt wie ein Kuss der Chione in ihr Ohr und stieß mit ihr an. Sein Atem auf ihrer Haut bescherte ihr eine Gänsehaut, wie sie sie nur von damals erinnerte.
»Auf die alten Zeiten«, stimmte sie ihm zu und ließ die bittere, betäubende Flüssigkeit ihre Tränen im Rausch ersticken.

Seufzend raufte sie sich durch ihr Haar, als sie leise die Bibliothek durchsucht und schlussendlich nach einer schieren Unendlichkeit das Regal gefunden hatte. Wong hatte ihr ursprünglich strikt verboten, das Kamar-Taj zu besuchen, seit Strange dort seinen Hausarrest absaß.
Aber sie konnte nicht schlafen. Und besser, sie arbeitete weiter an einer Lösung dieser Misere, als sich stundenlang in ihrem Bett herumzuwälzen.
Lesen konnte sie zwar nicht, welche Inschrift dort bei den Büchern geschrieben stand, jedoch passte die Beschreibung, die sie schon öfter in Wongs Unterweisungen gelehrt bekam, gut zu den dort aufgereihten Lektüren.
Sie konnte buchstäblich das Summen, beinahe Singen der Magie in ihnen hören. Das waren sie, die Bücher ihrer Ahnen, die Mythologien und Geschichten der Götter.
In einem von ihnen musste doch eine Antwort zu finden sein, eine, die sie endlich einen Schritt weiter brachte. Ihre Hände waren von Schweiß durchnässt, als sie zitternd nach dem ersten der Bücher in der Reihe griff.
Aber kaum hatte sie dessen Einwand berührt, spürte sie plötzlich eine mächtige Erschütterung, die ihren Körper durchspülte und fühlte sich für eine Sekunde wieder gefangen im Meer ihrer Alpträume.
Aufkeuchend ließ sie das Buch vor Schreck fallen und stolperte nach hinten gegen das gegenüberliegende Regal. Panisch schüttelte sie stöhnend den Kopf, als sie an Ort und Stelle auf die Knie fiel. Ihre Sinne waren von der Gewalt der Erschütterung überladen. Der ganze Raum schien pechschwarz verdunkelt, sie konnte nichts mehr sehen.
Sie war noch im Tempel, zumindest hoffte sie das.
Aber das Klingeln in Ihren Ohren und ihre kribbelnden Hände erstellten ein Bild vor ihrem inneren Auge, das so rauschte wie ein Fernseher ohne Empfang.
Es erweckte beinahe den Anschein, als würde der Raum selbst vibrieren.
Ungläubig hob sie das Buch auf, merkte allerdings schnell, dass dies nicht der Ursprung ihrer Ohrgeräusche war.
Von ihrer Neugierde getrieben, drehte die Frau sich langsam zum Zentrum und der möglichen Quelle der Erschütterung hin und erschrak erneut, als sie die Anwesenheit eines Wesens vernahm.
Genötigt von ihrer Angst, griff sie auf der Stelle an. Ihre Hände zu Fäusten geballt, schlug sie das Wesen, dort wo sie seinen Solarplexus vermutete und wollte es mit einem Windstoß von sich weg stoßen. Fast wie in Zeitlupe, schien ihr Schlag auf die Kreatur vonstatten zu gehen, allerdings hatte es den Anschein, als könne sie ihn noch nicht einmal berühren.
»Hallo Leia«, sagte die Silhouette eines muskulösen, hochgewachsenen Mannes, mit einer Stimme, die sie als die des Mannes aus ihren Visionen erkannte. Er schien tatsächlich wenig beeindruckt von ihrem Angriff, denn zu ihrer Verwunderung, stand er noch immer an genau derselben Stelle, wie zuvor.
Bis vor einer Sekunde hatte sie noch aus Gründen, die sie sich nicht erklären konnte, die Hoffnung gehegt, es könnte möglicherweise ihr Meister und Lehrer sein, der, geheilt und wieder derselbe, dort vor ihr stand und mit ihr sprach. Allerdings erkannte sie wie überaus absurd dieser Gedanke war, denn so stark Strange sein mochte, hätte sie ihn damit stark verletzen können.
»Ihr? W-Was macht Ihr hier … u- und w- warum nennt ihr mich immer bei diesem Namen?«, fragte sie den Herrn mit zitternder Stimme. Indes waren es nicht etwa ihre Angst, oder die Tatsache, dass sie sich mittlerweile sicher war, zu wissen, wer und vor allem, was dieser Mann vor ihr eigentlich war, die ihre Stimme so beben ließen.
Vielmehr war es die mächtige Aura des Gottes, die ihre Sinne in einem Ausmaß benebelte, welches ihre Ohren mit einem stechenden Klingeln quälte und es ihr eiskalt den Rücken hinunterjagte.
»Ich will nur mit dir reden«, raunte der Gott sanft lächelnd, mit leicht erhobenen Händen, als er ihre Unsicherheit vernahm.
Langsam und vorsichtig wagte er einen Schritt auf die Frau zuzugehen, aber sie wich instinktiv zurück. Sie fürchtete, die Schmerzen würden zu stark, sollte sie noch weiter von seiner Präsenz eingehüllt werden, oder er sie vielleicht sogar berühren wollen.
Als der Mann dann jedoch ungeachtet ihres Rückzugs näher kam und sie allumfassend von seiner Macht eingeschlossen wurde, war der Nebel um ihre Sinne plötzlich verschwunden.
Zum ersten Mal, seit sie in ihren Träumen seine Gegenwart wahrgenommen hatte, entstand vor ihrem inneren Auge endlich ein kristallklares Bild. Sie erkannte die Lachfältchen um seine Augen herum, die wie ihre, nur tiefer und deutlicher waren und ihr verrieten, dass er älter sein musste, als er ihr offenbarte. Sie erkannte, dass seine hellen, vermutlich blauen Augen, immerzu die Schönheit und Unberechenbarkeit des Meeres widerspiegelten, dessen Wellen sich dort drin brachen und ungezügelt ihr Unwesen trieben.
Doch es war nicht die Kraft, die sie sah, die, vermutlich vom vielen Angeln stammenden Narben an seinen Händen oder die ungezügelte Natur des Gottes, die sie beunruhigte. Es war sein Lächeln. Das gleiche, leicht schiefe Lächeln, wie sie es hatte, welches ihr in ihrer Vergangenheit immer wieder den Ruf einer Unruhestifterin eingebracht hatte.
Man sah ihr förmlich an, wie ihr Kopf diese ganzen Informationen verarbeitete. Sie konnte sich nicht erklären, warum, aber irgendwas an diesem Mann, irgendetwas in seinem Wesen, jetzt von Angesicht zu Angesicht, erweckte in ihren Gliedern ein Gefühl von angenehmer, vertrauter Wärme.
»Nun? Rede schon!«, befahl sie letztendlich kleinlaut und zog in ihrer unabdingbaren Verwirrung zornig die Augenbrauen zusammen. Poseidon, der er sich derweil mürrisch im großen Saal der Bibliothek umsah, wandte ihr indessen erneut seinen Blick zu.
»Wie ergeht es deinen Wunden?«, umging er ihre Aufforderung mit arroganter Höflichkeit, wie es für einen Gott üblich war und klang dabei doch beinahe ein wenig besorgt. Fast wie von selbst, bewegte sich ihre linke, nicht vom vielen Boxen zu sehr verschorfte Hand hinauf zu ihren wieder vollständig abgeheilten Würgemalen.
Vorsichtig schluckte sie leicht, nur um sicherzugehen, dass es nach wie vor keine Schmerzen mehr verursachte. »Ist längst wieder verheilt …«, flüsterte sie und legte im Senken ihrer Hand leicht den Kopf schief. »Woher wisst ihr davon?«, stellte sie ihre durchaus angebrachte, wenn auch etwas zu offensichtlich, beunruhigt klingende Frage.
Der Gott lachte auf. »Ich weiß von jedem deiner Schritte, Kóri«, antwortete er schulterzuckend. »Du bist also ein Stalker«, entgegnete Una, ohne dabei die möglichen Konsequenzen zu bedenken und hätte sich dafür im Nachhinein womöglich am liebsten die Zunge abgebissen. Doch damals waren es ihr Misstrauen und ihr Zorn, welche Kontrolle über ihr Handeln übernahmen und so geschah es, dass sie dem Gott plötzlich drohend gegen den Sternum tippte. »Ich frage dich das gern erneut, Freak; wer bist du und was-willst-du-von-mir?« Indem sie jedes Wort der letzten Frage mit dem Tippen auf seiner Brust untermalte, war es auch für diesen Gott ein leichtes, ihren Zorn zu erkennen; und aus dem zuvor noch karibischem Türkis seiner Augen wurde sogleich ein pazifisch, tiefes, dunkles Blau.
Flugs spürte sie, wie die Temperatur des Raumes um 10° zu sinken schien und sich ein großer Schatten auf das Gesicht des Mannes legte. »Das Meer regt sich«, sagte er nach einer Weile, die er ihre Hand leicht feixend anstarrte und wieder von seiner Brust entfernte.
Sogleich war sie es, die auflachte: „Tut es das nicht immer?“, fragte sie ihn schmunzelnd, jetzt vollkommen von ihrer Vermutung überzeugt, dass sie den Gott des Meeres vor sich hatte.
Natürlich ist es nun leicht zu sagen, dass ihr das auch im Palast bereits hätte in den Sinn kommen können, doch Angst ist ein Gefühl, das zuweilen jegliches logisches Gedankengut binnen Sekunden unwirklich erscheinen lässt.
Auch hier, in ihrer sicheren Umgebung, in der sie wusste, wo alles war, wurden ihre Knie weich, sobald sie sich auf die Bilder einließ, die seine Anwesenheit ihr sandte.
Doch dann tat Poseidon etwas, auf das sie gewiss nicht vorbereitet war. Er nahm ihr ihre Augenbinde ab.
Die Augen entblößt, hob er leicht ihr Kinn mit seinen Fingern in die Höhe und zwang so ihre Augen, auf der Schwelle seiner Lippen zu rasten.
»Ich vergesse manchmal, dass du mich nicht sehen kannst«, säuselte er wieder so sanft wie noch wenige Minuten zuvor und strich leicht mit seinem Daumen über ihr Kinn.
»Ich kann Euch mehr als nur hervorragend sehen«, entgegnete sie zähneknirschend und entriss ihm erneut die ihre weiße Augenbinde. Ehe sie den schützenden Stoff allerdings wieder in ihren Händen hielt, kehrte die stählerne Härte seiner Mimik zurück.
Seine regungslose Statur, als er sie wieder von oben herab ansah, verriet ihr, dass er vielleicht doch nicht so oft lachte, wie es seine Augen zeigten. Als hätte er die Existenz solch jeglicher Emotionen schlicht vergessen.
Aber dann erschlug sie unverhofft eine Erkenntnis, die sie zuvor nur beiläufig vernommen hatte. Wie ein Blitz des Gottes Zeus, so schnell änderte sich ihr vielleicht siegreiches Grinsen in den erneut verängstigten Gesichtsausdruck und sie ersuchte langsam einen schützenden Abstand.
»K-Kóri …?«, stammelte sie und tastete nach Halt am Regal hinter ihr. »Was?«, fragte Poseidon die Frau sofort stutzend und beinahe schon etwas verärgert, als hätte sie ihn soeben beleidigt. »Ihr … Ihr habt mich Kóri genannt«
Wieder etwas enthusiastisch erscheinend nickte der Gott und schloss wiederholend die Entfernung, ergo er die Frau zwischen sich und dem hinter ihr befindlichen Regal einschloss. Ihr wurde schlecht.
Benebelt durch das nun durch ihre Adern schießende Adrenalin, schien sich alles um sie herumzudrehen. Das konnte nicht wirklich passieren, sie musste sich das einbilden.
Plötzlich schienen früheste Kindheitserinnerungen wieder ihr Gedächtnis einzunehmen. Erinnerungen an ein lächelndes Gesicht über ihr, als sie als Baby im Bett lag, das sie nie zuvor einem ihrer Verwandten zuordnen konnte. Die Wärme und der Duft nach frischer, salziger Gischt, als sie, so glaubte sie, im Arm ihres Vaters, mit Blick auf die Sterne einschlief. Das sanfte Schaukeln ihrer Krippe, bei dem sie, annahm es, war ihre Mutter, doch jetzt erkannte, es war das sanfte Wiegen der See, ihrem Zuhause.
»Diese Erinnerungen …«, fing sie an, doch ihre Tränen unterbrachen sie. »Aber Ihr seid …?«, versuchte sie es erneut schluchzend. Sie wusste nicht, wie sie es sagen sollte. Zu skurril war der Gedanke und gleichzeitig schämte sie sich ihrer Gefühle. All die Jahre über, wusste sie, sie war anders, doch soeben zu hören, sie solle etwas anderes als ein Mensch oder zumindest nur zur Hälfte menschlich sein, zog ihr den Boden unter den Füßen weg.
Er, der Gott des Meeres, der Herr über ihre größte Angst, solle ihr Vater sein? Sie begann zu beten, das durfte nicht wahr sein. »Ja«, bestätigte der Mann, der in ihr soviel Sicherheit und gleich soviel Chaos und Panik auslöste, dass sie befürchtete, von ihren Emotionen überwältigt zu werden. Sanft berührte er die ihre Wangen und hielt die letzten noch fließenden ihrer Tränen auf, bevor er sie dann in eine unverhofft feste Umarmung zog.
»Es ist wahr, Leia«, sprach Poseidon und klang dabei so liebevoll und stolz, doch sie konnte es noch immer nicht glauben. Sie war sich bewusst, dass Götter in menschlicher Form auftreten konnten, aber hatte sie nie das Geräusch eines Herzschlages erwartet oder das Rauschen des Blutes, das durch seinen Körper strömte. Das regelmäßige Heben und Senken seines Brustkorbes hatte geradezu beinahe etwas Beruhigendes und bewirkte, dass sie die Augen schloss und sich der Umarmung für einen kurzen Moment hingab.
Sie vermisste ihre Eltern, Maria und …
Für einen kurzen, schrecklichen Augenblick hatte sie fast den Namen ihres Adoptivvaters vergessen.
John! John und Maria Rea, waren ihre Namen.
Sie war traurig. Traurig, wütend, frustriert, in ihr herrschte ein Gefühlschaos, das sie so von nicht kannte.
War sie wütend, dass der Mann in den Bermudashorts sie verlassen hatte? War sie erleichtert? Glücklich? So Vieles wäre anders verlaufen, wäre er geblieben.
»Ich weiß, du hast Fragen«, sagte er, als er sich aus der Umarmung löste und ihr direkt in die Augen sah. »Doch die werden warten müssen, denn«, erklärte Poseidon und so spürte sie, wie sich nun ihr Magen in Unbehagen umdrehte. »Ich habe eine Bitte an dich«, rückte er mit der Sprache heraus und nahm ihre Hand in seine. »Leia, du musst etwas Wichtiges für mich erledigen«.

Chapter 5

Summary:

Kleine Triggerwarnung:
Thalassophobie und Megalophobie.
Das Kapitel ist mit Vorsicht zu genießen.

Chapter Text

So unterschiedlich wie die einstig dort beheimateten Götter, so kontrastreich sind auch Griechenlands Küsten. Überzeugt jede von ihnen sogar heute noch unzählige sterbliche Touristen mit ihrer atemberaubenden Schönheit. So faszinieren nicht nur die kalkweißen Sandstrände Mykonos mit ihren farbenfrohen und von Leben nur so wimmelnden Korallenriffe die Menschen. Sondern auch die sonnen goldenen Strände Korfus, welche mit ihrer grünen Flora die Reisenden in ihren Bann ziehen und die dazu gegensätzlichen, schwarzen Strände Santorinis, dessen felsige Pracht die stürmischen Launen der See in den Vordergrund stellen, bieten für jeden eine unvergessliche Reise. Doch so gern Una, die nunmehr versuchte, den Namen Leia, als ihren Tatsächlichen anzuerkennen, sich ihrer Sehnsucht hingegeben hätte, diese Orte einmal zu besuchen, war die Angst immer stärker. Mit jedem Wunsch, einmal das Summen des Sandes unter ihren Füßen spüren zu können oder die salzige Gischt des Meeres auf ihrer Haut zu fühlen, kämpfte immer auch der Drang der Flucht vor den offenen Tiefen des dunklen, unbarmherzigen Meeres. Aber nun dennoch hier zu sein, wo das Leben ihrer Ahnen begann, wo ihre Wurzeln liegen und ihrem Phobos nur einen einzigen, winzigen Schritt fern zu sein, jagte ihr einen Schauer über den Rücken, der ihr das Frühstück noch einmal durch den Kopf gehen ließ. Und doch erkannte sie in dem Chaos ihrer Gefühle auch eine starke Verbundenheit zu diesem Ort. Sei es das Gewitter, dessen Regen ihre Angst davon spülte, oder das Wissen, dass sie mit Strange an ihrer Seite nicht allein dort war, so war der Grund an und für sich egal. Strange hatte es ihr erklärt, nachdem er sie zuvor mit ihrem Vater belauscht hatte, als er dachte, jemand Fremdes sei in die Bibliothek des Kamar-Taj eingedrungen, um erneut wichtige Zauber zu stehlen. Als er dort jedoch keinen Dieb, sondern schlicht die Schülerin, deren Tod er zu verantworten geglaubt hatte, vorfand, wurde seine Mimik weich und eine schwere Last fiel von seinen Schultern. Die Frau vor sich zu sehen, die er als seine größte Rivalin betrachtet hatte, sich hin und her wiegend und vor Panik zitternd, erzeugte in ihm ein gewisses Gefühl von Mitleid. Er fühlte sich schuldig für das, was er getan hatte und begehrte indes, diese Schuld auch zu begleichen. Also hatte er seine Hilfe bei diesem Auftrag angeboten. Er hatte ihr beweisen wollen, so gestand er, dass sie ihm vertrauen konnte. Aber sagte er ihr auch, dass dies immer noch ihre Aufgabe war, die sie allein meistern musste. So sehr sie anfangs auch protestierte und ihm widersprach, war sie schlussendlich froh, dass er sich nicht so leicht hatte abwimmeln lassen. Wäre er nicht dabei gewesen, hätte sie wahrscheinlich nie den Mut gehabt, diesen Weg anzutreten. Doch so sehr sie seine Unterstützung beruhigte, hielt ihre Gelassenheit nur solange, bis sie erkannte, welche erschreckende Wahrheit den Worten ihres Vaters anlastete. Vor den Küsten der Heimat, so hatte es ihr Vater deutlich beschrieben, sollten in der Tiefe lebende Tiere vermehrt an der Oberfläche gesichtet worden sein. Meist mit Kratz- und Bissspuren übersät oder gänzlich in ihre Einzelteile zerfetzt, lagen ihre Kadaver an den Stränden der Inseln und zogen zuweilen immer öfter die Blicke der neugierigen Sterblichen auf sich. Beinahe hatte sie nach seiner Aussage nur mit einzelnen Fällen gerechnet, vielleicht ein bis zwei verstreute Leichen. Aber als sie das Massaker dort an jedem einzelnen der Küsten spürte, dessen Gestank nach Verwesung ihr die Tränen in die Augen jagte, schämte sie sich fast für ihre Hoffnung, auf eine zügige Heimkehr. Leia, so trug er es ihr in der letzten Nacht auf, sollte dem unerklärlichen Sterben der Wesen auf den Grund gehen und ihm so bald wie möglich von ihrem Erfolg berichten. Er hatte ihr von Tiefseeanglerfischen erzählt, die aufgrund des niedrigen Drucks an der Wasseroberfläche geplatzt waren. Eine sterbliche Familie soll vollkommen verängstigt geschrien haben, als sie das undefinierbare Tier gefunden hatten. Einmal habe eine seiner Dienerinnen sogar ein Tiefseegeschöpf bemerkt. Eines, das einem Oktopus ähnlich war, jedoch mit meterlangen Tentakeln, an deren Enden sich Saugnäpfe mit messerscharfen Zähnen befanden. Auch diese Kreatur soll schlaff wie ein luftleerer Ballon und zerschunden an die Strände gespült worden sein. Doch das, was Leia am meisten sorgte, war nicht, dass all die unschuldigen Tiere bereits vor den Ausmaßen des Druckunterschieds tot gewesen waren oder die Tatsache, dass es sich bei den Kadavern nur um in der Tiefsee lebende Tiere handelte. Vielmehr waren es die beiden letzten ihrer Funde, von denen eines makabrer war, als das Andere. So fand sie an einem der weißen Strände Mykonos ein größeres Opfer des mysteriösen Täters. Ein unschuldiger, für seine Verhältnisse noch recht kleiner Pottwal, dessen Flossen herausgerissen und Zähne gezogen wurden, als dieser noch am Leben war. Das arme Wesen schien allerdings schon seit längerer Zeit tot gewesen zu sein, als sie es fanden, denn die Natur hatte ihrer Arbeit bereits Genüge getan. Die Gärprozesse im Inneren des Tieres hatten es bereits zum Platzen gebracht. Die sonst so unschuldig weißen Strände der Insel waren in einem Farbenspiel aus Blut, Magensäure und Gallenflüssigkeit getränkt, dessen wirkliches Ausmaß Leia froh war, nicht sehen zu müssen. Trotzdem konnte sie leider nicht sagen, dass dies der furchtbarste Fund auf ihrer Suche blieb. Im Gegenteil war das Monster, das Stephen und sie bei ihrer Ankunft auf der Insel Kreta, selbst geborgen hatten, womöglich der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen gebracht hatte. Das trojanische Seeungeheuer oder besser, das, was noch von ihm übrig war, welches seine Berühmtheit aus der Geschichte der Andromeda erlangte, und ebenfalls ein Kind Poseidons war, lag dort in Fleisch und Blut, direkt vor ihren Füßen. Als sie es erreicht hatten, fing dieses jedoch allmählich an, sich dampfend aufzulösen und in die Schluchten des Tartaros zurückzukehren. Leia konnte ihr Entsetzen nur schwer bändigen, als sie den geballten Umfang des Blutbades noch einmal Revue passieren ließ. Sie war nicht sicher, ob sie weinen oder sich übergeben wollte. Beides wäre wohl eine logische Konsequenz gewesen. Und doch bemerkte sie in ihrem Versuch, sich wieder zu sammeln, dass etwas bei diesem Monster und auch bei dem Pottwal Kalb anders war, als bei den kleineren Leichen. So schienen die Wunden hier größer und nicht wie bei den Unzähligen zuvor von Menschenhand gemacht worden zu sein. Eine Erkenntnis, die sie sich bisher nicht hatte eingestehen wollen, waren die Worte ihres Vaters doch beinahe überdeutlich. Das verantwortliche Monster sollte lokalisiert und anschließend dasselbige Schicksal erleiden. So waren ihre Anweisungen. Übersetzt hieße das, sie müsse das Wesen töten, egal wie dieses aussehen mochte. Er hatte sie für diese Aufgabe zum alten Palast, seinem ehemals prächtigen Sitz geschickt. Nun, da sie in die Stadt Atlantis, vor der Küste Wakandas gezogen waren, lag der alte Stützpunkt vor der Küste der felsigen Insel leer und bot neuen Platz für Poseidons Feinde oder deren riesige Monster. Leia erinnerte, dass die Göttin der Stürme diesen einst übernommen hatte, so hatten es ihr die Najaden vor Jahren erzählt. Doch scheint diese seit einiger Zeit verschwunden. Früher spürten sie hier deutlich die chaotische, unberechenbare Energie Kymopoleias, aber jetzt, da sie weg war, schien alles unnatürlich still. Als würde das Meer den Atem anhalten, bis seine Herrin wieder auftauchen würde. Leia, die sich, schon seit sie ein kleines Mädchen war, umfassend mit dem Meer beschäftigt hatte, konnte sich nicht ausmalen, welches der uralten Ungeheuer inzwischen hier leben könnte und diese Leben auf dem Gewissen hatte. Noch vor ein paar Stunden hatte sie gehofft, es wäre vielleicht eine kleine Seeschlange, die vor den Küsten ein paar Fischer geärgert hatte, oder ein Hippocampus, der es riskierte, sich einigen der Touristen zu zeigen. Und die toten Tiere wären nur reiner Zufall. Sie war bei den anfänglichen Entdeckungen sogar bald in der Annahme, es hätte ein Halbblut sein können, dessen Verwandter mit Poseidon im Krieg lag. Doch sobald sie die Ausschlachtung des Wales oder des nun vollends verschwundenen Monsters vor sich hatte, von dessen Existenz die Sterblichen nicht einmal wussten, merkte sie, dies konnte nicht das Werk eines mickrigen Sterblichen sein. Auch Strange, der nunmehr neben ihr stand und die Grausamkeit in seinem eidetischen Gedächtnis festhielt, atmete in angewiderter Frustration auf.
»Was denkst du, sollen wir machen, wenn wir das Wesen gefunden haben, welches für all das hier verantwortlich ist?«, fragte er und sah sie mit einem bemitleidenden Blick an. So gern sie ihm diese Frage auch beantwortet hätte, war es Dieselbige, die sie seit ihrer Ankunft versuchte, zu realisieren. Nun, da ihre Chancen, dieses Ungeheuer auch nur zu verwunden, bei seiner nun deutlich werdenden Größe und Stärke bereits so gut wie bei null lagen, fand sie keine Antwort, die ihrer beider Rückkehr garantierte. Sie fragte sich, warum ihr Vater dieses Problem nicht von seinen Kriegern beseitigen ließ oder besser noch, es selber tötete. Er war ein Gott, also wäre er durchaus in der Lage gewesen. Aber für sie erschien diese Aufgabe, je länger sie sich ihrer Erfolgsaussichten bewusst wurde, immer unlösbarer. Vollkommen in ihren Gedanken versunken, lief sie an den brüchigen Abgründen der Insel entlang. Sie hörte nicht Stranges warnende Rufe, jedes Mal, wenn sie erneut beinahe an den Kanten abrutschte. Der Sturm, dessen Regen die Steine nur noch gefährlicher machte, tat sein Übriges, als das Unausweichliche plötzlich passierte. Selbst Strange, welcher in seiner Naivität versuchte, sie beide an der Oberfläche zu halten, zog der nun wie ein Dominoeffekt alle Felsen hinunter ziehende Erdrutsch immer weiter in die Tiefen des Meeres. Als der Tumult und der Staub sich allmählich gelegt hatten, bemerkte sie, dass sie bald den Grund des Meeres erreicht hatte. Selbst wenn sie also wollte, wäre es indessen schwierig gewesen, einfach so wieder aufzutauchen. Wusste sie immerhin nicht, ob die Taucherkrankheit auch sie betreffen könnte. Leia, die diese Prozedur aus ihren Träumen erinnerte, hielt derweil, solange die Luft an, bis das krampfende Gefühl in ihren Lungen zu stark wurde und der Drang zu atmen sie übermannte. Immerhin war es für den menschlichen Körper eine große Überwindung, willentlich Wasser einzuatmen. Indes das salzige Wasser ihre Lungen durchspülte und ihr eigenes Blut in die Bläschen eindrang, durchzuckte das schmerzlich brennende Gefühl ihren Körper. Während jeder Mensch spätestens jetzt, wenn nicht bereits durch des schnell immer höheren Drucks, ohnmächtig oder tot gewesen wäre, legte sich bei ihr nun der Krampf ihrer Lungenklappen und sie konnte wieder frei atmen. Erleichtert über die neu gewonnene Stärke, die das Meerwasser in ihr hervorrief, suchte sie jetzt nach den Bewegungen ihres Lehrers. Doch sie fand keine. Strange schien bewusstlos zu sein, würde doch wahrscheinlich jeder, der noch bei Bewusstsein war, um sein Leben kämpfen, um wieder an die Oberfläche zu gelangen. Sie konzentrierte ihre Sinne auf die Suche nach körperlicher Wärme, die der eines Menschen gleich kam, doch er war nirgends zu finden. Als sie sich dann jedoch, am Meeresboden angekommen, auf Schwingungen konzentrierte, fand sie ihn noch rechtzeitig. Sein Gewand war unter einem der Felsen eingeklemmt, die mit ihnen gesunken waren und er drohte, indessen zu ertrinken. Sie wusste zunächst nicht, wie sie ihm hätte helfen können. Das ganze Halbgott-Dasein war noch so neu für sie. Doch mit ihm wieder aufzutauchen würde zu lange dauern, also brauchte sie eine andere Möglichkeit. Stephen, der bald die letzten in seiner Lunge vorhandenen Luftreserven ausatmete, schien allerdings bereits die Lösung des Problems zu sein. So formte sie eine Luftblase, die groß genug für Stranges Kopf war und bewahrte ihn in letzter Sekunde vor dem Ertrinken. Dankbar nickte er ihr leicht zu, als er allmählich hustend wieder zu Atem kam.
»Bist du verletzt?«, fragte er sie und klang dabei ganz zu ihrer Überraschung ehrlich besorgt. Sie schüttelte nur beiläufig den Kopf. Seine Frage aber, die hier unten im Meer wie eine alte Tonbandaufnahme klang, erzeugte einen leichten bitteren Beigeschmack. War er es immerhin, der sie vor Kurzem noch hatte umbringen wollen. Und doch schien er mehr zu sehen, als sie. »Du blutest.«, erklärte er, während er auf ihre Knie und Handflächen zeigte, die nun langsam wieder zu heilen begannen. Sie musste sie sich aufgeschürft haben, als sie an den Felsen abgerutscht war.

»Una?«, »Strange?«, antwortete sie. Seit einer geschlagenen Stunde, so glaubte sie zumindest, tauchten sie inzwischen bereits schweigend vor den Küsten Kretas umher auf der Suche nach dem ehemaligen Sitz ihres Vaters. Wenn sie ehrlich war, wäre ihr das vielleicht auch lieber gewesen.
»Was ist das?«, fragte er und schaute sich erschrocken in der Gegend um. Leia hatte derweil in ihrer Konzentration das soeben lauter gewordene taktvolle Klopfen gar nicht mitbekommen.
»Das?«, fragte sie, »Das ist der Herzschlag eines Blauwals.« Seine Frage beantwortet, wusste sie nicht, ob ihn die Gewissheit nun beruhigte oder womöglich noch mehr verängstigte. Letzteres jedoch, konnte sie nicht gebrauchen. Es reichte, wenn einer von ihnen kurz vor der Panik stand. Da Stephen allerdings keine weiteren Fragen hatte, fokussierte sie ihre Sinne erneut auf die Suche nach dem Palast. Sie wusste, dass die Ruinen hier irgendwo sein mussten und mit ihm wahrscheinlich auch das Monster. Es war ein Vorteil, dass Wasser Schwingungen gut übertrug. So konnte sie ein wenig besser die Umgebung einschätzen, auch wenn sie kaum etwas hörte. Jedoch machte ihr, je tiefer sie kamen, die Kälte immer mehr zu schaffen. Natürlich wusste sie, wie sie trocken bleiben konnte, das hatte sie in den Visionen gelernt, die sie noch vor kurzem geträumt hatte. Aber auch das half ihr nur begrenzt. Sie hätte gern vielleicht noch mehr gelernt, doch seit Strange sie nicht mehr unterrichtete, hatten Botschaften ihres Vaters aufgehört. Doch Träume hin oder her, seit sie diese nicht mehr hatte, schlief sie um einiges friedlicher. Ihre Angst musste sie nicht auch noch in der Nacht begleiten. Auch jetzt, merkte sie wieder, wie das Ekel erregende Gefühl an ihrem Rückgrat hinauf kroch. Wie die Art von Gänsehaut, ihren Körper erfüllte, die nicht durch Kälte entstand. Sie gab sich größte Mühe bei der Suche nach Anzeichen, nach Hinweisen auf das Wesen, doch insgeheim hoffte sie noch immer inständig, es nicht zu finden.
»Missgeburt!«
»Wie bitte?«, fragte Leia entgeistert und hielt, die Arme verschränkt, mitten in ihrer Bewegung an.
»Ich habe nichts gesagt.«, antwortete Strange, der neben ihr herschwamm. Sie stutzte, hatte sie doch eben eine Stimme gehört. Kopfschüttelnd entschied sie allerdings es ruhen zu lassen, immerhin hörte sie schon eine Weile die Gespräche der Tiere hier. Allerdings flüsterten diese nicht.
»Taugenichts …«, hörte sie erneut eine nun deutlich weibliche Stimme flüstern. Diesmal lauter, als noch ein paar Sekunden zuvor. Sie konnte die Herkunft der Stimmen, die, je tiefer sie schwammen, lauter wurden, nicht erfassen. Sie schienen von überall und näherzukommen.
»Okeaniden … Das Gefolge Okeanos.«, murmelte sie.
»Was? Wo?«, fragte Strange und sah sich hastig um.
»Ich weiß es nicht, aber sie kommen näher.«, erklärte sie und konzentrierte sich auf ihre Atmung. Sie durfte jetzt nicht hyperventilieren. Sie wollte nicht herausfinden, ob auch für Kinder des Poseidon eine Ohnmacht in dieser Tiefe lebensbedrohlich wäre. Je lauter die Stimmen allerdings mit der Zeit wurden, desto klarer wurde auch das Bild des Ortes vor ihr. Einzelne noch stehende Säulen, umrandet von Trümmern aus Mosaiken und Quadersteinen, die nicht zu den übrigen passten. Sie waren am Palast ihres Vaters angekommen. Als sie die letzten noch stehen Säulen erreicht hatten, waren das Geflüster und das Summen der Bewegungen verschwunden.
»Wo sind sie hin?«, fragte Strange.
»Ich weiß es nicht.«, entgegnet sie schulterzuckend,
»Doch dort wo sie jetzt sind, sollen sie gern bleiben.« Neugierig erkundete sie jeden Winkel der Ruine. Alles kam ihr so vertraut und heimisch vor. Sie fühlte deutlich die Lebensenergie des Meeres in den Steinen dieses Ortes. Das Gefühl wurde noch stärker, als sie den Thron ihres Vaters spürte. Auch nach all der Zeit, war seine Macht an diesem Ort noch deutlich zu spüren. Es war, als könne ihr hier nichts anhaben. Ehrfürchtig schwamm sie den majestätischen Thron hinauf. Beinahe zehn Meter muss dieser hoch gewesen sein. Oben angekommen, setzte sie sich auf die Armlehne der schickeren Version eines überdimensionierten Anglerstuhls und ließ ihre Füße baumeln. Sie wusste um die Wichtigkeit der göttlichen Throne. Aber dieser stand seit Jahren leer, weswegen sie nicht glaubte, den Zorn ihres Vaters befürchten zu müssen. Das Beben jedoch, welches gleich darauf resultierte, schickte ihr den Phobos quer durch ihren gesamten Körper.
»Leia!«, hörte sie ein tiefes Flüstern in ihren Gedanken.
»Was zum Hades?«, rief sie erschrocken. Solch eine tiefe Stimme hatte sie noch nie gehört. Sie klang wie ein Messer, das über Metall glitt. Wie vor Furcht erstarrt und doch bei Verstand, verharrte sie auf dem Sitz ihres Vaters und lauschte der Stimme.
»Gehorche mir!« Sie wollte nicht spuren. Aber ihre Arme und Beine schienen einen eigenen Willen zu haben. Wie in Trance sprach sie von der Lehne und schwamm wieder in die dunkle Tiefe. Wäre sie noch Herrin über ihre Sinne gewesen, hätte ihr Angstschrei die Stimme übertönen können. Sie zitterte am ganzen Leib. Sie wollte fliehen. Nun wusste sie, wie es augenscheinlich zu den Toren kommen konnte. Die Tiere wurden hypnotisiert, allein durch die Stimme des Monsters. Sie konnte das Wesen nicht spüren, seine Schwingungen waren auch für sie beinahe unsichtbar. Aber seinen stechenden, milchigen Blick in ihren Gedanken, spürte sie durch Mark und Bein fahren.
»Komm zu mir, Wechselbalg!« Und das tat sie. Tränen der ihrer vermischten sich mit dem salzigen Wasser des Meeres. Die Ausschnitte, die sich ihr zeigten, waren so grausam und doch, sah sie nicht das gesamte Monster vor sich.
»Una! Stop!«, hörte sie dumpf Stranges verzweifelte Rufe. Am liebsten, wäre sie ihm in die Arme gerannt, hätte ihn und sie hier weggeschafft. Aber war gefangen in ihrem eigenen Kopf. Als Strange sie erreichte und versuchte sie in die entgegengesetzte Richtung zu ziehen, wich das Säuseln einem noch tieferen, bedrohlichem Knurren. Leia wollte ihn warnen. Sie wollte ihn anschreien, er solle von hier verschwinden. Doch im nächsten Moment spürte sie, wie sie beide gegen den Palast geschleudert wurden. Als sie ihre Benommenheit abgeschüttelt hatte, schwamm sie zu ihm und hielt sich stöhnend ihre linke Seite. Was auch immer sie getroffen hatte, hatte wohl eine ihrer Rippen gebrochen, als es sie beide gegen die Säulen der Ruinen stieß. Diese durchbohrte nun ihre Lunge und erschwerte ihr so das Atmen. Stephen, der sich wohl den Kopf angestoßen hatte, blutete stark und machte das Monster so nur noch wilder. Sie hörte das lüsterne Knurren des Wesens, als es den metallischen Geschmack wahrnahm, doch ihre Schmerzen vernebelten ihre Sinne, sodass sie nicht wusste, wo es war. Der Geruch seines Blutes war nicht das Schlimmste, könnte man meinen, dass sie an diesem Tag gerochen hatte. Und doch erregte der metallische Geschmack auf ihren Lippen ihren Würgereflex, der sie schmerzerfüllt aufkeuchen ließ. Sie hasste den Geruch von Blut. Schnell versuchte sie, ihren Lehrer hinter die großen Säulen zu schieben, in Sicherheit vor den Fisch beleibten Frauen, deren gierige Hände sie sogleich wieder an den Füßen packten.
»Wo willst du denn hin, Missgeburt?«, »Wir waren doch noch gar nicht fertig mit spielen!«, flüsterten sie, als sie sie zurück ins Licht der gebrochenen Sonnen zogen.
»Mal sehen, ob Poseidons Tochter auch so zerbrechlich ist, wie diese kleinen Wesen.«
»Ihr wart das also«, knurrte Leia, als sie weiter gegen die Hände der Meeresgeister wehrte.
»Natürlich waren wir das!«,
»Ja, hat Spaß gemacht, sie zu zerfetzen!«, lachten sie und begannen nun auch ihre Sachen zu zerreißen, als wären es alte Papiere, die niemand mehr brauchte. Und mit ihren Kleidern kratzten sie auch ihre Haut blutig. Sofort verstärkte sie ihren Kampf, freigelassen zu werden und schlug und trat um sich, in der Hoffnung sie zu schwächen. Sie schrie auf von den brennenden Schmerzen. Die messerscharfen Zähne und Nägel der Frauen zogen Leia das Fleisch vom Körper. Zentimeter um Zentimeter genossen sie ihre Tortur und ihr lautes Schreien.
»Genug!«, brummte das Monster, das nunmehr hinter den Mauern des Palastes aufgetaucht war. Das war es. Das Monster, das sie finden sollte. Noch immer unter Schmerzen, war seine Präsenz für sie nicht mehr zu leugnen. Seine Konchen, wie alt es auch immer sein mochte, schabten übereinander wie die Dielen eines alten Holzschiffs. Es übertönte sogar die Geräusche ihrer eigenen. Sein Atem stank nach Verwesung und Eukalyptus. Mit den Drachen verwandt, schien es wohl logisch, dass auch dieses Wesen oft Eukalyptus fraß, um den Atem zu neutralisieren. Sie hätte seine Größe gerne beschreiben wollen, schien allerdings nichts die Monstrosität gebührend darzustellen. Das trojanische Seeungeheuer jedenfalls wirkte im Gegensatz zu diesem gigantischen Alligator wie ein größeres Plüschtier. Da es sich um eine kaltblütige Bestie handelt, war es für Leia nicht leicht, eher auf die Temperaturänderungen fixiert, dieses zu lokalisieren. Doch brachte sein Erscheinen nun einen entscheidenden Vorteil mit sich. Seine Dienerinnen waren so von ihm fasziniert, dass sie ihre Griffe Leias Knöchel lockerten. Sofort trat sie zu. Sie ergriff die kleine Möglichkeit, die ihr gegeben wurde und schwamm im Schutz der Strömungen zu Strange. Ihre Lunge war noch immer nicht verheilt, steckte ihre Rippe doch noch in ihr. So schaffte sie es gerade ihren Lehrer stöhnend auf ihre Schultern zu ziehen, ehe sie sich in Richtung Wasseroberfläche bewegte. Sie wäre gern schneller gewesen, doch ihre Wunden waren zu schwerwiegend, als dass ihr das Wasser in ihren Lungen hätte Kraft spenden können. Sie spürte das Fauchen der Geister unter ihr. Wie in Zeitlupe schwamm sie immer weiter und orientierte sich nur an den immer niedriger werdenden Druck. Ihre Chancen auf eine sichere Ankunft allerdings sahen nicht gut aus. Sie hörte nur noch das schmerzerfüllte Pfeifen ihrer Lunge, die sich mit jedem Meter weiter ausdehnte und ihrem Blut freie Bahn gab. Doch sie spürte bereits die leichte Wärme der Sonne. Gleich waren sie an der Oberfläche. Oben angekommen, hievte sie Strange, der sein Bewusstsein wiedererlangt zu haben schien, mit letzter Kraft auf die schützende Ebene der felsigen Insel und bat nun um die seinige Hilfe.
»Nein!«, hustete er, als er seine müden Augen auf sie richtete. In ihrem Versuch sich jetzt selbst an Land zu ziehen, spürte sie jedoch, wie ihre Kraft sie immer weiter verließ. Ihre Atmung wurde flacher, als der Riss in ihrer Lunge nun aufhörte, zu heilen und das Blut hineinströmte. Sie fürchtete, zu ersticken. Strange nickte, als er sie sanft wieder ins Wasser schob, unwissend über die Gefahren, die dort auf sie lauerten. »Du musst im Meer bleiben.« Blut tropfte aus ihrem Mund, verursacht von der Perforation, die sogleich wieder zu heilen begann.
»Es tut mir leid … Von hier an musst du es allein schaffen.« Indessen immer näher spürte sie erneut die Geister des Titanen unter ihr. Sie riefen ihren Namen. Von der Panik getrieben, versuchte sie sich doch noch irgendwie auf die Steine der Insel zu ziehen, doch es war zu spät. Längst einen Wimpernschlag später hatten sie die Okeaniden erneut gepackt und zurück in die Tiefen gezogen. Panisch schreiend, versuchte sie um sich zu schlagen, sich gegen die Geister zu wehren und sie zu verletzen, aber ihre Hände schnitten lediglich das Wasser, welches sie eigentlich retten sollte. Unfähig ihre Kräfte einzusetzen, gebannt von ihrer Angst, drohte sie der Erstickung zu erliegen und an ihrem eigenen Blut zu ertrinken. Tief unter ihr spürte sie bereits die spiralenden Schwingungen des Giganten, der auf sein vor Angst gelähmten Opfer wartete. Je tiefer diese sie zogen, umso höher der Druck wurde, desto kälter wurde es. Bald schon war es so kalt, dass sie glaubte, es wäre heiß. Sie betete. Betete um Hilfe zu ihrem Vater, um einen errettenden Schutzengel. Doch ehe sie es sich versah, ehe sie ihr Gebet beenden konnte, war sie im Inneren des urzeitlichen Riesen gefangen. Sie zitterte am ganzen Leib, als sie mit Freuden feststellte, dass sie nicht tot war. Die Erkenntnis aber, dass sie dennoch hier sterben würde, erschauderte schnell das Mark ihrer Knochen. Tränen der Verzweiflung rannten den Weg ihrer Wange hinunter und hinterließen sie mit heißen, rote Striemen auf ihrer karamellbraunen Haut. Ihr Meister dort oben, würde Hilfe finden, er würde es überleben, doch sie würde hier unten, gefangen in ihrer größten Angst, elendig verenden. Weinend fiel sie, so glaubte sie, auf der Zunge des Tieres auf die Knie. Ihre Arme waren übersät mit denselben Spuren der kleineren toten Tiere. Sie verstand nun, dass die kleineren Tiere augenscheinlich den Wassergeistern zum Opfer fielen, ehe sie den Giganten auch nur erreicht hätten. Nur die größeren, die, die seiner Größe und Macht würdig waren, wurden so lange am Leben gelassen, dass er sie töten konnte. Doch sie als menschliche Tochter seines Feindes galt ihm womöglich nur als winzige, weniger bedeutende Trophäe im Gegensatz zu dem Loch, welches er ihrem Vater damit ins Herz brennen würde, sollten die Götter überhaupt so etwas wie ein Herz besitzen. Sie würde ihn nie wieder sehen. Sie würde Yelena nie wieder umarmen können. Strange würde vielleicht um sie trauern, doch wie alle würde er sie irgendwann vergessen. Genauso wie sie ihre Eltern beinahe vergessen hatte. Die Vorwürfe zerfraßen sie noch immer. Ebenso wie ihr plötzliches Verschwinden, als sie Matthew einfach zurückließ. Sie würde ihn nun nie um Verzeihung bitten können, ihm nie wieder ihre Liebe gestehen können. Mittlerweile war es nicht mehr das Rauschen des Wassers, das den Schlund des Monsters erfüllte, sondern vielmehr ihr immer lauteres Schluchzen, mit jedem Fehler, den sie sich eingestand. Mit jedem Leben, das sie zerstört hatte, das ihr Fluch zerstört hatte. Doch es war kein Fluch, es war ihre Bestimmung. Sie war die Tochter des Meeres. Sie hatte es geschafft, all die Jahre der Mordversuche zu überleben. Ob im Wasser oder am Land. Sie horchte in sich hinein, erinnerte sich an das Rauschen des Wassers am Strand in Phoenix. An das Lächeln ihrer Eltern, an Matthews Lächeln. „Meditation hilft dir, dich zu fokussieren. Sie heilt Seele und Körper“, erinnerte sie seine Worte. Ein und aus, atmete sie, als sie sich auf die Stärke, die sie durchströmte, konzentrierte, die Grenzenlosigkeit und ungezügelte Kraft in den Wellen und in ihr spürte. Ein und aus strömte das Wasser in ihren Lungen und die von Angst geschürte Gänsehaut änderte sich in ein warmes, krampfendes Gefühl in ihrem Magen. Mit jedem Atemzug, wurden die Schmerzen in ihren Gliedern weniger, doch das Gefühl in ihrem Inneren blieb. Und es wurde stärker, bis sie es nicht mehr kontrollieren konnte. An das, was dann geschah, erinnerte sie sich nur dunkel. Sie weiß noch, dass die Schmerzen, die das Atmen mit sich brachten und das Brennen ihrer Tränen plötzlich verschwunden waren. Sie weiß, dass ihre Kratzer allmählich verheilten und dass es in weiter Ferne einen lauten Knall gegeben haben muss. So spürte sie noch immer, dass Gefühle von Trauer, Zorn und Angst in ihr explodiert waren und eine solch enorme Energie freisetzten, dass sie den Urgiganten von innen heraus zerfetzt haben musste. Dann, mit einem Mal sanken dessen Einzelteile ins Meer. Mitten drin sie, zerschunden, mit vereinzelten rohen, teils verbrannten Stellen ihres Fleisches. Sie war gelähmt, müde und erschöpft. Leia wusste nicht, was passiert war, doch sie wusste, sie würde es nicht bis zur Oberfläche schaffen, Stephen nicht retten können. Sie flüsterte ein letztes Gebet, bat um Hilfe für ihn, als sich plötzlich ein großer Schatten über sie legte und sie auf etwas Weichem gebettet wurde.
Ihre Gebete waren erhört worden. Sie war in Sicherheit.

Chapter Text

Dunkelheit. Sie erinnerte die dunkle Kälte, als der große Schatten über sie hereinbrach. »Habt keine Angst!«, hörte sie die weibliche Stimme sagen. Doch Angst war nicht das Gefühl, das Leia gerade spürte. Dafür war sie viel zu schwach. Die Müdigkeit hatte sie unlängst übermannt und erstickte jede sich nunmehr aufbauende Welle der Panik. Sie konnte sich dagegen weder wehren noch schreien. Also schwieg sie, nur noch mit Mühe fähig, ihre Augen offenzuhalten. Immer unerträglicher wurde der Druck auf ihren Körper, je tiefer das Meer sie zog. Aber gelähmt und von Brandwunden gezeichnet, akzeptierte sie es. Wieder erklang das Flüstern der weiblichen Stimme, welches ihr sagte, sie solle wach bleiben. Jedoch war ihre Kraft verbraucht. Als auch die letzten verbleibenden Lichtstrahlen, der untergehenden Sonne, nicht vermochten, sie noch zu erreichen, schloss sie leise die Augen. Sie ergab sich der Erschöpfung und schlief in dem Unwissen ein, dass sie gerettet war.

Zitternd schreckte sie, so glaubte sie jedenfalls, wenige Sekunden später in einem fremden Bett, in einem fremden Zimmer auf. Schmerzhafte Gänsehaut überzog ihren Körper, schien er noch immer im Gefühl der Kälte gefangen zu sein. Sie war in Sicherheit, trocken und doch verfolgte sie bestehend der Eindruck, sie würde weiterhin im Meer versinken. Erst als sie die warmen Sonnenstrahlen vernahm, die das Zimmer erfüllten, konnte sie die klirrende Kälte des Meeres aus ihren Knochen schütteln.
Je weiter sich aber ihre Muskeln entspannten, spürte sie erst, welche Schmerzen sie tatsächlich hatte. Jede Faser ihres Körpers schien ihr zu brennen. Einige Stellen mehr als andere. Sie roch und schmeckte das Eisen ihres eigenen Blutes und erinnerte die Wärme, als dieses nach der Lungenfraktur ihren Rachen füllte. Ihre Knochen und vor allem ihre gebrochenen Rippen klangen wie die knarrenden Dielen eines alten Schiffs. Es schien ein Wunder zu sein, dass sie überlebt hatte. Doch was war dort unten passiert? Stöhnend setzte sie sich in dem weichen Federbett des lichtdurchfluteten Raumes auf und hielt sich ihren pochenden Kopf. Ihr war schwindelig und die schwülwarme Luft machte diesen Zustand nicht wirklich besser.
Das Zimmer, welches sich als ein großes Glas-Iglu umgeben von Schnee entpuppte, war mit einem kleinen Kamin und unechten Tierfellen ausgestattet. Sie fühlte, wie der Kontrast der kalten Fenster zur inneren Wärme der Kuppel ihren Körper erfüllte. Also fokussierte sie ihre Sinne auf diesen Unterschied. Nicht vollends schallisoliert zur Außenwelt, hörte sie das Lachen von Kindern und das Knirschen des Schnees, den sie einander zuwarfen und seufzte freudig auf. Sie war in einem Skigebiet, schlussfolgerte sie.
Ein bekannter Duft von Medizin und Kräutern erfüllte jedoch wenig später ihre Nase und ließ sie angewidert das Gesicht verziehen. Eukalyptus und Salbei: Eine Mischung, die wohl niemand wirklich gerne roch. Doch mehr noch als das Aroma der Arzneien oder ihr derzeitiger körperlicher Zustand beunruhigte sie ein weiteres Detail. Ein Geruch, der ihr Herz sofort zum Stillstand brachte, ehe der schwindelerregende Adrenalinschub es wieder antrieb.
Das Blut schien ihr in ihren Adern zu gefrieren. Wie gelähmt saß sie da, als sie die Bruchstücke ihrer Erinnerungen an das Geschehene Revue passieren ließ.
Sie hatte das mannesähnliche und von der Hüfte abwärts als Schlange beleibte Wesen nicht bemerkt, als sie wieder zu Bewusstsein gekommen war. Doch nun vernahm sie seinen Gänsehaut bescherenden Reptiliengestank. Ihre Sinne ließen sie wohl nach dem, was im Meer passiert ist, offenkundig im Dunkeln stehen, so leise schien es sich zu bewegen. Sie war nicht sicher, ob sie lieber vor Panik hätte schreien oder fliehen mögen. Jegliches Resultat wäre nach ihrem wahr gewordenen Alptraum wohl verständlicher denn je gewesen. Und doch geschah nichts dergleichen. Im Gegenteil saß sie einfach weiter regungslos auf dem Bett, ihren verbundenen Brustkorb umklammernd und senkte müde ihre Lider. Den verhängnisvollen Preis, ihr Opfer für ihr Gebet, schien sie inzwischen zu akzeptieren.
»Bist du hier, um mich zu töten?«, fragte sie das große Wesen emotionslos und drehte langsam ihren Kopf in dessen Richtung.
»Was?«, fragte es und schlug das Buch, welches es zuvor noch gelesen hatte, beinahe empört wirkend laut zu.
Seine Stimme klang warm und tief, nicht kratzig und bedrohlich, wie die des Urgiganten. Sie rief in ihr aus Gründen, die sie sich nicht erklären konnte, den Gedanken an eine heiße Schokolade an einem kalten Wintertag hervor. Derart beruhigend und freundlich, fühlte Leia sich sofort schuldig, ihm diese direkte Frage überhaupt gestellt zu haben.
»Nein«, beantwortete es diese dennoch sanft und stand aus dem neben ihrem Bett stehenden Sessel auf.
»Ich habe Euch behandelt«, erklärte es und zeigte dabei auf den Verbandskasten und die auf dem Nachttisch stehenden, wohl von ihm eigens mitgebrachten Salben. Leia nickte peinlich berührt und bedankte sich bei dem Wesen.
Ihre Skepsis tat ihr leid, war sie es jedoch nicht gewohnt, dass jemand sie so umsorgte.
»Du bist Raphael, hm?«, formulierte sie fragend ihre Erkenntnis. Er nickte.
»Woher wisst Ihr das?« Sie zuckte mit den Schultern, wusste sie die Antwort darauf immerhin selbst nicht so ganz.
»Ich hatte um einen Retter gebeten und eigentlich mit Michael gerechnet«, erklärte sie. Als Teil der Religion ihrer Eltern wusste sie seit ihrer frühesten Kindheit sehr viel über die Engel und ihre Kräfte. Michael, der Engel des Krieges, sowie Raphael waren nur wenige von ihnen. »Dem Arzneigeruch und deinem Aussehen nach, konnte ich allerdings schließen, dass du Raphael sein musst, Engel der-«, »Heilung und Apotheke«, vervollständigte er, »richtig.« Woher sie wusste, dass es sich überhaupt um einen Engel handelte, war ihr allerdings schleierhaft, sah er immerhin nicht den biblischen Erzählungen entsprechend aus. Sie kannte jedoch die göttliche Aura. Diese haute einen um, ehe man sie bemerkte. So war es, als sie ihren Vater in der Galerie belauschte und ebenfalls als sie ihm leibhaftig gegenüber stand. Doch Raphaels war anders. Sie summte. Wie ein Chor.
Leia hörte dieses ihr so merkwürdig bekannte Summen seit seiner Ankunft und es hörte sich wunderschön an.
»Hast du mich gerettet?«, fragte sie nun, ein wenig hoffnungsvoll.
»Nein«, sagte er jedoch kopfschüttelnd.
»Ich fand euch lediglich an der Küste und brachte euch hierher.«
»Wieso hierhin?«, fragte sie stirnrunzelnd.
»Weil Ihr diesen Ort ausgesucht habt.« Ohne, dass sie es wollte, sammelten sich Tränen in ihren Augen, als sie seine Worte realisierte.
»Er hat eine tiefere Bedeutung für Euch, nicht wahr?«, fragte der Engel sanftmütig. Sie nickte.
»Meine Eltern haben sich hier kennengelernt«, flüsterte sie lächelnd, als sie an ihr Leben mit ihnen zurückdachte. An die unzähligen Male, die sie ihr diese kitschige Geschichte erzählten. Wie sie ineinander gestolpert waren, als John das Skifahren lernte. Maria erzählte ihr von den langen Abenden, an denen sie über Gott und die Welt sprachen und sich Hals über Kopf ineinander verliebt hatten. Sie seufzte.
Damals schien die Welt noch halbwegs in Ordnung.
»Ich hatte mir euch immer anders vorgestellt«, meinte sie heiser und nahm ihre Augenbinde nun zum ersten Mal seit ihrem Aufbruch nach Kreta ab. Sie war inzwischen feucht von ihren bittersüßen Tränen.
»Wie denn?«, fragte der Engel und sah sie mit neugierig hochgezogener Augenbraue an.
»Menschlicher.« Raphael lachte. Es war ein herzhaftes, ansteckendes Lachen, als hätte er schon lange keinen solch guten Witz mehr gehört. Und sie konnte ihm dies nicht einmal verübeln.
Der Engel war groß, größer noch als Stephen, der mit seinen 1,90 m schon größer als der Durchschnitt war.
Er war muskulös und von der Hüfte aufwärts tatsächlich einem Mann sehr ähnlich.
So hatte er jedoch entgegen seiner kirchlichen Illustrationen schulterlanges, womöglich weißes, gelocktes Haar, welches in einem wunderschönen Kontrast zu seiner grauschwarzen Haut stand.
Auf den ersten Blick doch beängstigend, wirkte er, umgeben von seiner Aura alles andere als gefährlich.
Leia beneidete ihn um seine vier majestätischen Flügel, bei denen sie nicht wusste, wie diese wohl in das Zimmer gepasst hätten, hätte er sie nicht versteckt.
Sein markantes Gesicht ließ ihn mit seinen hohen Wangenknochen beinahe elfengleich jung erscheinen. Jedoch war sie sich sicher, dass er so alt sein musste wie die christliche Religion selbst, wenn nicht um einiges älter sogar.
Sein Schlangenleib war jedoch das, was das biblische Bild vollends zunichtemachte. Nahtlos ging dieser in den männlichen Oberkörper über und ließ ihn fast wie eine maskuline Version der Dracaenae aussehen. Drachendamen, welche Halbgötter wie sie jagten. Doch sie glaubte nicht, dass er etwas mit ihnen zu tun hatte.
Wäre sie nicht blind gewesen, hätte sie auch gesehen, dass die Schuppen seines Leibes nicht wie die der Drachenfrauen grünlich-gelb oder blau gewesen waren, sondern je nach Sonnenlicht mal olivgrün oder braunschwarz schimmerten. Wie die einer echten Asklepiosschlange, waren einige von ihnen sogar weiß umrandet und bildeten kleine Muster, sobald der Engel sich bewegte.
Jedoch war es nicht sein Leib, sondern seine Augen, die ihre Aufmerksamkeit für sich gewonnen hatten. So tot und leer, keine Bewegung spürbar, waren sie ein großes Rätsel für Leia. Ihr schien als habe dieser Engel gar keine Iris oder Pupille, sondern schlichte weiße Augen. Doch erkannte sie, dass sie sie unentwegt voller Sorge durchbohrten, als suchten diese sie nach weiter tiefer liegenden, seelischen Wunden ab.
»Du warst es auch, der mich nach seinem Angriff behandelt hat, richtig?«, realisierte sie nun, als sie erahnte, woher sie sein Summen erinnerte. Das gleiche Summen wie an dem Tag als Stephen die Kontrolle verlor. Und jetzt das Gefühl seiner Augen auf ihr. Er musste es gewesen sein.
Und wie sie vermutete, nickte er stumm.
Erleichtert und ernüchtert zugleich, nickte sie ebenfalls, ihre Lippen zu einer schmalen Linie verzogen.
»Was tut Ihr?«, fragte Raphael sogleich erschrocken, als Leia versuchte aus dem Bett aufzustehen.
»Ich muss ihn sehen«, erklärte sie matt und stützte sich mit zusammen gezogenen Augenbrauen auf ihren Blindenstock.
»Ihm geht es gut!«, versicherte er ihr mit erhobenen Händen, »doch Ihr müsst Euch schonen!« Sie hörte nicht.
»Setzt Euch wieder hin!«, befahl er frustriert und sah sie streng an.
»Es geht mir gut!«, fauchte sie weiterhin heiser und schlug seine ihr zu Hilfe eilenden Hände weg.
»Bist du dir sicher?«, erklang hinter ihr plötzlich eine weitere Stimme.
»Doktor«, begrüßte Raphael den ehemaligen Chirurgen mit einer Verbeugung und sah danach demütig zu Boden. Ein Tribut an alle, die sich, wie Stephen als Personen der Medizin unter seinen Schutz stellten.
»Was meint Ihr?«, fragte Leia irritiert und rastete ihre Augen noch immer zornigen Ausdrucks auf Stranges Schultern.
Doch an Stelle, ihr zu antworten, schaltete er lediglich den in ihrem Zimmer befindlichen Fernseher ein, welcher die aktuellen Nachrichten zeigte.
„Es scheint als habe es vor der Küste Griechenlands einige Tests gegeben, die schiefgegangen sind und in einer gewaltigen Explosion endeten“, hörte sie den Nachrichtensprecher erklären.
„Die Explosion sendete eine Schallwelle mit einem Radius von mehreren 100 km aus, die Erdbeben auf den kleineren, umliegenden Inseln verursachte.“ Ihre Wut für einen kurzen Moment vergessen, entfloh ein erstickter Schrei ihrer Kehle, ehe sie sich zitternd wieder hinsetzte.
»Gibt es Verletzte? O- oder… Tote?« Stephen schüttelte den Kopf, als er den Fernseher wieder ausschaltete und die Arme vor der Brust verschränkte.
»Nein«, antwortete er, »nur einige größere materielle Schäden.« Ihre Beine zitterten vor Aufregung. Was war dort unten nur passiert?
»Gab es einen Tsunami?«, fragte sie panisch, im Klaren, dass dieser oft größere Schäden verursachte als die Beben selbst. Erneut schüttelte er den Kopf: »Merkwürdigerweise nicht.«
»Es schien wohl weit genug von den Küsten entfernt gewesen zu sein«, erklärte Raphael kleinlaut. Sie nickte. »So werden sie es den Sterblichen erklären«, murmelte sie. Doch sie wusste es besser.
Sie ahnte, dass ihr Vater hinter ihr aufgeräumt hatte. Diesen Fehler vertuscht hatte. Was auch immer passiert war, sollte nicht zu viel Aufsehen erregen.
»Sag mir, wie hast du es geschafft, zu überleben? Wie hast du das gemacht, Una?«, fragte Stephen irritiert und klang dabei schon fast ein wenig sarkastisch. Sie wusste, dass diese Frage nicht wegen ihres Wohlergehens gestellt wurde. Es wäre verletzend gewesen, hätte sie diesen Ton in seiner Stimme nicht schon einmal gehört.
Sie konnte nicht anders als aufzulachen.
»Das wisst Ihr doch bereits«, meinte sie kopfschüttelnd und wagte erneut den Versuch, vom Bett aufzustehen, »nicht wahr?«, fragte sie ihn nun ebenfalls mit sarkastischer Rhetorik. Immerhin kannte sie die Wahrheit bereits.
Langsam, wie er es in ihren früheren Kampfstunden tat, ging sie auf ihn zu.
»Warum ich bin, wie ich bin. Warum ich diese Fähigkeiten habe.«, Ihr Blut kochte vor Energie.
»Warum mir all diese Dinge passieren. Das wisst ihr doch schon längst, habe ich recht, Doktor?« Sie stand nun direkt vor ihm und hob herausfordernd ihr Kinn in die Höhe.
»Sagt, Doktor«, forderte sie und hob nachdenklich ihren Finger an ihr Kinn, »Wie lange wusstet Ihr, dass, dieser Mann, mit dem ihr gesprochen habt, mein Vater ist?«, fragte sie leise.
»Una… lass mich erklären.«
»Nein!«, unterbrach sie ihn, »schluss mit den Lügen!«, befahl sie noch immer flüsternd und fing an Stephen zu umkreisen. So wie er es immer getan hatte, bevor er sie erneut blutig schlug und sie für weitere Tagen geschunden war.
»Angst mag vielleicht nicht in deinem Wortschatz stecken, Strange«, säuselte sie, »doch sie ist gewiss in deinem Gesicht zu lesen.« Fest umbringen sie ihren Blindenstock, der ihr als Stütze hatte dienen sollen. So fest, dass ihre Knöchel sich weiß färbten.
»Jedes Mal, wenn du mich ansiehst, spüre ich sie.« Schritt für Schritt, wurde der Kreis, den sie zog, enger und je näher sie kam, desto schneller wurde sein Puls.
»Ich höre deinen beschleunigten Puls«, nickte sie wissend, »deine Muskeln, die sich anspannen, als wolltest du mir entweder gleich erneut an die Kehle springen oder lieber die Flucht ergreifen.« Sie grinste.
»Ich spüre die Hitze, die der plötzliche Adrenalinschub in deinen Venen verursacht.« Stephen zitterte, so stark waren seine Muskeln angespannt.
»Ich rieche den Geruch des Testosterons, das deine Gefühle verrückt spielen lässt«, erklärte sie.
Sie las ihn wie ein offenes Buch. Schutzlos war er Fähigkeiten ausgeliefert und doch wusste nur er selbst, wie schwer es um ihn wirklich stand.
Ihr Lächeln verschwand, als sie vor ihm zum Stehen kam. So nah, dass er seinen Kopf neigen musste, um sie anzusehen.
»Ich kam zu Euch, in der Hoffnung auf Heilung«, sprach sie mit bebender Stimme, leise genug, dass der Engel es nicht hörte.
»Um meinen Fluch zu brechen!« Zähne knirschend konnte sie die Tränen nicht mehr aufhalten, die bereits leise ihre Wangen hinunterrannten. Sie brannten auf den noch immer rohen, verbrannten Stellen ihres Fleisches.
Doch ihr innerer Schmerz überlagerte den Physischen.
»Schon meine Eltern kamen damals zu Euch, erinnert Ihr?«
»I- ich-«, stotterte Strange ertappt, fand jedoch nicht die richtigen Worte.
Sie drehte sich zu den durch den Schnee gekühlten Fenstern um. Wo Raphael seinen Stab fest umklammerte, bereit zum Angriff.
»Das kleine blinde Mädchen, dessen Augen vollkommen in Takt waren«, offenbarte sie den Gedanken ihrer ersten Begegnung miteinander, »erinnert Ihr noch?«
Stephen erinnerte sich sehr gut an diesen Tag.
Den Tag, an dem er eine Familie genervt aus der Praxis warf, die verzweifelt um seine Hilfe bat. Beschämt schloss er die Augen, bei dem schmerzlichen Rückblick auf sein früheres Selbst.
»Ihr habt mich im Stich gelassen«, flüsterte sie mit bebender Stimme, »damals wie auch jetzt.«
Die Sonnenstrahlen, die durch das Fenster auf sie hinabschienen, ließen ihre nun trocknenden Tränen in den Farben des Regenbogens glitzern. Wütend umklammerte sie ihren Brustkorb noch fester. Sie war enttäuscht. Über seine Arroganz, seine Lügen, seine Eifersucht.
Sie konnte nicht fassen, dass er sie in dem Glauben ließ, sie wäre verflucht.
»Du hast mir verschwiegen, wer mein Vater ist, weil du Angst davor hast, was ich tun könnte, wenn ich es wüsste«, lachte sie, »ist es nicht so?« Nun waren es Strange, der seine Tränen nicht mehr zurückhalten konnte.
»Una… nicht!«, flehte er aus zusammen gebissenen Zähnen.
»Weil du ein Feigling bist, Strange!« Wut sprudelte in ihm auf. Hastig entfernte er ein paar Schritte von ihr, als das Gefühl der Trauer dem des rasenden Zorns wich, der einst schon sein Herz erfüllte. An dem Tag, als er die Kontrolle verlor. Seine Hoffnung, diesen Drang besiegt zu haben, war somit zerstört.
Es war allerdings nicht die Angst, die ihn nun flüchten ließ, als die Stimme in seinem Kopf zurückkehrte und diesmal gewinnen sollte.
»Töte…«, hörte er den Befehl des Geistes in seinen Ohren.
Es war vielmehr die Liebe zu seiner Schülerin, die ihn anwies, ihr, vor dem, was gleich folgte, einen kleinen Vorsprung zu gewähren.
»Ich bin kein Monster…«, erklang wie durch Watte die verletzte Stimme seiner Schülerin, »ich bin nicht verflucht!« Er wollte sie warnen. Ihr sagen, sie solle besser fliehen. Doch er war unlängst nicht mehr Herr seiner Sinne. Die Stimme hatte gewonnen. Sie hatte jetzt die Kontrolle.
»…sie!« und mit dem Flüstern des Ziels, griff er an.
Alles ging nun unglaublich schnell. Ehe Raphael sich hätte vor sie werfen können, als er in Stranges wahnsinnige goldene Augen sah, hatte dieser bereits das Messer geworfen.
Den Göttern sei Dank, nur an der Schulter getroffen, wich sie seinen nächsten Angriffen aus. Sie duckte sich, parierte mit ihrem Blindenstock und tat alles, um nicht getötet zu werden.
„Einmal Ruhe!“, betete sie in Gedanken, „ist das denn zu viel verlangt?“
»Leia!«, holte das Rufen des Engels sie zurück in die Realität, »Gold! Seine Augen sind golden!« Mit einem Seil zusammengezurrt versuchte Raphael verzweifelt den obersten Zauberer am Boden zu halten, als er ihr die Warnung kundtat. Doch sie verstand nicht, was er damit meinte. Stranges Augen waren nicht golden. Sie waren blau.
»Lauf!«, wagte er erneut den Versuch, sie zu warnen und diesmal verstand sie auch. Sofort rannte sie aus dem Zimmer und in Richtung des Ausgangs. Auch wenn sie nicht so recht wusste, wo dieser war. Ihre Sinne waren noch immer nicht wieder vollständig zurückgekehrt. Ehe sie jedoch die Tür der kleinen Herberge erreichen konnte, setzte Stephen erneut einen Treffer. Diesmal traf sein Messer direkt ihren Oberschenkel und ließ sie schmerzerfüllt aufschreien. Nun konnte nicht einmal mehr das Adrenalin in ihren Venen die Schmerzen verstummen lassen. Ihre Konzentration war geschwächt. Sie tappte buchstäblich im Dunkeln. Nur die frierende Kälte zeigte ihr den Weg in die Freiheit.
Sie stöhnte, als sie die Tür endlich erreichte und sofort aufriss. Stechend war das Gefühl, als die winterliche Luft der Schweiz ihre Lungen durchströmte. Sofort rannte sie hinaus in den Schnee und spürte, wie die eisige Kälte ihre Glieder durchfuhr. Barfuß, mit nichts als der versengten Kleidung, die sie am Leib trug, war sie geflohen. Nicht einmal ihren Blindenstock hatte sie mit sich genommen. Doch das war ihr jetzt egal.
Was auch immer in Strange gefahren war, hatte ihn nun vollständig unter Kontrolle. Und es hatte nicht den Anschein, dass er sich dieses Mal davon befreien könnte.
So schnell sie konnte, rannte sie einfach gerade aus. Hauptsache weit genug weg von ihm. Doch etwas sollte sie verraten. Das glitzernde weiß des Schnees, befleckt mit den roten Flecken ihres Blutes, wies ihm den Weg, wie die Brotkrumen in Hänsel und Gretel Märchen.
Er feixte, als er ihre von ihm eigens vorbereitete Spur fand.
»Du kannst mir nicht entkommen!«, säuselte er, »Ich werde dich finden und dann werde ich mit dir das Gleiche machen, wie mit deinem kleinen Engel!« Sofort entwich ihr ein ersticktes Aufkeuchen. Heiße Tränen sammelten sich in ihren Augen. Schon wieder jemand, der ihretwegen sterben musste. Sie hätte sich am liebsten eingerollt in den Schnee gelegt und geweint. Doch es war jetzt nicht der richtige Zeitpunkt, um über ihn zu trauern. Strange war ihr noch immer auf den Fersen.
Sie musste von dort fliehen.
Eher humpelnd als rennend, suchte sie nach einem Versteck. Einen Ort, an dem sie ihre Wunden verarzten konnte. Hinter einem kleinen, dicht bewachsenen Strauch sollte sie ein solches auch finden. Leise wimmernd riss sie ein Stück ihrer abgesenkten Hose ab und drückte es auf die blutende Wunde. Das Messer steckte noch immer tief, doch es wurde nichts Wichtiges getroffen. Sie tat das einzig Richtige, als sie die Wunde fest um das Messer herum verband und die Blutung stoppte. Auch ihre Schulter konnte sie so notdürftig behandeln.
Jetzt, da ihre Verletzungen behandelt waren, galt es also nur noch ihre Fußspuren zu verwischen.
Noch immer war sie jedoch ungeachtet ihrer neuen Läsionen nicht geheilt. Ihre Rippen waren unlängst weiterhin gebrochen. Ihre Lunge nach wie vor perforiert. Und ihre von ihr geglaubten Selbstheilungskräfte ließen sie nun wohl ebenfalls im Stich.
So geschah es, dass sie nicht weit kam, ehe sie mitten im Wald hustend zusammenbrach. Alles drehte sich. Ihre Sinne, ihr Gehör, waren noch immer beeinträchtigt. Nicht einmal das Knirschen des Schnees hörte sie, ehe der ahnungslose Mann plötzlich erschrocken vor ihr stehen blieb.
»Oh Gott!«, war das Einzige, was er angesichts seines Schocks formulieren konnte, als er sie erblickte. Ihre Kleidung voller Brandlöcher, mit ihrem eigenen Blut getränkt, musste es für ihn wie das Ausmaß eines Massakers aussehen. Nun ja, die Wahrheit war eben nichts für Sterbliche.
Doch Leia bedeutete ihm, sie nicht zu beachten. »Bitte... geh!«, flüsterte sie unter Schmerzen, »Na los! Verschwinde von hier!«, befahl sie ihm auf ihrem perfektesten Hochdeutsch, wobei sie das R wohl zu stark rollte. Der Tourist jedoch blieb weiterhin wie angewurzelt vor ihr stehen. Kriechend versuchte sie von ihm wegzukommen. Sie konnte nicht riskieren, dass noch ein Unschuldiger ihretwegen sein Leben verlor. Doch spätestens an diesem Punkt, lieferte sie sich selbst Stephen auf einem Silbertablett. Und wie vom Pech verfolgt, war es dann auch so. Kaum war sie weit genug von dem Touristen entfernt, packte Stephen sie durch ein geöffnetes Portal am Bein.
»Nein!«, schrie sie und kratzte verzweifelt über den Boden, auf der Suche nach Halt. Doch es war vergebens. Strange hatte sich bereits wieder auf sie gestürzt. Seine Hände nun fest um ihren Hals geschlossen. Röchelnd kämpfte sie gegen seine Kraft an. Sie kratze und trat und schlug um sich, doch er hatte sie fest im Griff.
»Du wirst hier sterben!«, knurrte ihr Meister. Doch seine Stimme klang nicht wie er. Und da realisierte sie, was Raphael ihr versucht hatte, zu sagen. Seine Augen waren golden! Neue Kraft durchströmte sie, jetzt da sie es erkannte. Als letzten Ausweg öffnete sie ein Portal, das sie hoffentlich entzweite. Zu ihrem Glück öffnete sich das Portal unter ihr. Leider war sie jedoch noch nicht geübt, was die Lokalisierung der Portale anging, weshalb sie plötzlich nichts mehr unter ihr spürte. Kaum war es ganz geöffnet, fielen sie und Stephen auch schon in die Tiefe. Weder wusste sie, wo sie war, noch wie hoch über dem Boden sich das Portal geöffnet hatte. Erst als Stephens schmerzerfüllten Aufschrei hörte und wenig später selbst den harten, steinigen Grund erreichte, erkannte sie es. Sie spürte die Energie, die diesen Ort umgab. Die negative Aura, die einst diese Welt beherrscht hatte. Der Ort, an dem Himmel und Erde aufeinandertrafen. Sie war fast am Gipfel des Mount Tamalpais, dem Sitz der Titanen.
»Meister, bitte!«, rief sie, als sie merkte, dass er sich bereits wieder aufrappelte. Zitternd stand sie auf, die Hände erhoben.
»Ich will dir nicht weh tun!«, »Du?«, lachte er sie aus. Langsam richtete er den Kragen seines Schwebemantels, als er sieh ansah.
»Du kannst kaum stehen! Du hast keine Chance gegen mich!« Er hatte recht. Sie war zu schwach, als dass sie gegen ihn kämpfen könnte. Doch sie hatte noch ein paar Trümpfe im Ärmel. Sie war noch immer in der Lage, sich zu dematerialisieren. Sie konnte es bewusst zwar nur im Wasser, doch umgab sie dies eigentlich auch jetzt. Der Nebel hier war dicht genug, dass sie es spürte. Das war ihr Vorteil, sie konnte etwas sehen. Er nicht. Sie fokussierte ihre Sinne auf das Wasser um sie. Auf den Nebel. Sie atmete ein und wieder aus. Spürte das Wasser ihre Lunge kitzeln. Und plötzlich war sie verschwunden.
Als Stephen die Position erreichte, an der sie bis eben noch gestanden hatte, war sie bereits fort. Frustriert schrie er auf. Sie war nun im Vorteil, doch weit kam sie nicht. Der Nebel reichte nicht weit genug den Berg hinauf. Nach Luft ringend wurde sie nur wenige Hundert Meter von ihm entfernt wieder sichtbar.
So glaubte sie jedenfalls.
Doch kaum hatte sie wieder menschliche Gestalt angenommen, stand Stephen bereits hinter ihr. Erschrocken umklammerte sie seinen muskulösen Arm mit ihrer blutigen Hand. Er hatte sie im hinteren Würgegriff gefangen und hielt ihre Linke Hand fest an seiner Hüfte.
»Versuch jetzt mal ein Portal zu öffnen, Miststück!«, knurrte er erneut in dieser fremden Stimme. Sie wimmerte. Aber nicht ihretwegen, sondern wegen dem, was sie im Begriff war zu tun. Sie biss in seinen Unterarm.
Blut rann seinen Arm und ihre Kehle hinunter und sie schüttelte sich, bei dem ekelhaften metallischen Geschmack. Fluchend schlug er sie zu Boden.
»Strange-«, keuchte sie kopfschüttelnd, »das bist nicht du!«
Getrieben durch seine Wut, Mordlust hatte er sie hierher gejagt. Ächzend zog sie sich die letzten Meter des Berges hoch und stütze ihr Gewicht an die schwarzen Säulen. Die letzten Meter, die sie nun noch vom Rand der Erde trennten, waren direkt durch den Othrys hindurch.
Von hier oben konnten sie nun auch in nicht weiter Entfernung Atlas Qualenschreie hören. Für einen kurzen Moment schien Strange abgelenkt. Für den Bruchteil einer Sekunde, lag seine Aufmerksamkeit nicht auf ihr. Und das reichte ihr. Mit ihren letzten noch verbliebenen Reserven, rannte sie los und trat ihm mit einem Roundhouse Kick K.O. Eine Technik, die er sie mehr als einmal hatte spüren lassen.
»Ab alio expectes alteri quod feceris!«, sprudelte die Verwünschung aus ihr heraus, ohne, dass sie realisierte, dass dies fließendes Latein war. Jetzt musste es schnell gehen.
Sie flüchtete in den pechschwarzen Tempel, auf der Suche nach einem Versteck. Sie bräuchte Zeit, nachzudenken. Aber sie wusste auch, dass ihn das nicht lange aufhalten würde.
»Denkst du, das hält mich auf?«, hörte sie sein Brüllen durch den ganzen Saal. Er hätte nicht einmal schreien müssen. Das Echo war so enorm, dass sie befürchtete, er würde selbst ihr Atmen hören.
Mit nackten Füßen auf den kalten Fliesen schlich sie an das Ende des Tempels. Sie spürte das Beben im Raum, bei jedem Schritt, den ihr Meister voranschritt. So wusste sie, dass er sie bald eingeholt hatte.
Wie ein ewiges Katz und Maus Spiel, hatte er sie so an den Rand der Welt gedrängt.
Sie stolpert über die Scherben des Obsidian und die unzähligen Trümmer des Tempels. Stein um Stein überquerte sie.
Ein letztes Mal erhob sie abwehrende ihre vor Schmerz zitternden Hände. Sie war erschöpft. Ihr war kalt. Und nun spürt sie im Rücken immer deutlicher die kalte Lehre des Chaos, die sie immer weiter einzunehmen schien.
»Stephen bitte!«, bettelte sie, flehte ihn an, »verdammt nochmal! Das ist deine Angst, die dort aus dir spricht! Erinnerst du dich denn nicht an mich?«, weinte sie. Sie kannte die Legenden des Wesens, das ihn eingenommen hatte. Sie wusste, wie es sich die negativen Emotionen zunutze machte, seine Opfer manipulierte. Doch für gewöhnlich gab es nichts, was diese Wesen aufhalten könnte.
»Bitte! Du darfst deiner Angst nicht vertrauen!«
Aber es war sinnlos. Er, Stephen, hörte sie ohnehin nicht. Entgegen seines Kodex setzte das Wesen nun auch noch dunkle Magie gegen sie ein. Erschrocken starrte sie die Waffen in seinen Händen an. Die gleiche Waffe, die einst ihn beinahe getötet hatte. Immer weiter schritt sie an den Rand. Und bald spürte sie auch die Schwere der Wolken sich. Ohne ihren Urgroßvater überhaupt nur zu berühren.
Er setzte zum Schlag an. Er trifft sie in ihren Bauch und dreht die Klinge noch einmal um 90°.
»Ich erkenne dich nicht mehr wieder…«, keuchte sie unter Tränen. Weiterhin mit der Klinge im Thorax, stieß er sie am Rand der Welt herunter.
Nur mit Mühe konnte sie sich an Mutter Erde festhalten.
»Argh!«, schrie sie auf vor Schmerz als sie spürte, wie die Säure aus ihrem Darm langsam in ihren Körper austrat. Tränen fließen ihre Wangen hinunter.
»S- Stephen... bitte!«, flehte sie zitternd und richtete ihre Augen zum allerersten Mal, seit sie sich kannten, direkt auf seine.
Sogleich durchfuhr ihn eine Form der Energie, die ihm für den Bruchteil einer Sekunde den Atem raubte. Noch immer goldenen Blickes, sah er sie gleichgültig an, als er die letzten Schritte auf sie zuging.
»Vincent...«, ergab sie sich ihrem Schicksal.
Sie sprach ihr letztes Gebet an ihren Vater gewandt, dachte ein letztes Mal an Matthew. Sie wartete auf den erlösenden letzten Schlag ihres Peinigers. Doch nichts sollte geschehen.
Stephen stand einfach nur da, blinzelnd und augenscheinlich verwirrt. So war es diesmal wohl nicht seine Schülerin, die ihre Angst überwand, um das Richtige zu tun. Sondern der Meister und Lehrer, der sich aus den Fängen seiner Angst befreite, um seine Schülerin zu retten. Geschockt und angewidert von sich selbst, sah er auf seine blutverschmierten Hände hinab.
»Una...?«, flüsterte er mit bebender Stimme. Seinen Namen aus ihrem Munde zu hören und ihre Augen zum allerersten Mal auf ihm zu spüren, schien ihn aus der Trance erweckt zu haben.
»Bitte… hilf mir!«, flehte sie ihn unter Schmerzen an. Heiße Tränen rannten ihre immer blasser erscheinende Wange hinunter. Bitterlich weinte sie, in dem Versuch, die Ohnmacht aufzuhalten, die sie schon so fest im Griff hatte. Stephen wartete keine Sekunde länger und beschwor die Bänder des Cyttorak. In der Hoffnung, sie wären stark genug, seine Schülerin aus den besitzergreifenden Händen des Chaos zu befreien. Und so war es. Stöhnend aufgrund des quälenden Brennens fiel sie in seine Arme und krümmte sie. Seine Kleidung sogleich von ihrem Lebenssaft gezeichnet, tränkte die nun immer stärker blutende Wunde weiterhin sein Gewand.
»Una... was hab ich getan?«, fragte er unter Schock, die Mordwaffe direkt neben ihm. Jetzt erkannte er die Bedeutung seiner Alpträume. Den Sinn derer Träume, die ihn seit etlichen Wochen nun schon so gnadenlos folterten. In denen eine Frau verblutend, mit leblosen Augen in seinen Armen lag, das Gesicht zu einem von Trauer erfüllten Ausdruck erstarrt. Diese Frau war sie.
»Una, es tut mir so leid«, weinte er und strich sanft über ihrer immer kälter werdende Wange.
»Leia…«, flüsterte sie leicht lächelnd.
»Was?«, fragte er und kniff die Augenbrauen zusammen.
»Mein- Mein Name ist Leia.«
An den Rest des Geschehens erinnerten sich beide nur noch verschwommen. Leia hatte das Bild eines sich öffnenden Portals vor ihrem inneren Auge und als Nächstes den unverkennbaren Geruch eines Krankenhauses in der Nase. Stephen hingegen schien alles nur noch in einem gewissen Automatismus auszuführen. Er hätte vermutlich im Nachhinein nicht Revue passieren lassen, was im Krankenhaus geschehen ist.
»Christine!«, rief er verzweifelt seine ehemalige Kollegin und alte Freundin. Er spürte nur noch, wie Leia immer schwerer wurde und langsam ihre Kraft schwand. Und so war es letztendlich auch einer der ihrer Freundinnen Stimme, die Leia hörte, ehe sie den Kampf gegen die immer stärker werdende Ohnmacht verlor und alles dunkel wurde.

Chapter Text

»Nein, Leia!«, schrie er panisch, ehe seine Worte in ein verzweifeltes Flüstern umschlugen. »Bitte nicht ...« »Stephen, bitte geh vom Tisch weg, ich muss sie defibrillieren!«, antwortete Christine ruhig und schob ihn leicht von seiner bewusstlosen Schülerin weg. Ihm war klar, dass sie Recht hatte. Eine pulslose ventrikuläre Tachykardie, war defibrillierbar. Er konnte nicht aufzählen, wie oft er sie schon behandelt hatte. Und doch war er wie versteinert, ihre Chancen standen einfach zu schlecht.
Das alles, ihre Verletzung, ihr Leiden, ihre Angst über die letzten Monate hinweg, war seine Schuld. Er hatte bereits einmal geglaubt, sie verloren zu haben und ihr jetzt beim Sterben zuzusehen, war wohl die Strafe für sein Handeln.
»Komm schon Strange! Du musst mich arbeiten lassen!« Christine zerrte regelrecht an Stephens Gewand und holte ihn damit zurück aus seiner Trance.
»Bitte… Bitte hilf ihr«, schluchzte er und stolperte vom OP Tisch weg.
»Das werde ich«, versicherte sie ihm und streichelte ihm sanft über seine blutverschmierte Wange.
»Bitte geh jetzt, warte draußen!« Sie kannte Stephen gut genug, ihm keine Fragen zu stellen. Wie es zu ihrem Zustand kam, wieso er aussah, wie nach einem Massaker. Das war jetzt erstmal nicht wichtig.
Ohne weitere Proteste war er durch die Tür hinaus auf den Flur verschwunden. Seine Gedanken waren wie in Watte gehüllt. Dumpf und verschleiert. Seine Finger, noch taub von der Kälte und wie sein Gewand ebenfalls mit ihrem Blut befleckt, zitterten wie der Rest seines Körpers. Er fühlte sich, als würde er jede Sekunde zusammenbrechen. Er wollte schreien und weinen, doch es kamen keine Tränen. Aber er konnte ihr dort drin nicht helfen, wusste er noch immer nicht, welche seine eigenen Gedanken und welche es nicht waren. Seine Angst, der Geist würde noch immer in ihm sein und vielleicht erneut von ihm Besitz ergreifen, war noch immer allgegenwärtig. Immerhin hatte er sich schon einmal in Sicherheit geglaubt.
Im Nachhinein konnte er nicht sagen, wie lange er dort vor der Tür zum Operationssaal gesessen hatte. Er hatte sogar versucht, zu meditieren oder einfach seine Atmung unter Kontrolle zu bringen. Aber seine Brust fühlte sich noch immer an, als wäre sie zugeschnürt. Es hätten Minuten, Stunden, oder sogar Tage sein können, die er dort wartete und regungslos die Wand anstarrte. Erst als Christine aus der Tür trat, seufzend und sich ihre sterilen Handschuhe auszog, nahm er seine Umwelt wieder bewusst wahr.
»Wie-?« Christine hob ihre Hände und bedeutete ihm damit, leise zu sein. Eigentlich, durfte sie gerade ihm, als den Grund für Leias beinahe Tod, streng genommen keinerlei Auskunft über ihren derzeitigen Zustand geben.
»Sie ist stabil«, flüsterte sie dennoch und sah ihn dabei ein wenig misstrauisch und doch so liebevoll wie immer in die Augen. Auch wenn Stephen kein Wort über den Vorfall verloren hatte, konnte sie sich einiges zusammenreimen.
»Ich hab sie einmal verloren, aber die Blutung ist gestillt«, fuhr sie fort und verschränkte dann mit gefurchter Stirn die Arme vor der Brust. Allerdings reichte Stephen diese Information noch nicht. Fragend hielt er ihrem Blick weiterhin stand, bis sie endlich augenrollend nachgab. »Zimmer 206 auf der Intensivstation, aber es darf dich niemand sehen!« Sofort blitzte in seinen Augen wieder etwas wie Hoffnung auf.
»Danke!«, antwortete er und verabschiedete sich mit einem kleinen, flüchtigen Kuss auf ihre Wange.
Wie versprochen, hatte sich Stephen so diskret wie möglich, ergo mit einem Portal, Zutritt zu Leias Zimmer verschafft.
Als er sie erblickte, blieb ihm jedoch ein erleichtertes Seufzen im Halse stecken. Ihr Anblick schickte einen Schauer durch seinen Körper und erst jetzt realisierte er das reale Ausmaß ihres Kampfes. Er ließ seinen Blick über die vielen Gerätschaften schweifen. Die Kochsalzlösung und Medikamente, die in ihren Körper gepumpt wurden. Sein Blick fiel auf ihr schlafendes Gesicht. Sie sah schrecklich aus. Auch im bewusstlosen Zustand waren ihr die Sorgen und Ängste noch immer genau anzusehen.

Lange, sehr lange Zeit saß er dort an ihrem Bett und hielt ihre Hand, in der Hoffnung, sie würde bald erwachen. Still weinte er um sie, um die Frau, die er so in sein Herz geschlossen hatte. Und fing sogar an, zu beten. Er sprach ein Gebet zu dem einzigen Gott, den er um Vergebung hätte bitten sollen.
»Poseidon, wenn Ihr mich hört«, flüsterte er, ihre Hand an seine Stirn gestützt, »Ich gelobe den Grad des Sorcerer Supreme abzulegen.« Noch mehr Tränen bahnten sich ihren Weg hinunter und tränkten den Stoff seines Mantels. »Ich habe meinen Schwur gebrochen und wurde zum Mörder… ich bin nicht würdig!« Er schämte sich dafür, seinen Eid, den er einst seiner Lehrerin gegeben hatte, gebrochen zu haben. Niemandem wollte er je wieder das Leben nehmen. Und jetzt lag seine Schülerin vor ihm im Krankenhaus. Übersät mit Hämatomen, Stichwunden und dem Gott des Todes ein erneutes Mal gerade so von der Schippe gesprungen. Stunden vergingen, in denen er ihre Hand hielt, sie ab und zu sogar sanft streichelte. Nicht ein einziges Mal wollte er sie aus den Augen lassen. Auch nicht, als Christine hereinkam und ihm sagte, er solle besser nach Hause gehen, sich ausschlafen.
Er wollte wach bleiben.
Er wollte bei ihr sein.
Irgendwann jedoch schien Strange entgegen seines Willens dann doch der Erschöpfung erlegen. Er war in einen solch tiefen Schlaf gesunken, dass er gar nicht wahrnahm, wie Leia wieder erwachte.
»Sedit qui timuit ne non succederet.« Mühsam drückte sie sanft seine Hand, als diese doch eher tadelnden Worte ihre Lippen verließen.
»Was?«, fragte Stephen überrascht, als er ihr Erwachen endlich bemerkte.
»Und er, der fürchtete zu versagen, saß still«, wiederholte sie ihre Worte nun auf Englisch, sodass auch er sie verstehen konnte. Sie wusste nach wie vor nicht, woher sie die lateinische Sprache so plötzlich beherrschte. War es immerhin sonst nur das Altgriechische, das für sie wie ein Kinderspiel war. Doch dieser Frage würde sie sich später widmen. Jetzt waren andere Dinge wichtiger. Sie lebte und der Alptraum schien endlich vorbei.
Hoffentlich endgültig.
»Leia«, flüsterte er ihren Namen. Doch sie schüttelte nur den Kopf. Sie wusste, dass er sie am liebsten auf Knien um Vergebung gebeten hätte. Sie gefragt hätte, wie er das Geschehene je wiedergutmachen könnte. Doch das konnte er nicht. Und das musste er auch nicht. Diese ganzen Monate der Folter waren nicht sein Werk gewesen. Er war manipuliert worden. Er war besessen, würden es die Sterblichen nennen.
»Das warst nicht du, Stephen«, bedeutete sie ihm heiser, »der Eidolon ist für seine Manipulationen bekannt.« Sie schluckte schwer. Ihr Hals fühlte sich an, als hätten dort Feuerameisen eine Kolonie errichtet.
»Du scheinst zu mächtig für ihn gewesen zu sein, für gewöhnlich brauchen diese Geister nicht länger als ein paar Minuten, um die volle Kontrolle zu erlangen«, erklärte sie kopfschüttelnd, als es ihr wie Schuppen von den Augen fiel. Jedoch war das ein Fehler, da nun noch mehr Lichtblitze vor ihren Augen tanzten und ihr schwindelig wurde. Hustend hielt sie sich den Kopf, in der Hoffnung, ihre kühlen Hände könnten das Pochen eventuell lindern. Nachdem sie von dem Wasser getrunken hatte, das Stephen ihr reichte, schien es jedoch weniger zu werden. Das Reden allerdings fiel ihr dennoch nicht leichter. Es war, als läge das Gewicht ihres Urgroßvaters auf ihrer Brust und zwinge sie unentwegt zu Boden.
»Ihr scheint Euch oft gewehrt zu haben, Doktor«, brachte sie wenig später heraus. Stephen nickte betrübt.
»Ich wusste nicht, was mit mir los war…«
Eine bedrückende Stille legte sich über sie, als er sanft ihre Hand streichelte. Nur das intervallartige Piepen der Maschinen und das Tropfen der Infusionen erfüllte den Raum.
»Wer hat den Eidolon geschickt?«, fragte er nach einer Weile des Schweigens. Sein Blick lag auf ihrem Gesicht, als präge er sich jeden Millimeter davon ein.
»Ich weiß es nicht«, gestand sie. Auch sie hatte sich diese Frage bereits gestellt. Schon als sie die Suche nach seiner Wesensänderung begonnen hatte. Doch sie hätte ohne den Engel nicht einmal herausgefunden, was mit Stephen überhaupt passiert war. Dafür hätte sie ihm nur zu gern gedankt. Genauso wie für ihre Rettung. Ihre erneute Behandlung.
»Wieso hast du mich nicht getötet, um es zu beenden?«, »Wie könnte ich?«, stellte sie ihm die Gegenfrage.
»Denk sowas nie wieder!« Es tat ihr weh, ihn so zu sehen. Es machte sie regelrecht wütend, dass er so leiden musste. Nein eigentlich, dass sie beide so leiden mussten.
Langsam näherte er sich ihr leise nickend. Sanft hauchte er ihr einen Kuss auf die Stirn, ehe er die seine an ihre lehnte und die Augen schloss.
»Entschuldige.« Erleichtert schloss auch sie ihre Augen und seufzte.
Zum ersten Mal seit einer Ewigkeit, so glaubte sie, konnte sie aufatmen. In Monaten der Angst, hatte sie das Gefühl der Ruhe, der Geborgenheit in seiner Gegenwart beinahe vergessen. Ihren Lehrer, wie sie ihn kannte und lieben lernte, nun wiederzuhaben, so schien es, war für sie kaum greifbar. Jede Sekunde dieses kurzen und doch so innigen Moments kostete sie aus. Doch wenig später sollte ein grelles Licht diesen Moment zerstören.
Raphael war plötzlich im Zimmer erschienen und zerrte Stephen von ihr weg.
»Fass sie nie wieder an!«, fauchte der Engel und zeigte dabei, wie sehr er einer Schlange nicht nur äußerlich doch ähnelte.
»Raphael! Stopp!«, rief sie und stöhnte augenblicklich auf vor Schmerz.
Der Engel sah den Mann, der eigentlich unter seinem Schutz stand, noch einmal warnend an, ehe er von ihm abließ. Dies war ihm nun gestattet, da Stephen seinen Eid gebrochen und somit keiner seiner Schützlinge mehr war.
»Du lebst?«, hauchte sie geschockt.
»Natürlich.« Sanft lächelte er sie an, bevor er sich noch einmal erneut an Stephen wandte und ihn von oben bis unten musterte. Der Zauberer spürte, dass er ihn mit seinen Blicken ganz genau studierte.
»Raphael, was tust du hier?«, fragte Leia ihn und streckte die Hand nach ihm aus. Ohne zu zögern, ergriff er sie und versteifte sofort.
»Eure Hand ist eiskalt.« Sie lächelte müde, als er sie zusätzlich mit seiner zweiten umschloss.
»Also?«, hakte sie neugierig nach.
»Ich bin hier, um euch beide zu Chiron zu bringen.« Ihr stockte der Atem.
»Zu dem Chiron?« Rafael nickte stumm und sah Stephen noch einmal eindringlich an.
»Er möchte euch beide sprechen.«

Im Camp Jupiter angekommen, der Stadt der römischen Halbgötter, so hatte Raphael erklärt, merkten sie und Stephen sofort die Unruhen unter der bunten Anzahl an Bewohnern. Leia, die auch trotz des Ambrosias, das Raphael ihr zu essen gegeben hatte, noch immer kaum stehen konnte und sich deshalb von Stephen stützen lassen musste, hörte sofort, wie sein Herz schneller schlug und seine Atmung flacher wurde. Er hatte Angst, mehr Angst noch als im Krankenhaus, in dem sie nur zu zweit und sie ihm somit ausgeliefert war. Sie wollte es ihm nicht sagen, aber sie spürte sein Unbehagen in ihrer Nähe seit dem Unfall. Sie fühlte seine ständige Angst und schmeckte die Tränen, die er, seit sie wieder aufgewacht war, zurückhielt. Ihr war unklar, was sie mehr fertig machte. Der Zorn, der noch vor einer Woche in ihm geschlummert hatte oder seine Angst und Selbstzweifel.
»Wir müssen kämpfen!« hörte sie plötzlich einen Stadtbewohner rufen und richtete ihre Aufmerksamkeit auf die Masse am gegenüberliegenden Ufer eines Flusses.
»Wir müssen den Rat der Götter erfragen…«, sagte eine andere Stimme. Es war eine Mutter, deren Sohn sich ängstlich an ihr Bein klammerte.
»Ihr habt gesehen, was sie anrichten. In diesen Tagen können wir nur dem Tiber trauen!«
»Dem Tiber…?«, flüsterte Leia fragend und legte irritiert den Kopf schief. Sofort verstummte das Durcheinander und die Bewohner drehten sich zu ihr um. Sie hatte das wohl lauter gesagt, als geplant. Ihr fiel es noch immer schwer, die Lautstärke ihrer eigenen Stimme einzuschätzen, hatte sie nach wie vor starke Ohrenschmerzen, von der Explosion unter Wasser. Trotz ihrer Unsicherheit nutzte sie allerdings die gewonnene Aufmerksamkeit und stellte die Frage, die ihr nun durch den Kopf ging.
»Ihr nutzt die Strömung des Tibers, um euch von ihnen reinzuwaschen, nicht wahr?« Sofort brach das wirre Gemurmel und Geflüster von neuem los und von Furcht erfüllte Blicke wurden ausgetauscht. Sie brauchte keine Antwort, um zu wissen, dass damit ins Schwarze traf. Die Strömung des kleinen Tibers war stark genug, sie von den Eidola zu trennen.
»Seid still!«, rief eine weibliche Stimme. Sie kam von einer dunkelhaarigen Frau, der augenscheinlichen Anführerin dieser Stadt, die erhobenen Hauptes auf Leia zusteuerte.
»Woher weißt du davon?«, fragte diese sie und rümpfte arrogant ihre Nase, als sie sie beide erblickte. Leia spürte, dass sie damit jedoch nur ihre eigene Angst und Sorgen überspielte. Sie spürte, wie sie angespannt die Luft anhielt und das Zittern ihrer Hände konzentriert unterdrückte. Sie hatte sofort Mitleid mit ihr. Auch sie kannte das Gefühl sehr gut und doch konnte sie sich nicht ausmalen, wie es war, jeden Tag den Schein wahren zu müssen, um seinem Volk ein starkes, furchtloses Vorbild zu sein.
»Uns-«, sie hielt Stephens Hand, die sie noch immer an der Taille stützte, fest und drehte leicht ihren Kopf zu ihm.
»Uns ist dasselbe passiert«, beichtete sie und trat mit Stephens Hilfe näher an den Fluss heran. Ohne mit der Wimper zu zucken, zogen die Bewohner ihre Waffen und beschützten die Kinder und ihre Prätorin vor der vermeintlichen Gefahr. Die hochgewachsene Anführerin allerdings bedeutete ihnen zu warten und bat Leia fortzufahren.
»Es war ein Eidolon, der von meinem Lehrer Besitz ergriff«, erklärte sie und drückte weiterhin Halt suchend Stephens Hand.
»Wir hatten Glück, dass wir beide überlebt haben.« Leise floss Stephen eine einzelne, kleine Träne die Wange hinunter, als er schuldbewusst den Kopf senkte. Die Anführerin zögerte, im Unklaren, ob sie den Eindringlingen trauen konnte. Doch bedeutete ihr etwas, dass Leia die Wahrheit sagte.
»Kommt zu uns!«, sagte sie leise und doch laut genug, dass die beiden es hören konnten. Ohne zu zögern, hob Stephen seine Schülerin auf seine Arme und trug sie durch den reißenden Fluss hinüber auf die andere Seite. Zunächst wollte sie protestieren, aber als sie sah, wie die Strömung an Stephens Kleidern riss, war sie doch dankbar dafür. Sie hätte es wohl sonst nicht an das andere Ufer geschafft. Auch er spürte die Kraft des Wassers deutlich an seinen Kräften zehren. Doch es erlöste ihn auch, als er spürte, wie der letzte verbliebene Rest des Geistes aus seinem Körper gespült und er selbst vollends befreit wurde. Es war, als könne er endlich wieder richtig durchatmen. Als hätte man seine Ketten gesprengt und er hätte nun endlich wieder die geballte Kontrolle.
Auf der anderen Seite angekommen, setzte er Leia behutsam auf dem Boden ab und trocknete dann seine Kleider mithilfe eines kleinen Zaubers.
»Ich bin Reyna«, erklärte die dunkelhaarige Dame, als sie Leia ihren Arm anbot.
»Prätorin von neu Rom. Und ihr seid?« »Ich bin Leia…«, sagte sie unter Schmerzen.
»Eine Tochter des Poseidon und das ist mein Lehrer Doktor Strange, oberster Meister der mystischen Mächte«, antwortete sie und schüttelte erfreut die Hand der Prätorin.

»Ist sie das?«
»Ja.«
»Sie sieht so… menschlich aus?« Aus Chiron’s Mund klang diese Erkenntnis beinahe wie eine Frage. Als wäre er besorgt über die Reaktion des Engels angesichts seiner Bezeichnung. Der Engel schnaubte.
»Ja, ich weiß«, antwortete er zerknirscht, als würde die Bestätigung so bitter schmecken wie Engelwurz.
Raphael informierte Chiron, dem Leiter des anderen Camps, welches für die griechischen Kinder der Götter war, gerade über die neusten Ereignisse. Dabei fasste er sich zwar kurz, ließ aber dennoch keines der wichtigen Puzzleteile aus. Vor allem nicht die letzten Tage, die der Grund für Leias geschwächte Verfassung waren. Als er bei ihrem Kampf mit dem Urgiganten angekommen war und gerade erzählte, wie sie ihn trotz ihrer anfänglichen Angst besiegt hatte, brummte er.
»Bist du sicher, dass der Alligator tot ist?«, fragte Chiron gedämpft, sodass die Bäume nicht lauschen konnten. Raphael nickte. »Ja, sie hat… kurzen Prozess mit ihm gemacht.« Bei der Erinnerung an ihr Gebet an ihn, an ihre Meditation und die darauffolgende Explosion, stellten sich seine Schuppen schmerzhaft auf. Er hatte sich nach ihrem Hilferuf sofort auf den Weg zu ihr gemacht. Aber dort, wo er sie hatte rufen hören, war niemand. Erst abgelegen an der italienischen Küste hatte er die beiden dann gefunden. Verletzt und bewusstlos, aber definitiv am Leben. Er wusste nicht, wie sie die Explosion überlebt hatte. Aber er war sich sicher, dass sie sie verursacht und damit unzählige Leben gerettet hatte.
»Wie konnte das passieren?«, fragte Chiron nun und musterte mit gefurchter Stirn die Maserungen an Raphaels Haut.
»Ich dachte eigentlich, er würde bewacht?« Der Engel fuhr zu ihm herum. Bis eben hatte er nicht einmal gemerkt, dass er sich dem Zentaur ab und Leia zugewandt hatte. Doch jetzt sollte dieser erneut seine volle Aufmerksamkeit haben.
»Eigentlich sollte sich Poseidon um dieses Monster kümmern! Seit Jahrhunderten bestand die Gefahr des Giganten. Jeder wusste, dass nur eine kleine Anomalie reichen würde, um ihn zu wecken und der Muschelbart hat dennoch nichts getan!« Raphael züngelte aufgebracht.
»Stattdessen schickte er sie vor, um seine Drecksarbeit zu erledigen!«, murmelte er, ehe er erkannte, auf welch schmalen Grat er sich bewegte. Entschuldigend sah er zu Chiron, doch anstelle zu urteilen, wurde der Blick des Zentaurs weich. Auch er hatte seine Bedenken den Methoden seines Bruders gegenüber. Aber er war ihr Vater und wusste genau, was er da tat. Außerdem war das leider nicht das Schlimmste, worüber er sich hatte Gedanken machen müssen. Auch er hatte teils grauenhafte Neuigkeiten bezüglich weiterer solcher Fälle, wie sie ihr und ihrem Mentor geschehen waren. Fälle von unerklärlicher Wut. Langsam trat er neben die große Schlange und blickte nun ebenfalls auf Leia, die noch immer von Stephen gestützt am Ufer stand.
»Chris, ein Sohn des Hermes und ein eigentlich eher zurückhaltender junger Mann, ist aus dem Nichts auf seine Verlobte losgegangen«, sprach er, »Nach seinem Bad im Tiber könnte er sich an nichts mehr erinnern.«
»Hm...«, brummte Raphael und kratzte sich nachdenklich am Kinn. Chiron schabte nervös mit dem Huf im Sand umher.
»Meint Ihr, der Alligator wurde auch manipuliert?«, fragte Chiron schließlich das, was ihn schon eine Weile beschäftigte. Raphael nickte abwesend. »Ja«, beichtete er und drehte sich auf dem Absatz um. »Allerdings nicht von einem Besessenheitsgeist.« Ohne eine weitere Erklärung schlängelte er von dannen. Als er ein paar Meter entfernt, trotzdem jedoch noch in Hörweite war, hielt er allerdings inne und blickte Chiron über seine Schulter hinweg an.
»Seid auf der Hut.« Die Lippen zu einer schmalen Linie verzogen, nickte Chiron ihm zu.
»Wartet!«, rief er wenige Sekunden später. Erneut wandte der Engel sich ihm zu und hob interessiert eine Braue. »Es gibt da noch einen Vorfall, von dem ihr vielleicht wissen solltet.« Automatisch versteifte er seine Haltung und bedeutete ihm fortzufahren. »Dann sprecht.«
»Dieser liegt ein paar Jahre zurück, weißt aber dieselben Merkmale auf«, erklärte Chiron, »Percy und Jason, ein Sohn des Poseidon und einer des Zeus, waren damals aufeinander losgegangen. Erst als sie durch eine Freundin K.O. geschlagen wurden, verließen die Eidola sie wieder.« Er schüttelte betrübt den Kopf. »Sie waren einander wie Brüder.« Erneut schnaubte Raphael verächtlich auf. »Das muss nicht gleich den bedingungslosen Frieden bedeuten, Chiron!«, murrte er, »Ihr wisst das genauso gut, wie ich.« Er hatte recht. Auch Chiron war diese traurige Tatsache bekannt. Seit jeher bekämpften sich die Götter untereinander, die einen brutaler als die anderen. Und als Sohn des Kronos und damit Bruder der ersten Kinder des Göttergeschlechts, verstand er es, dass die Familie gewiss kein Grund für Frieden sein musste. Vor allem nicht bei dieser Göttin. Hera, die jeden verachtete, der nicht in ihr perfektes Bild einer Bilderbuch Familie passte. Doch er würde ihr nie sagen, dass mitunter sie der Grund für die Utopie des Friedens ist.
»Chiron!«, riss ihn plötzlich ein aufgebrachtes Rufen aus seinen Gedanken. Es war Annabeth, eine seiner Schülerinnen, die für ihn beinahe wie eine Tochter war. Er drehte sich zu der nun zum Stehen kommenden jungen Frau herum und stützte tadelnd die Hände in die Hüften.
»Annabeth! Du solltest dich eigentlich schonen! Denk an das Kind!« Sie winkte ab. »Ich habe es gerade gehört. Ist sie hier?« Sie ignorierte seine belehrende Haltung weiterhin geflissentlich und blickte aufgeregt an ihm vorbei, in der Hoffnung einen Blick auf Leia zu erhaschen. Chiron peitschte nervös mit dem Schweif.
»Wovon sprichst du, mein Kind?« Nun war Annabeth gewiss kein Kind mehr mit ihren mittlerweile neunundzwanzig Jahren. Doch angesichts seines Alters und seiner Liebe ließ sie es ihm jedes Mal durchgehen.
»Chiron, wenn ich es dir doch sage! Sie sah aus wie Percy.« Annabeths Blick auf ihn war durchdringend. Ihre sturmgrauen Augen bohrten sich beinahe so tief in sein Inneres, dass Chiron fürchtete, sie würde die Antwort auf ihre stumme Frage bereits kennen. Doch sie seufzte ergeben.
»Bitte, hat Poseidon eine Tochter oder nicht?« Wie alle Unsterblichen war er geübt darin, seine Miene so emotionslos zu halten, dass man glauben könnte, mit einer Statue zu sprechen.
Teilnahmslos zuckte er also nur mit den Schultern.
»Nicht, dass ich wüsste«, erklärte er und strich sich grummelnd durch seinen graumelierten Bart, »aber vielleicht ist das auch nur Zufall. Ich würde dem nicht soviel Bedeutung beimessen, meine Liebe.« Er wusste, dass sie nicht locker lassen würde, ehe sie die Wahrheit über Leia erfahren hätte. Doch zunächst musste er noch etwas Wichtiges klären.

»Sie wissen es«, beichtete Chiron zerknirscht, als er am Long Island Sound stand.
»Ja, darauf setze ich.«
»Wenn sie es wissen, wird es nicht lange dauern, bis sie sie findet«, murmelte er und blickte gespannt hinaus auf das Meer, wartend auf eine Antwort. Doch es kam keine.
»Weiß sie es denn?«, fragte er leise, bedacht darauf, dass niemand sonst ihn hören konnte. Das Meer kräuselte sich.
»Sie weiß es, Bruder«, erklang die tiefe Stimme Poseidons in seinen Ohren.
»Sie weiß es, seit ich bei ihr war und ihr den Auftrag gab.«
»Dir ist klar, wie leichtsinnig das ist?« Chiron vernahm ein leises Knurren.
»Ich hätte es ihr bereits viel früher gesagt! Doch sie sollte erst die magischen Künste lernen. Ich ahnte ja nicht, dass…« Er musste nicht weitersprechen. Chiron hatte bereits gehört, wie schlimm der Vorfall mit ihrem Mentor war und was sie erleiden musste. Poseidon räusperte sich:
»Vielleicht hilft ihr, dass sie es nun weiß, eine Lösung zu finden«, meinte er und Chiron konnte sein Schulterzucken klar vor Augen sehen.
»Weiß sie denn-«, setzte er zu einer Frage an, doch er wurde von einem dumpfen, lauten Geräusch unterbrochen. Ein weiterer Besucher war soeben angekommen.

Es war ein offenes Geheimnis, dass die Römer ungern die Mächte um Hilfe baten. Sie waren, was die Kommunikation mit den Göttern betraf, eher unbeholfen im Gegensatz zu ihren griechischen Verwandten. Deshalb war es nicht überraschend für Leia, dass Reyna versuchte, ihre Unsicherheit zu verstecken, als sie den Engel herbeirief. Egal, wie hart die Zeiten auch sein mochten. Sie nahmen den Willen der Götter stets wie er kam, auch wenn das Tote bedeutete. Aber seit Camp Jupiter und das Camp Half-Blood keine Feinde, sondern Verbündete waren, verschwamm diese unausgesprochene Regel allmählich.
»Willkommen. Ich bin Reyna, Prätorin von Neu Rom.«
»Hallo Reyna, Prätorin von Neu Rom. Ich bin Gabriel, der Engel der Krieger und ihr Beschützer«, antwortete der Engel. Er sprach, mit einem sanften Lächeln auf seinen Lippen, als er auf die junge Soldatin hinabblickte. »Seid Euch sicher, dass ich alles in meiner Macht Stehende tun werde, um euch alle zu beschützen. Doch seid Euch auch bewusst, Prätorin, dass ich nicht versprechen kann, dass jeder hier überlebt.« Leah schluckte schwer. Ungeachtet der Tatsache, dass sie bereits Bekanntschaft mit der Aura eines Engels gemacht hatte, war die Gabriels, nun ja, anders. Wie seine Worte strahlte er Gutmütigkeit, aber auch Direktheit aus. Er wirkte selbstbewusst und stark und erzeugte damit eine angenehme Gänsehaut bei ihr aus. Bei ihm dachte sie nicht an eine heiße Schokolade an einem kalten Wintertag wie bei Raphael. Sie dachte an einen alteingesessenen Polizeihund. Liebevoll zu denen, die Gutes tun, doch erbarmungslos zu denen, die anderen schaden.
Gabriel war größer als Raphael. Was ihr nicht aufgefallen wäre, wären Chiron und die Schlange nun nicht von ihrem Gespräch zurückgekehrt und hätten sich nicht neben ihn gestellt. Genau einen Kopf größer war er. Sein Gesicht jedoch war verhüllt von einem griechischen Kriegerhelm. In dessen Inneren war nichts als schwarze Leere, was sie verwirrte, da sie hätte schwören können, sein Lächeln genau zu hören, sobald er sprach.
Und so düster sein Erscheinen war, so waren es auch seine Flügel. Sie waren derer der Wanderfalke sehr ähnlich von der Erscheinung. Er hatte sechs von ihnen an der Zahl. Zwei setzten auf seinen Schultern an, weitere zwei an seinem Kreuz und die letzten beiden befanden sich an seiner Hüfte. Sein Aussehen war im starken Kontrast zu Raphaels, dessen farbenfrohe Auftreten einladend und warm wirkte. Doch seines wirkte stark und erhaben. Sofort wandte sie ihre Aufmerksamkeit auf etwas anderes, als er sie plötzlich ansah.
Doch als er sie erblickte, erstarrte er. Ehe jemand es mitbekam, fasste er sich allerdings sofort wieder und wandte sich an Raphael, der jäh wusste, was los war.
»Ist sie es, Bruder?«, fragte er raunend und richtete sein Langschwert aus Glas an seiner Hüfte.
Raphael nickt: »Ich habe sie zuerst auch nicht erkannt.«
»Sie kann erst einmal hierbleiben«, meinte nun Chiron dicht neben ihnen und nickte in Leias Richtung. »Hier ist sie in Sicherheit.«

»Hi! Du bist die Frau von neulich, richtig?«, fragte sie schüchtern an die junge blonde Frau gewandt, als sie auf sie zukam.
»Hey! Ja, ich bin Annabeth und das ist mein Mann Percy«, stellte sie sich und gleichermaßen auch den schwarzhaarigen Mann vor, der lächelnd eine Hand um sie schlang.
Erneut erfüllte sie das prickelnde Gefühl eines weiteren Lebens und sie lächelte Annabeth glücklich an. Sie und ihr Mann schienen es jetzt auch zu wissen, denn Percy streichelte sanft über ihren Bauch und verteilte Küsse auf ihr Haar.
Als sie jedoch Percys Aura spürte, stockte ihr Atem.
»Du…«, sie brach mitten im Satz ab, als sie realisierte, was sie im Begriff war zu sagen. Tränen brannten in ihren Augen, als ein Geräusch ihre Lippen verließ. Eine Mischung aus Lachen und Schluchzen.
»Du bist Dad sehr ähnlich.« Der Mann sah sie mit großen Augen an und stoppte sofort in seiner Bewegung. Plötzlich schien die Welt um sie herum zu verstummen. Das einzige, was sie hörte, war sein und ihr stockender Atem und ihre pochenden Herzen. Ohne zu antworten, machte er einen großen Schritt auf sie zu und schloss die Entfernung zwischen ihnen. Sein starker, harter Körper vibrierte, als er ein tiefes Lachen an ihrem Hals ausstieß. Er roch herb und frisch. Wie die salzige Gischt des Meeres. Ein wohliger Schauer durchfuhr sie, als sie sich den Bildern hingab, die sein Geruch in ihr hervorriefen.
»Du hast den Alligator besänftigt, alle Pferde und Meerestiere sprechen davon«, flüsterte er an ihre Halsbeuge und strich sanft ihren Rücken auf und ab.
Als er sich von ihr löste, strahlte er über das ganze Gesicht und wuschelte ihr durch ihr kastanienbraunes Haar.
»Gut gemacht.«

Sie unterhielten sich noch lange, als ihr Bruder sie im Camp Jupiter, seinem zweiten Zuhause, erzählte er ihr, spazieren führte. Wie ein Gentleman hatte er ihr seinen Arm angeboten, an dem sie sich unterhakte und ihn dankend anlächelte.
Er war groß und muskulös und hatte dieselbe Unruhe in den Genen wie sie.
Das Ungezügelte ihres Vaters, der Drang nach Freiheit, sprühte förmlich in seinen Venen, als er ihr über seine vielen Abenteuer mit den Halbgöttern hier in der Stadt erzählte.
Zum zweiten Mal, nun in kurzer Zeit fühlte sie sich Zuhause, als er zu den Bekanntschaften mit ihren unzähligen Geschwistern kam. Gut oder Böse, sie waren alle Teil von ihnen.
Er erzählte ihr auch von Tyson und seiner Freundin, der Harpiye Ella. Und so liebevoll wie er über die beiden sprach, schloss sie auch sie sofort in ihr Herz.
Als sie an einer Anzahl von kleineren Schreinen ankamen, erläuterte er ihr zu jedem einzelnen die Geschichte, die er mit dem verehrten Gott verband.
Einer von ihnen stach jedoch besonders in der Ansammlung heraus. Er war meerblau, fast schon dunkelblau angestrichen und hatte Bildnisse von Wellen und Blitzen in seinem Inneren. Auch Bilder von versunkenen Schiffswracks zierten seine Wände.
»Das ist der Schrein unserer Schwestern«, sagte er ehrfürchtig. So stolz seine Augen funkelten, entging ihr jedoch nicht auch die Traurigkeit, die in seiner Stimme mitschwang.
Wie von selbst, drückte sie seinen Arm und neigte ihren Kopf schräg, als sie besorgt ihre Stirn runzelte. Er drückte die Schultern nach hinten, als er zitternd Luft holte und streichelte ihre Hand.
»Sie fielen der Vergessenheit zum Opfer«, flüsterte er und es schien, als würde sich für einen kurzen Moment ein schwerer Schatten über sein Gesicht legen.
»Vor rund 6 Jahren.« Sie erschauderte.
»Der Blip…«, murmelte sie.
»Was?« Nun war sie es, die seine Hand streichelte, als sie seinen besorgten Blick auf ihr ruhen spürte.
»Strange erzählte mir davon…«, fing sie zitternd an, »Thanos, ein irregewordener Außerirdischer, hatte vor 6 Jahren die halbe Bevölkerung des Multiversums ausgelöscht.« Sie schluckte hart, als der Schauer der Erinnerungen über sie hereinbrechen.
»So gab es dann nicht mehr genug, die glaubten und einige Götter wurden vergessen, stimmt’s?« Er nickte.
»Das ist Kym«, er zeigte auf die Figur, deren Kleid aus Wellen zu bestehen schien. »Sie verkörperte die Brutalität und Kraft des Meeres. Sie war…« Er brauchte diesen Satz nicht zu beenden. Wissend lächelte sie, als sie begriff, warum das Meer plötzlich so still wurde. Als sie begriff, warum die Nymphen sich änderten. Als sie begriff, wie der Alligator eine solche Gefahr werden könnte.
»Sie klingt cool.«
Wieder drückte er leicht ihre Hand und schaute lächelnd auf sie hinab.
»Du hättest sie gemocht.«
»Und die andere Frau?«, fragte Leia und deutete auf die Figur neben der Sturmgöttin.
»Das ist Ash«, erklärte er und ein schiefes Grinsen zierte seine Lippen.
»Sie war das Gegenstück zu Kym, sie verkörperte die Sicherheit und Zuflucht des Meeres für alle Tiere und Seefahrer. Auch sie ist verschwunden.«
Ehe Leia darauf etwas erwidern konnte, erschien plötzlich Annabeth hinter ihnen und hielt ihr erwartungsvoll ihr Telefon entgegen. Leia hob verwirrt ihre Brauen, als sie ihr das Handy abnahm. Percy hatte ihr genau erklärt, warum Halbblute keine elektronischen Geräte haben konnten. Sie lockten die Monster an. Es war wohl so, dass die Strahlung der Geräte in Verbindung mit dem Geruch der Halbblute wie eine rote Fahne wirkte.
»Ein Mann möchte mit dir reden«, erklärte Annabeth, als sie ihr Gesicht sah.
»Wer?«, fragte Leia irritiert.
»Ein Typ namens Logan«, erklärte sie und zuckte mit den Schultern. Erleichtert keuchte sie auf, als sie ihr das Handy förmlich aus der Hand riss. Nie hätte sie gedacht, dass sie mal so froh sein würde, die Stimme ihres alten Mentors hören zu können. Sie zitterte, als sich ihre kalten, schmalen Finger um das Plastikgehäuse schlossen und es langsam an ihr Ohr führte.
»James?«, fragte sie mit bebender Stimme, als ein trauriges Lächeln ihre Lippen umspielte.
»Hey Kleines.«

Chapter Text

»Stephen?« »Leia?« Das war der Beginn ihres Abschieds.
Sie war den Tränen bereits nah, als sie Percy ihren Beschluss offenbart hatte. Als sie den Weg von ihrer vorübergehenden Behausung zu ihm gewagt und auch, als sie vor ihm und Chiron gestanden hatte und auf ihre Gelegenheit wartete.
Sie wusste, dass nun nicht der richtige Zeitpunkt für ihre Gefühle war.
Sie musste das Richtige tun. Auch, wenn es weh tat.
Auch trotz der zurückgewonnenen Geborgenheit, die sie in Stephens Nähe spürte, beherrschte sie weiterhin dieses erdrückende Gefühl der Vorsicht.
Sie hatte selbst gesehen, wie Clarisse' Verlobter erneut auf sie losgegangen war, auch nach seinem Bad im Tiber. Auch als Tochter des Ares und geübt, gerade in solchen Situationen, die Ruhe zu bewahren. Gingen die letzten Tage nicht spurlos an ihr vorbei.
Chiron hatte erklärt, der Fluss sei zwar eine Heilung, doch wie auch bei gewöhnlichen Infekten, bleibt immer ein kleines Restrisiko einer erneuten Erkrankung.
»Gehen wir ein Stück?«, hatte sie also leise ihren Mentor gefragt und er nickte.
Mit einem sanften Lächeln hatte er ihr seinen Arm gereicht, den sie dankend annahm.
Eine Geste der Hilfe.
Hilfe, die sie jetzt nicht mehr benötigte.
Das Alles geschah am Abend ihrer Ankunft.
Eine Woche ist seitdem vergangenen. Eine Woche in der sie so unbeschwert wie schon lange nicht mehr, den Frieden und die Ruhe genießen konnte. Ihre Alpträume schienen hier nur halb so schlimm, an die meisten erinnerte sie sich am Morgen danach schon kaum mehr.
Seit Percy ihr erklärt hatte, dass es wohl weitestgehend normal war als Halbblut, mit Alpträumen zu kämpfen, ging es ihr damit deutlich besser.
Er hatte ihr so vieles erklären müssen. Dass Halbgötter, mit wenigen Ausnahmen, keine Telefone benutzten, da die Strahlung Monster anlockte, war nur eines der wenigen Dinge, die sie schockierte. Aber auch wenn vieles für sie sehr neu war, konnte sie die Zeit dort sehr genießen.
Vor allem die allein mit ihrem Bruder.
Natürlich gefielen ihr auch die Kriegsspiele auf dem Marsfeld, in denen sich die einzelnen Kohorten gegenseitig bekämpften. Oder die einzelnen Sportaktivitäten mit den anderen Stadtbewohnern, wie das Bogenschießen, oder das Schwertkampftraining. Wobei ihr auffiel, dass ihr das Pilum, das römische Pendant zu einem Speer doch besser lag.
Aber nichts ging für sie über die Gespräche, die sie und ihr Bruder jeden Abend am Fluss hatten.
Mitten unter den Sternen, mit den leisen Geräuschen der Stadt und dem Geflüster der Laren in ihrem Rücken.
Er erzählte ihr alles. Über seine Abenteuer, den Kriegen, die er gewann, seinem Abschluss und der Heirat mit Annabeth, bis hin zum für sie schönsten Thema.
Wie ihr Vater seine Mutter traf. Am Strand von Montauk hatten sie sich verliebt, erzählte er. Sie war so glücklich, das spürte er noch immer, wenn sie darüber sprach. Doch umso trauriger war sie natürlich, als Poseidon gehen musste. Er freute sich, als er erfuhr, dass sie mit Percy schwanger war, doch er musste zurück ins Meer. Er war schon viel zu lange bei ihr an Land und durfte seine Pflichten als Gott nicht vernachlässigen.
Er hatte ihr einen Palast bauen wollen, wollte sie sogar unsterblich machen. Doch sie lehnte ab.
Er hätte alles für sie getan, aber sie entschied sich dagegen. Denn so war sie nicht.
Sally war keine Frau, die gern auf andere angewiesen war, hatte er ihr gesagt. Wenn sie etwas tat, dann auf ihre Art und allein. So war es schon immer.
Leia war nicht klar, was es war, dass diesen bitteren Geschmack hinterließ. Ob es die Tatsache war, dass Sally und sie sich so ähnlich waren und sie gern früher von ihr gewusst hätte oder ob es Percys Erzählung selbst war.
Er liebte seine Mutter und schien jedes noch so kleine Detail in seinen Erinnerungen zu verwahren, aber sie würde das nie können. Sie wusste nicht, wer ihr leibliche Mutter war. Sie hatte keine Gewissheit, ob es vielleicht doch Maria war, die sie so liebevoll großgezogen hatte. Oder ob ihre Mutter vielleicht doch noch irgendwo und am Leben war.
Sie hatte niemanden.
Nur noch ihn und Tyson, ihren anderen Bruder, bei dem sie soeben angekommen waren. Im Gegensatz zu ihr und Percy hatte Tyson jedoch nicht so große Ähnlichkeit mit Poseidon. Auch wenn ihre Haare nicht ganz schwarz, sondern eher kastanienbraun waren, hatten Percy und sie doch den dunklen Teint und die leuchtend meerblauen Augen ihres Vaters. Tyson hingegen hatte haselnussbraune Haare und ein dunkelbraunes, großes Auge. So jedenfalls beschrieb er es selbst. Er war groß, fast zweieinhalb Meter und muskulös gebaut. Hätte sie es nicht besser gewusst, wäre sie bei seiner Erscheinung vor Schreck zusammengezuckt. Aber sobald Percy sie einander vorgestellt hatte, lächelte der Große und zog sie beide in eine bärenhafte Umarmung. Es war eine so herzliche und liebevolle Geste, dass sie sich ein Kichern nicht verkneifen konnte. Ein Geräusch, das sie von sich schon lange nicht mehr gehört hatte. Nach seiner Begrüßung konnte Tyson es kaum erwarten, sie nun auch seiner Freundin vorzustellen.
Ella, eine zierliche Harpyie, hatte solch wunderschönes, rotes Gefieder, dass ihr bei ihrem Anblick der Mund offen stehen blieb. Leia hatte zwar schon die ein oder andere Bekanntschaft mit einer Harpyie gemacht, jedoch waren die alt, hässlich und gemein. Wie alte, verbitterte Frauen. Ella aber schien noch jung und wissbegierig, denn sie trug einen kleinen Stapel verschiedenster Bücher mit sich herum. Eines über Astrophysik, eines über Lyrik und eines über die moderne Kunst.
»Coole Auswahl!«, sagte sie an die Harpyie gewandt. Ella versteckte sich noch immer hinter ihrem Freund Tyson, doch Leia konnte doch ein kleines, schüchternes Lächeln erkennen.
»Hast du alles, was du für die Reise brauchst?«, fragte Percy sie leise.
Sie nickte: »Ja, Annabeth wollte mir nur noch-«
Sie wurde vom plötzlichen Rumoren der Menge unterbrochen. Sie hörte wie zwei Männer dabei waren, einen dritten zu beruhigen, als sie plötzlich jemand an der Kehle packte und nach hinten an den Rand des Flusses schleuderte, weg von ihren Brüdern. Instinktiv drehte sie sich in der Luft und landete ungewollt, aber zu ihrem Glück in der allseits bekannten Superheldenlandung. Ächzend kam sie erneut zum Stehen und drehte sich zurück in die Richtung des Geschehens.
»Nicht-cool!«, zischte sie dem Typen entgegen, der sich gerade vor ihren Brüdern aufbaute.
»Wie hast du das gemacht?«, fragte Percy, der wenig beeindruckt von dem Typen, stattdessen sie ungläubig ansah.
»Was denn?«
»Das Beben. Tu es nochmal!«, rief er ihr zu.
Ohne es zu merken, hatte sie bei ihrer Landung ein leichtes Erdbeben versucht, das, sobald sie wieder im Gleichgewicht war, aufhörte.
»Und wie?«, fragte sie mit erhobenen Brauen, doch er zuckte nur mit den Schultern. Sie rollte mit den Augen und schüttelte grinsend mit dem Kopf.
Auf die gute altmodische Art also kontrollierte sie das Wasser im Körper des verrückt gewordenen Campers und beförderte ihn kurzerhand in den vor ihren Füßen liegenden Tiber. So ging es beinahe jeden Tag zu, seit sie vor sieben Tagen hier angekommen war.
Bewohner wurden verrückt und griffen andere an und einer der Geschwister musste sie in den Fluss befördern. Anfangs war das hauptsächlich Percys und Tysons Unterfangen, da sie ihre Kräfte noch nicht bewusst nutzen konnte.
Aber das wurde leichter, als Percy ihr den Trick mit dem Wasser im Organismus beigebracht hatte.
»Sehr effektiv und diskreter, als würde man seine Gegner frontal angreifen. Hat mich im letzten Schuljahr das ein oder andere Mal vor einer Suspendierung gerettet«, hatte er ihr erklärt. Doch sie musste immer noch üben. Die bewusste Manipulation des Wassers war nach wie vor neu für sie. So wie auch an diesem Tag.
»Gute Arbeit, Trouble«, hörte sie Logans unverkennbare Stimme hinter sich. Auch sein Grinsen konnte sie ganz deutlich heraushören. Der Mutant stand zusammen mit Yelena am Ufer des Flusses und hatte die Arme vor seiner breiten Brust verschränkt. Nach all der Zeit ließ sie es sich natürlich nicht nehmen, ihn zur Begrüßung zu umarmen. Auch Yelena blieb davon diesmal nicht verschont. Reyna hatte den beiden nach dem Gespräch mit Chiron Einlass gewährt, sodass sie Leia abholen konnten.
Logan und der Zentaur scheinen sich nach ihrer Diskussion, von der er am Telefon erzählt hatte, auch, immerhin zu tolerieren. Sie würden wohl nie beste Freunde werden, aber Chiron wird dennoch helfen, die verschwundenen Mutanten zu finden, weswegen er das Team zusammengerufen hatte. Im Camp Half-Blood wären sie so auch sicher und Leia könnte weiterhin an ihren Fähigkeiten arbeiten. Auch das Team und die Camper arrangierten sich recht schnell, hatte Logan ihr erzählt.
»Immerhin kämpfen wir gegen denselben Feind«, hatte er am Telefon gemurmelt. Doch noch immer schien keiner so wirklich zu wissen, wer oder was das sein könnte.
»Alles läuft so weit nach Plan. Die anderen beiden müssten in zwei Tagen wieder in New York ankommen«, erklärte Logan den Stand der momentanen Lage und blickte dann auf sie hinab. Es lag nun nur noch an ihr, Red zu überreden und sich mit ihm auszusprechen. Den Teufel von Hells Kitchen, Daredevil. Matty.
»Er wird nicht erfreut sein, mich zu sehen, James …«, entgegnete sie kleinlaut und furchte besorgt die Stirn. Logan lächelte sanft.
»Doch, ich glaube, das wird er«, ermutigte er sie, »wenn du ihm alles erklärst.« In ihrem Magen machte sich sogleich ein unangenehmes Gefühl breit. Doch als Percy im nächsten Moment erneut neben ihr stand, war das Gefühl wieder verschwunden. »Hier.« Er reichte ihr den Rucksack, den sie und Annabeth gemeinsam gepackt hatten.
»Ich habe noch ein bisschen Geld und Drachmen eingepackt. Und Nektar und Ambrosia, für alle Fälle.« Sie lächelte. Es war süß, wie sehr er sich um sie sorgte. Sie umarmte ihn fest und bedankte sich für die Hilfe. Dabei stieg ihr ein unwiderstehlicher Geruch von Schokolade in die Nase.
»Was ist das?«, fragte sie ihn neugierig und beugte sich ein Stück über die Box, die er in seiner freien Hand hielt.
»Blaue Schokoplätzchen«, erklärte er und reichte ihr die Schachtel, damit sie sich einen herausnehmen konnte. Sie griff zu und grinste in sich hinein. Er hatte ihr von dem kleinen Scherz mit dem blauen Essen zwischen ihm und seiner Mom erzählt. Der, der eigentlich als dumme Wette mit seinem fiesen Stiefvater anfing und irgendwann zu einer Art Tradition wurde. Als sie hineinbiss, wusste sie auch, weshalb er die ganze Zeit so geschwärmt hatte. Sie schmeckten wundervoll. Sie waren warm und die Schokostückchen innen drin noch geschmolzen. Es war himmlisch.
»Sag Sally, die schmecken fantastisch.«
»Es sieht aus, als hätte sich ein Schlumpf in der Schachtel übergeben«, sagte Logan leicht angewidert. Percy prustete los und verschluckte sich sofort an dem Plätzchen, das er sich ebenfalls aus der Box genommen hatte.
Nun war sie es, die anfing, zu lachen.
»Ich denke, das ist mein Stichwort.« Weiterhin lachend fing sie an, sich von allen zu verabschieden. Einen nach dem anderen schloss sie in die Arme. Annabeth, Chiron, sogar Ella, die hinter den Beinen von Tyson hervorgekommen war und sie nun schüchtern anlächelte. Zu guter Letzt verabschiedete sie sich auch von einem noch immer hustenden Percy und einem schluchzenden Tyson, die sie ganz fest umarmten.
»Schwester soll auf sich aufpassen«, sagte Tyson schniefend und entließ sie wieder.
»Das mach’ ich, mein Großer.« Lächelnd machte sie sich also auf den Weg zum Ausgang, den Rucksack in der einen Hand und das Geschenk ihres Bruders in der anderen.
»Stirb nicht!«, rief sie Percy im Laufen zu, während dieser noch immer versuchte, nicht an dem Plätzchen seiner Mom zu ersticken. Sein Grinsen war warm und frech, als er sie ansah, wie das ihres Vaters und brachte auch sie zu einem breiten Grinsen. Doch als sie den Tiber überquert hatte und immer weiter auf den Ausgang zuging, machte sich das unangenehme Gefühl von vor wenigen Minuten in ihrem Bauch wieder breit und ihr schien die Fähigkeit genommen worden zu sein, zu atmen. Als wäre sie es, die gerade an einem blauen Schokoplätzchen erstickte.

Chapter Text

Knarrend öffnete sich die Tür, als sie langsamen Schrittes die Kirche betrat. Als würde sie ihre Ankunft verspotten, so laut erklang das Geräusch ihres Blindenstocks auf den Fliesen des Messesaals. Seit sie mit Logan und Yelena in das Flugzeug nach New York gestiegen war, war sie nervös.
Voller Angst gar, denn dort würde sie ihn überzeugen müssen.
Der Beichtstuhl war bereits besetzt, als sie vor der linken Kabine zum Stehen kam. Er wartete auf sie. Ihren Herzschlag dröhnend in ihren Ohren, nahm sodann ebenfalls auf dem Stuhl in der Kammer neben ihm Platz.
»Vergib mir, Pater, denn ich habe gesündigt«, begann sie ihre Beichte.
Eigentlich fast schon ironisch, wenn man bedachte, dass der Teufel von Hells Kitchen nun den ehemaligen Priester vertrat. Doch ehe sie einen neuen fanden, sah Matthew es wohl als seine Pflicht, seinen alten Freund auch nach dessen Tod zu ehren. Immerhin, ist er in der Clinton Church aufgewachsen.
Sie hatte sich ihre Worte auf dem Heimweg hierher penibel zurechtgelegt. Sie wusste was, sie wusste, wie sie es sagen wollte.
Aber jetzt neben ihm zu sitzen, seine bemüht ruhigen Atemzüge zu hören, ließ ihr doch die Worte im Halse stecken bleiben. Mit einem Seufzer zerknüllte sie den Stoff ihres Kleides in der Hand und sprach weiter: »Ich beichte nicht oft und schon gar nicht in einer Kirche, doch … dieser Fehler lastet schwer in meinem Herzen.« Es war riskant, so sein Ersuchen um Vergebung vor einem katholischen Mann zu beginnen, aber sie hatte sich geschworen, ehrlich zu sein.
»Es gibt da einen Mann, dem ich vor langer Zeit das Herz gebrochen habe.« Sie hörte, wie Matt neben ihr scharf die Luft einzog.
»Ich wollte ihn beschützen und dachte, es wäre das Beste, wenn ich ging«, erklärte sie heiser, als der Kloß in ihrem Hals immer größer wurde. Er lachte kurz.
»Ich muss nicht beschützt werden, Leia«, raunte er, seinen Kopf in ihre Richtung geneigt.
»Woher …?«, stutzte sie. »Logan war vor ein paar Tagen bei mir. Ich weiß, weshalb du hier bist.«
Panik stieg ihren Hals hinauf. So war das eigentlich nicht geplant gewesen.
»Matty ich …«
»Die Antwort ist Nein. Geh jetzt.«
»Bitte Matthew, hör mir zu«, bat sie ihn mit zitternder Stimme und stand auf. Er verließ die Kabine und öffnete ihre, ohne ihr zu antworten. Ihr Herz schlug so schnell und stark, dass sie befürchtete, es würde ihr aus der Brust springen.
»Lass mich erklären bitte!«, flüsterte sie, »bitte, Red …«
»Nenn mich nicht so! Dazu hast du kein Recht!«, knurrte er sie an. Augenblick zuckte sie zusammen. So hatte sie ihn nicht Erinnerung. Fühlte es sich so an, den Menschen, zu verlieren, den man liebte, diesmal vielleicht sogar endgültig?
Sein Kiefer arbeitete und seine Zähne rieben knirschend aufeinander..
»Nicht … bitte …«
»Geh!«, schrie er voller Wut. Stockenden Atems wich sie zurück. Es war vergebens. Mit zitternden Gliedern verließ sie den Beichtstuhl und ging erneut auf den Ausgang zu.
»Du hättest niemals zurückkommen dürfen«, flüsterte er, Ehe seine Stimme zitternd brach. Sie schüttelte den Kopf, ihre Augen bereits feucht und ihr Herz blutend.
»Ich hätte niemals gehen dürfen…«
Sie hörte, wie Matt seufzte.
Er schien mit sich selbst zu kämpfen. Als würde er sich davon abhalten wollen, einen dummen Fehler zu machen.
Fluchend fuhr er sich durchs Haar, dem Kampf augenscheinlich haushoch verloren.
»Ein Brief, Leia …« Er schüttelte den Kopf.
Den Türgriff bereits fest umschlossen, bereit zu gehen, hielt sie inne und wandte sich ihm zu.
Er hatte die Hand in die Seiten gestützt und rieb sich angestrengt den Nasenrücken.
»Ein verdammter Brief!« Sie spürte, dass er sie am liebsten weiter angeschrien hätte. Doch er tat es nicht. Seine Worte waren kaum mehr als ein Flüstern. Ein Flüstern, das mehr Emotionen beinhaltete, als jedes laut ausgesprochene Wort. Sein Atem ging schnell, als er einen Schritt auf sie zu machte.
»I- ich …«, stammelte sie, unfähig einen klaren Satz zu bilden.
»Du hättest mit mir reden können, weißt du? Von Angesicht zu … Du weißt, was ich meine.« Ein müdes Lächeln zierte seine Lippen. Doch so schnell es sich zeigte, war es auch sogleich wieder verblasst. Verwirrt legte sie die Stirn in Falten.
»Hättest du mir eher erzählt, was dich belastet, dann...«
»Was dann, Matthew? Ich wusste doch selbst nicht, was mit mir nicht stimmte«, erinnerte sie ihn. Er hatte es doch selbst erlebt, wie sie Tag für Tag wie ein aufgescheuchtes Tier in der Wohnung herumtigerte und auf einen eventuellen Angriff wartete. Sie war eine wandelnde Zielscheibe für die Monster. Das ist sie auch jetzt noch, nur jetzt weiß sie, warum.
Ihr Geruch lockte sie an, hatte Percy ihr erzählt.
»Du wusstest von meiner Befürchtung, es wäre ein Fluch gewesen«, schluchzte sie. Leise Tränen tränkten ihre Augenbinde, als sie zurück an ihre letzten Tage mit ihm dachte, ehe sie ging. Wie sie beide kaum Schlaf fanden, weil sie nicht zur Ruhe kamen.
»Es war immerhin deine Mom, die mich damals aufnahm, erinnerst du dich?« Das Knirschen seiner Zähne verriet ihr, dass er die Zeit nicht vergessen hatte.
Schwester Maggie war immerzu sehr freundlich, auch wenn sie wahrscheinlich wusste, dass Leia nicht sonderlich christlich war.
»Ich wollte dich hassen… nachdem du mich verlassen hattest.«
Sie schluckte schwer, »Du hattest allen Grund dazu …«, flüsterte sie.
»Nein, du verstehst nicht.« Mit wenigen Schritten schloss er die Leere zwischen ihnen und stand nun direkt vor ihr. Doch er zögerte. Nur eine Sekunde zwar, aber es war genug, dass sie den Kampf in ihm noch immer spürte, ehe er ihr Kinn anhob und ihre Augenbinde abnahm.
»Ich wollte dich hassen. So sehr. Aber ich konnte es nicht.« Sanft wischte er die neuen Tränen weg, dessen Salz er auf seinen Lippen schmeckte.
»Ich konnte nicht aufhören, dich zu lieben …« Ein erleichtertes Seufzen entwich ihren Lippen. Schluchzend schlug sie die Hände vor die Augen, als die Tränen immer mehr wurden. Diese Worte nach all den Jahren, die vergangen waren, wieder zu hören, ließ alle Angst von ihr weichen. Ihre errichteten Mauern, waren eingestürzt, als er sie zum ersten Mal wieder aufgesucht hatte, damals in ihrem Schlafzimmer. Aber zu spüren, dass seine ihr nun auch wieder Einlass gewährten, ließ sie aufatmen.
Und diesmal schien er nicht mehr zu zögern, sondern zog sie sofort in seine Arme.
»E- es tut m- mir leid …«, schluchzte sie. Sie bedauerte ihre Taten und hasste sich für sie vielleicht noch mehr als Matthew es damals tat.
»Ich weiß …«, murmelte er in ihr Haar und strich ihr sanft über den Rücken. Auch wenn er es jetzt vielleicht noch nicht zugegeben hätte, hatte er ihr schon längst verziehen, als er sie nach der langen Zeit endlich wieder gespürt hatte. Als sie das Loch geschlossen, das ihr Gehen verursacht hatte. Doch dass er ihr verziehen hatte, hieß eben nicht gleich, dass er nicht noch immer verletzt war, sie auch gehen gelassen zu haben. Sie war sein Kryptonit und er war ihres.
Einen Moment noch standen sie einfach nur so da.
Sich in den Armen liegend, die Augen geschlossen.
Sie wollte, dass dieser Moment ewig währte. Hatte sie ihn, seine Nähe und seinen Moschusgeruch doch so sehr vermisst. Als sie allerdings nach einer Weile erneut ihre Aufmerksamkeit auf ihre Umgebung richtete, bemerkte Leia, dass sie unlängst nicht mehr allein waren. Aufgescheucht wie ängstliches Kaninchen griffen Matthew und sie zu ihren Blindenstöcken, ihren momentan einzigen Waffen. Aber als sie erkannte, was, oder besser gesagt, wer sie dort in der Kirche mit einem Besuch beehrte, ließ sie ihn sofort wieder sinken.
Der alte und mächtige Gott möge vielleicht furchteinflößend gewesen sein, wie er dort vor ihnen stand. In seine Schatten gehüllt und nichts als ein schwarzes Gewand am Körper, dessen Fasern die Seelen der Verdammten beherbergte. Aber trotz alldem war sie dennoch nicht verängstigt.
»Ich kann es dir nicht erklären, aber es ist ok, ehrlich«, offenbarte sie Matthew und drückte behutsam seinen Blindenstock nach unten.
»Hoher Herr Hades«, begrüßte sie ihren Onkel und deutete, aus reiner Höflichkeit, eine Art Verbeugung an.
»Bitte verzeiht meine Schroffheit, aber was tut Ihr hier, in einem christlichen Haus?« Ihr Bruder hatte ihr von Hades Temperament erzählt. Und auch wenn es sie nicht überrascht hatte, immerhin war Poseidon kein bisschen anders, war sie beim Herrscher der Unterwelt vorsichtiger. Sie spürte zwar seine Sanftmütigkeit ihr gegenüber, doch ihr Bauchgefühl bedeutete ihr, dass etwas nicht stimmte.
»Nichte … Ich überbringe keine guten Nachrichten.« Ihr Instinkt täuschte sie also nicht. Abertausende Szenarien schossen ihr durch den Kopf. Was war nur passiert? Ginge es James und den anderen gut? »Onkel, was-«, doch die Antwort auf ihre Frage kam prompt. Ehe sie die Worte hätte formulieren können, wurde alles um sie herum still. Sogar die Schatten hatten aufgehört, zu summen. Und sie wichen einem viel gewaltigeren, grauenhaftem Geräusch. Wer noch nie einen Gott hat vor qualvollen Schmerzen schreien hören, könnte sich wohl niemals ausmalen, welche Kraft sie hatten.
»Percy …« Durch den Boden spürte Leia das Beben der Rufe Poseidons in ihre Knochen steigen und von dort aus ihr Blut gefrieren. Als wäre sie selbst es, die getroffen war, sank sie auf die Knie und rang panisch nach Luft.
»Bitte … lasst das nicht wahr sein!«, flehte sie ihren Onkel an. Tränen der Verzweiflung rannen ihre Wangen hinunter, als sie ihre Hände zum Gebet erhob.
»Bitte …«, aber ihr Ersuchen war kaum mehr als das letzte Fünkchen Hoffnung, das sie verließ.
Denn eigentlich ahnte sie es bereits, als sie ihn im Camp verlassen hatte. Sie spürte, dass das Schicksal ihn bald eingeholt haben würde. Er hätte schon viel früher sterben sollen, waren seine eigenen Worte, an jenem Abend vor dem Tag ihrer Abreise. Doch sie hatte geglaubt, sie hätten vielleicht doch noch ein wenig mehr Zeit.
»Es tut mir leid«, flüsterte der Gott. Die Miene noch immer starr und unbeweglich, stand er vor ihr und wagte nicht, sie anzusehen.
»Sch ... Leia, alles wird gut! Sch ...«, versuchte Matthew vergeblich sie zusammenzuhalten. Doch sie hörte ihn nicht.
Noch bevor Hades die Kirche ganz verlassen hatte, stürzte die gesamte Macht der Schmerzen ihres Vaters auf sie ein. Das, was Hades Präsenz gedämmt hatte, sollte nur doppelte so stark hervorbrechen. Donnergrollen und ein gewaltiger Sturm waren die Auswirkungen und sollten New York binnen einiger Minuten in vollkommener Dunkelheit hüllen. Hätte man es nicht besser gewusst, hätte man glauben können, Artemis und Apollo hätten sich abgewechselt und es wäre nun Nacht gewesen. Aber dem war nicht so.
Noch immer rang sie in Mattys Armen nach Luft, unfähig das gerade geschehene zu realisieren. Seelischer wurde zu physischem Schmerz. Quälende Gedanken, an Bilder seiner Leiche, die mit jeder Sekunde schärfer vor ihrem inneren Auge erschienen, wurden zu noch qualvolleren Kopfschmerzen. Ihre Lunge brannte ihr, ihre Muskeln zum Zerreißen gespannt. Aber als sie erneut glaubte, es würde sie, wie einst im Mittelmeer, von innen heraus sprengen, hörte es auf. Die Schreie wichen Stille und der Schmerz wich der Taubheit.
Was dann geschah, erinnerte sie nur aus Matthews Erzählungen.
Sie habe angefangen, so qualvoll und laut zu schreien, dass er fürchtete, beinahe erneut sein Gehör zu verlieren. Sie schien fast schon erleichtert, als ihre Macht sie verließ und mit einem gewaltigen Erdbeben ihre Umwelt erfasste. Wie eine Naturkatastrophe, die alles und jeden mit sich riss. Sogar ihn, hätte er sie nicht in seinen Armen gehalten. Putz rieselte von der Decke und die Fensterscheiben sind zersprungen, hatte er ihr gesagt. Aus Angst, sie könne sie beide unter den Trümmern der Kirche begraben, floh er mit ihr ins Freie.
»Das war dumm, Matty …«, murmelte sie zerknirscht.
»Was hätte ich denn tun sollen? Dich zurücklassen? Auf keinen Fall!« Sie erwiderte nichts. Zum Diskutieren fehlte ihr schlichtweg die Kraft, also sprach er unbeirrt weiter. Er erzählte ihr, dass sie irgendwann allerdings vor Erschöpfung eingeschlafen war und seitdem sowohl das Beben, als auch das Gewitter aufgehört hatten.
»Wie lange ist das her?«, fragte sie heiser und knetete noch immer beunruhigt die Decke in Mattys Bett.
»Du hast beinahe 4 Tage verschlafen«, erklärte er, »Logan kam zwischendurch vorbei. Er wollte nach dir sehen.«
»Du hast ihm doch nicht …?«, »Nein, aber er schien es bereits zu wissen.« Sie nickte nur wissend. Sie hatte keine Ahnung, aus welchem Grund, aber sie wusste schon seit längerem, dass Logan und Poseidon miteinander gesprochen haben mussten. Und wenn er es von ihm nicht wusste, dann von der Totenzeremonie im Camp. Percys Zuhause, in dem sie gerade auf sie warteten.
»Matt, ich …«, ihre Stimme brach. Sie war noch nicht bereit. Sie hätte vermutlich keinen Meter gehen, geschweige denn eine Fahrt zur Long Island Küste überstehen können.
»Hey, alles ist gut. Nimm dir die Zeit, die du brauchst, ok?« Sie nickte. Diesmal jedoch flossen keine Tränen. Ihr schien, sie hätte wohl alle verbraucht, so wie auch ihre Trauer. Das Einzige, was übrig war, war diese leere Hülle einer Frau, dessen Herz erneut gebrochen wurde.
Auch die nächsten Tage und Wochen schienen wie ein Film an ihr vorbeizuziehen. Wie zähflüssiger Harz verschwammen sie ineinander. Und vielleicht war das auch besser so. Den Trauerprozess durchzumachen war wichtig, durchaus, aber sie muss sich am Ende nicht daran erinnern können. Tagsüber fühlte sie sich benommen, aß kaum und wenn, dann half ihr Matthew. Auch Besuch empfingen sie seitdem keinen mehr. Nur Stephen war einmal vorbeikommen und habe Bücher und ihre Sachen vorbeibringen wollen, aber Matthew ließ ihn nicht hinein.
»Dieser Ort soll für sie weiterhin Sicherheit bedeuten«, hatte er ihm gesagt, »und das wird er nicht mehr, sobald ich dich hinein lasse.«
Es tat ihr leid um Stephen, doch Matty meinte es nicht böse. Er wollte sie nur beschützen. Aber so sehr er sich auch bemühte, konnte er nichts tun, damit es ihr besser ging. Jedes Mal, wenn sie glaubte, sie hätte den Druck auf ihrer Brust überwunden, holten sie die Bilder wieder ein. Nacht für Nacht. Immer derselbe Alptraum.
Die stetig wiederkehrenden Bilder der Leiche ihres Bruders. Aber sie waren nicht, wie sonst, das Ebenbild eines expressionistischen Gemäldes, dessen Künstler mit dem Feuer spielte.
Die Bilder in ihren Träumen waren gestochen scharf und in Farben, die sie nicht kannte. Jetzt, mehr noch denn je, wünschte sie sich, auch in diesen Träumen blind zu sein und alles ein bisschen weniger genau zu fühlen.
Jede Nacht hatte sie ganz deutlich seinen zerfetzten, leblosen Körper vor Augen. Wie er da lag, übersät mit Kratz- und Bissspuren, als wären wahnsinnig gewordene Tiere über ihn hergefallen. Immer wieder spürte sie aufs Neue seine unzähligen Knochenbrüche, sein rechtes Bein, das zertrümmert und in einem unnatürlichen Winkel gekrümmt da lag. In jeder Nacht stieg ihr der ekelerregende, metallische Geruch des vielen Blutes in die Nase und ließ sie würgen. Und jede Nacht hätte sie wieder schreien mögen, wenn sie endlich seine Leiche erreicht und das ganze Ausmaß des Mordes vor sich hatte. Immerzu, hätte sie sich am liebsten übergeben, bei dem Anblick des klaffenden Lochs in seiner Brust, dort wo zuvor sein gütiges und reines Herz geschlagen hatte. Doch am meisten entsetzten sie die leeren, schwarzen Augenhöhlen in derer die Maden bereits aus ihren Eiern schlüpften und der angsterfüllte Gesichtsausdruck in seinem Gesicht, als er seinem Peiniger vermutlich direkt in die Augen blickte, als es passierte.
Obgleich der Tod ihres Bruders nunmehr einen Monat her war. Ein Monat, in dem er beobachtete, wie sie trotz ihrer Schmerzen, trotz des innerlichen Krieges, wieder versuchte, in einen annähernd normalen Alltag zurückzukehren, flehte sie jeden Tag aufs neue um Erlösung. Und jede Nacht bat sie, dass sie jemand aus der Folter befreite.
Doch so sehr sie auch hoffte, nichts hätte je wieder reparieren können, was sein Tod in ihr zerstört hatte.

Chapter Text

»Ich schaffe das …«, flüsterte sie und griff zitternd nach der Türklinke. »Ich schaffe das …« Ihre Hand, kalt-schweißig und klamm, schien ihr nicht mehr zu gehorchen, ihre Beine waren weich, wie Wackelpudding. Das Atmen fiel ihr schwerer je näher sie an die Tür trat und ehe sie diese erreichte, brach sie davor zusammen.
Sieben Tage, solange blieb ihr, bis zur Sommersonnenwende. Eine Woche, in der sie sich aufrappeln und wieder zu Kräften kommen musste. So schwach würde sie nicht vor Zeus und den Rat treten können. Was würde ihr Vater nur von ihr denken?
»Ich schaffe es nicht …« Langsam rutschte sie mit dem
Rücken an der Wand nach unten und vergrub das Gesicht in den Ärmeln von Mattys Hemd, das sie am Körper trug. Es roch nach ihm. Es beruhigte sie. Er hatte ihr angeboten, solange bei ihm
zu wohnen, wie sie wollte. Solange, bis sie die Kraft hatte, ins Camp zu gehen. Jetzt, knapp einen Monat und unzählige, grauenhafte Nächte später, war der Schmerz zu einem dumpfen Gefühl abgeklungen, die Alpträume quälten sie nicht mehr. Aber sobald sie die Augen schloss, war da immernoch diese Angst, dass sie irgendwann zurückkämen.
»Ich schaffe das nicht …«, murmelte sie in die Ärmel seines Hemdes hinein, als er sich neben sie auf den Boden setzte.
»Ich kann nicht ins Camp.« Schluchzend hob sie den Kopf.
»Ist ok«, flüsterte er in ihr Haar und küsste sie. Sanft strich er ihr die nassen Strähnen hinters Ohr, die aus ihrem Zopf gerutscht und von ihren Tränen getränkt waren.
»Egal wie du dich entscheidest, es ist ok.« Schüchtern lächelnd, richtete er seine grün-braunen Augen auf ihre, die gegensätzlicher nicht hätten sein können. Mit den goldgrünen Sprenkeln ihrer Iris, in einem Meer aus karibischem blau, hätte man fast glauben können, man blicke ins Meer. Doch ihre sonst, trotz der Blindheit so lebhaft, strahlenden Augen, starrten nun ins Nichts, als wäre sie, die Frau, die Matthew insgeheim wichtiger war, als er sich selbst je eingestanden hätte, nur noch die leere Hülle einer vom Schicksal erneut gebrochenen Seele.
»Ist es nicht … ich …«, flüsterte sie, ehe ihre Stimme brach. Sie fand nicht die richtigen Worte, für das Chaos an Gefühlen in ihrer Brust oder dem Gedankenstrom in ihrem Kopf. Es war, als hätte man ihr die Worte zum Sprechen genommen. Aber Matty verstand ihr stummes Geständnis. Er verstand ihren Leidensweg auf eine menschliche, liebende Art. Er spürte die Enge in ihrer Brust und die Unregelmäßigkeit ihres Herzens. Die Verbindung aber, die sie und ihr Bruder in dieser doch so kurzen Zeit aufgebaut hatten, hätte er wohl niemals verstehen können. Sie verband viel mehr als nur ihr wildes, unzähmbares Blut. Sie verband ihre Leidenschaft und ihr Mut.
»Wir haben noch genug Zeit, bevor wir dorthin gehen, Süße«, murmelte er in ihr Haar und zog sie näher an seine Brust.
Der Rat der Götter war eine Gelegenheit, die sich nur zweimal im Jahr bot, hatte Chiron ihr gesagt. Im Sommer und im Winter. Während zur Wintersonnenwende sogar Hades anwesend war, waren es im Sommer nur die olympischen Zwölf. Ein Dutzend nahezu allmächtige Wesen, die gebannt auf das warten, was man Ihnen zu sagen hat. Und sie saß hier und verfiel in Panik, allein bei dem Gedanken, allein ihrem Vater vor Augen zu treten. Sie spürte noch immer seine Schreie in ihren Knochen. Sie merkte, dass auch das Meer noch immer aufgewühlt war. Wütend, rasend vor Zorn. Ein kleiner Fehler und wer weiß, was er aus ihr machen würde.
Behutsam, beinahe vorsichtig, streichelte Matthew ihre
Wange, als befürchte er, sie zerbräche unter seinen Berührungen und sie schloss seufzend die Augen, wissend, dass sie wenigstens nicht allein war.

Das Konzept der Zeit schien relativ, angesichts der Tatsache, dass die Sommersonnenwende und damit auch ihre Audienz bei ihrem Onkel schneller heranbrach, als ihr lieb war. Sechs Tage blieben ihr nur noch. Bevor sie jedoch das Selbstvertrauen wiederfand, dort vor ihnen zu sprechen, würde sie vorher mit Strange reden müssen, der Logan und sie begleiten sollte. Und genau das setzte sie wohl unter noch mehr Stress, als die Anhörung selbst. Sie hatte gerade angefangen, sich wieder aufzurappeln, wieder zu Kräften zu kommen.
Doch jetzt, mit der flauen Nervosität im Magen und der verrinnenden Zeit in ihrem Nacken, vergaß sie zu trinken oder gar zu essen. Und das verbesserte auch ihre Schlafsituation nicht besonders. Doch je weniger sie schlief, desto mehr setzte ihr der Stress zu. Es war ein Teufelskreis, aus dem sie sich nicht befreien konnte.
»Willst du darüber reden?«, fragte er mit seiner sanften, tiefen Stimme. »Du siehst aus, als wärst du mit deinen Gedanken gerade überall und nirgends.« Sie atmete zitternd ein.
»Ich habe gedacht, die Alpträume …« Ein Schauer lief ihr über den Rücken, als sie Perseus Gesicht wieder vor sich hatte. Langsam nahm sie seine Hand von ihrer Wange. »Ich dachte, sie hätten aufgehört… doch in der letzten Nacht …« Sie konnte nicht weitersprechen.
»Erzähl mir von letzter Nacht.« Sie schüttelte den Kopf, als eine leise Träne ihre Wange hinunterwanderte.
»Ich konnte ihn fast berühren, Matty«, flüsterte sie, »Ich konnte alles fühlen … Alles!« Der Stress, den ihre Angst verursachte, war wie ein Parasit, der sie von innen heraus zerfraß.
»Engel!« und nichts konnte helfen, diesem Chaos zu entkommen.

Schweißnass schreckte sie im Bett hoch. Ihr war kalt. Ihr Herz schlug ihr bis zum Hals, der sich gleichzeitig wie zugeschnürt anfühlte.
»Du hast wieder im Schlaf geschrien«, flüsterte Matthew an ihre Schläfe. Er hatte sie an sich gezogen, als es sie wieder einmal übermannte. Ein leises Schluchzen entwich ihr, als er ihre Tränen sanft mit seinen Daumen wegwischte. Noch immer brannte ihre Brust vom keuchenden Atmen und dem Druck der Panik. Wieder dieser Traum, die alte Leier. Aber die Tränen rannen nicht aus Furcht oder Trauer. Sie entstanden aus Wut, aus Frustration. Sie war sich so sicher, diese Folter überstanden zu haben. Wagte es sogar, wieder zu lächeln. Doch sie hatte zu früh aufgeatmet.
Sie zitterte noch immer am ganzen Leib, den Schock noch immer fest in den Knochen. Erst, als Matty ihre Hände in seine nahm und zu seinem Gesicht führte und es von ihr berühren ließ, wurde ihr Puls wieder langsamer. Das fand er heraus, als sie vor zwei Wochen beinahe hyperventilierte. Nichts hatte sie in dieser Nacht beruhigen können. Außer seine Wärme, als er ihr bewusst machte, dass er da war, dass er real war. Mit ihr in seinen Armen, weiter leise weinend, ließ er sich zurück in die Matratze sinken, wo sie ihr Gesicht in seiner Brust vergrub und seinen Atemzügen lauschte. Sanft durchkämmten seine Finger ihr Haar, bis sie die Augen schloss und so tat, als wäre sie eingeschlafen. Aber so sehr sie es auch versuchte, fiel es ihr in dieser Nacht besonders schwer, zurück in die Träume zu finden.
Die Schreie und das Weinen der Stadt konnten ihre eigenen Gedanken diesmal nicht übertönen. Eher das Gegenteil war der Fall und sie wurde eher noch unruhiger.
So ging es weiter, als Matthew irgendwann eingeschlafen war. Von links nach rechts wälzte sie sich, bis sie glaubte, das ganze Bett Millimeter genau ausgemessen zu haben.
Der Morgen sollte ewig auf sich warten lassen.

Vier Tage waren es noch bis zur Sommersonnenwende und sie hatte noch immer nicht mit Strange gesprochen. Doch langsam konnte sie dies nicht mehr verdrängen. Logan hatte ihr bereits angeboten, ihn zu fragen, aber sie lehnte ab. Er war ihr Lehrer, also war sie es, die mit ihm reden musste.
Und sie musste noch immer ihre Sachen aus dem Sanctum holen. Doch sie hatte keine Zeit. Das Training und die Meditationen beanspruchten so viel ihrer Zeit, dass sie das tunlichst verschob. »Später!«, war zu ihrer Standardantwort geworden, jedes Mal wenn Matthew auch nur Luft holte.
»Schatz«, ging er also an diesem Tag auf sie zu.
»Du musst das nicht allein tun.« Doch, das musste sie. Für sich selbst musste sie den Mut allein finden. Aber wie fand man etwas wieder, das einem jede Nacht aufs Neue entrissen wurde? Es war nicht so, dass sie nicht wollte. Sie … konnte einfach nicht. Es war wie damals, als die Panik sie im Meer überfiel, mitten im Bauch des Alligators. Wie ihr der Schauer das Rückgrat hinaufkroch, nur um ihr wenig später die Luft, oder damals das Wasser, zum Atmen zu nehmen. Mit verengten Augen stand sie deshalb mehrmals am Tag in seinem Wohnzimmer und schnaubte jedes Mal, wenn sie die
Tür in ihrem Rücken spürte. So nah und doch wie durch
Mauern blockiert. Mauern aus Furcht, Wut, Trauer, Frustration. Mauern, die sie in ihren Träumen Stück für Stück niederriss. Doch das alles ohne Aussicht auf Erfolg. Diese Nacht allerdings, war nicht sie diejenige, die sich stundenlang im Bett herumwälzte. Es war Matthew, der anstelle zu schlafen, Dämonen bekämpfte. Sie wurde wach, als sie zwei Blocks weiter hörte, wie er nach einer weiteren geretteten Seele nach Hause zurückkehrte. Sie hörte, wie er auf seiner Dachterrasse ankam und leise die Tür öffnete. Doch dieses Mal, legte er sich nicht wie sonst einfach zu ihr und küsste sie. Dieses Mal brach er vor seinem Bett zusammen und fiel vor der Liebe seines Lebens auf die Knie.
Weinend streichelte er das Bein seiner Liebsten, die nun, aufgeschreckt von seinen Geräuschen, vor ihm stand und ihm liebevoll mit der Hand durch seinen Bart strich. »Du hast das Richtige getan«, flüsterte sie in ihrer Bauchstimme, gewillt, ihrer beider nachts noch empfindlicheren Ohren nicht zu belasten. Er nickte, als er den Kopf erhob und seine Teufelsmaske abnahm, um ihr sein Gesicht zu offenbaren.
»Ich weiß«, antwortete er ebenfalls flüsternd und doch waren es Tränen, die sich ihren Weg seine Wangen hinunterbahnten. Sie roch das Eisen des Blutes, das aus seiner Nase, genauso wie aus der Platzwunde an seiner Lippe austrat. Aber auch das Blut an seinen Händen war noch frisch genug. Sie roch, dass es nicht sein Blut war. Nun war es die ihrer selbst, die sich vor ihm hinkniete und ihre Augen auf sein mit Wunden übersätes Gesicht fixierte. »Wessen Blut ist das, Matty?«, fragte sie. Ihre Stimme bebte, denn es war zu viel Blut für eine simple Schlägerei.
»Eine Frau, sie hat ihre Tochter angegriffen.«
»Was ist passiert?« Sie wusste nicht, ob sie die Antwort hören wollte, doch das tat sie auch nicht. Matthew schüttelte lediglich den Kopf. Er kam zu spät. Als er Vorort ankam, hatte die Mutter bereits auf ihre Tochter eingeschlagen, bis ihre Schreie verstummt waren. Niemand hätte das Mädchen noch identifizieren können, sagte er. Sie war 7 Jahre alt.
»Es war, als wäre sie aus einer Art Trance erwacht, als sie … als sie aufgehört hat.« Ihre Nackenhaare stellten sich schmerzhaft auf. Sie mussten mit Zeus sprechen. Und das dringender als ihr lieb war. Sanft wischte sie die Tränen von seinen Wangen und kniete sich zu ihm. Sofort wanderten seine warmen Hände die Konturen ihres Schlüsselbeins entlang. An ihren Tattoos, ihren Hals hinauf und hielten auf der Höhe ihres Gesichts. Elektrisiert durch die seichte Berührung seiner Finger seufzte sie auf und schloss sehnsüchtig lächelnd die Augen, ehe er sie sanft an ihrem Kinn zu sich heranzog und küsste. Es war ein sanfter Kuss, nur der Hauch einer Berührung. Doch er war geladen mit Gefühlen, die Worte nie hätten beschreiben können. Es war einer dieser Momente, die so innig waren, ihn verletzlich zeigten und einem klarmachten, wie kurz und kostbar das Leben doch eigentlich war. In dem einem bewusst wurde, dass man es nur mit dieser einen Person verbringen wollte.
Drei Tage bis zum olympischem Rat. Und nur noch drei Tage, bis sie mit Stephen sprechen würde. Der Plan stand fest. Am Tag der Sonnenwende würde sie ihre Sachen aus dem
Sanctum holen und Stephen direkt mit einpacken. Zwei Fliegen mit einer Klappe. Natürlich würde sie vorher anmerken, dass am Abend die zweitwichtigste Besprechung des Jahres war, bei der das Schicksal der Welt besprochen würde. Aber das würde für ihn nur ein Meeting von vielen sein und er würde einwilligen, mitzukommen. Sie würden lachen, Tee trinken und sich dann gemeinsam den wohl mächtigsten zwölf Augenpaaren stellen, die je aufeinandertrafen. So wird es ablaufen. Zumindest, wenn man ihre Hoffnung fragte. Wenn es nach ihrem rationalen Denken ginge, würde sie hier bei Matty bleiben. Lesen, trainieren, bis sie ihr Studium absolviert hatte, wobei die wöchentlichen Buchlieferungen aus der Bibliothek im Kamar Taj eine enorme Hilfe sind, und sich dann jede Nacht von
Matt in den Schlaf streicheln lassen. Das wäre zumindest ein Plan, der mit weniger Schmerzen, Verlusten oder Gefahren einherging. Aber es wäre falsch, sich zu verkriechen. Das durfte sie einfach nicht. Und das wusste sie auch. Sie konnte nicht einfach die Augen davor verschließen, was in den letzten Wochen und Monaten mit Mutanten,
Meeresbewohnern, Sterblichen und wem zum Styx alles angestellt wurde. Allein die Bilder der Leichen, die sie gesehen hatten, waren grausam genug. Sie wollte sich nicht ausmalen, was mit denen zustieß, die niemand jemals wieder zu Gesicht bekommt. Die Götter allein werden nicht eingreifen können, das war ihnen physisch allein gar nicht möglich. Sie brauchten die Hilfe der Halbgötter, sie waren auf sie angewiesen. Auch wenn sie das wahrscheinlich nie offen zugeben würden. Leia begann zu glauben, Schwäche zu zeigen stünde nicht einmal im Wortschatz der Götter. Also entschied sie sich wohl für Plan A, sich ihren Ängsten zu stellen. Doch langsam aber sicher, schien ihr die Zeit abhanden zu kommen.
Morgen wird es so weit sein. Es war der 20. Juni. Es war warm in New York. Aber zu kalt, für die sonst so hohen Temperaturen des amerikanischen Sommers. Es regnete nach Wochen wieder. Leia lag mit an die Brust gezogenen
Beinen auf seinem Sofa und lauschte. Ihr Körper meditierte. Ihr astraler Körper lernte, nervös wegen dem, was ihr bevorstand. Sie liebte den Klang des Regens, das Rauschen, das Prasseln. Es half ihr, die lauten Gedanken in ihrem Kopf für ein paar Stunden abzuschalten und mal an nichts denken zu müssen. Matthew hatte ihr liebevoll seine Decke um die Schultern gelegt und eine heiße Schokolade auf den Tisch gestellt, als sie sogar kurze Zeit eingeschlafen war.
»Wie lange habe ich geschlafen?«, fragte sie, als sie sanft von seinem Kuss auf ihre Schläfe geweckt wurde, als er sich zu ihr legte. »Nicht lange«, flüsterte er in ihr Haar und zog sie näher an seine Brust. »Vielleicht eine Stunde.« Eine Stunde und der Regen war noch nicht versiegt. Aber so beruhigend der Regen und die Stille in ihrem Kopf auch waren, war ihren Gliedern wohl bewusst, welcher Tag und welche Hürde ihr noch bevorstand. Auch Matthew hatte das panische Zittern in ihrer Frage vernommen, besorgt, es wäre vielleicht schon Morgen.
»Du schaffst das. Ich werde die ganze Zeit bei dir sein«, murmelt er in ihr Haar, die Augen geschlossen. Langsam drehte sie sich zu ihm um und ließ ihre Hände seinen Nacken hinauf in sein Haar wandern.
»Danke«, flüsterte sie an seine Brust. »Dafür, dass du mich nicht aufgibst.« Sanft, strich er ihr eine Strähne aus dem Gesicht und ein kleines Lächeln kräuselte seine Lippen.
»Niemals«, antwortete er mit soviel Sicherheit in seiner Stimme, dass sie sich fast schämte, die Angst kurz gehegt zu haben, er würde ihrer irgendwann müde. Zaghaft küsste er ihre so weichen Lippen, langsam, mit bedacht. Sie zitterten, als sie Kuss vertiefte und ihre Zunge über seine Unterlippe strich. Ein leichtes Brummen, tief in seinem Brustkorb ließ ihren Körper vibrieren und erzeugte angenehm süße und gleichzeitig schmerzhafte Gänsehaut. Sie seufzte, als sie in seine Lippen biss und er sie noch näher an sich heranzog. Als sie ihre zierlichen, schlanken Finger unter sein Shirt gleiten ließ und die sehnigen Muskeln seines Bauches glühen spürte, hielt er sie jedoch zurück. Sanft und doch bestimmt umklammerte seine große Hand ihre Gelenke und er legte seine Stirn an ihre, atemlos.
»Ich weiß nicht, ob- …«, flüsterte er ruhig, in der Angst, er würde die Situation ihrer mentalen Verfassung, ihrer Sehnsucht nach Liebe und seiner Wärme ausnutzen. Er wollte nichts tun, dass sie nicht wollte, was ihr Unbehagen bereitete.
»Bitte …«, hauchte sie jedoch mit brüchiger Stimme und versuchte die Tränen zurückzuhalten, die sich nun wieder anbahnten.
»Ich muss spüren, dass ich lebe.« Und mit diesen Worten küsste sie ihren Teufel erneut. Den Mann, den sie aus Angst ihn zu verlieren verließ. Den Mann, der ihr Herz gestohlen und ihr dafür das Gefühl von Liebe gegeben hatte. Also zog sie ihm kurzerhand sein Shirt über den Kopf. Beinahe schwebend wanderten ihre Hände über seine mit Narben übersäte Brust hinweg und stoppten auf der Höhe seiner Hüfte, wo Leia sie zitternd niederlegte. Sie war unsicher, nervös. Ihr letztes Mal lag schon eine Weile zurück. Ehrlich gesagt, war es ebenfalls mit ihm, in der Nacht, bevor sie ging. Er spürte es und fing an, ihr Gesicht mit Küssen zu übersähen.
»Langsam«, hauchte er zwischen seinen Küssen, die er inzwischen langsam hinter ihr Ohr, zu ihrer empfindlichen Stelle wandern ließ.
»Wir können jederzeit aufhören, wenn du dich unwohl fühlst.« Sie spürte seine Bartstoppeln, kratzend auf ihrer Haut. Ein vollkommener Kontrast zu seinen weichen Lippen, die noch immer über ihrer Haut schwebten. Sie hätte ihm liebend gern geantwortet und gesagt, dass es ok war, dass sie wollte, doch als sie den Mund öffnete, verteilte er erneut feuchte Küsse. Nun auf ihr Schlüsselbein, was sie leise aufwimmern ließ. Sie nickte nur. Seine Hände erkundeten die Rundungen ihres Hinterns, ihre Wirbelsäule hinauf und hielten an ihrem Rippenbogen, gefährlich nah unter ihrer Brust. Kurzerhand lag nun auch ihr Shirt, oder besser gesagt sein Shirt, das sie trug auf dem Boden.
Sie spürte die Härte seines Gliedes an ihrer Mitte. Sie erinnerte nicht, dass er so groß war. Sie hörte, wie sein Herz anfing schneller zu schlagen, als ihre Hände langsam den zarten Haarstreifen hinabfuhren. Er knurrte an ihrem Hals, als sie ihre Hand langsam weiter hinab gleiten ließ und ihn durch den Stoff seiner Hose umfasste. Ehe sie es sich versah, hatte Matthew sich aufgesetzt und sie auf seinen Schoß gezogen. Sein Atem stockte, als sie sich langsam vor und zurückbewegte und ihre feuchte Mitte an seiner Erektion rieb.
»Leia«, keuchte er, seine Hände fest um ihren Hintern geschlossen.
»Sachte, Süße.« Er führte sie, bestimmte den Rhythmus, sodass er genau den Punkt traf, den sie selbst nicht erreichte. Sie stöhnte in seinen Mund, als ihre Zungen erneut miteinander tanzten. Leidenschaftlich, liebevoll, zart und gleichzeitig bestimmt fühlte sie jeden Zentimeter seines Körpers an ihrem. Sie wollte ihm noch näher sein.
»Matty«, keuchte sie. Mit ihr in seinem Arm stand er auf und lief in Richtung seines Schlafzimmers. Behutsam legte er seine Liebe auf dem weichen Stoff ihres gemeinsamen Bettes ab. Zaghaft fuhr er die mit Narben und Tätowierungen übersäten Konturen ihres Körpers nach. Er erforschte alles an ihr. Er biss, leckte, streichelte sie, als wolle er sie mit allen Sinnen in seinen Erinnerungen verewigen. Sie erinnerte nicht genau, wann ihre restlichen Sachen den Weg auf den Boden fanden, doch sie weiß noch genau, wie sanft er sie auf ihre Stirn küsste und an ihr Ohr flüsterte, als er sich vor ihrem Eingang platzierte.
»Darf ich?«, fragte er. Er gab ihr die Kontrolle über das, was nun folgen würde. Und wieder konnte sie nur nicken. Sie wusste, dass sie jederzeit hätte Nein sagen können. Es lag in jedem Moment dieses Abends bei ihr und sie wusste, dass sie ihn nie enttäuschen könnte. Langsam drang er in sie ein und für einen Moment hielten sie beide den Atem an, als er Zentimeter für Zentimeter vordrang. »Gott, Leia«, keuchte er, seine Stirn an ihrer.
»Es wird nicht lange dauern.« Sie vergrub ihre Nägel in den Muskeln seines Rückens, als er sich wieder aus ihr herauszog, nur, um dann vorsichtig wieder zuzustoßen. »Aber bei mir …«, beichtete sie ihm. Es war ihr peinlich. Dass sie so allein nicht kommen konnte. Doch er lächelte ihr sanft zu.
»Ich weiß.« Sofort befeuchtete er seine Finger mit seinem Speichel und fing an, sie an ihrer Klitoris zu befriedigen. Die behutsamen Bewegungen seiner Finger und seine langsamen Stöße fanden irgendwann einen gemeinsamen Rhythmus. Ihre Sinne verschwammen ineinander, alles fühlte sich leicht und unbedeutend an. Nur er zählte jetzt. Ein loderndes Feuer breitete sich, wurde es erst entfacht, rasend schnell in ihrem Inneren aus. Ihr Atem wurde flacher, je weiter er sie an den Rand der Klippe stieß und auch Matthew schien bald die Kontrolle zu verlieren. »Komm noch nicht«, flüsterte er an ihr Ohr und biss ihr leicht in die Stelle unter ihrem Kieferknochen.
»Aber-«, protestierte, das Bettlaken fest umklammert. »Noch nicht!« Sein Befehl, hätte einem Knurren gleichen können.
Aber er dachte nicht daran, es ihr einfacher zu machen, indem seine Finger von ihr abließen.
»Matty!«,
»Bleib bei mir, Liebling.« Die Welt drehte sich. Heiß und kalt fuhr es ihr durch die Glieder, als sie ein flehendes Wimmern unterdrückte.
»Nicht-« Sie spürte das Zucken seines Gliedes, ehe er den
Satz beenden konnte und ließ mit einem unterdrückten Stöhnen los. Ein bisschen länger verweilte er in ihr, zog sich heraus und stieß zu, bis sein Orgasmus abgeebbt war. Auch seine Finger hatten sich nun von ihr entfernt und ließen sie leicht frustriert zurück. Doch als er sich aus ihr zurückzog, küsste er bereits den Weg von ihrem Schlüsselbein, über ihren Bauch und legte sich ihre Beine über seine Schultern.
Er öffnete sie mit seinen Fingern und pustete auf die feuchte
Wärme ihrer Mitte, was ihr Körper mit einem wohligen Schauer quittierte. Ihre Lippen, rot und geschwollen, legten ihre, von seinen warmen Fingern zuvor, empfindliche Klitoris frei.
»Das wollte ich schon so lange tun«, brummte er und ehe die angenehme Vibration seiner tiefen Stimme versiegt war, spürte sie die feuchte Wärme seiner Zunge. Sie stöhnte und wand sich unter seiner Zärtlichkeit, versucht den herannahenden Höhepunkt noch etwas hinauszuzögern. Sie wollte noch nicht springen. Doch als Matthew, der sie nur zu gern verwöhnte, nur doch zwei Finger in sie gleiten ließ, traf er diesen einen Punkt, der ihr Boden unter den Füßen wegriss. Alles in ihr zuckte, als das süße Gefühl des Dopamins ihr Gehirn durchspülte. Ihre Muskeln wurden erfüllt von kribbelnder Wärme, die sie kurz darauf aus Atem und erschöpft zurückließ.

In dieser Nacht schlief sie traumlos. Furchtlos, ohne Wut. Zum ersten Mal seit einer Ewigkeit, so schien es. Als sie aufwachte, war es taghell. Sie lächelte. Sie war erholt und motiviert. Es begann mit Licht. Mit einem warmen, angenehmen Licht, das sie blendete, als sie ihre Augen öffnete. Es war friedlich, vollkommen still. Sie trug ein Kleid. Ein Peplos aus einem pastellblauen, schweren Stoff. Sie ging in Wasser, als sie ein, zwei Schritte wagte. Doch es plätschere nicht. Vor ihr stand ein Tempel. Groß, anmutig und aus weißem, mit Schwarz und Gold durchzogenem Marmor. Doch es war nicht kalt, als ihre nackten Füße die Stufen hinaufstiegen. Sie befürchtete beinahe, ihr Gehör hätte sie im Stich gelassen, als sie sich selbst rufen hörte.
»Hallo?«, hallte ihre Stimme von den inneren Wänden wider. Sie fühlte sich leicht, fast als wäre sie schwerelos. Und das war sie. Die Wolken, die sie umgaben und das warme Licht, der aufgehenden Sonne, zeigten es ihr. War das der Himmel, von dem ihre Eltern sprachen? Eine Gänsehaut erfüllte ihre Glieder und es fühlte sich so seltsam vertraut an. Sie konnte es sehen. Wie alles in Orange- und Goldtönen getaucht schien.
Matthew erklärte ihr, das seien die Farben des Sonnenaufgangs. Nie konnte sie sich vorstellen, was er meinte, doch jetzt wusste sie es. Der Tempel war von Licht durchflutet, die Säulen spiegelten ihr Bild in sich. Zum ersten Mal konnte sie sehen, wie andere sie sahen. Doch, als ihr Spiegelbild ihr entgegenlächelte, glaubte sie zunächst, Percy zu sehen. Sie war ihm tatsächlich so ähnlich, wie alle sagten. Die Farbe ihrer Augen, so grün wie Türkis, funkelte voller
Temperament und Leidenschaft. Ihr Lächeln, schief und verschmitzt. Und ihre Sommersprossen waren wie rotbraune Farbtupfer, beinahe so dunkel wie ihr Haar, das sich in den Spitzen lockte. Alles, was sie sonst nur fühlte, war nun so real vor ihr. Sie erschrak, als sie im Spiegel ein weiteres Gesicht sah. Das einer Statue, wie sie bemerkte, als sie sich erschrocken umdrehte. Es war das Gesicht einer Frau. Zehn Meter oder höher ragte sie im Tempel. In dessen Zentrum. Und an ihrem Rücken – Flügel. Sie waren so hell wie die Säulen selbst, durchzogen mit vereinzelten, dunklen Federn. Je weiter sie in den Tempel hineinging, umso stärker wurde das Gefühl, dass sie wusste, wo sie war. Und so war es – sie stand vor Nikes Ebenbild in Stein gehauen, vielleicht sogar maßstabsgetreu war. Sie war wunderschön, in bunte Farben gehüllt, die ihre Anmut und Macht nur noch stärker untermalten. Ihr blondes Haar, leuchtete golden im Licht des heranbrechenden Tages und hatte die Farbe des Speeres angenommen, den sie in die Lüfte hob. Und obwohl dies nur eine Statue war, spürte Leia deutlich die Kraft, die von ihr ausging. So einhüllend und fesselnd, dass sie beinahe die nur unmerklich kleinere Statue neben der Göttin fast übersah. Wie Nike, hatte auch diese Göttin majestätische Flügel und trug wie sie eine Rüstung, ebenfalls aus glänzendem Gold. Sie wirkten nahezu identisch. Die kleinere Statue wirkte beinahe wie das dunkelhaarige Ebenbild der Nike. Doch dann sah sie den Unterschied. Die Augen. Während die der
Siegesinkarnation leuchtend grün waren, so grün wie Oliven, strahlten die der Nebengöttin vollkommene Leere aus. Als hätte der Bildhauer sie vergessen. Es waren Details, unscheinbar, da sie sich sonst bis auf kleinste ähnelten. Sie zogen Leia in einen Bann, der sie fast vergessen ließ, dass dies nur ein Traum war. Sie merkte nicht einmal, dass sie immer näher an sie herangetreten war und nun direkt davor stand. Sie wollte nie wieder von hier fortgehen. Hier fühlte sie sich geborgen, beschützt. Es schien nahezu so, als höre Leia sie summen, das Flüstern ihrer Stimmen, so stark war die Macht, die von ihnen ausging. Sie schienen zu rufen, auf einer Sprache so alt, wie die Götter selbst. Einzelne, wirre Worte. Nach einer Weile wurden ihre Rufe leiser, entfernten sich und sie hätte schier protestiert. Denn es waren nicht die Göttinnen, die gingen, sie war es. Doch sie wollte noch nicht gehen. Es war noch mitten in der Nacht, als sie Augen öffnete. Es ging ihr gut, zum ersten Mal seit Percys Tod. Sie hatte keine Angst mehr, war gespannt und gefasst wegen dem, was auch immer sie erwartete. Sie war entschlossen, als sie aus dem Bett stieg. Die Schachtel lag noch immer dort auf der Kommode, wo Leia sie vor vier Wochen hingestellt hatte. Percys Geschenk an sie. Sie hatte seitdem nicht die Kraft, sie zu öffnen. Doch jetzt schon. Der Inhalt war angenehm schwer und schien eingebettet, denn er bewegte sich nicht. Mit klammer Hand, zitternd vor Adrenalin, öffnete sie die Box. Dort drin Dolch. Silbern glaubte sie, denn er war leichter als Gold. Sein Griff war aus einem türkisen Kristall gefertigt. Der Kristall, des Selbstbewusstseins, der vor Gefahren warnt. Seine Klinge hatte eine Gravur. Efchári.
Anmut. Sie lächelte über den kleinen Witz, den ihr Bruder Tyson sich erlaubt hatte. Eine Träne landete leise plätschernd auf der Klinge, als sie diese in der Hand drehte. Und erst als sie die Macht darin, durch ihren Körper strömen spürte, realisierte sie, dass sie ein Wort im Geflüster der Göttin laut und deutlich vernommen hatte. Sie wusste nicht, was es bedeutete, doch war sie fest entschlossen, was sie nun zu tun hatte.

Chapter Text

Mit klopfendem Herzen und weichen Knien stand sie nun wieder vor den Türen des Sanctum Sanctorums. Dem Ort, der für sie einem ehemaligen Zuhause wohl am nächsten kam. Es war kurz nach Mittag und die Sonne stand noch immer im Zenit des Himmels und brannte hinunter auf die Erde. Ihre Hände, klamm und kalt, zitterten vom Adrenalin, das durch ihre Adern strömte, seitdem sie losgegangen war. Ihr Inneres schrie, sie solle umkehren und sich in Mattys Bett unter der Decke verkriechen und doch bemühte sie sich, dem Fluchtinstinkt Widerstand zu leisten.
Die Pforten öffneten sich mit theatralischer Lautstärke, ehe sie der Versuchung hätte erliegen können. Fast so als nähme der alte Tempel ihr die Entscheidung ab, ob sie bleibe oder fliehe, indem er sie ankündigte. Die kühle Luft, die ihr dort aus dem Inneren entgegenschlug, bildete einen angenehmen Kontrast zu den warmen Sommerwinden auf den Straßen.
Alles war ungewöhnlich still, als sie eintrat. Nur das leise Geflüster und raue Schaben der Schlangen, die über den Boden glitten, war zu hören. Eine bekannte Gänsehaut überzog ihren Körper, kroch ihr Rückgrat hinauf und ließ sie erschaudern. Sie wusste jedoch nicht, ob es die Reaktion auf den gewohnten Duft nach Jasmintee und altem Holz war oder die Tatsache, dass die beiden Reptilien auf Altgriechisch miteinander sprachen und nicht wie sonst auf Sanskrit.
Zu der Gänsehaut gesellte sich ein Chaos an Gefühlen, das die Erinnerungen, verbunden mit diesem Gemäuer, in ihr auslösten. Nur der ihr vertraute Druck der Augenbinde und Matthews Jacke, die er ihr bei ihrem Aufbruch überlassen hatte und nun über ihren Schultern hing, verhinderten das Schluchzen, das tief in ihrer Kehle lauerte. Er konnte heute nicht mit dabei sein, da er bereits zu den anderen ins Camp gefahren ist, um dort mit Chiron zu sprechen. Sie würde jedoch Logan heute Abend vor dem Empire State Building treffen, der mit ihr zu den Göttern sprechen wird.
»Leia?« Statt des Schluchzens, das sie bis eben noch unterdrückte, entfloh ihr jedoch ein leiser Aufschrei, als Stephens warme, dunkle Stimme verwundert ihren Namen rief. Jegliches Blut war aus seinem Gesicht gewichen, als er wenig später vor ihr stand und sie musterte, als sei sie eine göttliche Erscheinung. Na ja mehr oder minder war das immerhin teilweise wahr.
»Was-«, setzte er heiser an, »was ist los? Was tust du hier?« Seine Stimme klang angespannt und doch gleichzeitig ruhig und gefasst. Als bemühe er sich, seine Emotionen im Zaum zu halten, sie nicht nach außen zu tragen. Aber er scheiterte kläglich. Wenn nicht seine Stimme, so war es seine Haltung, die Anspannung in seinen Muskeln und das Mahlen seines Kiefers, das ihn Lügen strafte. So distanziert er sich auch präsentierte, er freute sich, sie zu sehen und gleichzeitig schien es ihm das Herz schmerzhaft zu brechen.
Ihm ging es genauso wie ihr.
»Oi!«, fuhr sie erschrocken zusammen, als plötzlich etwas Warmes und Feuchtes ihre Hand streifte. Reflexartig, zog sie sie weg, ehe sie den traurigen Blick des niedlichen Bewohners des Hauses bemerkte, der sie soeben begrüßt hatte.
»Hey, lass die junge Dame in Ruhe«, befahl Stephen sanft, aber bestimmt und führte ihn zu ihm an die Seite.
»Schon ok«, flüsterte sie und ging langsam vor dem Hund in die Hocke, um ihre Hand von ihm beschnuppern zu lassen, bevor sie ihn zwischen den Ohren kraulte.
»Du hast also einen neuen Freund gefunden, wie ich sehe«, lächelte sie zu Stephen hinauf und erhob sich kurz darauf wieder.
»Wo hast du ihn her?« Das zuvor noch präsente, beengende Gefühl der Angst, wich nun mehr und mehr dem warmen Prickeln der Neugierde, je länger er um eine Antwort rang.
Schlussendlich zuckte er allerdings wie beiläufig mit den Schultern, als sei es keine große Sache.
»Ich hab ihn in Kathmandu gefunden«, erzählte er. »Er war verletzt, also hab ich ihm geholfen.« Sein Blick war von Trauer verhangen, als er seinen heldenhaften Erinnerungen nachschwellte.
»Ich behielt ihn hier zur Beobachtung, bis er wieder gesund werden würde. Doch jetzt…« »kannst du ihn nicht mehr gehen lassen«, vervollständigte sie gerührt.
»Ja«, gestand er und streichelte den Hund liebevoll, bevor er ihn zurück auf seinen Platz schickte. Ein kleines, wenn auch melancholisches Lächeln umspielte ihre Lippen. Sie hatte ihn ganz eindeutig unterschätzt. Die ganze Zeit glaubte sie, der Bann des Eidolons hätte ihn die ganze Zeit über fest im Griff gehabt, ihm jeglichen Funken des guten und selbstlosen Wesens seiner selbst genommen. Doch Stephen war viel stärker, als ihm wohl selbst bewusst war. Die Erinnerungen an sein vor Angst verzogenes Gesicht in ihrer Nähe kurz nach dem Unfall oder an sein verzweifeltes Versprechen, dem Grad des obersten Zauberers abzudanken, ließen sie getroffen zurück. Die Angst hat ihr Bild in der Vergangenheit wohl zu oft, zu stark verzerrt. Mitunter schlich sich auch ein Gefühl der Reue ein, dass den Kloß in ihrem Hals nur noch größer werden ließ. Und doch erfüllte ein warmes Gefühl sie in der Mitte ihres Körpers, das bis in ihre Haarspitzen vordrang. Es war schön, zu spüren, dass Stephen mit dem Kleine eine neue Herausforderung gefunden hatte, der er sich nun mit all seinem Herzblut widmen konnte.
»Ich ähm… ich bin gekommen, um meine Sachen abzuholen…«, befreite sie sich aus ihrem eigenen Gedankenstrom und unterbrach die Stille, die sich zwischen ihnen ausgebreitet hatte. Ihre Stimme zitterte, von melancholischer Trauer umspielt, als die harte Realität über sie hineinbrach. Stephen nickte stumm. Erst jetzt spürte sie, dass die vergangenen Wochen auch an ihm nicht spurlos vorbeigegangen zu sein schienen. Diese Erkenntnis traf sie plötzlich und unvorbereitet und doch so klar und deutlich. Das Blut sammelte sich unter seinen Augen, was sie dunkler erscheinen lassen mussten. Er muss etliche Nächte durchgemacht haben und hatte seinem Körper nicht die Zeit für die Regeneration erlaubt. Auch sein Bart war wilder und länger geworden. Vermutlich, fehlte ihm selbst für solche leichten Aufgaben irgendwann die Kraft. Auf eine gewisse Art stand ihm der verwilderte Look, aber das war nicht der Stephen, den sie kannte.
»Wie geht es dir?«, fragten sie beide einander wie aus einem Mund, als hätten sie dieselben Gedanken geteilt. Sie sah vermutlich nicht besser aus. Ein kleines, belustigtes Lächeln schlich sich auf seine Lippen. Sie hatte fast vergessen, wie es aussah.
»Bitte, du zuerst«, bat er und bedeutete ihr im selben Zug, ihm nach oben zu ihrem alten Zimmer zu folgen. Sie erzählte ihm von den letzten Wochen, seit sich ihre Wege getrennt hatten.
Sie plauderte über der Zeit im Camp, den Abenden am Lagerfeuer, der Zeit mit den anderen Halbbluten. Sie erzählte ihm von der Allianz, welche die beiden Armeen, griechisch wie römisch mit Logan und ihrem Team eingegangen waren, als sie bei Matthew war und dass Yelena nun auch James Barnes und Nakia davon überzeugen konnte, sich ihnen anzuschließen. Sie erzählte ihm von Percys unerwartetem und tragischem Tod und, dass sie seitdem bei Matthew lebte, dass es gute und schlechte Tage gibt, sie aber weiterkämpft.
Für ihn und für Tyson.
»Heute ist die Sommersonnenwende«, fuhr sie nach einer kurzen Pause fort. »Der olympische Rat wird sich heute zusammenfinden.« Damit schloss sie den Kreis zum eigentlich wichtigen Punkt ihres Gesprächs. »Logan und ich sind nur zu zweit. Das ist keine besonders starke Zahl. Wir-« Da war er nun, der Moment, für den sie eigentlich hergekommen war. »Wir brauchen noch ein drittes Mitglied und–« es wäre mir eine Ehre, wenn du dich uns anschließen würdest, wollte sie sagen, aber die Worte blieben ihr im Halse stecken. Sie schämte sich beinahe, einfach wieder hier aufzukreuzen, nachdem sie ihn allein gelassen hatte. So wie du es mit Matthew getan hast, spottete die leise Stimme in ihrem Kopf. Doch Stephen schien ihre Bedenken ganz und gar nicht zu teilen. Mit einem ehrlich erfreuten Lächeln verjagte er all ihre Zweifel. Er schien zu verstehen, ganz ohne, dass sie es hätte ausformulieren müssen. Nickend blickte er zu ihr herunter. »Natürlich!«, flüsterte er und musterte ihr Gesicht mit einem Funkeln, das sie nicht deuten konnte. »Wenn du-… wenn Ihr mich danach noch braucht, werde ich auch dann da sein«, versicherte er ihr und öffnete die Tür zu ihrem Zimmer, vor dem sie augenscheinlich schon vor wenigen Minuten angekommen waren.
Sanft schob er sie hinein. Sofort zog er seine Hand von ihrem unteren Rücken weg, doch die Wärme seine Hand blieb.
Kaum hatte sie jedoch ihr altes Zimmer betreten, schien die Wärme verschwunden und sie fühlte sich machtlos und müde. Weitere, plötzliche Erinnerungen an Erlebtes, sowie an Träume und Visionen überfielen sie. Alle auf einmal brachen sie unerbittlich über sie herein und ließen sie kaum merklich aufschluchzen.
»Ich lasse dich kurz allein«, flüsterte Stephen, der im Türrahmen stand, als hätte er ihre Gefühle gelesen. »Ruf mich, wenn du Hilfe beim Tragen brauchst.«
»Das werde ich«, versicherte sie ihm, ohne sich noch einmal zu ihm umzudrehen. »Danke.« Mit einem kurzen Lächeln drehte er sich auf dem Absatz um und war kurz darauf verschwunden.
Wenige Sekunden später weckte das Rasseln einer Hundeleine ihre Aufmerksamkeit und verriet ihr, was er nun wohl vorhatte, bevor seine Schritte immer leiser wurden und mit dem Schließen der Haustür verstummt waren. Sie war jetzt wieder allein.
»Hi«, hörte sie plötzlich vor der Tür zu ihrem Zimmer rufen.
»Hi?«, fragte sie irritiert, da sie den hochgewachsenen Mann, der dort stand, nicht kannte.
»Ich bin Adam, der Wächter des Londoner Tempels«, stellte er sich vor, als er die vielen Fragezeichen in ihrem Gesichtsausdruck erkannte. »Ich suche Stephen, weißt du, wo er ist?«
»Ich bin Leia und ja, er ist gerade –«, sie wollte dem Wächter soeben sagen, dass Stephen kurz zuvor das Haus verlassen hatte, um zu spazieren, als sie die plötzliche Kälte in ihrem Zimmer bemerkte. Die Sonne stand bereits so tief, dass ihr Wärme spendendes Licht hinter den Wolkenkratzern verschwunden war. Sie hatte die Zeit vollkommen aus den Augen verloren. Nur die vier beinahe vollen Kartons waren ein Hinweis darauf, wie lange sie bereits im Sanctum war. Stephen müsste inzwischen längst wieder von seinem Spaziergang zurückgekehrt sein.
Entschuldigend lächelte sie ihm entgegen und räusperte sich. »Tut mir leid, ich habe offenbar die Zeit etwas vergessen. Stephen müsste wieder im Tempel sein, doch leider weiß ich nicht, wo er ist«, erklärte sie wahrheitsgemäß und zuckte mit den Schultern. Das Lächeln des Wächters, das er ihr nun entgegenbrachte, war genauso höflich, wie schüchtern. Er musste ungefähr in ihrem Alter sein, was ungewöhnlich für einen Tempelwächter war. Seine Kleidung war der von Stephen sehr ähnlich und schmiegte sich perfekt an seinen durchtrainierten Körper. Seine Augen trugen ein freundliches Funkeln in sich, das durch die Grübchen in seinen rasierten Wangen unterstrichen wurde.
»Kein Problem«, antwortete er und lehnte sich entspannt gegen den Rahmen ihrer Tür. »Bist du seine Schülerin?«, fragte Adam neugierig.
»Das war ich, ja«, nickte sie. »Ich ziehe morgen ins Camp Half-Blood und hole deswegen meine restlichen Sachen ab.« Sie deutete auf die Kartons vor ihr und hob grinsend den Daumen.
»Das gibt’s ja nicht!«, rief er belustigt. »Ich bin auch ein Halbgott!«
»Cool! Von wem stammst du ab?« Interessiert fokussierte sie ihre gesamte Aufmerksamkeit auf ihn und setzte sich auf die Kante ihres ehemaligen Bettes.
»Hebe«, antwortete er mit leuchtenden Augen. Die Göttin der ewigen Jugend also. Das erklärte sein jugendliches Aussehen trotz seines so hohen Ranges hier. »Und bei dir? Lass mich raten: Dunkle Haare, verschmitztes Grinsen, Augen so blau wie der Atlantische Ozean. Du bist ein Kind Poseidons, richtig?«
Sie nickte schweigend. Bemüht das Engegefühl, das sich nun in ihrer Brust ausbreitete, zu unterdrücken, bemerkte sie erst jetzt, dass sie wohl ihre Augenbinde abgenommen haben musste. Wie hatte er sonst ihre Augenfarbe sehen können? Eine unangenehme Stille drückte die Stimmung zwischen ihnen. Die Anspannung war so präsent, dass man die Luft beinahe hätte greifen können. Doch fand keiner von beiden den Mut oder die Kraft, diese Stille zu brechen.
»Mein herzliches Beileid«, ergriff letztendlich dennoch Adam das Wort und kratzte sich verlegen am Hinterkopf. »Ich… wollte nicht so unsensibel sein. Die Nachricht seines Todes muss vor allem für dich und Tyson besonders schwer gewesen sein.« Es war ihm sichtlich unangenehm, wie genau er zuvor nicht nur sie, sondern eben auch ihren Bruder mit diesen Äußerlichkeiten beschrieben hatte.
»Danke«, antwortete sie auf seine Bekundung, versucht darin, es so beiläufig, wie möglich klingen zu lassen und ließ dabei bewusst seine letzten Worte unbeachtet. Ihre Stimme jedoch klang belegter, als sie es geplant hatte und auch ihr Lächeln sah wohl nicht einmal halbwegs so ehrlich aus, wie sie es sich erhoffte.
»Kanntest du ihn gut?«, fragte sie ihn.
Er schüttelte bedrückt den Kopf. »Nur flüchtig, leider. Er hat meinen Geschwistern und mir ermöglicht, im Camp zu leben«, erklärte er. »Vor ihm hatte unsere Mutter keine Hütte dort.« Der Gedanke an ihren Bruder und seine Selbstlosigkeit den anderen Halbbluten gegenüber ließ die Trauer ein wenig schwinden und puren Stolz ihren Platz einnehmen.
»Er war ein Held, nicht wahr?« Adam nickte, das Lächeln nun sanft und mitfühlend. »Einer der wahren Helden«, bestätigte er. Von einem Fremden zu hören, wie sehr ihr Bruder für die Halbblute gekämpft hatte, wie sehr er auch für die Götter kämpfte, die zuvor nur eine kleine Rolle in der Geschichte spielten, ließ ihr Herz anschwellen. Percy ist jung gestorben. 29 ist kein Alter, bei dem man denken könnte, er hätte sein Leben gelebt. Doch Percys Vermächtnis ging nicht mit ihm fort. Es wird in ihnen, in allen neuen Halbgöttern weiterleben, die dank ihm eine Chance auf ein behütetes Leben im Camp haben werden. Dank des Schwurs, den er allen Göttern abgenommen hatte, der sie zwingt, all ihre Kinder anzuerkennen. Er sagte dem Angebot ab, zum Gott erhoben zu werden, für sie. Das war wahrlich heldenhaft und es waren große Fußstapfen, in die sie treten würde.
»Warum verlässt du das Sanctum?«, fragte Adam und musterte sie, als würde er die Antwort auf seine Frage eigentlich bereits kennen. Sie zuckte bemüht, unbeschwert mit den Schultern. »Es war Zeit für mich, ein paar Dinge zu klären.« Mehr brauchte er nicht zu wissen. Sie war nicht sicher, welche Auswirkungen es hätte, würde sie die komplette Wahrheit erzählen. Selbst die Halbgötter wussten nicht, was vor sich ging, von den Göttern höchst wahrscheinlich ganz zu schweigen. Es wäre töricht, Außenstehende bereits jetzt mit einzubeziehen, solange Chiron und der Rat nicht wussten, welchem Feind sie gegenüberstanden.
Zu ihrem Glück hakte Adam nicht weiter nach, sondern nickte lediglich, auch wenn ein kleiner Funken Skepsis sein Gesicht verdunkelte. Das war wohl der Instinkt der Halbgötter. Dennoch vertiefte er die Frage nicht weiter.
»Da bist du ja!«, rief Stephens erfreute Stimme plötzlich in die Stille hinein.
Adam stieß sich vom Türrahmen ab, als er ihn erblickte und wandte sich ihm erfreut zu. Mit einem Grinsen blickte er Leia noch einmal über seine Schulter hinweg an. »Gefunden«, lachte er und schüttelte freundschaftlich Stephens Hand. Leia lächelte nun ebenfalls, ein wenig erleichtert, dass die Spannung ihres Gesprächs nun endgültig verschwunden schien. Stephens Aufmerksamkeit lag auf dem Wächter Londons, dennoch schenkte er ihr ein kurzes, warmes Lächeln, welches sie erwiderte, bevor sie sich wieder ihren Kartons widmete.
Die beiden Halbgötter verabschiedeten sich, bevor der Sohn Hebes sich Stephen anschloss.
»Vielleicht sieht man sich ja nochmal«, grinste er zum Abschied und winkte noch einmal.
»Immer zweimal, nicht wahr?«
Kurz darauf, waren sie verschwunden und überließen sie erneut ihren Habseligkeiten und halb gefüllten Kartons.
Die Sonne war mittlerweile vollkommen hinter den riesigen Wolkenkratzern verschwunden und bedeutete ihr, dass der Rat in wenigen Stunden beginnen würde.
Sie beeilte sich, die übrigen Sachen auf die Kartons, vier an der Zahl, zu verteilen, darunter auch die Bilder ihrer Eltern und brachte alles am hinunter ins Foyer.
Der kleine Hund lag mittlerweile ruhig schlafend in seinem Körbchen vor dem Kamin, vermutlich müde vom langen Spaziergang.
Sie bemerkte Stephen, der sein Gewand und den Mantel gegen Jogginghose und Shirt eingetauscht hatte und sie, mit vor der Brust verschränkten Armen, besorgt musterte. Adam stand daneben, der auf etwas zu warten schien, als er angeregt mit jemandem telefonierte, doch das war für sie jetzt nicht von Bedeutung.
»Das Zimmer ist jetzt leer«, sagte sie. »Ich hab alles zusammengepackt, was ich noch oben hatte.« Nervös wischte sie sich ihre feuchten Hände an ihrer Jeans ab. Sie bemühte sich, eine aufrechte Haltung anzunehmen, auch wenn die Aufregung ihre Beine weich werden ließ.
»Ok«, antwortete Stephen, kaum hörbar und schloss mit wenigen Schritten den gähnenden Abstand zwischen ihnen, sodass sie den Kopf in den Nacken legen musste.
»Matthew hat meine Nummer«, sagte er und fixierte ihre Augen mit seinen. »Sagt einfach Bescheid, wenn ihr mich braucht. Egal wann.« Sie nickte stumm. Ihr Mund war wie ausgedörrt. Kratzig und trocken. Für den Bruchteil einer Sekunde schien es, als wolle er mehr sagen, ihr sein Inneres offenbaren. Doch wie immer schwieg er, wenn es um seine Gefühle ging. Diese Ungewissheit war frustrierend!
Sie würde wohl nie verstehen, was diese Spannung, die seit dem ersten Tag zwischen ihnen geherrscht hatte, bedeutete. Aber vermutlich konnte er es sich selbst nicht wirklich erklären. Sie hatte immer geglaubt, es sei der Ansporn, mit dem ein guter Lehrer seinen Schüler antrieb. Der Stolz und die Disziplin. Sie war nun nicht mehr seine Schülerin, doch das Gefühl war beständig.
Mit sanfter Bestimmtheit, nahm er ihre kalten, schlanken Hände in seine, die er mit seinen warm umschloss und führte sie hinauf zu seinem Gesicht. Überrascht lachte sie auf, als sie sein Vorhaben erahnte. Seufzend schloss sie ihre Augen und eine einzige, kleine Träne stahl sich aus ihrem Augenwinkel. Langsam erschuf sie mit ihren Fingern ein eigenes, letztes, impressionistisches Bild von seinem Gesicht. Seinen Wangenknochen, den Fältchen um seinen Augen, dem kratzigen Bart, der seine Wangen bedeckte. Auch wenn sie am Abend zusammen vor dem Rat sprechen würden, war heute und hier wohl der letzte Tag, an dem sie einander so gegenüberstehen würden. Was auch immer die Zukunft brachte, es war unwahrscheinlich, dass sie das Sanctum wieder aufsuchen würde.
»Pass gut auf dich auf, Stephen…«, flüsterte sie, als ihre Finger sanft über seine geschlossenen Augenlider schwebten, bevor sie das Bild dann mit dem Gefühl seiner Lippen unter ihren Daumen vollendete. »Vor allem darauf.« Sie legte ihm ihre Hand über sein Herz, ehe sie ihre Augen wieder öffnete. Die andere Hand noch immer auf seiner Wange ruhend, stellte sie sich auf ihre Zehenspitzen, hauchte ihm zum Abschied einen kleinen, zarten Kuss auf die Wange, nur wenige Sekunden bevor ihre Haut plötzlich zu prickeln begann.
Ein vertrautes Summen erfüllte ihre Knochen und ihre Muskeln spannten sich schmerzhaft an, bereit für einen bevorstehenden Kampf. Doch zu ihrer Überraschung, war es ein Besuch, der weder schlechte Neuigkeiten verkünden sollte, noch ihr feindlich gesinnt war. So zumindest ihre Hoffnung, was das Letztere anging. Es war niemand geringeres als Hermes, der sie dort nun besuchte.
»Hoher Herr Hermes«, begrüßte Adam, den Gott der Diebe und Reisenden, der Magie und Gymnastik, ehe sie sich aus ihrer Starre befreit hatte. Stephen, der genauso angespannt neben ihr stand, knirschte mit den Zähnen. Auch er hatte die ein oder andere Erfahrung mit den Gottheiten gemacht und blieb lieber auf Distanz. Dieses Privileg war ihr jedoch nicht gestattet, es war immerhin ihr Vetter, der dort vor ihnen stand.
»Eure Hoheit, es ist mir eine Ehre«, begrüßte auch sie ihn also, die Muskeln noch immer angespannt, um das Zittern zu unterdrücken. Mit einem freundlichen Lächeln nickte er ihr zu. »Hallo Cousinchen.« Er trug Joggingshorts und ein enganliegendes Shirt, welches leichte Muskeln zeigte und ihn vergleichsweise menschlich erscheinen ließ. Er hielt ein kleines Paket in seiner linken Hand und wandte sich demjenigen zu, der dieses wohl bestellt hatte. »Endlich! Vielen Dank Hermes!«, jubelte Adam erfreut und grinste den Gott jungenhaft an. »Entschuldige die Verspätung, es gab ein paar Lieferschwierigkeiten«, gestand der Götterbote zerknirscht. Ein Summen in seiner Hosentasche unterbrach das Gespräch der beiden und Hermes holte ein neueres Telefon heraus, das sich sogleich in seinen Caduceus verwandelte. »Sagt Hallo, George und Martha«, stellte er die beiden Schlangen vor, die sich um den Stab wanden.
»Hallo, George und Martha«, sagte die eine, die wohl George war und ein spöttisches Grinsen war seiner Stimme anzuhören. Martha, die andere Schlange, quittierte dies mit einem genervten Seufzen und wandte sich an Leia. »Hallo, Leia, wie geht es Tyson?« Überrumpelt von dieser Frage, hielt sie inne. »Ehm… Gut. Ja, ihm geht’s gut, denke ich.« Ich hoffe es. Dachte sie in sich hinein. »Tut mir leid um euren Verlust, Liebes.« Die Stimme der Schlange klang aufrichtig und auch Hermes Gesicht wurde mitfühlend, als die Sprache auf ihren Bruder kam.
»Ich danke Euch.« Sie nickte sowohl ihr als auch Hermes zu, der sich kurz darauf erneut dem Wächter des Londoner Tempels zuwandte. Sofort vertieften die beiden sich wieder in ein erregtes Gespräch und Leia lauschte ihnen gebannt. Es ging um Sport und wie dieser einen verjüngte und diverse andere Dinge, die sie nicht so recht verstand.
Sie bemühte sich, ihrer Konversation zu folgen und so das dumpfe Gefühl zu übertönen, das immer noch in ihr aufquoll, sobald Percys Tod zur Sprache kam. Doch so sehr sie sich auch bemühte, ihre Konzentration zu wahren, so wurde das Summen in ihren Ohren mit jeder Sekunde lauter. Schon bald waren ihre Stimmen nur eine leise Hintergrundmusik zu dem plötzlichen Bild, das sich ihr sobald offenbarte.

»Acht, Neun, Zehn! Bist Du versteckt?«
Ein leises Kichern, mehr war von dem kleinen Mädchen nicht zu hören, das sich in der Höhle, hinter einer großen Statue zu verstecken versuchte. Wie in jeder Höhle am Traganou Beach auf Rhodos war es auch hier angenehm kühl und feucht. Abgesehen vom süßen Duft des Gebäcks, das sie und ihr Bruder mit sich trugen, erfüllte die salzige Gischt des Meeres die Höhle, die durch einen Eingang Unterwasser mit diesem verbunden war. Das Rauschen der immer stärker werdenden Wellen hallte von den Wänden wider und kündigte die baldige Ankunft eines Sturmes an.
»Hab Dich!«, rief der Junge, als er sie hinter der Statue entdeckte und lachte.
»Oh Mann, ich dachte, das sei ein gutes Versteck!«, schnaubte seine Schwester und trat hervor. Mit zusammengezogenen Augenbrauen stapfte sie neben ihn und trat ihm spielerisch beleidigt gegen den Schuh. Doch er beachtete sie gar nicht.
Seine Aufmerksamkeit galt allein der Statue, hinter dessen Sockel sie vor wenigen Sekunden noch geklärt hatte. Es war das Bildnis einer großen Frau in einem griechischen Gewand. Eine Schildkröte schien zu ihren Füßen zu schlafen und sie hielt triumphierend einen Dreizack in die Lüfte. Jeder, der sich nicht mit den Sagen auskannte, hätte glauben können, dies sei Poseidons Waffe gewesen. Doch die Kinder sahen den Unterschied. Dieser dort war schmaler, leichter und hatte eine Querstrebe kurz unter der Gabel, die so eine Art Kreuz bildete.
Die Augen der Göttin waren von einer Stoffbinde verborgen, ihre strenge und erbarmungslose Aura war auch ohne sie deutlich zu spüren.
»Ash- As-« »Asphaleia«, vervollständigte der Junge den Namen, der dort in den Sockel eingraviert war und schluckte hörbar. Seine Schwester verkrampfte sich
»Schutzgöttin der See«, flüsterte sie.
»Herrin über Stürme und Erdbeben.« Ein Schauer lief über seinen Rücken hinab in seine Zehenspitzen. Als ein Kind der letzten verbliebenen Gläubigen der griechischen Inseln, fiel er ohne zu überlegen vor der Statue auf die Knie. Seine Schwester, ebenso gläubig, tat es ihm gleich.
»Große Beschützerin«, begann er sofort in seiner Muttersprache zu beten. »Bitte beschütze mich und meine Schwester vor dem Unwetter und lass uns unversehrt nach Hause zurückkehren.« Schwere Wolken hatten sich unlängst vor die Sonne geschoben und ließen einen dunklen Schatten über das Gesicht der Göttin fallen.
»Bitte vergib uns, dass wir deine Stätte entehrt haben und nimm unser Opfer an.« Wie es ihre Eltern und Großeltern vor ihnen nach einem Gebet getan haben, legten die Kinder der Göttin also, wie versprochen, eine Opfergabe als Dank dar. Jeweils eins der besten Stücke ihrer Bougatsa, dem einheimischen Gebäck Griechenlands, legten sie am Fuße der Statue nieder und beobachteten, wie es sich vor ihren Augen in Rauch auflöste. Und mit dem Lächeln der Kinder verschwand nun auch die Vision aus ihren Gedanken.

Von einer plötzlichen Übelkeit übermannt, taumelte sie, ihre Glieder noch immer zittrig, von dem, was sie eben sah. In dem Versuch, sich aufrecht zuhalten, riss sie versehentlich eines der Möbelstücke mit sich zu Boden. Nur dumpf hörte sie das Zersplittern eines Spiegels, dessen eine Scherbe sich in ihren Oberschenkel bohrte.
Für einen kurzen Moment glaubte sie, beinahe zu ersticken, als der Schock ihr die Luft aus den Lungen presste. Doch der süße, leichte Geschmack der Bougatsa lag noch immer auf ihrer Zunge und erfüllte sie mit einer unglaublichen Wärme, die ihr gleichzeitig ein gewisses Gefühl der Stärke brachte.
Sofort kamen der junge Wächter und Hermes zu ihr gelaufen und halfen ihr zurück auf ihre Füße.
»Ist alles ok?«,
»was ist denn passiert?«, prasselte ihre besorgten Fragen über sie herein.
Ihr Kopf dröhnte.
Ein stechender Schmerz überkam sie, zusammen mit plötzlichen, fremden Erinnerungen, die ihre Gedanken überlasteten. Sie musste sich sehr bemühen, nicht auf der Stelle das Bewusstsein zu verlieren. Also klammerte sie sich an Hermes athletischen Arm, der in diesem Moment wie eine Verankerung im Hier und Jetzt für sie fungierte.
All ihre Erinnerungen waren wieder da. Sie erinnerte sich an ihre Zeit in Griechenland. An die unzähligen Kriege, die Verluste. An ihre Schwester, ihre Mutter.
Sie erinnerte sich an das Wort. Dieses eine Wort, das sie im Geflüster der Nike aus ihrem Traum vernommen hatte. Jetzt wusste sie, was es bedeutete. Nike hatte sie gerufen, ihre Tochter. Doch mit jeder weiteren, grausamen Erinnerung, sehnte sie sich nun erneut die Ungewissheit herbei.
Die Blicke der Männer lagen noch immer voller Sorge auf ihr, als sie sich langsam aus Hermes Verankerung löste. Ihr Gesicht war feucht und ihre Kehle schmerzte. Sie hatte geweint.
»Ist alles in Ordnung, Kind?«, fragte Hermes noch einmal. Seine Miene wirkte starr und distanziert, doch erkannte sie jetzt ehrliches Mitgefühl in seinen grauen Augen. Sie schluckte und sortierte die vielen Antworten auf ihre Fragen der Vergangenheit und die neuen Fragen, die sich allmählich auftaten. Sie setzte zu einer souveränen Antwort an.
»I- ich…«, doch was letztendlich zu hören war, war der gesammelte Versuch einer Erklärung, deren Logik sich nicht einmal ihr erschließen wollte.
»Ich …«

Chapter Text

»Nike ist meine Mutter«, krächzte sie.
Sie war vollkommen aufgelöst, als sich die Erinnerungen in ihrem Kopf endlich genügend sortiert hatten. All das, was sie bisher geglaubt hatte, musste sie infrage stellen. Jedoch verstand sie jetzt, was das Wort bedeutete, das sie im Flüstern der Göttin gehört hatte. Kóri. Tochter.
Ohrenbetäubende Stille hatte sich im Haus niedergelegt, als das Gesagte zu den anderen durchdrang. Selbst Stephens Schlangen hatten ihr Geflüster in den Wänden beendet. Während Adam jedoch gelassen neben Hermes stand und nickte, als hätte er diese Enthüllung erwartet, wich aus Stephens Gesicht plötzlich jegliche Farbe. Er hatte das Geschehen aus sicherer Entfernung schweigend mitverfolgt, sodass Leia seine Gegenwart fast vergessen hat. Doch jetzt wirkte er gehetzt, beinah panisch, wie ein junges Reh, das seinem Schicksal ins Auge blickte und sein rasendes Herz rief ihn ihr abermals ins Gedächtnis.
»I- ic- ich kriege keine Luft!...«, keuchte sie und presste ihre Hände auf ihr Herz, welches so laut und heftig schlug, dass sie glaubte, es springe ihr sogleich aus der Brust. Alles drehte sich, ihre Gedanken, die Welt, der Boden unter ihren Füßen schwankte noch immer unaufhörlich.
Doch Stephen und die anderen beiden waren zu geschockt, um ihr irgendwie behilflich sein zu können.
Das Gesicht des Götterboten war so ausdruckslos, als wäre es aus Stein gemeißelt. Distanziert und kühl. Doch in seinem Inneren tobte ein Sturm, dass Leia befürchtete, er würde sie hier und jetzt in Stücke reißen.
»Was sagst du da?«, fragte Hermes in einer solch bedrohlichen Gelassenheit, als ließe er ihr eine letzte Chance, ihre Aussage doch noch kurzfristig zu revidieren. Die Luft knisterte gefährlich, seine Knöchel färbten sich weiß, so verkrampft umfasste er seinen Caduceus. Die steigende Spannung in der Luft war nahezu greifbar, doch schlussendlich hätte sie nicht mit Sicherheit sagen können, ob diese von ihm ausging oder nicht doch sie der Grund dafür war. Sie hätte ihm allerdings ohnehin nicht antworten können, ob sie gewollt hätte oder nicht. Ihre Muskeln waren zu verkrampft, als dass sie hätte um Vergebung betteln können. Ihre Kiefer gehorchten ihr nicht mehr.
Ein schmerzerfülltes Stöhnen war das Einzige, was ihre zusammengepressten Lippen verließ, als sie sich krümmend ihren Bauch hielt, in dessen Inneren sich nun eine qualvolle Hitze anstaute.
»Tut doch etwas!«, flehte Strange an ihrer Stelle. Offenbar hatte er seine Stimme wiedergefunden, ganz im Gegensatz zu ihr und trat sogleich an ihre Seite.
Hermes Antwort kam prompt. In seinem Blick, mit dem er Stephen jedoch strafte, stand soviel Zorn, dass er ihn genauso gut hätte töten können, wenn der Gott sich womöglich nicht unter Kontrolle gehabt hätte.
Mit einem geknurrten Fluch auf einer Sprache, die Leia nur mit Mühe übersetzen konnte, packte Hermes sowohl sie als auch Stephen am Kragen und hob sie hoch, als wären sie so leicht, wie zwei Katzenbabys und war kurz darauf aus den Hallen des Sanctums verschwunden.
Nur einen Wimpernschlag später, fanden sie und Stephen sich in einer Halle wieder, die so groß und imposant war, dass die Bezeichnung eines Thronsaals ihr in keinster Weise gerecht werden konnte. Die Wände waren mit golden schimmernden Stuckverzierungen und Wandteppichen geschmückt, dessen Bilder fast schon lebendig schienen. Jeden der zwölf Throne, die der wahren Größe der Götter angepasst waren, zierte das Symbol des Gottes. Wie der Kriegerhelm hinter Ares, Hammer und Meißel hinter Hephaistos oder die Leier hinter Apollos Thron.
Jeder einzelne von ihnen, bis auf Hermes‘ war besetzt und so schauten nun elf mächtige Augenpaare auf sie hinab, wartend.
»POSEIDON!«, schrie Hermes, als dieser Leia unsanft in die Mitte des Kreises stieß und Stephen am Eingang absetzte, ehe er auf seine wahre Größe heranwuchs. Stolpernd landete sie zu Hestias Füßen, die das Feuer schürte.
»Hermes, was ist in dich gefahren?«, flüsterte die Göttin und eilte sofort zu ihr. Leia zitterte am ganzen Leib, zu schwach, um aufrecht stehen zu können.
Der Rat schien bereits begonnen zu haben, als sie hineingeplatzt waren, denn Zeus und ihr Vater waren noch bis eben in eine rege Diskussion vertieft.
»Hermes, wie schön, dass du uns wieder mit deiner Anwesenheit beehrst«, begrüßte Zeus den Gott der Diebe mit spöttischer Freundlichkeit. Kurz darauf lag die geballte Aufmerksamkeit des Olymp auf Leia, so auch die ihres Vaters, dessen Blick von liebevoller Wärme und zugleich auch Besorgnis erfüllt war. Die Auren der Götter waren so mächtig, dass der Palast unter der enormen Ladung, wie ein Bienenstock zu summen schien. Auch wenn sie dies nicht für möglich gehalten hätte, wurde die Hitze in ihrem Inneren nun mit jeder Sekunde unerträglicher und die Intervalle zwischen den Schmerzen immer kürzer. Rote Flecken hatten sich unterdessen auf ihrem Dekolleté, ihrem Hals, ihren Wangen gesammelt. Ihre Atmung ging flach, stoßweise, als sie Zeus Blick angsterfüllt erwiderte.
Hermes funkelte sie wütend an, ehe er sich Poseidon zuwandte.
»Was-hast-du-getan?«, zischte er, die Augen zu wütenden Schlitzen verengt. Doch Poseidons Aufmerksamkeit lag noch immer auf seiner sich windenden Tochter.
Ihr war schlecht. Heiße Galle kroch ihre Kehle hinauf und brannte, wie flüssiges Feuer. Als kehre jemand ihre Organe von innen nach außen und stecke sie dann in Brand, nur um ihr dann dabei zuzusehen, wie die Schmerzen sie quälten.
»V- Vater, bitte…«, flehte sie um die Gnade Poseidons. »Mach das es aufhört.« Wimmernd und stöhnend, streckte sie die Hand nach ihm aus. Die Hitze, die sich nun in ihren Gliedmaßen ausbreitete, lähmte sie. Poseidon wollte aufstehen, zu ihr eilen, sie erlösen. Doch Zeus hatte andere Pläne.
»Setz dich!«, befahl der Göttervater grollend, mit einer Stimme, so tief und markerschütternd, wie ein tosendes Gewitter.
»Was hast du getan?«, wiederholte er Hernes Frage.
Eine simple Frage, in deren Worten soviel Argwohn und Missgunst mitschwang, dass die anderen Götter Poseidon abwartend ansahen. Er wirkte ehrlich besorgt. Entschuldigend lächelte der Gott des Meeres seine leidende Tochter an und seufzte ergeben. Entlarvt.
»Ihr Name ist Asphaleia«, begann er zu erzählen, ohne sie dabei eine Sekunde aus den Augen zu lassen. Ohne es zu merken, hielt sie die Luft an, im Versuch seinen Worten zu lauschen. Doch noch immer rauschte ihr rasendes Blut in ihren Ohren, wie salzige Wellen in einem Sturm. Schweißperlen waren auf ihre Stirn getreten und verdunsteten sogleich bei der Hitze ihres Fiebers.
»Sie und Kymopoleia richteten zusammen über das Meer.« Jeder im Saal hing an Poseidons Lippen. Auch Ares, der zuvor gelangweilt gähnte. Sogar das Feuer schien plötzlich kleiner, rastlos, als spiegele es die drückende Stimmung im Thronsaal wider.
»Asphaleia war die Schutzgöttin der Seefahrer. Während ihre Schwester die Stürme beherrschte, und unheilvolle Wellen hervorbrachte, machte sie das Meer zahm und schickte günstige Winde.« Vielsagend richtete er seine Erklärung dabei besonders an Zeus, dessen Macht sie damit besonders beeinflusste. »Sie war Herrin der Erdbeben und konnte somit Katastrophen erschaffen oder verhindern.«
Je mehr Poseidon von ihrem einstigen Leben berichtete, desto mehr Löcher in ihren Erinnerungen offenbarten sich ihr. Sie wusste jetzt, was mit ihr und ihrer Schwester passiert war. Dass sie ihre Macht übernommen hatte, als Kymopoleia verblasst war. Dass sie gleichermaßen Richter und Henker der See war. Ihr Kopf dröhnte. Ihre Brust brannte und ihr Herz schmerzte, als lege sich eine große Faust darum und würde nun unerbittlich zudrücken. Tränen der Verzweiflung, so heiß wie ein Stern, brannten sich in ihr rohes Fleisch und sie zitterte. Wie Espenlaub zitterte sie am ganzen Leib. Die Tränen vermischten sich mit ihrem Schweiß und zeichneten sie. Auf ihren Schläfen, ihren Wangen, ihrem Rücken – überall sah man rote Striemen, die im Einklang mit ihrem hämmernden Puls pochten.
Der kalte Atem der Panik saß ihr tief im Nacken und allmählich drohte diese, in jede Pore ihres Körpers zu kriechen.
Sie würde hier sterben. Dessen war sie sich sicher.
Am liebsten wäre sie davon gerannt. Geflohen vor dem, was sich ihr hier und jetzt offenbarte. Aber ihre Muskeln waren bleiern und taub, als gehorchten sie jemand anderen, doch nicht ihr. Lichtblitze tanzten vor ihren Augen, grell und beißend und die Augenbinde schien nun so schwer, als drücke die Last des Himmels auf ihr. Hektisch riss sie sich diese vom Kopf.
Sie hyperventilierte und würde jeden Moment das Bewusstsein verlieren.
»Was passiert mit mir?«, fragte sie wimmernd in Poseidons Erzählung hinein. Ein qualvoller Schrei entwich ihr, als sie die Schmerzen nicht mehr ausblenden konnte.
»Du bist eine Göttin in einem menschlichen Körper«, erklärte Zeus. Distanziert und unbeeindruckt lagen seine elektrisch blauen Augen auf ihr. »Du bist es gewohnt, unter den Menschen zu wandeln. Da du jetzt hier bist, wird deine wahre Natur deinen menschlichen Körper von innen heraus zerfetzen«, fügte Artemis hinzu, deren Blick misstrauisch auf ihr ruhte. Fast so, als wisse sie noch nicht, was sie von ihr halten solle.
»M- mein Kopf platzt...«, stammelte Leia panisch, ihre Pupillen erweitert vor Schmerz und Leid.
Es war, wie Artemis sagte: Ihr Körper zerstörte sich von innen nach außen. Ihre Knochen schmerzten, als würde jeder einzelne von ihnen gebrochen. Ihr Blut rauschte so heiß, als würde es kochen.
Die Begegnung mit Poseidon, mit Nike, diese waren augenscheinlich belanglos. Ihre Macht fließt bereits durch ihre Adern, durchströmte sie, war ein Teil von ihr.
Doch Hermes Auftauchen im Tempel, eine fremde Macht, die sie plötzlich umhüllte, war zu viel für sie. Für ihre menschliche Hülle.
Sie musste zerstört, in ihre Einzelteile aufgelöst werden.
Stück für Stück.
»Jetzt helft ihr doch!«, flehte Stephen. Ein letztes, verzweifeltes Ersuchen um Gnade. Doch er stieß erneut auf taube Ohren. Nur Poseidons gequälter Blick verriet ihm, dass wenigstens ihm etwas an ihr zu liegen schien. Wenn er es nicht besser gewusst hätte, hätte Stephen fast geglaubt, der Gott wurde sogar ein wenig blass um die Nase, je länger seine Tochter vor ihm diese Todesqualen erlitt.
Leia schrie vor Schmerzen, die Hände zu Fäusten geballt.
Feinste Risse hatten sich in ihrer Haut aufgetan. Doch was sich ihm dort offenbarte, war kein Blut, wie Stephen zunächst vermutet hatte.
Das, was er dort sah, war Licht. Reines, warmes, flüssiges Licht.
»Sterblicher«, sprach Hermes an ihn gewandt, die Hände gebannt vor seinem graumelierten Bart gefaltet. »An deiner Stelle würde ich nun die Augen schließen.«
Mit jedem weiteren Riss, jedem weiteren gebrochenen Knochen, jedem weiteren zerrissenen Organ wurden ihre Schreie lauter, schriller, gequälter.
»Sie wird brechen«, murmelte er unter Tränen. Akzeptierte das Unausweichliche.
Jeden Moment würde sie in Flammen aufgehen.
Doch er konnte nichts tun, außer ihr dabei zuzusehen. Ihm waren die Hände gebunden. Er kannte jeden Zauber, jede Rune, jeden Trank. Aber nichts hätte ihre Tortur beenden können.
Er war machtlos. Zu schwach.
Der oberster Meister der mystischen Künste war machtlos.
Sein Kiefer mahlte vor Frust und Hilflosigkeit. Nur widerwillig leistete er Hermes’ Befehl Folge und schloss seine Augen.
Jede Sekunde, in der sie ihr Körper weiter malträtierte, schien unerträglich lang. Als kostete, Chronos, der Herr der Zeit diesen Moment ganz besonders aus. Es dauerte schier eine Ewigkeit. Solange, dass er es beinahe nicht mehr aushielt.
Doch dann plötzlich legte sich erneut Stille im Saal nieder.
Er hatte eine Explosion erwartet. Einen Knall, der seine Trommelfelle zum Bersten brachte oder einen Schrei, der die ganze Halbinsel erfüllte.
Doch es geschah nichts dergleichen. Nur Stille.
Allein das Knistern des Feuers in der Mitte des Thronsaals hallte noch immer von den Palastwänden wider. Er glaubte fast, die Götter seien verschwunden, seine Augen noch immer fest verschlossen.
»Stephen?«, hörte er jedoch plötzlich eine Stimme aus weiter Ferne nach ihm rufen. Sie klang so vertraut und doch so unsagbar fremd.
Es war ihre Stimme. Leias Stimme. Aber sie klang tiefer. Gewaltiger.
»Öffne die Augen, sieh mich an«, bat sie ihn. Der Klang ihrer Stimme durchflutete ihn. Wie das Rauschen des Meeres, die Melodie einer Brise, die Vibration eines Bebens.
Zögernd tat er, wie ihm geheißen und öffnete seine Augen. Aber es war nicht mehr Leia, die er dort vor sich sah. Die Frau, die er vor schier so vielen Monaten bei sich aufgenommen hatte. Das Wesen, das dort vor ihm stand, entsprach ihr optisch vollkommen. Sogar ihr Lächeln war identisch. Doch diese Frau dort umgab ein Leuchten, das vorher noch nicht da gewesen war. Ein warmes, goldenes Licht, dessen Energie ihn in seinen Bann zog.
Sie wirkte stärker, sicherer, selbstbewusster. Sie wirkte erhaben, als wäre dies, wer sie wirklich war.
Ihre Haltung war aufrechter und stolz, ihr Erscheinungsbild jedoch nicht perfekt. Als läge ihr Wert nicht darauf, wie sie aussah.
»Was ist?«, fragte sie. Die Stirn, von irritierten Falten gezeichnet. »Sehe ich so furchtbar aus?«
Ein schräges Lächeln zierte seine Lippen. Glucksend schüttelte er den Kopf. Ihm fielen tausend anderer Bezeichnung ein, doch furchtbar war keine davon. Erlöst, atemberaubend, stark. Das war es, was er hätte sagen wollen.
Sie wirkte frei. Als hätte sie sich aus den Zwängen unsichtbarer Fesseln gekämpft. Aus einem viel zu engen Korsett gewunden, welches ihr langsam, aber allmählich die Luft abschnürte. Als hätte sie all die Jahre mit verbundenen Händen gekämpft und hatte nun beide zur freien Verfügung.
Sie sah die Welt auf einmal viel klarer. Im wahrsten Sinne. Sie war noch immer blind. Doch es hinderte sie jetzt nicht mehr, die Dinge zu sehen, wie sie waren. Mehr zu sehen, als ein Gemälde aus Feuer. Die Farben zu sehen.
Ihre Sinne waren schärfer. Viel schärfer als noch wenige Sekunden zuvor. Sie konnte nun die Wellen der Farben spüren, die ein glasklares Bild in ihren Gedanken erzeugten. Als wäre der Körper, der dort im Olymp stand, nur ein Teil von ihr. Ihr wahres Selbst jedoch war überall – omnipräsent.
»Du bist wunderschön«, wisperte Poseidons Stimme. Ein warmes Lächeln zierte seine Lippen und auch die Farbe war in sein wettergegerbtes Gesicht zurückgekehrt. Ein Schauer durchfuhr sie. Kalt und rau kroch er ihr Rückgrat hinunter. Sofort versteifte sie sich, die Worte ihres Vaters noch immer in ihren Ohren.
Wunderschön.
Langsam drehte sie sich zu ihrem Vater um, die Faust fest um den goldenen Dreizack geschlossen, welcher wenige Sekunden zuvor noch als Tattoo ihren linken Arm zierte. Er glich dem ihres Vaters beinahe bis auf die letzte Einkerbung. Nur bei näherer Betrachtung erkannte man eine extra Strebe, kurz unter der Gabel des Speers, welche die beiden Waffen Unterschied.
»Du!«, zischte sie ihrem Vater entgegen. Wenige Augenblicke zuvor, hatte sie noch auf Knien um seine Gnade gebettelt, gefleht, er möge sie erlösen. Doch nun war Wut der Angst gewichen. Es brodelte in ihr wie im Inneren eines aktiven Vulkans, der darauf wartete, alles um sich herum verschlingen zu können.
»Du hast mich verstoßen!«, knurrte sie, als sie vor seinem Thron zum Stehen kam. Ihre Augen waren lodernd hell, glühten förmlich vor Energie.
»Leia…«, bat er flüsternd. »Ich habe versucht, dich zu beschützen!« Wild mit den Händen fuchtelte er, bei dem Versuch, sein Handeln zu rechtfertigen.
»Indem du mich in einen Säugling verwandelst? Ohne Erinnerungen, ohne meine Kraft… und mich in der Welt der Sterblichen zurücklässt?« Ihre Kiefer mahlten vor Zorn. Ihre Muskeln zuckten. Donner grollte über den Dächern des Olymp und Zeus‘ Blick war von Verwirrung gezeichnet, als er gen Himmel blickte, gespannt, was noch folgen würde.
Wer weiß schon, was passieren würde, hätte sie sich jetzt nicht unter Kontrolle gehabt. Keiner konnte garantieren, dass der Olymp unbeschadet geblieben wäre.
Ihre weißen Flügel peitschten nervös, so hoch und mächtig wie sie selbst. Sie sahen wild und bedrohlich aus, die Federn standen in alle Richtungen ab.
»Ich dachte, ich sei ein Monster…«, schluchzte sie. »Ich dachte, ich sei verflucht.« Sie klang wie eine Fremde, erkannte den Klang ihrer eigenen Stimme nicht wieder, so verbittert krächzte sie ihrem Vater entgegen. »Dann bist du aufgetaucht und machtest mir weis, ich sei eine Halbgöttin.«
»Ich sagte nie, du seist eine Halbgöttin«, murmelte ihr Vater kleinlaut.
»Was spielt das für eine Rolle?«, schrie sie.
Er war unterdessen auf ihre Größe hinabgesunken. Von Angesicht zu Angesichts standen sie sich nun gegenüber.
»Ich habe es geglaubt!«, presste sie aus zusammengebissenen Zähnen. »Die Monster haben es geglaubt!« Als leises Wispern verließ der letzte Satz ihre Lippen. Ihre Stimme brach. Sie fühlte sich betrogen, benutzt. Betreten seufzte Poseidon. »Diese Angriffe geschahen nicht, weil Monster dein Blut gerochen hatten.« Seine Stimme zitterte kaum merklich. Niemals hätte eine sterbliche Seele diese kleine Veränderung bemerkt. Aber sie spürte es ganz deutlich. Sie alle spürten es. Seine Angst, die den Saal augenblicklich verdunkelte. Kalter Wind erfasste sie, verschob den Stoff ihres weißen Peploses, einer Art Kleid und legte das Tattoo eines Speeres inmitten eines Lorbeerkranzes an ihrem rechten Oberschenkel frei. Wie sie jetzt erkannte, ein Tribut an ihre Mutter. An beiden Seiten ihrer Hüfte war das Kleid geöffnet und gab so die Sicht auf ihre langen, tätowierten Beine frei. Der silberne Dolch ihres Bruders zierte in einem ledernen Holster ihr linkes Bein, darauf wartend eine unwürdige Seele in sich aufzunehmen. Der goldene Gürtel, der ihre Taille betonte, ergänzte den schimmernden Lorbeerkranz, der ihr Haar wie eine Krone schmückte. Nur ihre Haarfarbe und die goldenen Armschienen, die bis zu ihren Handgelenken reichten, bedeutenden Poseidon, dass dies vor ihm seine Tochter und nicht die Göttin Nike war. Die Göttin, der er vor all diesen Jahrtausenden einst verfallen war, noch bevor er Amphitrite zur Frau nahm.
»Seit du vor Äonen geboren wurdest, sollte dir unentwegt ein Schatten folgen. Ein Unheil, vor dem mich die Moiren gewarnt hatten, als deine Mutter mit dir schwanger war.«
Er rang mit sich, als scheine er nicht die richtigen Worte für das zu finden, was geschehen war. »Dich verfolgte eine Spur des Todes. Jedoch glaubten wir zunächst, es sei Teil deiner Kraft, deines Wesens, weshalb wir nichts unternahmen. Wir sind Götter, da ist alles möglich.
Doch wir begriffen schnell, dass diese Macht etwas Fremdes war. Etwas, das von Außen auf dich einwirkte.« Vorsichtig nahm er ihre Hände in seine. In seinen meerblauen Augen spiegelte sich Reue wider. Reue und Trauer. »Diese ganzen Angriffe, deine Träume…«, er schluckte hart. Ein Schauer erfasste.
»Der Tod deines Bruders. Ich hege die Vermutung, dass diese Macht ihn auf dem Gewissen hat.« Traurig sah er sie an. Sie ballte die Hände, zitternd vor Wut.
»Ich habe dich weggeben und dich in einen Menschen verwandelt, um dich… Ich wollte dich schützen.«
»Du hast mich angelogen«, flüsterte sie. Ihre Stimme bebte, wie ihr Herz pochte. Rasend und kurz davor, zu brechen.
»Ich wollte… Ich konnte…«, stammelte Poseidon.
»Jahrelang hast du mich in dem Glauben gelassen, i- ich wäre nur ein nutzloses Wechselbalg, dessen Eltern es nicht wollten.« Ihre Stimme wurde lauter und schriller.
»Nein Asphaleia, du verstehst das nicht…«
»Doch. Ich verstehe sehr gut.« Ihr Flüstern war bedrohlich, ruhig. So leise wie das Wispern des Windes.
»Du hast mich benutzt, dich erst zu mir bekannt, weil du mich brauchtest!« Sie packte ihren Vater am Kragen seines Hemdes und schrie ihn an.
»Du hast mich glauben lassen, ich sei verflucht!«
»Du bist verflucht!«, rief er. Seine Stimme zitterte beinahe so sehr wie ihre.
»Deshalb habe ich dich zu Strange geschickt…«
»Das warst du?«, fragte sie aufgebracht.
»Ja. In der Hoffnung, er wüsste, wie man deinen Fluch aufheben kann…«
Eine einzelne Träne stahl sich aus ihrem Augenwinkel, als sie verstand, was er ihr soeben gestanden hatte. Ihre ganze Kindheit war inszeniert. Die Dinge, die sie zu Strange geführt hatten - inszeniert.
»War überhaupt eine Entscheidung in meiner Vergangenheit, nicht von dir manipuliert worden?«, fragte sie ihren Vater. Ihre Stimme klang monoton. Distanziert. Verbittert. Ihre Augen lagen kühl auf einem Punkt hinter ihm, doch ihr Blick war leer. Das Leuchten darin erloschen. Sie machte auf dem Absatz kehrt, ohne ihrem Vater eines weiteren Blickes zu würdigen und stellte sich neben Strange. Mitgefühl erfüllte seine Züge, sein Lächeln warm und aufmunternd. Ihre Schultern hingen nach unten. Sie sah müde aus. Das sah er auch trotz ihrer aufrechten und starken Haltung. Ohne weiter darüber nachzugrübeln, ergriff er ihre Hand und drückte sie. Sie erstarrte kurz, überrumpelt von der plötzlichen Berührung. Doch sie entspannte sich sogleich wieder. Sie war froh, dass er sie begleitet hatte. Dankbar. Auch wenn es unfreiwillig war.
Seine Nähe gab ihr Halt.
»Warum gibt es nur in der alten Heimat eine Statue von ihr?«, ergriff Athene nun das Wort. Ihre Frage war an Poseidon gerichtet, der unterdessen wieder auf seinem Thron Platz genommen hatte. Doch ihre Aufmerksamkeit galt Leia. Also antwortete sie: »Weil ich bis zu meiner Verwandlung in Griechenland lebte. Ich bin nur wenig mit der neuen Heimat vertraut. Mit New York.« Sie war überrascht, wie fest ihre Stimme klang. Der Sturm, der in ihr tobte, hatte sie befürchten lassen, sie könne vielleicht schwach klingen.
»Wie lange ist das her?«, fragte Dionysos.
»25 Jahre.«
»Und wie alt bist du tatsächlich?«, stellte Zeus die Frage, die wohl jeden im Palast zu beschäftigen schien. Sein Blick war wütend. Doch lag er nicht auf ihr, sondern auf seinem Bruder, dessen Unbehagen ihm deutlich anzusehen war. Vermutlich, weil er ihm all die Jahre über so viel verschwiegen hatte.
»Das weiß ich nicht«, antwortete Leia wahrheitsgemäß.
»Die Statue in meiner Vision war noch vor der hiesigen Zeitrechnung erbaut worden.« Sie raufte sich die Haare, auf der Suche nach weiteren Fetzen ihrer Erinnerungen.
»Ich war Göttin der Erdbeben und Beschützerin der Meere. Die brutalen Stürme meiner Schwester habe ich anscheinend nach ihrem Tod vor ein paar Jahren mit übernommen. Die Gravur in der Statue war noch recht neu.« Zeus nickte brummend. Kleine Blitze durchzuckten seinen grauen, beinahe weißen Bart, als er nachdenklich hindurchstrich. Sofort erfüllte ein starker Ozongeruch die Luft im Palast.
Leia rümpfte angewidert die Nase.
»Was machen wir jetzt mit ihnen?«, fragte Athene. Nicht was sie sagte, sondern wie sie es sagte, ließ Leia aufhorchen. Es verhieß nichts Gutes. Leia wollte gerade protestieren, als das laute Knarren der großen Tore ihren Gedanken unterbrach. Der Klang von Hufen auf marmornen Boden echote im Palast, als zwei Gestalten ihn betraten.
»Logan?«, rief Leia irritiert. Sie erkannte den Mutanten an seinem unverkennbaren Geruch. Würziges Aftershave, gemischt mit dem Gestank nach billigem Whiskey.
Das Brummen seiner Stimme, bestätigte ihre Vermutung.
»Leia! Du siehst wunderschön aus«, sagte jedoch Chirons Stimme, der Logan augenscheinlich begleitete. Trotz seiner Bemühungen, das Zittern in seiner Stimme zu unterdrücken, erkannte sie die Sorgen darin. Die beiden wirkten alarmiert. Aufgekratzt. Und das nicht, weil Leia plötzlich anders aussah.
»Was ist passiert, James?«, fragte Poseidon. Sein Griff verkrampfte sich um den Stab seines Dreizacks, die Knöchel seiner Hand wurden bereits weiß.
»Camp Jupiter…«, keuchte Logan. Er klang atemlos. Irgendetwas Gravierendes musste geschehen sein. Etwas, das selbst ihn verschreckt haben musste.
»Was ist mit Camp Jupiter?«, fragte Leia sanft und tätschelte ihm beruhigend die Schulter. Doch sein Herz raste noch immer wie das eines Kaninchens und die Stimme versagten ihm.
»Ein Krater hat sich vor den Mauern Neu Roms aufgetan«, antwortete Chiron an seiner Stelle. »Bis hinein in den Tartaros.« Der Zentauer schien beinahe ebenso aufgewühlt wie der Mutant. Sie konnte sich nicht ausmalen, was so schlimm sein konnte, dass sogar der alte Gaul so unter Schock stand. »Jeder, der sich nähert, wird aggressiv und scheint nicht mehr Herr seiner selbst, wie ein tollwütiges Tier.« Leias Augen huschten besorgt zu Stephen, dessen Blick sich in ihren Hinterkopf bohrte. Seine Hand lag noch immer klamm in ihrer, klammerte sich förmlich an ihrem Griff. Sie wussten, dass das nicht alles war. Und so war es.
»Reyna meldet ein Dutzend Tote.«
Leia drehte sich zu ihrem Vater um, als ihr eine Erkenntnis kam. Sie verglich das Muster der toten Tiere, der unschuldigen Sterblichen, der Halbgötter und Mutanten mit den Aussagen ihres Vaters. Unheil. Eine Spur des Todes.
»Dieser Angriff...« Sie schluckte schwer. »Percys Ermordung… Es hätte mir gelten sollen, nicht wahr?« Poseidons Schweigen war ohrenbetäubend laut. Die einzige Antwort, die sie brauchte. Zum allerersten Mal in diesem Leben, sah Leia ihren Vater direkt an, in seine so stürmisch blauen Augen und nickte. Sie hatte verstanden.
»Er musste sterben«, sagte sie. »Aber du und ich dürfen leben.« Ihre Stimme war gefährlich leise. Wie die plötzliche Ruhe vor einem Sturm. Kopfschüttelnd wandte sie sich von ihm ab. Ihre Füße trugen sie fort, raus aus diesem Palast, gebaut aus dem Blut und Knochen Unschuldiger.
»Das ist nicht fair«, hörte er ihr Flüstern.
Ihre letzten Worte an ihren Vater, bevor sie zusammen mit Logan, Stephen und Chiron in Richtung Ausgang verschwand.