Chapter 1: 1. Sommer 1971: Kindsträume
Chapter Text
Schmutziger, kiesiger Sand rieselte zwischen Lily Evans‘ Fingern hindurch und wurde vom sanften Sommerwind ein paar Meter weiter geweht, ehe er dutzende, kleine Rillen auf dem Seewasser verursachte. Lily saß mit angewinkelten Knien auf dem Boden und grub immer wieder eine Hand in den Boden, um noch mehr Sand hervorzuholen, den sie wieder fallen lassen könnte. Eine dunkle Schleife steckte in ihren kupferfarbenen Haaren und sorgte dafür, dass keine unbändigen Strähnen in ihre Augen fallen würden. Sommersprossen bedeckten ihre ganze Haut. Mit ihren grünen, glänzenden Augen hatte sie einen Punkt in der Mitte des Sees fixiert, ohne wirklich etwas zu sehen.
„Heya, Lily.“ Ein schwarzhaariger Junge in zu großen Klamotten und löchrigen Turnschuhen war neben ihr erschienen. Für andere sah er aus, wie ein obdachloses Kind, das auf der Suche nach etwas Kleingeld war, für Lily war es der Anblick ihres besten Freundes, Severus Snape, der sich grinsend den Schweiß von der Stirn wischte, bevor er sich neben ihr auf dem Boden niederließ. Severus war etwas kleiner als Lily, aber das störte sie gar nicht. Dafür wusste er ungefähr hundertmal so viel wie sie über Magie und Zauberei. Im Schatten des großen Baumes, unter dem sie saßen, sah seine blasse Haut noch etwas heller, ein wenig kränklich aus. Dunkle Ränder zierten seine ebenso dunklen Augen und er hatte eine frische Schürfwunde an der Wange.
„Hallo, Sev“, sagte Lily. Sie verengte die Augenbrauen und ließ den Rest des Sandes zu Boden fallen. „Was ist in deinem Gesicht?“
„Oh.“ Severus legte sich schnell eine Hand auf die Wange, an der auch die Wunde zu sehen war, ein fies aussehender dunkelroter Kratzer. „Das war nichts. Papa war gestern nur etwas sauer, aber das ist schon ok. Er hat nur einmal zugeschlagen.“
Lily verzog die Lippen zu einer dünnen Linie, aber sagte nichts mehr. Sie wusste, dass Severus eh nur verteidigend und abweisend werden würde, sobald sie seine Familie ansprach, auch wenn sie nicht verstand, warum er es ständig ertrug, dass sein Vater ihn schlug. Aber dann wiederrum verstand sie nicht, wieso ein Vater überhaupt sein Kind schlagen würde. Für sie waren Väter liebe Männer mit einem lauten Lachen und immer einem Bonbon in der Hosentasche. Sie langte in die Tasche ihrer kurzen Hose und holte die Süßigkeit hervor, die ihr Papa ihr gegeben hatte, bevor er zur Arbeit gefahren war. „Hier. Die mag ich eh nicht“, log sie, obwohl sie Waldmeisterbrauebonbons liebte.
Ihr bester Freund murmelte ein Dankeschön, bevor er die bunte Süßigkeit annahm und in den eigenen Tiefen seiner Hosentasche vergrub. „Am Wochenende fährt Mutter mit mir in die Winkelgasse und dann kaufen wir endlich meine Schulsachen. Willst du mitkommen?“
Nichts wäre Lily lieber als mit ihrem besten Freund in die magische Einkaufsmeile zu gehen und all ihre Schulsachen – am wichtigsten von allen, einen Zauberstab – zu kaufen, aber sie wussten beide, dass das nicht möglich sein würde. Sie schüttelte den Kopf. „Geht nicht“, sagte sie. „In meinem Brief stand, dass mich jemand abholen und die Sachen mit mir kaufen würde. Außerdem würde meine Mum es sicher nicht erlauben.“
Severus blickte zu Boden. „Ja, wahrscheinlich.“
„Dafür fahren wir immerhin in drei Wochen endlich los!“, sagte sie schnell und versuchte Severus damit aufzumuntern.
Der Schatten eines Lächelns kroch über sein Gesicht. „Stimmt. Ich glaube, das wird der glücklichste Moment meines Lebens werden, endlich nach Hogwarts fahren zu können. Endlich weg von dieser doofen Stadt und den doofen Leuten darin.“
Lily nickte eifrig. „Ohja. Auch wenn ich meine Familie bestimmt vermissen werde.“
„Wieso?“
„Wieso was?“
„Wieso wirst du sie vermissen? Es sind nur Muggel.“ Severus hatte die Lippen geschürzt und die Augenbrauen unmissverständlich zusammengezogen. „Zumal du sowieso viel zu gut für die bist. Du hast ja gehört, was deine Muggel-Schwester gesagt hat.“
„Hör auf, sie so zu nennen, Sev“, verlangte Lily mit zitternder Lippe. „Ich will nicht, dass du meine Schwester so nennst, Sev, das weißt du.“
„Aber sie ist so schrecklich zu dir!“
„Sie ist trotzdem meine Schwester!“ Lily verschränkte fest die Arme. Jetzt bereute sie es ein bisschen, dass sie ihm ihr Bonbon gegeben hatte. „Außerdem ist Tuni nicht schrecklich zu mir.“
Severus lachte humorlos. „Sie hat dich Freak genannt. Sie ist einfach nur neidisch, dass du was Besonderes bist und sie nur ein dummer Muggel.“
„Sev!“, rief Lily bestürzt aus, bevor dicke Tränen aus ihren Augenwinkeln ihre Wangen hinabfließen. Sie vergrub das Gesicht in den Händen und schluchzte. „Ich hab meine Schwester lieb, auch wenn sie gemein zu mir ist“, murmelte sie gedrückt.
Ein paar Minuten war es still um die beiden Kinder; der Wind rauschte über ihnen in den Blättern des Baums, das Seewasser schwappte gegens Ufer und irgendwo kreischten ein paar Autoreifen über die Fahrbahn, aber es waren keine Gespräche mehr zu hören. Dann, als es Severus zu still wurde, biss er sich heftig auf die Innenseite seiner Wange und sagte: „Tut mir leid, Lil.“
Lily Evans schniefte neben ihm und hob langsam den Kopf. Ihre Augen waren rot und glänzten feucht. „Schon gut“, murmelte das Mädchen und wischte sich mit dem Handrücken über die Nase. „Ich weiß, dass Tuni nicht sehr nett zu mir ist und du sie nicht leiden kannst.“
„Ich kann sie schon leiden“, erzählte Severus die glatte Lüge, ohne mit der Wimper zu zucken. „Ich – naja, ich mag nur nicht, wie sie dich immer ankeift. Sie ist viel zu gemein zu dir. Dafür dass sie nur ein Mug-“, er stockte, schluckte hart und führte dann schnell fort: „Ich meine, dafür dass sie keine Magie hat.“
„Vielleicht hat sie ja Recht“, sagte Lily nach ein paar Momenten. „Weißt du, vielleicht bin ich ja ein Freak. Immerhin geh ich bald auf eine Schule für Hexen und Zauberer und weiß gar nichts übers Zaubern. Bestimmt bin ich die schlechteste in der Klasse“, fügte sie betrübt an.
„Gar nicht möglich“, meinte Severus kopfschüttelnd. „So schlau und toll wie du bist, kannst du gar nicht die Schlechteste sein.“
„Aber ich bin Muggelgeboren“, erwiderte Lily, als würde sie damit ein schlagfertiges Argument bringen. Weil sie wieder aufs Wasser starrte, bekam sie nicht mit, wie Severus kurz bei dem Wort zusammenzuckte und eine Hand zur Faust im Sand ballte. „Ich weiß gar nichts über Magie.“
„Das macht nichts.“
„Wohl.“
„Nein, ehrlich.“ Severus lächelte schmal. „Es gibt ganz viele Kinder, die aus Muggelfamilien kommen und die trotzdem tolle Hexen und Zauberer sind. Und ich wette, du bist jetzt eine bessere Hexe, als alle von ihnen zusammen.“
Das brachte Lily endlich auch zum Lachen. Ein kurzer, glockenheller Ton, der über den See schallte und dann erlosch, wie ein Feuer in einer Regennacht. „Danke, Sev, das ist sehr lieb von dir.“ Lilys Lächeln verflog aber schnell wieder. „Ich habe gestern Abend noch mal versucht mit Tuni zu reden, wegen dem Brief, den wir gefunden haben, weißt du noch?“
Als ob Severus den Brief je vergessen könnte. Es war eine sehr besten Erinnerungen, die Schadenfreude, die er gespürt hatte, als er gelesen hatte, dass Lilys ältere Schwester Petunia dem Schulleiter von Hogwarts geschrieben und gebettelt hatte, dass man sie ebenfalls aufnehmen würde und wie der Schulleiter ihr diese Bitte verwehrt hatte. Petunia war seitdem zwar sehr garstig zu ihrer Schwester und auch zu ihm gewesen, aber es hatte ihm sehr viel Freude bereitet, zu sehen, wie sie in ihrer eigenen Eifersucht zerging. Er nickte stumm und brummte zur Bestätigung, falls Lily es nicht sehen würde.
„Sie hat mich wieder angeschrien, als ich ihr gesagt habe, dass ich in der Schule ja mit Dumbledore sprechen könnte“, fuhr das Mädchen mit trauriger Stimme fort. Sie zerrupfte trockenes Laub in den Finger. „Hat gesagt, ich solle nicht mit ihr über meine Schule reden und mich wieder einen Freak genannt. Mama hat mit ihr gemeckert, aber Tuni hat mich trotzdem den restlichen Abend ignoriert, auch als ich ihr ein Eis angeboten habe, obwohl das ihr Lieblingseis war. Als ich dann ins Bett gegangen bin, hat Tuni mir durch den Spalt in der Zimmertür gesagt, dass sie es kaum abwarten könnte, bis ich endlich“, Lily stockte. Ihre Stimme versagte ihr und sie spürte schon wieder die Tränen, die sich in ihren Augen ansammelten. Sie holte tief Luft, aber brachte es nicht heraus.
„Bis du endlich nach Hogwarts fährst?“, fragte Severus leise und Lily nickte.
„Aber sie hat es nicht so fröhlich gemeint wie ich“, sagte sie und weinte wieder.
Severus wollte seiner besten Freundin sagen, dass sie einen feuchten Drachendung auf die Meinung ihrer doofen Schwester geben sollte, aber da sie schon einmal heute deswegen böse auf ihn war, verkniff er sich das. Stattdessen griff er mit seiner Hand nach ihrer und drückte sie ganz fest. „Warte nur ab“, meinte er. „Wenn wir in Hogwarts sind, dann kannst du vergessen, wie gemein Petunia immer zu dir ist und dann wirst du endlich erkennen, wie viel Spaß Magie machen wird. Wenn du dann zu Weihnachten nach Hause fahren wirst, dann kannst du deiner Schwester alles erzählen und dann wird sie dich um Vergebung anflehen.“ Natürlich glaubte er nicht daran, dass Petunia Evans ihre Schwester jemals wieder so behandeln würde, aber um Lilys Willen tat er zumindest so. Das musste reichen. Mit der anderen Hand popelte er in einem Loch in seinem Turnschuh und zerfranste den Stoff ein wenig mehr.
„Meinst du echt?“, fragte die schluchzende Lily.
„Na klar.“
Lily wischte sich ein weiteres Mal über die Nase. „Ok, du hast Recht. Ich werde alles für Tuni aufschreiben, damit sie sieht, wie toll es ist, wenn ich eine Hexe bin, weil ich ihr dann bei allem helfen kann. Und dann kann ich ihr bestimmt die Haare so färben, wie Mama es ihr verbietet und dann wird sie mich wieder lieb haben.“
„Das ist ein toller Plan“, sagte Severus, auch wenn er ihr nicht sagte, dass sie in den Ferien nicht zaubern dürfte. Er wollte ihr noch nicht den Spaß verderben. Sie würde es sowieso bald herausfinden, sobald sie in Hogwarts ankämen. „Aber solche Verwandlungen sind schwer. Ich weiß nicht, ob wir die schon in der ersten Klasse lernen.“
Lily schob eine Lippe nach vorn. „Dann werde ich es mir eben selbst beibringen“, sagte sie trotzig. „Das kann ja nicht so schwer sein.“ Verschwunden war ihre Angst, die schlechteste Hexe in der Klasse zu sein, wenn es nur darum ging, Petunia zu beweisen, dass es toll sein würde, wenn sie eine Hexe als Schwester haben würde.
„Aber pass auf, dass du ihr die Haare nicht aus Versehen abzauberst“, warnte Sev und lachte.
„Das wäre bestimmt lustig“, kicherte Lily mit der Hand vorm Mund. „Auch wenn Tuni dann bestimmt jeden Grund hätte, sauer auf mich zu sein. Ich werde den Zauber einfach vorher an dir üben“, fügte sie breit grinsend hinzu.
Sev wurde ein wenig dunkler an den Wangen, als er sagte: „Ich will nicht dein Versuchskaninchen spielen.“
„Sei nicht so“, erwiderte Lily. „Es ist für einen guten Zweck!“
Der blasse Junge seufzte leise. „Ich kann es kaum erwarten, endlich richtig zaubern zu dürfen“, meinte er. „Ich werde total viele Zauber erfinden, die noch niemand vorher genutzt hat.“
„Das geht?“, fragte Lily mit großen Augen und lehnte sich etwas näher. „Wow!“
Severus nickte wichtig. „Es ist sehr schwierig, natürlich“, erklärte er gewichtig, „aber wenn man es will, dann kann man das schaffen. Wenn ich schon meinen Zauberstab hätte, dann könnte ich bestimmt schon längst meine eigenen Zauber nutzen.“
„Cool“, hauchte Lily beeindruckt. „Ich glaube, ich freue mich am meisten auf Zaubertränke.“ Nachdenklich tippte sie mit einem Finger an ihr Kinn. „Das ist wie Chemie, oder? Und auf Chemie hatte ich mich eigentlich in der Oberstufe so sehr gefreut. Gibt es auch Zauber-Biologie?“
„Nein“, erwiderte Sev lachend. „Sowas müssen wir nicht lernen.“
„Wieso nicht?“, fragte Lily.
„Naja. Wir brauchen es nicht, glaube ich.“
„Aber warum? Biologie ist doch wichtig! Was ist mit Mathe und Englisch?“
Severus schüttelte den Kopf. „Ich glaube, es gibt sowas wie Zauber-Mathe, aber das ist sehr kompliziert.“
Lily verschränkte die Arme und legte den Kopf schief. „Das ist ja komisch“, schloss sie. „Aber wie soll ich denn irgendwann arbeiten, wenn ich gar kein richtiges Englisch kann?“
„Ich“, fing Sev an, aber stockte, als ihm klar wurde, dass er keine richtige Antwort wusste. „Vielleicht brauchst du kein richtiges Englisch, wenn du als Hexe einen Job suchst. Es gibt immerhin ganz viele Jobs, für die man nur gut zaubern muss. Zum Beispiel Heiler! Das sind –“
„Oh, das sind die Zauber-Ärzte, oder?“, unterbrach Lily aufgeregt. „Ich glaube, sowas finde ich spannend. Meinst du, ich wäre eine gute Heilerin?“ Mit den Fingern tat das Mädchen so, als würde sie ein Stethoskop in den Ohren haben und versuchte Severus‘ Herzschlag zu messen.
Lachend wand er sich aus ihrem Spiel. „Ganz bestimmt“, sagte er. „Und ich werde ein angesehener Professor oder ein Erfinder.“
„Und wir sind dann immer noch Freunde, ja?“, fragte Lily. „Auch nach Hogwarts sind wir dann immer noch Freunde, nicht wahr, Sev?“
„Natürlich.“ Severus nickte eingehend und griff ein weiteres Mal nach Lilys Hand. Er ließ sich auf den Rücken nieder und starrte in die dichte Baumkrone über ihnen. Das Rascheln neben ihm verkündete, dass Lily sich ebenfalls hingelegt hatte. „Wir bleiben für immer die besten Freunde, egal was passiert.“
***
Die Winkelgasse war bespickt mit dutzenden magischen Läden, einer ganzen Menge an erwachsenen Zauberern und Hexen und voll mit Kindern, die sie das erste Mal betraten. Ein schneeweißes, marmornes Gebäude thronte über alle anderen Läden auf, die Zaubererbank Gringotts. In den etlichen Läden tummelten sich Kinder mit ihren Eltern, suchten Bücher, Zaubertrankzutaten und Kessel aus, wurden von Quidditch-Zubehör abgelenkt oder bestaunten die Ratten, Kröten und Katzen in der magischen Menagiere.
Für James Potter war die Winkelgasse schon ein alter Hut. Er hatte die magische Einkaufsstraße zusammen mit seinem Vater sicherlich schon ein paar Dutzend Mal besucht, sei es um sich den neusten Rennbesen anzusehen (heute hatte sich eine schaulustige Menge vor dem Quidditch-Laden versammelt und bestaunte den neuen Kometen) oder um mit ihm Geld von der Bank zu holen und wichtige Geschäfte zu erledigen, damit er danach einen Eisbecher bei Florean Fortescues Eissalon bekommen würde. James hatte sich an den ganzen Geschäften schon fast satt gesehen, trotzdem konnte selbst er nicht verhindern, dass er vor Aufregung auf und ab wippte, als sie vor dem Zauberstabladen stehen blieben. In goldener, abblätternder Farbe stand dort Ollivander geschrieben. Ollivander kannte James bereits, der alte Zauberstabmacher hatte seine Eltern ein paar Mal besucht, wann immer sie Angelegenheiten von ihrer Arbeit mit ihm klären mussten. Noch hatte James keinen eigenen Zauberstab, aber das würde sich heute ändern!
„Gehen wir jetzt endlich rein, ja?“, fragte James zum dritten Mal in fünf Minuten.
„Gleich, Schatz“, antwortete seine Mutter. Euphemia Potter hatte ein herzförmiges und außerordentlich freundliches Gesicht. Ihre einstige Schönheit war mit einigen Falten durchzogen und ihr rabenschwarzes, ordentlich zusammengefasstes Haar wies einige graue Strähnen auf. In ihren hellblauen Augen glänzte es, als wäre sie noch immer eine jugendliche Hexe, die das erste Mal allein unterwegs war.
„Ollivander hat noch einen Kunden“, fügte sein Vater ein weiteres Mal an. Fleamont Potter sah man das Alter deutlicher an als seiner Frau. Seine Haut war blasser als früher und wirkte fast wie feuchtes Pergament. Seine Haare waren zwar noch immer kräftig und dick, aber dafür waren sie fast gänzlich ergraut und auch seine Augen waren nicht mehr so stark wie früher. Eine Lesebrille hing an einer feinen, goldenen Kette um seinen Hals. Trotzdem verwuschelte er mit einer Hand die Haare seines Sohnes neben ihm. „Gedulde dich noch ein wenig, James.“
James tat sein Bestes, um geduldig zu sein, aber er konnte es einfach kaum abwarten, endlich seinen eigenen Zauberstab zu bekommen. Seinen Eltern war er wie aus den Gesichtern geschnitten. Er hatte ihr gleiches, pechschwarzes Haar, dir gleichen großen Ohren und die gleiche Kopfform. Seine Augen, die hinter einer eckigen Brille versteckt waren, waren haselnussbraun und wenn man den Jungen auch nur fünf Minuten kannte, dann wusste man, dass das schelmische Glitzern in ihnen nicht nur von den Sonnenstrahlen kamen. Man konnte den einzigen Sohn der Potter-Familie nicht aus den Augen lassen, andernfalls musste man damit rechnen, dass in einem Nebenzimmer alsbald eine Vase zerbrechen oder eine Stinkbombe hochgehen würde. Streiche spielen und für Chaos sorgen lagen dem Jungen im reinen Blut.
Durch das schmutzige, staubige Schaufenster konnte James nicht viel erkennen. Ein verlassener Tresen und deckenhohe Regale füllten das Geschäft, aber von Ollivander selbst war keine Spur zu sehen. Dafür stand eine korpulente, schwarzhaarige Frau mit aufrechtem Kinn mit dem Rücken zu ihnen, die einen ebenso dunkelhaarigen Jungen an der Hand hielt. Anders als James konnte dieser sich beherrschen und stand still wie eine Statue. Durch den Schmutz am Fenster konnte James keins der Gesichter ausmachen, sodass er nicht wusste, ob er diese Leute vielleicht schon mal getroffen hatte oder nicht. Seine Eltern kannten sehr viele Leute.
„Wir müssen danach noch einmal zu Gringotts“, sagte Fleamont zu Euphemia. „Ein bisschen Taschengeld abheben.“
Euphemia nickte. „Stimmt.“ Sie schielte genau wie ihr Sohn in den Laden. „Weißt du was, warum gehst du nicht schon zur Bank und James und ich warten hier? So wie es aussieht, dauert es noch ein Weilchen.“
„Also gut“, erwiderte Mr. Potter nachdenklich. „Vielleicht mache ich auch noch einen Abstecher im –“
„Kein Nachmittagstrunk für dich“, sagte Euphemia mit Nachdruck in der Stimme und ihr Mann, obwohl er einen guten Kopf größer war, sank zusammen.
„Natürlich nicht, Liebes“, murmelte er. „Also dann.“ Er drückte seiner Frau einen flüchtigen Kuss auf die Wange, wuschelte seinem Sohn durch das ohnehin zerzauste, rabenschwarze Haar und verschwand dann in der Menge auf dem Weg zur Bank.
„Was ist ein Trunk?“, fragte James, kaum dass sein Vater außer Hörweite gewesen war.
„Etwas für Erwachsene, Liebling“, sagte seine Mutter. „Darüber musst du dir noch keine Gedanken machen, erst einmal kümmern wir uns um – ah.“ Euphemia stockte.
James Folgte dem Blick seiner Mutter und erkannte, dass die Frau im Laden sich umgedreht und auf den Weg zur Tür gemacht hatte. Er kannte weder sie noch ihren Sohn. Als die kleine Klingel über der Tür läutete, bemerkte er, wie die Hand seiner Mutter, die zuvor sanft auf seiner Schulter gelegen hatte, sich anspannte und etwas fester in den Stoff seines T-Shirts drückte.
„Ach.“ Die andere Frau hatte das Kinn gereckt, kaum war sie aus dem Laden getreten und blickte Euphemia von oben herab an, obwohl sie dieselbe Größe haben mussten. Ellbogenlanges, nachtschwarzes Haar hing der Frau wie ein dunkler Schleier über den Rücken und in ihr teures Kostüm waren unzählige silberne Stickereien genäht worden, die allesamt Symbole darstellten, die James nicht kannte. Sie hatte ein sehr strenges Gesicht, mit den Lippen zu einer dünnen Linie gezogen und tiefen Furchen im Gesicht, besonders rundum die Augen, die ihr einen sehr aggressiven Blick gaben. Eine Hand hatte sie, ebenso wie Euphemia, an der Schulter ihres Sohnes, allerdings kaum mit derselben Fürsorge und Liebe, wie die Mutter von James es tat. Die andere Frau hatte ihre langen, spitzen Nägel im Stoff des Umhangs vergraben, den der Junge trug, sodass angespannte Falten über seine gesamte Schulter krochen. „Euphemia“, sagte die Frau mit träger Stimme. Es war keine angenehme Stimme.
„Walburga“, nickte Euphemia knapp zurück. „Und das muss dein Sohn sein, nehme ich an.“
„Mein Ältester, ja. Er hat gerade seinen Zauberstab gekauft.“ Während Walburga sprach, bohrten sich ihre Nägel noch ein wenig tiefer in den Umhang ihres Sohns.
James fing den Blick des anderen Jungen auf und obwohl er ihn nicht kannte und sich schon fast denken konnte, dass seine Mutter nicht sehr gut auf die andere Frau namens Walburga zu sprechen war, schenkte er ihm ein aufmunterndes Grinsen, dass der Junge sofort erwiderte. Die scharf geschnittenen Augenbrauen des anderen Jungen zogen sich in die Höhe und seine Augen, die von einer sturmgrauen Färbung waren, blitzten in der Sonne auf, als wolle er mit leicht bissiger Stimme sagen: „Eltern, hab ich Recht?“
„Wie schön“, meinte Euphemia. „James wird seinen jetzt auch bekommen, nicht wahr, James?“
Abgelenkt von dem Grinsen des anderen Jungen, bekam James einen Moment zu spät mit, dass seine Mutter mit ihm gesprochen hatte. Walburga bemerkte es ebenfalls und als die das Grinsen auf seinem Gesicht sah und dann ihrem Sohn in die Augen sah, verhärtete sich ihre Miene noch mehr. Als würde sie den Jungen an der Leine halten, zog sie etwas zu kräftig am Kragen seines Umhangs, um ihn enger zu sich zu holen, bevor sie sagte: „Wir wollen nicht stören. Komm, lass uns deinen Vater finden.“ Ohne ein Wort des Abschieds wandte Walburga sich um und zog ihren Sohn durch die Menschenmenge.
„Der arme Junge“, murmelte Euphemia etwas benebelt, bevor sie rigoros den Kopf schüttelte und ein Lächeln aufsetzte. „Das war Walburga Black“, erklärte sie James. „Eine sehr reiche und sehr mächtige, aber auch wahnsinnig eitle und – ich mag es kaum sagen – boshafte Frau. Du tätest gut daran, dich von ihr und ihren Kindern fernzuhalten. Die Familie Black hat es sich seit Langem zur Aufgabe gemacht, es allen anderen so schwer wie möglich zu machen, sollten sie ihr ein Dorn im Auge sein.“
„Aber“, fing James an und dachte an den anderen Jungen, der aussah, als hätte er liebend gern mit James getauscht.
„Kein Aber, Schatz. Jetzt komm, dein Zauberstab wartet.“ Mrs. Potter schubste ihren Sohn sanft zur Ladentür.
Obwohl James noch an den Blick des anderen Jungen denken musste, fegte er seine Idee für den Moment beiseite, dass er sich auf jeden Fall mit ihm anfreunden sollte, sollten sie sich in Hogwarts treffen und betrat erwartungsvoll und hibbelig den Laden. Die Messingklingel über ihren Köpfen gab erneut einen hellen Ton von sich.
Eine halbe Stunde später umklammerte James mit beinahe ehrfürchtigem Blick eine längliche Schachtel aus schwarzem Material in den Händen. Sein ganz eigener Zauberstab war darin in Samt gebettet – ein Stab aus Mahagoni, sehr elastisch und biegsam, elf Zoll lang. Auch wenn ihm nicht klar war, was all diese Eigenschaften bedeuteten, wusste er, dass das der beste Stab aller Zeiten war. Immerhin war es seiner und seine Mutter hatte den Stab für ihn gekauft, was sollte er sonst sein? Ein breites Grinsen klebte auf seinen Lippen.
„Meine Güte“, murmelte Euphemia kichernd, als sie ihren Sohn durch die verwinkelte Gasse lotste.
Fleamont hatte sie vor dem Geschäft wieder getroffen, einen kleinen Lederbeutel in den Händen, der fröhlich klimperte und nur darauf wartete, ausgegeben zu werden. Jetzt sagte er: „James, mein Junge, du kennst die Regeln, dass du noch keinen Besen mit zur Schule nehmen darfst.“ Der wesentlich kleinere Junge machte ein Schmollgesicht und seine Mutter lachte erneut. „Na, na, wer wird denn da traurig sein?“
„Aber ich wollte doch Quidditch-Kapitän werden!“, sagte James, der seinen Zauberstab nun an die Brust klammerte und fest an sich drückte, als hätte er Angst, die Schachtel könnte jeden Moment davonhüpfen.
„Immer mit der Ruhe, mein Sohn“, erwiderte Fleamont lächelnd, die Fältchen rund um seinen Mund und die Augen traten dabei besonders hervor. „Du wirst schon deine Chance bekommen, keine Sorge, aber für dieses Jahr haben deine Mutter und ich beschlossen, dass wir dir zum Schuljahresstart ein Haustier kaufen. Eine Eule oder eine Katze, du darfst aussuchen.“
„Wirklich, echt? Ich darf ein Tier haben?“, fragte James mit sich überschlagender Stimme. Er stolperte fast, als er ein paar Schritte vor seine Eltern rannte. „Ich will eine Eule! Dann kann ich euch immerzu schreiben, wenn ich will.“
„Eine hervorragende Wahl“, sagte Euphemia, die ebenfalls über den Enthusiasmus ihres Sohnes lächelte. „Und wenn du Heimweh bekommst, kannst du die Eule immer zu uns schicken und ich schreibe dir einen ganz langen Brief.“
James zog eine Grimasse. „Ich werde doch kein Heimweh bekommen“, sagte er bestimmt. „Ich bin schon bald elf!“
„Auf dem besten Weg ein Mann zu werden“, stimmte Fleamont zu.
Euphemia hingegen seufzte. „Aber du wirst immer mein kleines Baby bleiben, James, unser ganz persönliches Wunder.“ Sie strahlte ihren Sohn an. „Aber sehr wohl, wenn du sagst, du wirst kein Heimweh haben, dann glaube ich dir natürlich. Du kannst uns trotzdem jederzeit einen Brief schicken.“
„Das mache ich“, sagte James nickend. „Ich werde euch von all meinen Freunden und Abenteuern erzählen.“
„Darauf freue ich mich schon“, erwiderte Mrs. Potter mit einer unbestimmten Sehnsucht in der Stimme. Es fiel ihr nicht einfach, darüber zu reden, dass ihr einziger Sohn schon bald für mehrere Monate nicht mehr Zuhause sein würde. Sie setzte ein freudiges Lächeln auf, als James das Eulenkaufhaus erreichte und nur darauf wartete, dass seine Eltern endlich mit ihm eintreten würden.
***
Das gar noble und ehrwürdige Haus der Blacks stank nach Dung. Normalerweise roch es nicht so, das war klar, wehte doch immer ein leichter Zederngeruch durch die dunklen Hallen, für den die Hauselfen verantwortlich waren. Obwohl ein gutes Dutzend abgetrennter Hauselfenköpfe die Flurwände zierten und düstere, flüsternde Portraits eine unheimliche Atmosphäre in die Gänge zauberten, so konnte man nicht umhin, als das Black-Haus als ein wahres Ebenbild des magischen Adels zu betiteln. Hohe, schmuckbesetzte Fenster und silber-verzierte Tapeten an den Wänden, Türen aus dem bestem Mahagoni- und Schwarzeichenholz, gefräst und geschnitzt, als wären sie direkt aus einem Königshaus entnommen worden, teure, weiche, blutrote Teppichböden, die jeden noch so lauten Schritt dämpften und feinstes, poliertes Parkett, das wiederum jede noch so kleine Berührung in dutzenden Wellen durchs Haus hallen ließ; Grimmauldplatz Nummer 12 war ein Ort voller Magie, voll mit antiker Geschichte und einem Familienstammbaum, der sich in hunderte Zweige teilte.
Der Verursacher des unangenehm brennenden Dunggeruchs, ein schwarzhaariger Junge mit sturmgrauen Augen und einem viel zu losen Mundwerk, versteckte sich unter einer teuren, massiven Holzkommode im ersten Stock, während die aufgebrachte Stimme seiner Mutter wie eine Furie durchs Haus peitschte.
„Sirius Orion Black!“, schrie die alte Hexe, aber klang dabei etwas gedämpft, als würde sie durch einen dicken Schal sprechen. „Wenn ich dich in die Finger bekomme!“
Für sein Alter war Sirius sehr talentiert. Gerade erst mit einem Zauberstab ausgestattet, hatte er sich bereits beigebracht, wie er einen Klebe- und Tarnzauber auf seine Dungbomben anwenden musste, damit seine Eltern diese nicht sofort entfernen könnten. Es hatte einige Fehlschläge gegeben, bevor der Junge den Kopfblasenzauber hinbekommen hatte, aber jetzt konnte er sich unter der Kommode verstecken und Frischluft atmen, während das ganze Haus um ihn herum mit dunstigem Gas gefüllt wurde.
„Sirius!“, rief nun auch die Stimme seines Vaters durchs Haus. Er musste irgendwo im Untergeschoss sein, dachte der Junge keifend, wo direkt drei der stinkenden Geschenke versteckt unter dem Schreibtisch lagen.
Sirius wusste, dass er dafür heftig bestraft werden würde. Das letzte Mal hatte sein Vater ihm angedroht, einen Unverzeihlichen Fluch anzuwenden, sollte er noch einmal danebentreten und obwohl ihn die Vorstellung manchmal um den Schlaf raubte, so konnte Sirius doch nicht anders, als Unfug anzustellen. Es war meist seiner Langeweile geschuldet, dass er die Bestrafungen in Kauf nahm. Das Haus der Blacks mochte vor antiker Magie und Geschichte nur so überquellen, allerdings war es auch der reinste Stimmungstöter eines jeden Kindes. In den düsteren Hallen konnte man nicht herumrennen und es gab keinen Garten mit mannshohen Hecken, in dem Sirius hätte Besen fliegen können. Die einzige Unterhaltung, die Sirius außer der Bibliothek hatte (in der er allein nicht mehr durfte, nachdem er alle wichtigen Dokumente seines Vaters durcheinander gebracht hatte), war sein jüngerer Bruder, Regulus. Aber wo Sirius ein großer Rebell war und nur zu gerne die aufgebrachten Gesichter seiner Eltern aus dem Schatten seines Verstecks beobachtete, war Regulus das komplette Gegenteil. Reg hatte noch nie eine einzige Regel gebrochen. Er benahm sich immer wie der perfekte Vorzeigesohn, ein feiner Prinz, den Walburga und Orion Black den anderen Verwandten immer wieder präsentierten und mit stolzer Stimme von all seinen Fähigkeiten berichteten, während sie Sirius ein weiteres Mal befohlen hatten, sich aus Ärger herauszuhalten.
Ärger war – zumindest wenn es nach ihm gehen würde – sein zweiter Vorname. Egal, was Sirius tat, es endete in Chaos und seiner schreienden Mutter. Mittlerweile war der Junge an einem Punkt angelangt, an dem es ihm nicht einmal mehr leidtat, dass er für die frühzeitig ergrauten Haare seiner Eltern verantwortlich war. Es war immerhin ihre Schuld, dass er ein schreckliches Leben führen musste. Wenn er nicht gerade einen weiteren Streich ausheckte, musste er stundenlang im Salon verbringen und den Flügel spielen oder auf seiner Violine üben, bis seine Finger bluteten. Es gab keine Pause für Erben. Pausen, so sagte Walburga immer, wenn Sirius sie anflehte, seien etwas für Muggel. Und wenn es etwas gab, dass Walburga und Orion Black mehr hassten als die Streiche ihren rebellischen Sohnes, dann waren es Muggel.
Grimmauldplatz war einst ein Hochgebiet der Magie gewesen. In jedem Haus hatte es eine andere Zaubererfamilie gegeben, eine mächtiger und älter als die andere, mit den Blacks an der Spitze, aber mit der Zeit hatten sich diese Familien immer weiter auseinander gelebt und die reinen Prinzipien ihres Blutes vergessen. Sie hatten sich mit Halbblütlern und Muggeln eingelassen und das reine Blut der Familie verunreinigt, sodass man sie aus dem Viertel gejagt hatte. Es musste Ironie des Schicksals gewesen sein, als Familie Black die letzte Zaubererfamilie im Grimmauldplatz gewesen war, und die Häuser ringsum von den Muggeln Londons besetzt wurden. Das war noch vor Orion und Walburgas Zeit gewesen, lange bevor ein Sirius Black die dunklen Hallen in Aufruhr versetzte hatte. Dutzende, uralte Zaubersprüche wurden damals über das Haus gelegt und heute war es den Augen der Unwürdigen verborgen; nur jemand, der wusste, wo sich Grimmauldplatz Nummer 12 befand, würde es auch sehen und betreten können. Für alle anderen fehlte es in der Häuserreihe.
Passend, fand Sirius immer wieder, fühlte er sich doch auch vor der ganzen Welt versteckt gehalten. Selbst der Besuch in die Winkelgasse, etwas, dass für ihn wie ein kleines Wunder gewesen war, war nur mit dem Schatten seiner Mutter im Nacken möglich gewesen, die wie ein aggressiver Wachhund nie von seiner Seite gewichen war. Er hatte noch immer roten Flecken an der Schulter, dort wo die spitzen Nägel von Walburga seine Haut durchbohrt hatten. In der Winkelgasse hatte Sirius das erste Mal andere Kinder in seinem Alter gesehen, von denen er nicht den Namen, Blutstatus und Familienverwandtschaft auswendig kennen musste. Zwar waren sie auch seiner Cousine Narzissa und ihrem schrecklich snobbigen Freund Lucius Malfoy über den Weg gelaufen, aber es musste ein wahrhaft glücklicher Tag für Sirius gewesen sein, denn keiner der beiden hatte weder ihn noch seiner Mutter entdeckt. Narzissa und Lucius waren mit Adleraugen auf die Umgebung in die schmutzige Nokturngasse abgebogen. Trotz der Affinität seiner Familie mit schwarzer Magie, hatte Sirius die Nokturngasse noch nie besuchen dürfen. Vielleicht war es der klägliche Versuch, ihre Söhne vor den ruchlosen Machenschaften in den dunklen Straßen zu schützen, aber Walburga Black hatte sowohl Sirius als auch Regulus ausdrücklich verboten, jemals einen Fuß dorthin zu setzen und sollten sie sich widersetzen, so würde sie schwerwiegende Konsequenzen einleiten müssen. Das Verbot, die Hogwarts-Schule zu besuchen, war noch das geringste aller Übel und so hatte Sirius sich widerwillig an die Regel seiner Mutter gehalten, obwohl es ihn in seinen rebellischen Fingern jucke, der düsteren Gasse einen Besuch abzustatten. Irgendwann, so hatte Sirius der Gasse versprochen, würde er sie betreten können.
Ein weiteres Mal hallte der laute Schrei seiner Mutter durchs Haus, ein wahnwitziges Echo ihrer noch wahnsinnigeren Stimme. „Sirius Orion Black, komm sofort heraus, ansonsten sind die Konsequenzen unverzeihlich!“, keifte Walburga.
Obwohl er wusste, dass seine Mutter nicht zu Scherzen aufgelegt war, konnte Sirius nicht anders, als lauthals zu lachen – ein großer Fehler, wie er Sekunden später bemerkte. Zwei schlurfende, schmutzige Füße kamen vor der Kommode zu stehen, unter der Sirius hockte und einen Augenblick später ätzte die Stimme eines Hauselfen durch das Zimmer – der schlimmste von allen, wenn man nach Sirius‘ Meinung fragen würde. „Kreacher hat den jungen Master Sirius gehört“, sagte Kreacher mit langen Vokalen und nasaler Stimme. Der Hauself hatte sich noch immer nicht gänzlich von dem Kältezauber erholt, den Walburga ihm aufgedrückt hatte, als Kreacher das Essen ein paar Minuten zu spät serviert hatte. Sirius konnte Kreacher laut schniefen hören, als der Hauself den Schnodder in seiner Nase hochzog. „Master Sirius kann sein Versteck jetzt verlassen.“
„Verschwinde, Kreacher“, zischte Sirius so leise er konnte. „Du verrätst mich noch.“
„Kreacher ist untröstlich“, erwiderte der Hauself und Sirius konnte anhand der Schattenspiele auf dem Boden nur ahnen, dass er sich verbeugt hatte. „Die Mistress hat es Kreacher befohlen, den jungen Master Sirius zu suchen und wenn Kreacher ihr nicht sagt, wo der junge Master sich versteckt hält, dann wird Kreacher bestraft werden. Kreacher tut es sehr leid.“ Ein Knall und im nächsten Moment war Kreacher verschwunden.
Sirius fluchte lautstark, ein Muggelschimpfwort, dass er aufgeschnappt hatte, als er die Nachbarskinder beim Spielen aus seinem Fenster heraus beobachtet hatte. Seine Mutter würde ihm den Mund auswaschen, würde sie ihn so reden hören. Der Junge krabbelte unter seinem Versteck hervor und seine Augen huschten im Zimmer hin und her, um einen Fluchtweg oder ein neues Versteck zu finden, doch noch bevor er eine Seite des Raumes untersucht hatte, wurde die Tür mit einem lauten Knall aufgestoßen.
Walburga sah aus, als wäre ihr eine Fledermaus ins Gesicht geflogen – ihre Haare waren zerzaust worden, als sie sich offensichtlich das dunkle Tuch vom Kopf gerissen hatte, dass sie wie eine Maske vor den Mund hielt und ihre Augen versprühten Zorn. „Da bist du ja“, zischte sie angriffslustig und ging einen großen Schritt auf Sirius zu, Kreacher direkt hinter ihr, die langen Ohren ängstlich angelegt und die tennisballgroßen Augen zugekniffen. Walburga griff nach vorn und ihre spitzen Fingernägel bohrten sich erneut tief in Sirius‘ Haut.
Trotz der Schmerzen verzog er keine Miene. „Was ist denn, Mutter?“, fragte er mit Engelsunschuld in der Stimme. „Ist es denn schon Zeit für den Tee?“
Ein Schnauben wie bei einem tonnenschwerem Ackergaul entkam Walburga. Ihre Nasenlöcher blähten sich wie die Nüstern eines Drachen auf und Sirius glaubte fast, sie würde jeden Moment Feuer spucken. Als sie ihren Mund öffnete, entkamen ihr allerdings keine Flammen, sondern peitschende, giftige Wörter. „Dir wird das Lachen noch vergehen, Sirius“, zischte sie leise, ihre kleinen schwarzen Augen auf ihren Sohn gerichtet. „Du kannst versuchen, uns so viele Streiche zu spielen, wie du willst, aber es wird der Tag kommen, an dem du erkennen wirst, dass es unter deiner Würde ist, deine Zeit so zu verschwenden. Stattdessen wirst du mit Freuden an den Traditionen und Werten unserer ehrwürdigen Familie teilhaben.“
„Ist das zufällig auch der Tag, an dem dein Bildhauer wieder im Land ist, um dein Gesicht neu zu meißeln?“, fragte Sirius mit hochgezogenen Augenbrauen, noch bevor er sich hätte daran hindern können. Er zählte die Sekunden zum Ausbruch.
Walburga lief erst purpurn an, bevor sie kreischte: „In dein Zimmer, sofort! Und lass dich den Rest der Woche nicht mehr bei uns blicken!“ Sie fuhr herum und riss dabei rote Striemen über Sirius‘ Oberarm. Zu Kreacher sagte sie: „Bring ihm kein Essen, Kreacher“, dann marschierte sie mit lauten Hacken aus dem Zimmer und warf die Tür mit einer solchen Wucht hinter sich ins Schloss, dass etwas Staub von den Stuckrändern rieselte.
„Ja, doch, Miss, ihr Wunsch ist mein Befehl“, murmelte Kreacher mit geschlossenen Augen, verbeugte sich in niemandes Richtung und verschwand einen Augenblick später mit einem weiteren Knall.
Sirius atmete tief aus und schloss die Augen. Es war eine Sache, sich einen Spaß zu erlauben und Dungbomben im ganzen Haus losgehen zu lassen, aber es war eine gänzlich andere, seiner Mutter eine Beleidigung ins Gesicht zu werfen. Er wusste, dass er zu weit gegangen war und mit ein paar Tagen auf seinem Zimmer wäre das nicht vergessen. Sein Vater und der Gürtel würden ihn heute noch besuchen, das stand fest. „Dreckiger Drachenmist“, murmelte der Junge, bevor er das Zimmer ebenso verließ, den Flur entlang ging und sein eigenes Zimmer betrat. Er ließ die Tür zufallen und warf sich aufs Bett, das unter seinem Gewicht ächzte.
Sirius zählte sehnsüchtig die Tage, bis er Grimmauldplatz Nummer 12 endlich verlassen durfte.
Chapter 2: 2. Jahr 1: Der große Tag des Sprechenden Hutes
Chapter Text
Hope Lupin bestaunte die eiserne, kobaltblaue Dampflok mit noch größeren Augen als ihr Sohn es tat. Gleis 9 ¾ war ein überfüllter Haufen an aufgeregten Erstklässlern, gestressten Eltern und schreienden Haustieren. Ältere Schüler drängten sich auf der Suche nach ihren Freunden und Klassendameraden durch die Menge, Bahnangestellte schoben Wagen voller Koffer und Käfige durch die Gegend und schneeweißer Dampf, der aus dem Schornstein am Kopf des Zuges quoll, vernebelte die Sicht, sodass ein Großteil des Schauspiels wie aus einem Schwarz-Weiß-Film aussah.
Auch ohne die vielen Beschilderungen, die überall am Gleis und am Zug selbst angebracht waren, hätte Remus Lupin erkannt, dass es sich hierbei um den legendären Hogwarts-Express handelte. Ein ganzes Kapitel in Eine Geschichte Hogwarts‘ war der blauen Lok gewidmet und sein Vater hatte immer nur in den höchsten Tönen von der stundenlangen Zugfahrt gesprochen, die alle Schüler von London an einmal quer durchs britische Königsreich führen würde. In echt war die Dampflok noch schöner, als Remus es sich hätte jemals vorstellen können. Das Hogwartswappen, eine Art Schild, das in vier Sektoren unterteilt wurde, prangte an der Spitze des Zuges und an den Seiten der vielen Wagons. Hunderte breite Fenster gaben den Blick auch vom Gleis aus in den Zug preis, wo ein Abteil an das nächste gereiht war, gespickt mit smaragdgrünen Sitzbänken und eigenen Schiebetüren aus Glas.
„Ist das nicht aufregend, Remus?“, fragte Hope mit zittriger Stimme. Sie hatte eine Hand in den Stoff von Remus‘ Umhang gegraben, als wolle sie ihren Sohn noch nicht so recht ziehen lassen. „Du wirst wie alle anderen Kinder endlich auch nach Hogwarts fahren!“
Remus Lupin war ein kleiner, schmächtiger Junge. Silbrige Narben drückten sich wie Bergketten auf einer Weltkarte aus seiner blassen Haut. Sie bedeckten seinen gesamten Körper und Remus war sich der neugierigen, unverhohlenen Blicke der anderen Gleisbesucher schmerzlich bewusst. Sein Versuch, sich in seinem Umhang noch kleiner zu machen, misslang. „Vielleicht hat Dad doch Recht“, sagte er mit leiser Stimme, wodurch er Hope zu einem überraschten Laut verleitete.
Seine Mutter ging vor ihm die Knie. „Sag sowas nicht, mein Liebling“, erwiderte sie resolut. Die blasse Haut, die sie an ihren Sohn weitergegeben hatte, sah bei ihr wesentlich gesünder aus und im Licht der vielen Bahnhofsleuchten und der Sonne, die durch das Glasdach schien, konnte man ganz leicht die bläulichen Adern hervorschimmern sehen. Ihre Augen war tiefbraun und groß, wie bei einem Reh, doch als sie Remus anblickte, hatte sie überhaupt keine Ähnlichkeit mehr mit einem sanften Waldtier, sondern vielmehr mit einem Feldwebel, der absolut keine Widerworte akzeptieren würde. Hope nahm die vernarbten Hände ihren Sohnes fest zwischen ihre Finger drückte sanft zu. „Du wirst die absolut wunderschönste Zeit in Hogwarts haben, das weiß ich einfach.“
„Wie weißt du das?“, fragte Remus.
„Dein Vater hat gesagt, Hogwarts ist das Beste, was einem Kind passieren kann, also glaube ich ihm“, sagte Hope. Sie selbst war nicht magisch und könnte Hogwarts nicht betreten, obwohl ihr Mann und ihr Sohn Zauberer waren. Alles, was sie über die magische Schule wusste, kannte sie aus Erzählungen ihres Ehemannes, Lyall, und aus den Büchern, die sie neugierigerweise aufgeschlagen hatte. Remus‘ liebste Gute-Nacht-Geschichte war lange Zeit Eine Geschichte Hogwarts‘ gewesen, als das Schloss für ihn selbst noch wie ein fernes Märchen schien. „Komm schon, Remus“, fuhr sie sanft fort. „Du wirst gleich in diesen Zug steigen und dann wirst du das allererste Mal in deinem Leben nach Hogwarts fahren und du wirst Freunde finden und Magie lernen und alles wird perfekt für dich werden. Du hast auch gelesen, was Schulleiter Dumbledore geschrieben hat; es gibt keinen Grund zur Sorge. Für dich wird genügend gesorgt sein und wenn selbst dein Vater sagt, dass an Dumbledores Worten selten etwas zu rütteln ist, dann haben wir nur noch mehr Grund, dem Schulleiter zu glauben, nicht wahr?“
„Aber Dad ist trotzdem dagegen“, murmelte der Junge, sodass seine Stimme beinahe im lauten Gekreische dutzender Katzen unterging. „Er sagt, es ist zu gefährlich für mich.“
„Das sagt er nur, weil er sich Sorgen um dich macht, mein Liebling“, antwortete Hope. „Du weißt doch, wie dein Vater ist. Er sorgt sich immer um dich, auch wenn es dir blendend geht. Nicht wahr?“ Als sie ihrem Sohn das erwartete Lächeln entlockt hatte, grinste Hope. „Na also. Komm schon, wenn du erst einmal die Schule erreicht hast, dann wirst du keine Zweifel mehr haben.“
Remus nickte vorsichtig. „Okay. Ich – Ich denke, du hast Recht.“ Er vermied es, seiner Mutter zu sagen, dass er große Zweifel hegte, Freundschaften zu pflegen, war er doch noch nie ein Kind mit Freunden gewesen. Remus kannte den Postboten ihres Dorfes besser als alle anderen Kinder. Trotzdem setzte er ein Lächeln auf, von dem er hoffte, dass es seine Mutter davon überzeugen würde, dass er es auch wirklich so meinte.
„Ich wusste es“, seufzte Hope und küsste die Stirn ihres Sohnes. Ihre Augen wurden plötzlich ganz verschleiert. „Oh, mein Remus“, sagte sie leise. „Du weißt gar nicht, wie sehr ich dich vermissen werde.“ Sie schlang die Arme um seinen schmalen Körper und drückte ihn mit einer Kraft an sich, die man der kleinen, zierlichen Frau gar nicht ansehen würde.
Etwas überfordert streichelte Remus seiner Mutter den Rücken. „Schon gut, Mama“, sagte er. „Ich werde dich auch vermissen. Und Dad auch.“
Hope drückte ihn von sich, ein strahlendes Lächeln auf den Lippen und Spuren von Tränen in den Augen. „Wir sehen uns ja an Weihnachten.“ Sie küsste ihn noch einmal auf beide Wangen, dann stand sie auf. „Und jetzt husch, bevor ich es mir anders überlege und dich hierbehalten werde.“
Remus lachte. Er ließ sich von seiner Mutter zu einer der Wagontüren begleiten, stieg auf die ersten Stufen und drehte sich noch einmal um. Die rötlichen Augen Hopes ließen ihn zwar unangenehm über ihre Schulter blicken, aber er umarmte seine Mutter trotzdem noch einmal und ließ zu, dass sie ihm ein paar weitere Küsse auf Stirn und Wangen drückte. „Ich hab dich lieb, Mum“, murmelte er in ihre Schulter.
„Und ich dich erst, mein Sonnenschein.“ Hope schob Remus sanft die letzte Stufe in den Zug hinein und ging dann einen Schritt zurück. „Du musst uns sofort schreiben, wenn du kannst, ja? Und mach dir nicht allzu viele Sorgen wegen Sonntagnacht, du weißt, dass Professor Dumbledore alles unter Kontrolle hat.“
„Ok“, konnte Remus nur antworten, bevor ein lauter Pfiff über den Bahnsteig fegte.
Hope Lupin warf ihrem Sohn noch ein paar Handküsse zu, dann trat sie weiter vom Zug zurück, Sehnsucht und Trauer und Freude in den Augen. So ungerne sie sich auch von ihrem einzigen Kind verabschiedete, umso glücklicher war sie doch, dass sie es überhaupt konnte.
Remus wandte sich um, als die Wagontür wie durch Zauberhand vor ihm zufiel und blickte den langen, schmalen Gang entlang. Er war einer der letzten, der den Zug bestiegen hatte und jetzt war er bereits vor der ersten, großen Hürde seines neuen Lebensabschnittes angelangt: einen Sitzplatz finden.
Mit vorsichtigen Schritten ging Remus den Gang entlang. Das Bahngleis 9 ¾ zog langsam an den Fenstern an ihm vorbei, als der Zug sich in Bewegung setzte und wurde prompt mit den weiten Wiesen Englands ersetzte. Remus wunderte sich nicht, wieso der Zug London so schnell verlassen hatte; er war mit Magie groß geworden und ein Zug, der eine große Entfernung in wenigen Sekunden übersprang, war definitiv nicht das unglaublichste, das er je erlebt hatte.
Die Abteile waren alle bereits belegt. Ältere Schüler in coolen Alltagsklamotten und entspannten Posen saßen auf den Polstern der Bänke und unterhielten sich über ihre Sommerferien, aufgeregte Erstklässler hibbelten wie losgelassene Flummibälle durch die kleinen Räumlichkeiten und eng umschlungene Paare hatten sich nach langen Wochen voneinander getrennt sein wieder zusammengefunden. Remus beäugte die knutschenden Teenager mit angewidertem Blick. Er fand es irgendwie eklig, wenn Leute sich in der Öffentlichkeit so küssten. Es war schon schlimm genug, dass er seine Eltern ständig dabei sehen musste.
Er zog weiter durch den Wagon. Fast am Ende stand eine Abteiltür weit offen und Stimmen drangen zu ihm.
„ – am besten nach Slytherin kommen“, sagte eine Jungenstimme aufgeregt.
„Slytherin?“ Ein anderer Junge hatte gesprochen. „Wer will denn schon nach Slytherin? Ich glaub, dann würd ich abhauen, du auch?“
Ein dritter Junge antwortete dem zweiten. „Meine ganze Familie war in Slytherin.“
„Oh Mann“, meinte der zweite Junge trüb, „und ich dachte du wärst in Ordnung.“
Remus konnte den dritten Jungen lachen hören. „Vielleicht brech ich mit der Tradition. Wo würdest du hinwollen, wenn du die Wahl hättest?“
„Gryffindor, denn dort regieren Tapferkeit und Mut!“ Es klang, als würde der zweite Junge ein Gedicht aufsagen, dass er auswendig gelernt hatte. „Wie mein Dad.“
Ein leises, abfälliges Geräusch schwang zu Remus in den Gang.
„Hast du ‘n Problem damit?“, fuhr der Junge denjenigen an, der das Geräusch verursacht hatte.
„Nein“, sagte nun die Stimme des ersten Jungen, ein Grinsen in die Stimme gebettet. „Wenn du lieber Kraft als Köpfchen haben willst –“
„Wo möchtest du denn gern hin, wo du offenbar nichts von beidem hast?“, warf der dritte Junge höhnisch ein und der zweite Junge brüllte vor Lachen auf.
Bewegung kehrte in das Abteil ein und das Rascheln von Kleidung verriet Remus, dass jemand aufgestanden war. „Komm, Severus, wir suchen uns ein anderes Abteil.“ Das war eine Mädchenstimme gewesen, die sehr angestrengt klang, als müsste sie sich zusammenreißen, in Zimmerlautstärke zu reden.
„Ooooooh…“ Die Stimmen der zwei anderen Jungen vermischten sich, als sie den Ton des Mädchens nachäfften. Ein Poltern folgte und im nächsten Moment kam ein rothaariges Mädchen durch die Tür geeilt, gefolgt von einem schwarzhaarigen, sehr blassem Jungen, der mehr aus dem Abteil stolperte als er lief. „Wir sehn uns, Schniefelus!“, rief der dritte Junge den beiden hinter.
Das rothaarige Mädchen hatte den Jungen mit der blassen Haut am Unterarm gegriffen und zog ihn jetzt mit sich vom Abteil weg. Keiner von beiden hatte Remus auch nur einen Blick geschenkt.
Remus war von dem kurzen Streitgespräch fasziniert gewesen. Unsicher lugte er um die Ecke der Tür und erblickte zwei weitere schwarzhaarige Jungen im Abteil, die immer noch triumphale Grinsen auf den Lippen hatten. Einer von beiden, einer mit sehr unordentlichem Haar und einer eckigen Brille, bemerkte ihn. Das Grinsen verging ihm, aber er fing sich schnell wieder. „Hey“, sagte der bebrillte Junge und stand auf. „Suchst du einen Platz? Hier ist gerade was freigeworden.“
Der andere Junge kicherte, bevor er sich ebenfalls umdrehte und zu Remus sah. Er hatte längere Haare als der Junge mit der Brille, fast bis zu den Schultern und einen ziemlich aggressiven, sturmgrauen Blick. Scharf geschnittene Augenbrauen wanderten in die Höhe, als er Remus‘ Narben betrachtete, die an seinen Händen, seinem Hals und in seinem Gesicht zu sehen waren. „Setz dich ruhig“, sagte er mit überraschend sanfter Stimme, den Blick nicht von einer besonders langen Narbe nehmend, die von Remus‘ linker Wange bis zu seinem Steißbein reichte. Das war eine seiner neusten Narben, deswegen war sie pink und stach viel eher von seiner Haut hervor, als all die anderen, silbrigen, die sich kaum von seiner Blässe unterschieden.
„Ich –“, fing Remus an, aber wusste nicht, was er hätte sagen sollen. Stattdessen murmelte er ein Danke, drängte sich durch die offene Abteiltür und setzte sich ans Fenster. Er mied die Blicke der anderen beiden Jungen. Die Art, wie sie saßen und sich präsentierten, wie sie ihm in die Augen gesehen hatten, wie sie das Kinn leicht angewinkelt in die Höhe und den Rücken komplett gerade hielten, verriet Remus alles, was er über sie wissen musste: Reiche, reinblütige Kinder, wahrscheinlich die Erben von mächtigen Familien mit noch mächtigerem Namen.
„Ich bin James Potter“, bestätigte der bebrillte Junge seine These.
„Sirius“, brummte der andere beinahe schon mürrisch.
James grinste ihn an. „Warum so mies drauf? Vermisst du den ollen Schniefelus oder deine liebliche, fürsorgliche Maman?“ Schalk blitzte hinter seinen Brillengläsern auf.
„Ach, zieh Leine“, sagte Sirius, konnte aber sein eigenes Grinsen jetzt nicht mehr verbergen. „Wozu musst du jedem deinen Familiennamen aufdrücken? Damit man dich auf Händen tragen kann wie ein kleiner Prinz?“
„Als ob du noch nie deinen immensen Reinblutvorteil genutzt hast, um zu bekommen, was du willst, eh?“ James lachte, als Sirius schuldig ertappt dreinblickte. Dann wandte er sich wieder an Remus, als wäre ihm jetzt erst eingefallen, dass er ja auch noch mit ihnen im Abteil sitzen würde. „Sorry, wie war dein Name gleich?“
„Oh. Ähm, Remus. Remus L-Lupin“, stammelte er, sich mehr als bewusst, dass er mit zwei sehr reichen Jungen im Abteil saß, deren Taschengeld mehr wert war als das gesamte Vermögen seiner Familie. Röte kroch ihm in die Wangen.
„Lupin… Lupin“, murmelte James. „Den Namen kenn ich, ich glaub mein Dad hat mal was von einem Lupin im Ministerium erzählt.“
„Mein Dad arbeitet in der Abteilung zur Aufsicht und Kontrolle magischer Tierwesen“, half Remus nach.
In James‘ Augen ging ein Licht auf. „Na klar! Er ist derjenige, der den Irrwicht von Strahtully in ‘ner Streichholzschachtel gefangen hat, nicht? Mein Dad hat in den höchsten Tönen von ihm geredet.“
Remus wurde warm im Gesicht. Die Geschichte mit dem Irrwicht musste er sich schon sehr oft anhören und hatte sie beinahe als angeberische Prahlerei seines Vaters abgeschrieben, aber zu hören, dass selbst ein reicher Erbe wie James Potter davon gehört hatte, erfüllte Remus irgendwie wie mit Stolz für seinen Vater. Er konnte ein Lächeln nicht ganz unterdrücken.
„He, er kann ja doch lachen“, meinte Sirius, der sich tief in seinem Sitz zurückgelehnt und die Arme hinterm Kopf verschränkt hatte. „Dein Vater ist wohl ‘ne große Nummer, was?“
„Kann sein“, erwiderte Remus. „Er redet nicht sehr viel von seiner Arbeit, ich glaube er denkt, ich bin zu jung, um das zu verstehen.“
„Ach, Eltern“, sagte James laut. „Die denken auch immer, sie wüssten am besten, was gut für uns ist. Meine Eltern weigern sich, mir etwas von ihrer Arbeit zu erzählen“, fügte er erklärend hinzu. „Sie glauben, es würde mich nur aufregen.“ Er verdrehte die Augen.
„Du Glücklicher“, murmelte Sirius zähneknirschend. „Ich wünschte, meine Alten würden mir nicht ständig erzählen, wie toll und großartig unser reines Blut doch ist.“ Er machte ein angewidertes Geräusch. „So rein kann das Blut gar nicht sein, wenn jeder in meiner Verwandtschaft einen Cousin heiratet. Wahrscheinlich sind wir alle irgendwelche Inzest-Geburten und können glücklich sein, wenn wir nicht mit zwanzig an Herzversagen sterben.“
James lachte lauthals und warf den Kopf in den Nacken. „Ist schon okay, Black“, meinte er nebensächlich klingend. „Ich verspreche dir, wir müssen nicht heiraten, immerhin sind wir auch sowas wie Cousins vierten Grades oder so.“
Sirius grinste schief, was seine Augen ebenso schalkhaft glänzen ließ wie die von James. „Du brichst mir das Herz, Potter. Hier bin ich und ich hatte schon meinen Antrag geplant, damit wir nach Hogwarts miteinander weglaufen können.“
„Du kannst Schniefelus fragen“, erwiderte James breit grinsend.
Jetzt war es an Sirius zu lachen. „Eher stürze ich mich jetzt aus dem offenen Fenster“, sagte er.
Ihre Unterhaltung wurde von einem lauten Rattern außerhalb der Abteiltür unterbrochen. Ein in die Jahre gekommener Wagen kam zum Vorschein, der von einer alten, rundlichen Dame geschoben wurde. Mit ihren knochigen Fingern schob sie vorsichtig die Tür auf. „Darf es für euch etwas vom Wagen sein?“, fragte sie mit einem sehr großmütterlichen Lächeln. Ihre Wangen glänzten rot.
James und Sirius sprangen sofort auf und – zumindest nach ihrer Bestellung zu schließen – kauften von allem etwas. Sie beluden die Sitze neben sich mit Bertie Botts Bohnen in allen Geschmacksrichtungen, Kesselkuchen, Schokofröschen, Kürbispasteten, eisgekühltem Kürbissaft, Bubbels bestem Blaskaugummi und noch mehr Süßkram, den Remus nicht einmal kannte. Als die beiden bezahlt hatten, wandte die Dame sich an Remus.
„Auch etwas für dich, Liebling?“
Bevor Remus allerdings hätte verneinen können, erhob sich Sirius erneut. „Er nimmt – das, davon zwei bitte und – und eine Packung von denen. Hier, passt so.“ Sirius drückte der alten Dame eine gold-glänzende Galleone in die Hand und drehte sich dann zu Remus um, dem er die gerade gekauften Sachen in den Schoß fallen ließ. Eine Flasche Kürbissaft, zwei Pasteten und eine Packung mit Schokofröschen.
„Das ist nicht –“, fing er an, aber Sirius unterbrach ihn lautstark.
„Du sahst aus, als könntest du was zu beißen vertragen“, meinte der Junge achselzuckend. „Außerdem ist es ja nicht mein Geld, sondern das meiner Familie. Die haben sich das ganze Gold jahrelang durch illegale Machenschaften und Erpressung angehäuft, ich finde es nur fair, wenn ich es jetzt nutze, um damit was Nettes zu tun.“
Remus starrte auf seinen Schoß. „Danke“, murmelte er leise.
„Das ist so herzallerliebst“, sagte James laut und tat so, als würde er sich Tränen aus den Augen wischen. „Du bist ein richtiger Samariter, Sirius!“ Er wollte sich dem anderen Jungen um die Arme werfen, aber dieser wich ihm grinsend aus.
„Setz dich hin, Potter“, erwiderte Sirius grinsend und mit vollem Mund. Er hatte einem der Schokofrösche den Kopf abgebissen und studierte nun die Karte, die in der Packung beigelegen hatte. „Morgana. Ich glaube, meine Familie ist mit ihr verwandt“, meinte er murmelnd, bevor er sie Remus entgegenhielt. „Sammelst du die Karten?“
Remus sammelte sie nicht, aber er nahm sie trotzdem entgegen. Die Karte fühlte sich warm zwischen seinen Fingern an, als hätte Sirius‘ Berührung sie in Brand gesteckt. Der Junge lächelte erneut in sich hinein. So seltsam der erste Eindruck der beiden Jungen auch gewesen war, umso besser war nun der zweite. Remus hatte noch nie jemanden wie Sirius Black getroffen – natürlich hatte er von den Blacks gehört. Jedes Kind, das mit Magie aufgewachsen war, hatte von den Blacks gehört. Wahrscheinlich war Remus‘ Vater nicht der Einzige, der ihm gesagt hatte, er solle sich von jedem Zauberer mit dem Namen Black fernhalten.
„Wie kann eine Familie wie deine einen Typen wie dich hervorbringen?“, fragte James und gab damit Remus‘ Gedanken eine Stimme. „Ich meine, Black. Da steckt schwarze Magie doch schon im Namen, oder?“
Sirius zuckte mit den Schultern. „Sie haben versucht mich zu erziehen, wie es sich für einen Black-Erben gehört, aber irgendwann war mir klar, dass das nicht richtig ist“, meinte er nonchalant. „Selbst die Strafen meiner Mutter konnten mich nicht daran hindern, ein kleiner Rebell zu werden.“ Seine Augen fielen für einen kurzen Moment auf Remus und blieben etwas zu lange an seinen silbernen Narben hängen, bevor er sagte: „Ich hab immer noch ein paar Narben davon.“
James verschluckte sich an seiner Bertie Botts Bohne. „Was?“, spuckte und hustete er, während Remus ihm vorsichtig auf den Rücken schlug. „Das ist ja –“
„Halb so schlimm“, meinte Sirius und fuhr sich durch die langen Strähnen. „Jetzt bin ich ja weg.“ Er seufzte leise, bevor er sich wieder an James wandte. „Hast du das letzte Quidditch-Spiel der Tornados mitbekommen?“
***
Peter Pettigrew versuchte nicht daran zu denken, wie sehr er sich vor der ganzen Schule blamieren könnte, wenn er zu lange auf dem Stuhl des Sprechenden Hutes saß. Obwohl er in einem Abteil voll mit gleichalten Mädchen stecke, die sich alle miteinander aufgeregt über das aufkommende Festessen, die Einteilung in die Häuser und die Schule an sich unterhielten, konnte Peter es nicht über sich bringen, mitzureden. Er war nervös und schwitzte ganz schrecklich. Ein feuchter Film bildete sich alle paar Minuten auf seiner Stirn und er versuchte sich jedes Mal unauffällig mit dem Ärmel abzuwischen.
Peter war ein pausbackiger Junge mit blonden Haaren, die ohne jede Ordnung auf seinem Kopf lagen und hellen, blauen Augen. Er hatte eine kleine Nase, außerdem waren seine Schneidezähne größer als der Rest. Seine Mutter nannte ihn deswegen immer Häschen.
Die Landschaft vor dem Fenster hatte er seit ein paar Stunden nicht mehr richtig mitbekommen. Alles schien wie ein viel zu schnell abgespielter Film abzulaufen, verschwommene Schemen und Farben, die sich wie ein einheitlicher Brei in seinem Hirn zusammenmischten. Er musste immer wieder an die Einteilung denken, die in ein paar Stunden stattfinden würde. Sein Vater war ein Gryffindor gewesen und seine Mutter eine Hufflepuff. Seine Schwester war eine Ravenclaw. Wenn sich der Hut einen Spaß mit ihm erlauben und ihn nach Slytherin stecken würde, damit seine Familie alle vier Häuser abgehakt hätte, dann würde er wahrscheinlich in Ohnmacht fallen. Er wollte nicht nach Slytherin, auf gar keinen Fall. Slytherin war laut seinen Eltern ein fieses Haus. Seine große Schwester sprach auch nicht in den höchsten Tönen von den Schlangen und selbst in Eine Geschichte Hogwarts‘ hatte sich die vorurteilhafte Meinung des Autors eingeschlichen und das Haus Salazar Slytherins als das unbeliebteste dargestellt, obwohl große Zauberer wie Merlin daraus entsprangen waren. Peter hatte, noch bevor er den Zug betreten hatte, den Entschluss gefasst, die Meinung des Sprechenden Hutes einfach nicht zu akzeptieren, sollte dieser ihn nach Slytherin stecken wollen. Wenn es sein musste, dann würde er den Hut einfach aufbehalten, solange bis er ihn in ein anderes Haus steckte.
Das Gesprächsthema der Mädchengruppe in seinem Abteil wandte sich von den Häusern zum baldigen Unterricht. Unterricht war noch etwas, das Peter nervös machte. In all seinen Versuchen, mit Magie etwas Vernünftiges und Gezieltes anzustellen, war er jedes Mal kläglich gescheitert. Seine Mutter hatte ihm gesagt, er solle nicht die Hoffnung verlieren und ihn daran erinnern, dass seine Schwester ebenfalls Schwierigkeiten mit den Anfängen gehabt hätte, aber jetzt Vertrauensschülerin und Klassenbeste war. Es waren große Fußstapfen, die Peter ausfüllen müsste, wenn er seine Mutter stolz machen wollte. Was würde es ihr bringen, wenn ihr Sohn nur mittelmäßig in der Schule abschnitt und ein passabler Zauberer war, wenn sie doch eine Tochter hatte, die in allen Fächern ein Ohnegleichen ablieferte und an der Spitze ihres Jahrgangs stand? Für Peter hatte der Schuldruck bereits angefangen, bevor er überhaupt einen Fuß in ebenjene Schule gesetzt hatte. Auf Hogwarts hatte er sich schon gefreut, seit er denken konnte, aber jetzt, da es wirklich so weit war, war er sich nicht mehr sicher, ob er bereit für all das war.
„Ich freue mich am meisten auf die Flugstunden“, sagte Dorcas Meadows, ein dunkelhäutiges Mädchen mit schwarzen Afrolocken und sehr warmen Augen. Sie redete sehr angeregt und gestikulierte viel mit den Händen, sodass sich das Mädchen neben ihr etwas in die andere Richtung lehnen musste, um nicht von einer fehlgeleiteten Hand erwischt zu werden. „Ich will auch so schnell wie möglich ins Quidditch-Team kommen.“
„Erstklässler werden nicht ins Team aufgenommen“, erwiderte Emmeline Vance. Sie war ein zierliches Mädchen, mit dünnen, braunen Haaren und einem unscheinbarem Gesicht. Ihre Wangen glänzten rot. „Mein Dad sagt, das sei seit hundert Jahren nicht mehr vorgekommen.“
„Dann breche ich eben mit der Tradition.“
„Was ist Quidditch?“, fragte Mary Macdonald mit verwirrtem Gesichtsausdruck. Um ehrlich zu sein, hatte Mary verwirrt dreingesehen, seitdem das Gespräch angefangen hatte. Mary war – wie sie mehrmals beteuert hatte – muggelgeboren und hatte absolut keine Ahnung von der Zaubererwelt. Sie war dunkelhäutig wie Dorcas und hatte ihre schwarzen Locken in zwei Zöpfe zusammengebunden.
„Ein Sport“, erklärte Dorcas ungeduldig. „Man spielt ihn auf Besen und es gibt – ach, nicht wichtig, das erklären wir dir, wenn es soweit ist, ja?“ Sie wandte sich wieder an Emmeline. „Du willst doch auch im Team mitspielen, oder nicht, Em?“
Auch wenn Peter meist nur mit halbem Ohr zugehört hatte, hatte er heraushören können, dass Dorcas und Emmeline sich bereits seit langer Zeit kannten. Anscheinend kannten sich ihre Mütter noch aus der Schulzeit oder so ähnlich, ganz genau hatte er es nicht verstanden.
„Wollen ja“, erwiderte Emmeline nickend. „Aber ich weiß, dass es nun mal die Regel gibt, dass wir das nicht vor dem zweiten Jahr dürfen.“
„Die Regel ist doof“, sagte Dorcas, als wäre die Diskussion damit beendet. „Worauf freust du dich denn am meisten, Mary?“
Das andere Mädchen tippte sich nachdenklich ans Kinn. „Nicht sicher“, meinte sie murmelnd. „So genau habe ich mir da noch gar keine Gedanken drüber gemacht. Aber wenn ich jetzt etwas sagen müsste, dann wahrscheinlich Verwandlung.“
Dorcas nickte. „Verwandlung finde ich auch spannend.“
„Mein Bruder Marek hat erzählt“, klinkte sich jetzt auch die vierte im Bunde ein, „dass Verwandlung von einer sehr strengen Frau namens McGonagall gelehrt wird.“ Das Mädchen hieß Marlene McKinnon, sonnengebräunte Haut mit dunkelblonden Haare, die weit über ihren Rücken gingen und sehr hellen, grünen Augen. Sie hatte ein rundliches Gesicht und eine Stupsnase, die ihr Ähnlichkeit mit einem Welpen gaben.
Mary fand die Idee von älteren Geschwistern, die bereits mit der Schule fertig waren und ein Leben in der Zaubererwelt führten, ungemein spannend. Mit glänzenden Augen wollte sie sofort wissen, was Marlenes Bruder denn machte, wie alt er war, welche Art von Magie er beherrschte und so weiter. Es war faszinierend, wie viele Fragen Mary in einem Atemzug aussprechen konnte.
„Er ist Fluchbrecher“, erklärte Marlene. „Zumindest Fluchbrecher in Ausbildung. Gerade ist er mit seinem Koboldlehrmeister in Nigeria unterwegs und sucht versteckte Schätze und sowas.“
„Wie cool“, sagte Mary, die sich auf ihrem Sitz vorgelehnt hatte. „Und hat er schon geheime Artefakte gefunden? Und Ruinen ausgegraben? Hat er Dinosaurierskelette entdeckt?“
Marlene lachte. „Du überschätzt, was ein Fluchbrecher wirklich macht. Meistens redet er nur mit den Leuten, die dort leben und sammelt Informationen und wenn er Glück hat, darf er mit Darruk auch mal in die bereits geleerten Ruinen gehen, aber ansonsten beschränkt sich seine Arbeit zurzeit sehr auf Papierkram.“
Enttäuscht, dass Marlene ihr keine spannenden Abenteuergeschichten erzählen konnte, ließ Mary sich wieder zurückfallen. Zur Überraschung aller, wandte sie sich zur Seite, an der Peter mit der Nase an der Fensterscheibe saß und fragte: „Was ist mit dir?“ Ihr Ton war freundlich und neugierig.
Peter schreckte zusammen. „M-mit mir?“, erwiderte er leise.
Mary nickte. „Hmhm. Wie ist deine Familie so?“
„Oh. Ähm.“ Peter bemerkte die Blicke, die Emmeline und Dorcas sich zuwarfen, als er stotternd nach einer Antwort suchte und sein Gesicht wurde heiß. „Ich – ich hab eine ältere Schwester“, brachte er hervor. „Phyllis. Sie ist jetzt in der Sechsten und zum zweiten Mal Vertrauensschülerin geworden.“
„Dann müssen deine Eltern bestimmt sehr stolz auf sie sein“, versuchte Dorcas sich an einer hilfreichen Antwort, auch wenn ihre Mundwinkel vor Belustigung zuckten.
Mary warf ihr einen giftigen Blick zu, bevor sie sich wieder zu Peter wandte. „Und deine Eltern sind auch magisch, ja? Was machen die so?“
Während Peter erklärte, dass er seinen Vater nicht mehr gesehen hatte, seit er fünf Jahre alt und seine Mutter jetzt erst wieder auf der Suche nach einem Job war, weil endlich beide Kinder nach Hogwarts fahren würden, bemerkte er, wie die Nervosität langsam von ihm abfiel. Vielleicht war es die Entspannung, mit anderen zu reden und die dunklen Gedanken an die Zukunft für einen Moment beiseitezuschieben, vielleicht war es auch Marys Plan gewesen, ihn von seinem Trübsal abzulenken, weil sie gemerkt hatte, wie er nervös und allein aus dem Fenster gestarrt hatte. Was auch immer es war, Peter war sehr dankbar, dass die Mädchengruppe ihn sofort mit in ihre Gespräche zog. Dorcas verlor das belustigte Zucken in ihren Lippen, wann immer Peter redete, und lachte stattdessen lautstark, wenn er etwas Witziges sagte.
Als es Zeit wurde, sich die Hogwarts-Umhänge anzuziehen, verließ Peter ehrenhaft für ein paar Minuten das Abteil und zog sich auf einer der Toiletten um, bevor er sich wieder an seinen Platz setzte. Die Nervosität und Aufregung hatte nun auch die anderen ergriffen. Mary friemelte geistesabwesend an einem losen Faden an ihrer Jeanshose herum und Dorcas und Emmeline waren in ein sehr leises, sehr geflüstertes Gespräch vertieft, die Augenbrauen zusammengezogen und Lippen zusammengepresst.
Lediglich Marlene sah so aus, als wäre sie die Ruhe selbst. „Ich mach mir keine großen Gedanken darum, in welches Haus ich komme“, sagte sie, als Peter sie fragte. „Mein Bruder war ein Ravenclaw, genau wie mein Vater, aber sie werden mich nicht gleich enterben, wenn ich in ein anderes Haus komme. Mein Vater hat mir sogar extra vor der Abreise zum wiederholten Mal erklärt, dass es auch okay wäre, wenn ich in Slytherin landen würde.“ Auf Peters überraschten Gesichtsausdruck hin lachte sie auf. „Ich weiß, so hab ich das erste Mal auch geguckt, aber er hat mir dann die Vorteile erklärt, die die Slytherin-Eigenschaften eigentlich bieten. Es gibt einfach zu viele blöde Vorurteile über die vier Häuser“, fügte sie an und lehnte sich mit verschränkten Armen zurück.
„Stimmt“, sagte nun auch Dorcas, die aus ihrer Unterhaltung mit Emmeline aufgetaucht war. „Nicht alle Ravenclaws sind Streber oder –“
„ – alle Hufflepuffs sind Loser“, endete Emmeline. Sie hatte einen sehr säuerlichen Gesichtsausdruck aufgesetzt. „Hufflepuff ist ein sehr gutmütiges Haus und jeder ist dort willkommen, aber das heißt nicht, dass es alles Loser sind!“
„Ems Eltern waren beide Hufflepuffs“, erklärte Dorcas leise an Peter, Mary und Marlene gerichtet. „Sie kann sehr verteidigend werden, wenn es um ihr Lieblingshaus geht.“
„Es ist nicht mein Lieblingshaus, vielen herzlichen Dank!“ Emmeline schmollte für einen halben Moment, dann grinste sie breit. „Auch wenn ich nicht Nein sagen würde, wenn der Hut mich nach Hufflepuff stecken will.“
Vor dem Fenster begab sich der Tag zu Bett und die Nacht holte ihr Zepter hervor. Am dunklen, sternenbesetzten Himmel glänzte ein fast voller Mond und verlieh der gesamten Landschaft, an der sie vorbeifuhren, einen übernatürlichen, silbrigen Glanz. Nur wenige Minuten später wurde der Zug deutlich langsamer und als eine magisch verstärkte Stimme durch die Abteile dröhnte, dass sie bald am Bahnhofs Hogsmeade ankommen würden, wurde die Stimmung zwischen den fünf Erstklässlern gedrückter. Selbst Marlene wurde ein wenig blasser, als sie schließlich zum Stillstand ansetzten.
Dampf quoll an ihrem Fenster hervor, als der Hogwarts-Express sein Ziel erreichte. Im Mond- und Laternenschein waren die Umrisse von dutzenden Häusern zu erkennen und für einen schrecklichen Moment dachte Peter, sie hätten sich verfahren, doch dann erkannte er das Schild, auf dem der Name des Dorfes verkündet wurde und entspannte sich wieder.
In der nächsten Stunde passierten viele Dinge, von denen Peter sich im Nachhinein nicht sicher war, ob er sie wirklich erlebt hatte. Als er und die vier Mädchen aus dem Zug stiegen, wurden sie von einem Mann begrüßt, der sicherlich vier Meter groß war. Dichtes schwarzes Haar wucherte wie ein Brombeerbusch auf seinem Kopf und verdeckte die Hälfte seines Gesichtes im Schatten eines ebenso massiven Bartes. Mit dröhnender, aber warmer Stimme hatte der Riese alle Erstklässler zu sich geholt, dann waren sie einem Trampelpfad zum Ufer eines schwarzen, schimmernden Sees gefolgt. Mindestens zwanzig kleine Nussschalen hatten am Ufer gelegen und der Riese hatte angeordnet, dass immer vier von ihnen in ein Boot sollten. Peter wurde von den Mädchen getrennt und geriet mit einem fies aussehendem Jungen und seinen zwei Freunden in ein Boot. Ohne dass irgendjemand von ihnen ruderte, fuhren die Boote wie von Zauberhand über das schwarze Wasser und brachten sie am anderen Ende des Sees auf die sichere Seite.
Hogwarts thronte wie ein Bilderbuchschloss über ihnen auf einem hohen Berg, eintausend kleine Lichter strahlten aus den Fenstern und die Türme streckten sich dem Sternenhimmel entgegen, als wollten sie alle den Mond kitzeln. Dem See folgte eine so lange Treppe, dass Peter seine Beine am Ende nicht mehr spüren konnte. Er japste nach Luft und wünschte sich nichts sehnlicher als einen eisgekühlten Krug voll mit Kürbissaft und vielleicht ein entspannendes Bad, aber es gab keine Zeit zum Ausruhen. Kaum waren sie am Ende der Treppe angelangt, scheuchte der Riese sie weiter zu einem massiven Holztor, das so hoch war, dass selbst ihr Gruppenleiter zwei Mal aufrecht hindurchgepasst hätte. Peter hatte keine Zeit, sich die schönen Maserungen und Schnitzmuster im Holz anzugucken, da hatte der Riese mit seiner massiven Hand bereits angeklopft und eine sehr streng aussehende Hexe mit schwarzen Haare, einem smaragdgrünen Umhang und einer dünnen Linie als Lippe hatte sie entgegengenommen.
Professor McGonagall hatten ihnen in knappen Worten erklärt, wie die vier Hogwartshäuser hießen und sie dann angewiesen, einen Moment auf sie zu warten. Als sie sich umgedreht hatte, ermahnte sie zwei Jungen, die ganz vorne standen, die sich gegenseitig Grimassen hinter ihrem Rücken gezogen hatten. Peter fing Marlenes Blick auf und er wusste, sie dachten beide dasselbe – Marlenes Bruder hatte noch untertrieben, als er McGonagall als sehr streng beschrieben hatte.
Die Stimmung unter den Erstklässlern kippte sofort. Die meisten von ihnen wurden unfassbar blass und zupften an ihren Umhängen herum und drückten sich die Haare zurecht, andere sahen aus, als könnten sie die Einteilung nicht mehr abwarten. Die beiden Jungs, die McGonagall ermahnt hatte, redeten am lautesten miteinander; sie verkündeten sich selbst und damit auch allen anderen, dass sie bereits ganz klar wussten, dass sie nach Gryffindor kommen würden und es daran auch keinen Zweifel gab. Ein dunkelhaariger Junge in ihrer Nähe warf ihnen dafür sehr düstere Blicke zu.
Schließlich kehrte Professor McGonagall nach einigen unendlich langen Minuten zurück und verkündete, dass die Schule nun bereit für sie sei.
Peter nahm einen tiefen Atemzug, bevor er sich in die Reihe der anderen Erstklässler stellte, Mary vor, Marlene neben und Dorcas und Emmeline hinter ihm. Die Pforten zur Großen Halle öffneten sich.
***
Einmal jedes Jahr verließ der Sprechende Hut seinen Platz im Regel des Schulleiterbüros und wurde auf eine Reise durch das Schloss genommen. Es war die einzige Chance, die sich dem Hut jährlich bot, etwas anderes zu sehen, außer den gleichen vollgestopften Regalen und leise surrenden, klingenden und rauchenden Gerätschäften, die Dumbledores Büro füllten. Am Abend des ersten September holte der kleine Professor Flitwick ihn mithilfe des Schwebezaubers von seinem Regalboden herunter und gemeinsam mit einem vertrauten, dreibeinigen Stuhl wurde er durch die sieben Stockwerke des Schlosses getragen, bis man ihn außerhalb der Großen Halle für seinen großen Moment vorbereitete.
Der Sprechende Hut hatte es schon so oft gemacht und doch wurde er jedes Mal nervös. Was würden die Kinder nur von seinem neuen Lied halten? Würden sie den Text mögen? Würde er sich auch an alles erinnern und nicht etwa eine falsche Zeile singen? Immerhin war dies seine einzige Chance im Jahr, der Schule zu beweisen, dass er mehr war als nur ein alter, verfilzter Hut. Schließlich hatte er bereits auf den Köpfen von großartigen Hexen und Zauberern gesessen, da konnte er sich keinen Patzer erlauben. Es gab einen Tag im Jahr, an dem er singen durfte und den würde er nicht ruinieren. Wenn er sich nur an die schreckliche Einteilung von 1674 zurückerinnerte… oh, die Schmach, wie sie ihn bis zum heutigen Tage noch verfolgte. Lampenfieber und das in seinem Alter! Der damalige Schulleiter hatte gedroht, ihn zu beseitigen und die Einteilung umzubesetzen, wenn er sich nicht zusammenreißen könnte.
Seit über dreihundert Jahren hatte er sich keinen Fehltritt mehr erlaubt. Der Hut hatte jedes seiner Lieder mehr als perfekt vorgetragen und bei der Einteilung der neuen Schüler hatte es nicht ein Problem gegeben. Er wusste, was auf dem Spiel stand, wenn er sich vertun würde, deswegen bereitete er sich die Tage vor dem ersten September mit Meditationsübungen vor, damit er nicht nur einen kühlen Kopf bewahren, sondern auch keine Fehler machen würde. Ein Fehler in seinem Beruf könnte eine schreckliche Zukunft für ein unschuldiges Kind bedeuten und der Hut würde es sich nicht in den kühnsten Träumen einfallen lassen, ein Kind in ein falschen Haus einzuteilen.
Die Große Halle war wie jedes Jahr ein Ort der Magie und der Neuanfänge. Als Professor Flitwick den Sprechenden Hut mit seinem getreuem Stuhl hereinbrachte, landete alle Augen ehrfürchtig, abwartend und auch nervös auf ihm. Die Lehrer lehnten sich für ein paar Minuten zurück, die älteren Schüler warteten auf sein neues Lied und die kleinen Erstklässler, die in einer Reihe im Mittelgang vor dem Lehrerpodest standen, blickten mit zittrigen Augen zu ihm herauf. Flitwick ließ den Hut auf seinem Stuhl liegen und eilte dann davon. Über ihm glänzte die verzauberte Decke und zeigte einen sternenklaren Nachthimmel und knapp darunter die eintausend schwebenden Kerzen, die der ganzen Halle einen warmen Glanz verpassten.
Der Sprechende Hut wartete ein paar Momente. Es war wichtig, Spannung aufzubauen und sein Publikum an sich zu fesseln. Zufrieden stellte er fest, dass nicht ein Augenpaar nicht auf ihn gerichtet war und als er schließlich zur Erkenntnis kam, dass die Schülerschaft bereit war, öffnete der Hut seine faltige Krempe und fing an mit rauer, warmer Stimme zu singen.
Kaum hatte er die ersten Töne von sich gegeben, wusste der Hut, dass dieser Abend ein voller Erfolg sein würde. Die Kinder klebten an seinen Lippen (oder das, was man bei einem Sprechenden Hut Lippen nennen konnte) und ließen sich von seinem Lied in eine andere Welt entführen. Obwohl der Hut seit vielen Jahren nun immer von denselben Themen sang, die vier Gründer und ihre Häuser vorstellte und seit jeher versuchte, die Melodie und den Text so simpel wie möglich zu halten, sah er doch immer Gesichter, auf denen sich Verwirrung spiegelte. Das mussten dann die diesjährigen Muggelkinder sein, dachte er sich, während er die zweite Strophe einleitete.
Ausnahmslos jeder Schüler brach in tosenden Applaus aus, als der Hut den letzten Ton, das letzte Wort gesungen hatte und sich mit einer angedeuteten Verbeugung auf die Einteilung vorbereitete. Obwohl es keiner sehen konnte, schüttelte er sein inneres Hutfutter und versuchte die geflickte Krempe so angenehm wie möglich zu halten.
Professor McGonagall tauchte neben ihm auf, ihr stoisches Gesicht mit dem winzigsten Hinweis auf ein Lächeln gespickt, als sie mit einer Hand nach dem Hut griff und mit der anderen eine Pergamentrolle entgleiten ließ. „Wenn ich euren Namen aufrufe, dann kommt ihr nach vorne und setzt euch den Sprechenden Hut auf den Kopf“, erklärte die Professorin mit ihrer ernsten, selbstbewussten Stimme. So viel war geschehen, seit die kleine Minerva sich mit elf Jahren selbst den Hut auf den Kopf gesetzt hatte. Der Sprechende Hut konnte sich noch sehr gut daran erinnern, wie nervös sie gewesen und wie er ihr direkt über die Augen gerutscht war.
„Ah, Minerva – nach der Großmutter, ja? Das sollte dann doch kein Problem sein, oder? Ravenclaw wäre das perfekte Haus für dich!“
Aber der Sprechende Hut hatte die Rechnung ohne Minerva McGonagalls Kopf gemacht. Vehement darauf bestehend, dass der Hut ihr alle Vor- und Nachteile der Häuser erläuterte, saß die junge Hexe fast sechs Minuten lang auf dem Stuhl, bis er sich schließlich dazu entschied, sie nach Gryffindor zu schicken. Eine weise Entscheidung, so fand der Sprechende Hut auch heute noch.
Professor McGonagall las nun den ersten Namen ihrer Liste vor. Dann den zweiten. Schließlich den dritten. Der Sprechende Hut schaute in jeden Kopf, konnte jede noch so kleine Ecke der Gedanken entschlüsseln und würde die Kinder in ihre Häuser einteilen. Ravenclaw, Slytherin, wieder Ravenclaw, dann Hufflepuff.
„Black, Sirius!“ Raunen und Flüstern entbrannte in der Halle, als ein Junge aus der Masse der Erstklässler vortrat. Der Hut hätte die Ankündigung per Namen nicht gebraucht, um zu erkennen, dass es sich um einen Sohn der Familie Black handelte. Kaum hatte Sirius den Hut aufgesetzt, sank der Junge in sich zusammen.
„Ich will nicht nach Slytherin“, flüsterte er, bevor der Hut die Möglichkeit hatte, etwas zu sagen.
„Nicht Slytherin?“, erwiderte der Hut. „Deine gesamte Familie ist dort – ich kann sie jetzt schon mit erwartungsvollem Blick warten sehen. Cousine Narzissa lehnt sich sogar vor, um dich besser sehen zu können.“
„Das ist mir egal“, sagte Sirius leise und bestimmt. „Steck mich nach Hufflepuff, es ist mir egal, aber ich will nicht nach Slytherin. Ich kann das nicht mehr.“
Der Hut war irritiert. „Du willst nicht mal nach Slytherin, obwohl du perfekt in ihr Schema passen würdest?“, fragte er flüsternd, seine Stimme so sanft wie das Samt in seinem Inneren. „Slytherin würde mit dir einen gerissenen, schlauen und temperamentvollen Schüler ergattern, soviel steht fest. Du willst es dir selbst beweisen, ja, du willst nicht wie deine Familie sein, aber kannst du das auch?“ Er spürte, wie Sirius Black seine blassen Hände in den Stuhl krallte. „Ich sehe schon. Du bist entschlossen und mutig. Vielleicht ein wenig zu kühn, wenn du mich fragst, aber wenn du es dir wirklich wünscht, dann stecke ich dich nach GRYFFINDOR!“
Das letzte Wort rief der Hut laut genug aus, damit die ganze Halle es hören konnte. Der Applaus blieb aus. Es war so still, man könnte hören, wie ein Zauberstab zu Boden fiel.
Sirius Black riss sich den Hut vom Kopf – etwas grob, wenn der Hut das so sagen durfte – und marschierte mit festen Schritten auf den Gryffindor-Tisch zu. Seine Schritte waren das Einzige, was zu hören war. Leder auf Stein. Erst dann ertönte eine laute Stimme, die im Echo der weiten Halle wie ein tausendstimmiger Chor klang.
„Gut gemacht, Kumpel!“, rief ein Junge aus der Erstklässlerreihe. Er grinste über beide Ohren und hatte die Fäuste in die Luft gestreckt. „Ich wusste, du enttäuschst mich nicht!“
Sirius, der den Blick stoisch nach vorn gerichtet hatte, strauchelte kurz, als er den Jungen erkannte, grinste ihn ebenfalls an und setzte sich schließlich an seinen neuen Haustisch.
Es dauerte noch ein paar Sekunden, aber dann entbrannte Applaus von Gryffindor, die ihren neuen Mitschüler begrüßten. Der Sprechende Hut konnte den Vertrauensschüler Frank Longbottom sehen, der Sirius aufgeregt die Hand schüttelte und ihm auf die Schulter klopfte. Gut gemacht, konnte er den älteren Jungen beinahe sagen hören. Sirius‘ Grinsen erhellte die ganze Halle.
Die Tische der Hufflepuffs, der Ravenclaws und der Lehrer stimmten ebenfalls langsam in den Applaus mit ein und wenn Sirius Black mitbekommen hatte, was für eine Show er geliefert hatte, dann ließ er sich es nicht anmerken. Das laute Klatschen verklang langsam und Professor McGonagall räusperte sich leise. Wenn der Hut sich nicht täuschte, dann glänzten ihre Augen ein wenig mehr.
„Evans, Lily“, wurde aufgerufen und ein rothaariges Mädchen mit dem aufgeregten Blick einer muggelgeborenen Hexe eilte auf den Stuhl zu. Kaum hatte sie den Huf aufgesetzt, verdeckte er ihr halbes Gesicht.
„Hm“, flüsterte der Hut leise und spürte Lily Evans unter sich zusammenzucken. „Ein schlaues Köpfchen sehe ich da. Und du willst dich beweisen, nicht wahr? Du willst allen beweisen, dass du eine gute Hexe bist, ja? Und – deiner Schwester voran?“ Lily Evans sog scharf die Luft ein und der Hut lachte in ihr Ohr. „Oh, ich weiß schon ganz genau, wo du dich am besten machen wirst. GRYFFINDOR!“
Die Halle eruptierte in Applaus, als die kleine Lily Evans zum Gryffindor-Tisch eilte und sich neben Sirius Black setzte.
„Fenwick, Benjy“, wurde ein Ravenclaw und „Lupin, Remus“, wurde ein Gryffindor, obwohl der kränkliche Junge sich sehr dagegen weigerte. Der Hut konnte ihn verstehen, wirklich, aber er war sich einhundertzwanzig Prozent sicher, dass Remus Lupin in Gryffindor die richtigen Freunde finden würde, die ihn und seine Krankheit akzeptieren würden. Und Recht sollte er behalten, denn kaum hatte sich Remus Lupin Lily und Sirius gegenüber gesetzt, wurde er von beiden sehr enthusiastisch begrüßt und beglückwünscht, woraufhin er schon wesentlich glücklicher über die Entscheidung des Hutes wirkte. Hufflepuff hätte Remus ebenfalls ein gutes Zuhause sein können, aber sein Herz hatte doch nach Gryffindor gerufen.
„Macdonald, Mary“, und „McKinnon, Marlene“, wurden ebenfalls beide nach Gryffindor eingeteilt, während „Meadows, Dorcas“, nach Ravenclaw kam und sich neben Benjy Fenwick setzte. „Mulciber, Ennis“, hingegen wurde ein Slytherin und lautstark von seinem neuen Tisch begrüßt, als er neben Avery, Nestor Platz nahm. Als „Pettigrew, Peter“, aufgerufen wurde, war der Hut gespannt auf den Jungen. Er hatte erst wenige Jahre zuvor die Schwester des Jungen eingeteilt und jetzt war ihr Bruder dran.
Peter wäre beinahe über eine Stufe gestolpert, als er nach vorn eilte und der Hut bedeckte prompt sein hochrotes Gesicht, kaum hatte er ihn aufgesetzt. Wenn Lily Evans und Sirius Black sich schon beweisen wollten, dann war das nichts im Vergleich zum kleinen Peter Pettigrew. Der Hut konnte in Peters Kopf eine Gabe entdecken, unentdeckt zu bleiben, aber den Wunsch verspüren, von allen gesehen und gemocht zu werden.
„Du möchtest nur du selbst sein, nicht wahr?“, fragte der Hut leise. „Alle sollen dich mögen, alle sollen dich kennen und du willst anerkannt sein.“ Peter sank in sich zusammen. „Daran ist nichts auszusetzen, Peter“, sagte der Hut. „Der Schatten der Erwartung hängt immer über dir, das sehe ich. Du willst so gut und so schlau und so talentiert wie deine Schwester sein, aber zweifelst an dir, ob es dann noch genug wäre, um du selbst zu sein? Kannst du die Fußstapfen deiner Familie ausfüllen, ohne dabei deine eigenen zu verlieren?“
„I-Ich“, stammelte der kleine Peter, „will, dass man nicht von mir enttäuscht ist.“
Der Hut schnalzte mit seiner Krempe. „Ah, Peter“, hauchte er. „Der Einzige, der von dir enttäuscht sein wird, wenn du nicht so wie alle anderen bist, bist du selbst. Und deswegen weiß ich auch schon, wo ich dich hinstecken werde.“ Der Sprechende Hut verkündete lautstark GRYFFINDOR für Peter Pettigrew.
McGonagall nahm den Hut entgegen, als Peter mit heißem, rotem Kopf auf sein neues Haus zueilte. Er wurde mit Applaus und Grinsen von seinen Klassenkameraden begrüßt – allen voran Mary Macdonald und Marlene McKinnon – und auch eine laute Stimme vom Ravenclaw-Tisch war zu hören, die Peter bejubelte.
„Toll gemacht, Petie!“, rief Phyllis Pettigrew, Vertrauensschülerin und ältere Schwester des Neueingeteilten. Der Stolz war ihr ins Gesicht geschrieben und ihr Bruder versank in seinem Stuhl, als sie ihn breit angrinste.
Bei „Potter, James“, hatte der Hut keine Probleme. Sein Stoff hatte die unordentlichen Haare des Jungen kaum berührt, da rief er schon Gryffindor aus und James eilte zu seinen Freunden. Er quetschte sich zwischen Lily und Sirius, wobei ihm Erstere einen giftigen Blick zuwarf, ehe sie weiter von ihm wegrutschte. Die beiden schwarzhaarigen Jungs am Gryffindor-Tisch grinsten sich an, als wären sie Brüder, die bei der Geburt getrennt wurden.
„Snape, Severus!“ Als wäre Lily Evans wieder an der Reihe, setzte sie sich aufrecht hin und hob den Kopf so hoch wie möglich, um zu beobachten, wie ein blasser Junge mit öligen Haaren zum Podest schlurfte. Sein Umhang war ihm ein wenig zu groß. Er setzte sich den Sprechenden Hut auf und blieb still.
„Keine Meinung?“, fragte der Hut leise. „Ich kann sie in deinem Kopf sehen, weißt du.“
Severus sagte nichts.
„Nun gut. Wenn du dich nicht einmischen willst, dann weiß ich schon, wo man dich am besten gebrauchen kann. SLYTHERIN!“
Der Slytherin-Tisch zerging ein weiteres Mal in tosendem Applaus, als Severus Snape sich den Sprechenden Hut mehr als grob vom Kopf riss und ihn auf den Stuhl schmiss. Mit schlurfenden Schritten ging er hinüber zu seinen neuen Klassenkameraden, hatte seinen Blick aber sehnsüchtig am anderen Ende der Halle. Er setzte sich, wurde von Mulciber und Avery begrüßt und beglückwünscht, aber seine Augen klebten noch an Lily Evans Hinterkopf, die das Kinn wieder gesenkt hatte und jetzt leichte Enttäuschung ausstrahlte.
Als schließlich das letzte Kind („Vance, Emmeline“, Ravenclaw) eingeteilt wurde, nahm Professor McGonagall den Sprechenden Hut auf ihre Hände. Sie strich eine Falte an seiner Krempe glatt, bevor sie ihn mitsamt dreibeinigem Stuhl wieder aus der Großen Halle trug. Der Sprechende Hut hatte die Chance, einen letzten, sehnsüchtigen Blick auf die Große Halle und die etlichen Gesichter der aufgeregt tuschelnden Schüler zu werfen, bevor er in ein Nebenzimmer gestellt wurde.
„Eine sehr gute Einteilung“, sagte Professor McGonagall, die den Hut aufrecht hinstellte, damit er nicht vom Stuhl auf den staubigen, kalten Boden fallen würde. „Ein paar Überraschungen.“
„Sirius Black, eh?“, fragte der Hut leise.
McGonagall lächelte. „Ich bin schon gespannt, wie er sich machen wird. Ich hoffe, du hast dich richtig mit ihm entschieden.“
Der Hut seufzte leise und spie damit ein paar Fussel aus seiner Krempe, die in der Luft tanzten. „Das hoffe ich auch, Minerva. Das hoffe ich auch.“
Chapter 3: 3. Jahr 1: Die ersten Schritte
Chapter Text
Der Gryffindorgemeinschaftsraum war ein Überfluss an Eindrücken. Sirius wurde von all den roten Sesseln, goldenen Ornamenten, weichen Teppichen, knisternden Feuern und der farbenfrohen Tapete erschlagen, kaum hatte er einen Fuß in den Raum gesetzt. Es war alles, was der Grimmauldplatz Nummer 12 nicht war. Warm, gemütlich, einladend – es fühlte sich nach Zuhause an. Obwohl der Vertrauensschüler Frank Longbottom ihnen gerade alles Grundlegende über ihr Haus erklärte, hörte Sirius nicht zu. Es juckte ihn in den Fingern, sich in einen der roten Sessel am Feuer zu wälzen oder an den kreisrunden Tischen eine Partie Schach zu spielen. Selbst auf eine der Fensterbänke würde er sich gerne setzen und auf die Hogwartsländereien schauen, mit den Gedanken ganz woanders hängen und in einer sicheren, warmen Umgebung verwahren. Der Gemeinschaftsraum fühlte sich wie der sichere Raum an, an dem ihn seine Familie nicht erreichen konnte, den Sirius seit Jahren suchte. Und jetzt hatte er ihn endlich gefunden.
Ein Ellbogen wurde ihm sanft in die Rippen gestoßen und Sirius sah auf, um James Potters Blick zu treffen. „Alles okay, Kumpel?“
Sirius lächelte. „Alles okay, Kumpel“, erwiderte er. James Potter Kumpel zu nennen, stand gegen alles, was seine Familie ihm versucht hatte, die letzten elf Jahre beizubringen und genau deswegen fühlte es sich so gut an, genau das zu tun. Indem er James Potter nicht nur freundlich begegnete, sondern auch daran setzte, den anderen Jungen als Freund zu gewinnen, widerersetzte er sich seinen strikten, fanatischen Eltern nur noch mehr. James mochte auch ein Reinblut sein, aber die Potter-Familie krönte sich nicht mit ihrer Reinheit, wie die Blacks es taten. Blutsverräter nannte man die Potters, eine Beleidigung für all jene, die sich zu sehr mit Muggeln, Muggelstämmigen und Squibs anfreundeten. Es dauerte wahrscheinlich nicht mehr lange, dann würde man Sirius Black auch einen Blutsverräter nennen.
„Dann los“, sagte James grinsend und schob sich die Brille zurecht. „Ich bin hundemüde.“ Er zog Sirius am Ärmel seines Umhangs eine Treppe hinauf und führte ihn in den Jungenschlafsaal der Erstklässler, den Sirius wohl auf sich allein gestellt nicht so schnell gefunden hatte. Dem Vertrauensschüler nicht zuzuhören war nicht seine beste Idee gewesen, aber mit den Konsequenzen konnte er auch später klar kommen.
Der Schlafsaal war ein weiterer Kontrast, den Sirius in Bezug auf sein Kindheitsheim feststellte. Fünf Himmelbetten, alle ausgestattet mit samtenen, roten Bettbezügen, weiten Vorhängen, die man für Privatsphäre zuziehen konnte und eigenen Holzschränken an jedem Bettende, nahmen den Großteil des Raumes ein. Zwischen jedem Bett prangte ein hohes, rundes Fenster mit Blick auf den Waldrand und neben der Tür, durch die James und er gerade getreten waren, befand sich noch eine schmalere, unscheinbarere Tür, die, nach näherer Inspektion, zu einem Badezimmer führte, dass sich die fünf Jungs wohl teilten. Löwenembleme waren auf den Bettlaken und den Holzschränken angebracht, als wäre die rote Bettwäsche nicht genug gewesen, um jedem zu symbolisieren, dass dies tatsächlich die Gryffindorschlafsäle waren. Neben einem Bett allerdings standen Koffer, die mit einem Schlangensymbol und den silbernen Lettern S.O.B. verziert waren.
„Schrecklicher Dekorationsgeschmack“, kommentierte James, als er Sirius‘ Koffer ebenfalls bemerkte. „Du solltest denjenigen feuern, der dafür verantwortlich war.“
„Dann müsste ich meine Mum feuern und glaub mir, wenn ich das könnte, hätte ich es schon längst getan“, erwiderte Sirius und ließ sich auf der weichen, federnden Matratze seines Bettes nieder. Selbst das Bett fühlte sich ganz anders an, wie das in seinem Schlafzimmer im Grimmauldplatz, als wäre der Geist Gryffindors in den Laken eingebettet und würde ihn mit Mut und Sicherheit füllen.
James lachte bellend auf und fing dann an, in seinem Koffer nach seinem Pyjama zu wühlen, wobei er Quidditch-Trikots, T-Shirts und Wollpullover auf den Boden warf. Endlich das gefunden, was er gesucht hatte, machte er keinen großen Hehl daraus, dass er sehr wohl in der Lage war, sich vor fremden Jungs umzuziehen. Er entledigte sich seines Umhangs und der Hose, bis er nur in der Boxershorts dastand, zog sich aber schnell einen seidenen Pyjama über.
„Seide“, sagte Sirius feixend. „Wie der vornehme Reinblutsohn.“
„Sei du bloß ruhig, Black“, erwiderte James und blickte an sich herunter. „Als ob deine Pyjamas nicht aus einem überteuerten Stoff gemacht sind.“
„Touché.“
Nach und nach kamen auf die anderen Mitschüler in den Schlafsaal. Der Junge aus dem Zug, Remus Lupin, trat vollends umgezogen und, wie es aussah, frisch geduscht, aus dem angrenzenden Badezimmer, bevor er wortlos an James und Sirius vorbei zu seinem Bett ging. Er warf einen hektischen Blick aus dem Fenster, bevor er die Vorhänge zuzog.
„Hey“, sagte ein vierter Junge, der vom Gemeinschaftsraum kam. Er war groß und ziemlich breitschultrig für sein Alter, mit kurzgeschorenen dunkelbraunen Fransen und einem kantigen Gesicht. „Ich bin Monty“, stellte er sich vor. „Montana Fortescue.“
James und Sirius stellten sich ebenfalls vor, aber Remus blieb ruhig auf seinem Bett sitzen, die Hände in seinem Schoß knetend.
„Ist das ein Tornados-Trikot?“, fragte Monty und deutete auf eines der Kleidungsstücke, die um James‘ Bett verteilt lagen.
Während er und James sich über Quidditch, ihre Lieblingsteams und die Vorsätze, dass sie auf jeden Fall der Schulmannschaft beitreten würden, unterhielten, schlenderte Sirius zu Remus herüber.
„Heimweh?“, fragte er den anderen Jungen.
„Was?“ Remus schreckte auf, als hätte er Sirius gar nicht kommen hören. Seine Augen huschten beinahe panisch von Sirius zum Fenster und wieder zurück. „Nein – ich – ich meine, vielleicht. Ich weiß nicht. Ich war noch nie von Zuhause weg.“
„Echt noch nie?“, erwiderte Sirius und ließ sich ohne Einladung neben Remus auf dem Bett nieder. Er lehnte sich zurück und stützte sich mit den Armen ab. „Ich hab bisher nur einmal bei meinem Onkel Alphard übernachtet“, erzählte er. „Mit sieben, glaub ich. Er hat mir gezeigt, wie man mit einer Muggelknarre schießt und ich durfte Tonscheiben zerschießen.“ Sirius grinste bei dieser Erinnerung. „Ah, guter Mann, dieser Alphard. Meine Mutter war stinksauer, als ich ihr das erzählt habe. Hat gesagt, Alphard solle mich nicht mit diesem Muggelabschaum verderben und ich sollte mich ab sofort von ihm fernhalten.“
Remus, der an Sirius‘ Lippen gehangen hatte, fragte leise: „Und hast du?“
„Natürlich nicht“, erwiderte er. „Im nächsten Sommer hab ich mich weggeschlichen und bin mit Alphard ausgeritten und das hat meine Mutter wieder etwas beruhigt. Solange er mir keinen Kram von den Muggeln zeigt, kann ich ihn besuchen gehen, auch wenn sie immer noch nicht der größte Fan von ihm ist. Hab ihn aber seit bestimmt drei Jahren nicht mehr gesehen. Meine Mutter findet, er hat sich zu sehr von den Muggeln einlullen lassen.“ Er zuckte mit den Schultern und blickte Remus dann herausfordernd an.
„Meine Eltern lassen mich nicht woanders schlafen“, sagte Remus nach ein paar Momenten leise. „Sie glauben, ich sei – ich meine, sie wollen mich nur beschützen.“ Er räusperte sich. „Deswegen hab ich auch noch nie woanders geschlafen.“
„Na, dann wird es ja Zeit!“, sagte Sirius grinsend. „Deine erste Pyjama-Party!“
Remus lachte. „Schätze schon. Danke“, fügte er an.
Schulterzuckend richtete Sirius sich wieder auf. „Keine Ursache, Remus“, meinte er. „Wir müssen die nächsten sieben Jahre aufeinander hocken, da wäre es ja schade, wenn wir uns nicht verstehen.“ Er grinste den anderen Jungen noch mal an. „Morgen Abend zeige ich dir, wie man eine Kissenschlacht gewinnt und dann stürzen wir uns gemeinsam auf James.“
„Abgemacht.“
Sirius ging zum Nachbarbett, neben welchem auch sein Koffer stand und, wie James zuvor, wühlte in seinem Gepäck nach dem Pyjama. Gerade als er ihn herausgezerrt hatte, öffnete sich die Tür ein weiteres Mal und der letzte Junge in ihrem Schlafsaal trat ein, ein rundlicher Junge mit blonden Haaren und ziemlich hellen, blauen Augen.
„Hallo“, sagte er mit leicht quietschender Stimme, bevor er aufgeregt zum letzten Bett eilte. „Ich bin Peter.“
Erneut stellten sich alle Jungs namentlich vor und als sich schließlich alle mit dem Badezimmer abgewechselt hatten, gingen sie, ohne sich noch groß zu unterhalten, zu Bett. Das einzige Licht im Schlafsaal war der Mondschein, der durch die Fenster fiel. James fing Sirius‘ Blick in der Dunkelheit auf und grinste ihn an. „Auf die nächsten sieben Jahre“, flüsterte er in die Nacht.
Sirius lachte. „Auf die nächsten sieben Jahre, Kumpel.“
***
Die Große Halle am nächsten Morgen zu finden, entpuppte sich als schwieriger, als Lily sich vorgestellt hatte. Am Vorabend war sie viel zu sehr damit beschäftigt gewesen, das Schloss, die sich bewegenden Treppen und vor allem die lebendigen Portraits zu betrachten (eines der Bilder hatte ihr sogar zugewunken, als sie vorbeigegangen war), als sich den Weg zu merken, den sie gegangen waren und als sie in den Gemeinschaftsraum getreten war, war keine Spur von der Gryffindor-Vertrauensschülerin gewesen, die sie zum Frühstück begleiten wollte.
„So schwer kann das doch nicht sein“, sagte Mary Macdonald, als sie, Lily und Marlene McKinnon am Fuß der Treppen stehenblieben. „Ich weiß, dass wir im siebten Stock sind und die Große Halle ist im Erdgeschoss. Eigentlich müssen wir nur runter gehen, oder?“
„Wenn die Treppen da mitspielen würden“, gähnte Marlene.
Lily verschränkte die Arme. „Vielleicht gibt es ja einen Trick, oder einen Knopf, um sie auszuschalten.“
Mary warf ihr einen belustigten Blick zu. „Schön wärs, aber ich glaube nicht, dass Hogwarts so modern ist. Mein Radio funktioniert ja auch nicht.“
„Das liegt an der ganzen Magie in der Luft“, erklärte Marlene. „Alles, was mit dieser Muggel-Sache angetrieben wird, funktioniert nicht. Wie heißt es noch, Ekelzät oder so?“
„Elektrizität“, sagten Mary und Lily gleichzeitig. Lily war mehr als froh, dass eine ihrer Klassenkameradinnen ebenfalls Muggelgeboren war, da fühlte sie sich direkt viel sicherer. „Aber ist ja auch egal“, führte Mary fort, „es wäre doch gelacht, wenn wir den Weg zum Frühstück nicht finden würden!“
Die drei Gryffindor-Schülerinnen machten sich daran, die vielen hundert Treppenstufen hinabzusteigen, nur zwischendurch aufgehalten, wenn sich eine der Treppen dazu entschied, in ein anderes Stockwerk zu führen oder eine der Türen sich partout nicht öffnen ließ. Einmal fiel Marlene mit dem Fuß durch eine unsichtbare Trickstufe und musste von Mary und Lily herausgezogen werden, aber es dauerte nur eine halbe Stunden, bis die drei Mädchen schließlich ihren Weg in die Große Halle gefunden hatten.
„Wenn wir uns den Weg erst einmal gemerkt haben, dann geht das hoffentlich schneller“, grummelte Marlene, die immernoch mies auf die Treppen zu sprechen war, bevor sie sich ihren Teller mit Rührei belud.
Obwohl es der erste offizielle Schultag für alle Schüler war, war die Große Halle noch recht ausgestorben. Tatsächlich waren Lily, Mary und Marlene die einzigen Gryffindor-Erstklässler, die ihren Weg bereits nach unten gefunden hatten – von den Jungs war überhaupt keine Spur. Einige der älteren Schüler hatten bereits ihre Stundenpläne erhalten und vollendeten die letzten Schliffe an ihren Sommerhausaufgaben, während selbst der Lehrertisch noch recht ausgestorben wirkte. Der Schulleiter fehlte und so auch die strenge Lehrerin, die sie eingeteilt hatte, deren Namen Lily vergessen hatte.
„Lily, guck jetzt nicht hin, aber am Slytherin-Tisch beobachtet dich jemand total unheimlich“, flüsterte Marlene, die ihr gegenüber saß und über ihre Schulter schielte.
Lily drehte sich um. Am anderen Ende der Halle saß ein schwarzhaariger Junge mit einem finsteren Blick, dessen ganzes Gesicht sich aufhellte, als er sah, dass Lily ihn bemerkt hatte. Lily grinste und winkte ihm zu, dann drehte sie sich wieder zu ihren Schulkameradinnen. „Das ist nur Sev“, sagte sie auf Marlenes perplexen Blick. „Ich kenn ihn von Zuhause, wir wohnen im selben Ort.“
„Ist er auch Muggelgeboren?“, fragte Mary, die sich ein großes Stück Toast in den Mund schob.
„Nein“, erwiderte Lily kopfschüttelnd. „Seine Mum ist eine Hexe, aber sein Dad ein Muggel.“ Sie verzog das Gesicht. „Es ist komisch, das zu sagen.“
„Er sieht unheimlich aus“, kommentierte Marlene trocken und erntete dafür einen sehr bösen Blick von Lily. „Ist doch so!“
„Tut er nicht“, verteidigte sie ihren besten Freund. „Wenn man ihn erst richtig kennt, dann weiß man, dass er eigentlich richtig nett ist.“
Marlene murmelte etwas, das Lily nicht verstand, aber es war in dem Moment auch nicht mehr so wichtig, denn die strenge Lehrerin von gestern Abend betrat die Halle durch eine Nebentür. Als sie Lily, Mary und Marlene erblickte, kam sie mit strammen Schritten auf sie zu.
„Guten Morgen, die Damen“, sagte sie.
„Guten Morgen, Professor“, erwiderte Mary.
Die Lehrerin teilte den drei Mädchen ihre Stundenpläne aus. „Wo haben Sie denn den Rest ihrer Klasse gelassen?“, fragte sie. „Oder hat der Vertrauensschüler Sie nicht nach unten begleitet.“
„Wir haben den Weg allein gefunden, Professor“, erklärte Lily.
„Nun gut“, sagte die Lehrerin und schürzte die Lippen. „Ich werde wohl ein Wörtchen mit unseren Vertrauensschülern haben müssen, damit das nicht noch einmal vorkommt – ah. Da sind sie ja schon. Entschuldigen Sie mich.“ Die Professorin eilte zum Eingang der Halle, durch den gerade ein stämmiger Junge in Begleitung von fünf wesentlich kleineren Jungs gekommen war. „Mr. Longbottom, haben sie Miss Fortescue gesehen?“
Der Vertrauensschüler wurde rot im Gesicht. „Sie“, fing er an und räusperte sich. „Sie ist noch in der Dusche, Professor McGonagall.“
McGonagall schnalzte mit der Zunge. „Sie hat ihre Pflichten versäumt, ihre Schützlinge zum Frühstück zu geleiten. Sagen Sie ihrer Freundin doch bitte, dass das nicht noch einmal vorkommen soll.“
„J-Ja, Professor.“ Der Vertrauensschüler scheuchte die Erstklässler zum Tisch, bevor er sich mit hochrotem Kopf umwandte und wieder aus der Halle huschte.
Professor McGonagall ging zu den Jungs, die sich gerade gesetzt hatten. Sie betrachtete jeden von ihnen für einen Moment, dann sagte sie: „Richten Sie bitte ihre Krawatte, Mr. Potter. Mr. Black, ihr Hemd ist falsch herum.“ Sie teilte den Schülern ihre Stundenpläne aus, dann beugte sie sich leicht nach vorne. Ihre geflüsterten Worte gingen im Tuscheln der anderen Schüler und dem Frühstückslärm der Halle unter, aber der Junge, mit dem sie gesprochen hatte, nickte hektisch und starrte dann wieder auf seinen Teller. Er war ziemlich blass und hatte einige Narben im Gesicht.
Kaum war die Professorin außer Hörweite gegangen, beugten sich die beiden Jungs vor, mit denen Lily und Severus am Anfang ihrer Zugreise ein Abteil geteilt hatten, und fingen an, mit dem blassen Jungen zu reden. Lily zog die Augenbrauen zusammen und wandte den Blick von ihnen ab, damit sie wieder mit ihren eigenen Klassenkameradinnen reden konnte.
Mary hatte den Stundenplan bereits fleißig studiert und erzählte Lily aufgeregt: „Guck, wir haben heute Verwandlung und Zaubertränke!“ Sie deutete mit einem Finger auf die Spalte. „Und nach dem Mittagessen haben wir Geschichte der Zauberei!“
„Darauf solltest du dich nicht allzu sehr freuen“, sagte Marlene mit dem Mund voller Speck. „Professor Binns‘ Unterricht soll sterbenslangweilig sein.“
„Ich fand Geschichte immer sehr spannend“, erwiderte Mary mit zusammengezogenen Augenbrauen.
Lily zuckte mit den Schultern. „Zaubertränke klingt interessant“, sagte sie. „Wie ist… Professor Slughorn denn so?“ Lily blickte vom Stundenplan wieder zu Marlene.
„Marek – also, mein Bruder – hat gesagt, Slughorn wäre kompetent, aber würde zu sehr Favoriten spielen. Schüler, die er gern hat oder die aus einer wichtigen Familie kommen, behandelt er wohl besser als den Rest. Aber dann wiederrum war Marek eine richtige Niete in Zaubertränke und hat gerade Mal ein A zusammenkratzen können.“
„A?“, fragte Mary.
„Oh, das heißt Annehmbar“, erklärte Marlene. „Hier bekommt man keine Zahl als Note wie in der Muggelwelt.“ Sie drehte ihren Stundenplan um, kramte eine Feder aus ihrer Tasche und schrieb sechs Buchstaben mit den dazugehörigen Begriffen in eine Reihe. „Hier“, sagte sie und schob das Blatt zu Lily und Mary. „Ohnegleichen ist die beste Note, dann kommt Erwartungen Übertroffen, Annehmbar, Mies, Schrecklich und zuletzt Troll. Man braucht mindestens ein Annehmbar, damit man das Fach besteht.“
Lily studierte das Notensystem mit gekräuselten Augenbrauen. „Troll? Das ist echt eine Note?“
Marlene grinste. „Ist es. Marek hat mal ein T bei McGonagall bekommen und ich glaube, das hat sie ihm bis heute nicht verziehen. Wenn du ein T bei einem Lehrer bekommst, dann musst du mindestens drei Monate Extra-Aufgaben machen, um das wieder auszubügeln, ansonsten halten sie dir das ewig vor.“
„Wie kompliziert“, meinte Mary seufzend. „Warum können die Zauberer nicht auch einfach Noten von Eins bis Sechs geben?“
„Zu einfach“, sagte Lily schulterzuckend. „Irgendwie müssen sie sich wohl von den Muggeln abheben.“
***
Es war bereits einiges an Arbeit, die Klassenräume zu finden, aber der eigentliche Unterricht war mit Nichts zu vergleichen. Lily hatte das Gefühl, als wäre sie in eine falsche Jahrgangsstufe gelaufen. Professor McGonagall, die Lehrerin für Verwandlung, begann ihren Unterricht damit, ihnen in vielen komplizierten Details zu erklären, worum es bei Verwandlung wirklich ging, wie diese Magie funktionierte und wie man sie sicher einsetzte. Danach schrieb sie eine ganze Menge an noch komplizierteren Formeln und Tabellen und Merksätzen an die Tafel, die sie abschreiben sollten. Als alle damit fertig waren, verteilte McGonagall mittels eines Schwenkers ihres Zauberstabes ein Streichholz an jeden Schüler.
„Versuchen Sie sich daran zu erinnern, was ich Ihnen erklärt habe und verwandeln sie das Streichholz in eine Nähnadel“, sagte McGonagall in einer Stimmlage, als würde sie von ihnen erwarten, eine simple Additions-Aufgabe zu lösen.
Lily konzentrierte sich so sehr, dass sie die Augen zusammenpresste. Sie stellte sich eine schmale, silberne Nähnadel vorstellte, wie ihre Mutter sie in ihrem Arbeitszimmer hatte und tippte dann mit dem Zauberstab auf ihr Streichholz, die Beschwörungsformel murmelnd, die McGonagall ihnen beigebracht hatte. Es hatte sich rein gar nichts getan. Lily schielte zu Mary, die neben ihr saß und war erleichtert, dass sich bei ihr auch nichts getan hatte. Marlene war ebenfalls nicht sehr weit gekommen, auch wenn sie Lily mit voller Überzeugung ihr Streichholz zeigte und meinte, es wäre auf jeden Fall schon viel spitzer als zuvor.
„Sehr gut, Mr. Potter“, sagte Professor McGonagall nach ungefähr einen halben Stunde konzentriertem Übens. Sie zeigte der Klasse das Streichholz von James, nur war es kein Streichholz mehr. McGonagall hielt eine spitze silbrige Nadel in der Hand. „Zehn Punkte für Gryffindor.“
James Potter grinste die Professorin an, wobei er zwei Reihen weißer, gerader Zähne präsentierte. Etwas an seinem Blick störte Lily und sie wandte den Kopf herum, damit sie sich wieder auf ihr eigenes Streichholz fokussieren konnte. Sie tippte es ein weiteres Mal mit dem Stab an, presste die Augen zusammen und murmelte die Formel.
„Uhhh“, kam es von Mary. „Sehr gut, Lily!“
Lily öffnete die Augen. Auf ihrem Tisch lag eine silberne Nadel.
„Exzellente Arbeit, Miss Evans.“ Professor McGonagall war neben Lily aufgetaucht und begutachtete ihre Verwandlung. „Eine perfekte, erste Verwandlung. Weitere zehn Punkte für Gryffindor.“
Lily fing James‘ Blick durch den Klassenraum auf und sie wusste nicht, was in sie kam, aber sie reckte das Kinn und lächelte ihn hochmütig an, woraufhin er wieder sein breites Grinsen zeigte. Sie wusste nicht, was sie erwartet hatte, aber das machte sie wütend und sie schnaubte lauthals. Sirius Black klopfte James daraufhin auf die Schulter und sagte etwas, dass ihn lachen ließ.
Der Zaubertrankunterricht fand in den Kerkern der Schule statt. Es war dunkler als im Rest des Schloss und auch kälter. Die steinernen Wände gaben den engen Korridoren ein sehr beklemmendes Gefühl und obwohl die Klassenräume genauso groß waren, wie das Verwandlungszimmer, waren die Decken wesentlich niedriger. Ein gutes Dutzend an kleiner, bereits brodelnder Kessel stand an Arbeitstischen verteilt, deren dichter Qualm sich in einer Dunstwolke an der Decke sammelte. In den Regalen, die an den Wänden verteilt ständen, befanden sich Einmachgläser und Fässer voll mit ekligen Dingen, so wie Froschaugen, Rattenlebern oder Schlangenhautschuppen. Obwohl die Atmosphäre im Zaubertränkezimmer düster und kühl und erdrückend war, fühlte Lily sich seltsam wohl zwischen all den kleinen, knisternden Feuern und den seltsamen Zutaten, die in ihren Gläsern lagen, schwammen oder schwebten. Es half außerdem, dass sie den Unterricht zusammen mit den Slytherins hatten und Lily und Severus sich sofort an einen Tisch setzten, damit sie nebeneinander arbeiten konnten.
Professor Slughorn war ein in die Jahre gekommener Mann. Er hatte fast eine Glatze, aber einen sehr prächtigen Schnurrbart, der ihm Ähnlichkeit mit einem Walross verpasste. Sein dicker Bauch war unter seinen feinen Roben zu erkennen und auf seinem Pult am Ende des Klassenzimmers stand eine grellpinke Verpackung mit kandierten Ananasstücken. Zucker klebte an seinem Zauberstab und Slughorn wischte ihn hastig an seinem Umhang ab, bevor der Rest der Klasse eintrudelte. James Potter und Sirius Black nahmen einen Tisch nahe Lily und Severus ein und Mary und Marlene saßen in der vordersten Reihe neben zwei Slytherin-Jungs, die Severus feixende Blicke zuwarfen.
„Beachte die beiden nicht“, murmelte Sev neben ihr und legte seine Pergamentstücke gerade vor sich. „Sie finden sich sehr lustig.“
Lily schoss den Slytherins einen bösen Blick zu, drückte dann aber ihren Rücken durch und richtete ihre Aufmerksamkeit auf den Lehrer, als Professor Slughorn mit dröhnender Stimme anfing zu sprechen.
„Willkommen“, sagte er laut, „im ersten Jahr Zaubertränke.“ Er lächelte und sein Schnurrbart vibrierte dabei. „Zaubertränke ist, meiner bescheidenen Meinung nach, einer der schwierigeren Zweige der Magie, eine Kombination aus Geduld, Präzision und einer Prise an Talent ist von Nöten, damit man wunderschöne Tränke mit wahnwitzigen Wirkungen kreiert. Sollte man auch nur eines dieser drei Dinge nicht besitzen, dann werden voraussichtlich sehr viele unschuldige Kessel während dieses Unterrichts schmelzen.“ Slughorn kicherte über sich selbst, bevor er, wie schon zuvor Professor McGonagall, die Namensliste vorlas. Anders als die Verwandlungslehrerin allerdings war Slughorn sehr an den Schülern interessiert, oder besser gesagt an ihren Nachnamen.
Bei einigen von ihnen hielt er inne und erzählte Anekdoten über Familienmitglieder, die er kannte und unterrichtet hatte, bei wieder anderen fragte er, wie denn der Onkel, die Mutter oder gar der Cousin sei und ob es der Person noch gut ginge. Als er Sirius Black nach seiner Cousine Bellatrix befragte, wurde dieser sehr abweisend. James Potter allerdings konnte gar nicht genug von der Aufmerksamkeit bekommen. Beinahe zwanzig Minuten erzählten er und Slughorn sich Geschichten über James‘ Vater und am Ende wusste jeder aus der Klasse, dass Fleamont Potter der Erfinder von Sleakeazys Hair Potions war, einem mehr als erfolgreichen Haarserums, dessen Rechte der ältere Zauberer vor Jahren verkauft hatte, wodurch die Potter-Familie auf einem ganzen Batzen Gold saß.
Auch Remus Lupin und Marlene McKinnon mussten es ertragen, dass Slughorn sie nach Familienmitgliedern ausfragte und als der Professor endlich beim letzten Namen angelangt war, war die erste ihrer Doppelstunde bereits vergangen.
„Das macht gar nichts“, sagte Slughorn auf einem Blick auf eine vergoldete Taschenuhr, die an einer ebenso goldenen Kette an seinem Umhang festgemacht war. „Es ist gerade noch genug Zeit, damit ihr alle euch an eurem ersten Trank probieren könnt. Seite 21 im Lehrbuch und los geht’s!“
Severus neben ihr hatte das Buch schon aufgeschlagen und das Rezept für den Trank komplett durchgelesen, da hatte Lily ihres noch nicht einmal hervorgeholt. Als sie schließlich ebenfalls alle Zutaten für den Vergessenstrank beisammen gesucht hatte, war Severus schon mit einem knisternden Feuer unter seinem Kessel dabei. Er war am weitesten von allen, mit einem immensen Abstand zu Black und Potter, die beide noch nicht einmal ihr Buch aufgeschlagen hatten. Sirius schaute mit einem gelangweilten Blick im Klassenzimmer umher, während sein Kumpel neben ihm die Arme hinter dem Kopf verschränkt hatte und dümmlich vor sich hin grinste. Wahrscheinlich erwartete Potter Bestnoten, nur weil Slughorn sein Zaubertränke-Genie von einem Vater kannte, dachte Lily säuerlich, während sie Mistelzweigbeeren in ihrem Mörser pulverisierte.
Als Lily so weit war, ihre zwei Tropfen Lethe-Flusswasser in ihren Kessel zu geben, war Severus bereits mit seinem Trank fertig. Über einer heruntergebrannten Flamme brodelte der durchsichtige Zaubertrank wie Wasser und der Junge hatte sich zufrieden zurückgelehnt. Lily fand, dass sein Trank ein wenig milchig aussah, aber erwähnte es nicht.
Zehn Minuten später hatte sie einen fast identischen Trank vorzuweisen, allerdings hatte sie sich in ihrem Zaubertränkebuch schlaugelesen, während Severus mit gewinnendem Blick die anderen Tränke begutachtet hatte. Lily hatte ein paar zerhackte Blätter Baldrian in ihren Trank gemischt, etwas, das nicht im Rezept gestanden hatte, da sie eigentlich nur die Zweige der Pflanze nutzen sollten, aber die Wirkung war sofort eingetreten. Statt der leicht zu erkennenden milchigen Färbung war ihr Trank perfekt durchsichtig. Etwas, dass nicht nur sie bemerkte.
„Ein perfekter Trank beim ersten Versuch!“, dröhnte Slughorn ein paar Minuten später, als er an ihrem Kessel zur Begutachtung ankam. „Nein, Miss Evans, ich glaube, ich kann meinen Augen nicht trauen. Wie haben Sie ihren Trank so durchsichtig bekommen?“
Mit vor Scham gerötetem Gesicht erzählte sie von den Baldrianblättern, die sie zerrupft und eingeworfen hatte und erwartete bereits eine Standpredigt von Slughorn, weil sie sich nicht an die genaue Anweisung im Buch gehalten hatte, aber stattdessen strahlte der dickliche Mann sie nur an, als wäre Weihnachten vorverlegt worden.
„Und Sie sind sich ganz sicher, dass sie eine Muggelgeborene sind?“, fragte Slughorn, wohl im Versuch, schmeichelhaft zu sein.
Lily presste die Lippen zusammen. „Sehr sicher, Sir“, erwiderte sie knapp angebunden.
Slughorn eilte zum nächsten Trank und während er die schlampige Arbeit des Schülers kritisierte, beugte sich Severus zu Lily herüber. Mit zischender Stimme sagte er: „Hast es wohl nicht für nötig empfunden, deine Idee mit den Baldrian-Blättern zu teilen, was, Lily?“
Überrascht starrte sie ihren besten Freund an, dessen Gesicht eine fleckige, rote Färbung angenommen hatte. Seine Stirn war verschwitzt und die Hände hatte er zu Fäusten geballt. Lily zog die Augenbrauen zusammen. „Bist du etwa –“, fing sie an, wurde aber vom Klingeln der Schulglocke unterbrochen.
Mit der Erinnerung daran, eine Zusammenfassung über die korrekte Brauweise des Vergessenstrank zu schreiben, entließ Slughorn seine Klasse und entleerte alle Kessel mit einem Schlenker seines Zauberstabs, sodass das Klassenzimmer wie unberührt wirkte. Im Flur drehte Lily sich wieder zu Severus um, wurde jedoch abermals unterbrochen, als die lauten Stimmen von James Potter und Sirius Black zu ihnen wehten.
„Hast du Schniefelus gesehen?“, fragte Sirius direkt hinter ihnen, die scharfen, dunklen Augenbrauen rabiat verengt. „Hat mit seinen schmierigen Haaren praktisch über seine Buchseiten gewischt, wahrscheinlich kann man jetzt nichts mehr lesen.“
„Das würde ich gerne vergessen. Zu blöd nur, dass sein Vergessenstrank nur `ziemlich gut` war und nicht perfekt wie der von Evans“, erwiderte James. „Hey, Evans, vielleicht kannst du uns den Trank nochmal brauen, dann können wir Schniefelus‘ Existenz vergessen.“
Sirius brüllte vor Lachen auf, genauso wie ein blonder, rundlicher Junge, der in James und Sirius‘ Schatten gelauert hatte. Der Junge mit den Narben schenkte den beiden lediglich ein amüsiertes Grinsen, bevor er sich entschuldigte und den Kerkergang davoneilte. „Ach komm schon, Lupin, ist doch lustig!“, rief Sirius ihm hinterher.
Lily wirbelte herum, ihre Augen Funken sprühend und deutete mit ihrem Finger auf Sirius‘ Gesicht. „Lass Severus in Ruhe!“, schrie sie, sodass ihre Stimme in den Kerkerkorridoren wie ein gespenstischer Chor widerhallte. „Ihr zwei seid solche Idioten, ihr seid ja nur neidisch, dass ich den Trank besser hinbekommen habe, obwohl ich nur von Muggeln abstamme.“
Die Belustigung verschwand sofort aus James‘ Gesicht und mit überraschend ernstem Ton antwortete er ihr: „Es würde mir im Traum nicht einfallen, zu glauben, jemand wäre besser oder schlechter, nur weil er von Muggeln abstammt.“
„Dann verhalte dich auch so“, zischte Lily, packte Severus‘ Handgelenk und zog ihn über seine Proteste hinweg den Gang entlang, von dem sie hoffte, dass er sie zur Eingangshalle führen würde.
Blacks Stimme hallten ihnen nach: „Hoffe du hältst Evans immer dicht bei dir, Schniefelus, dann kann sie dir den schmierigen Hintern retten!“
Lily hielt erst an, als sie mit Severus die Große Halle betrat. Schwer atmend ließ sie sein Handgelenk los und wirbelte zu ihm herum.
Der Junge, der noch auf die Stelle gestarrt hatte, an der Lilys Finger ihn umschlossen hatten, zuckte mit dem Kopf nach oben und sagte: „Du musst mich nicht verteidigen, Lily.“
„Ich weiß“, erwiderte sie atemlos. „Aber du bist mein Freund und ich mag es nicht, wenn man auf meinen Freunden herumhackt.“
Severus nickte. Dann, mit einem tiefen Atemzug, fügte er hinzu: „Tut mir leid, wie ich in den Kerkern reagiert habe. Das hast du echt gut mit dem Trank gemacht.“
Lily lächelte ihn dankbar an.
***
Nach dem Zaubertränkeunterricht ging Remus geradewegs an der Große Halle vorbei. Obwohl ihn der Duft der frisch gebratenen Würstchen und dem dampfenden Kartoffelpüree ziemlich in Versuchung brachte, ignorierte er den Rest seiner Klassenkameraden, die sich noch immer über die letzten Unterrichtsstunden unterhielten und sich mit den Schülern aus den anderen Häusern austauschten. Von Professor McGonagall hatte Remus eine direkte Wegbeschreibung erhalten, wie er nach dem Unterricht direkt zum Krankenflügel gelangen würde. Sich den Weg in Erinnerung rufend, erklomm er die Marmortreppe in der Eingangshalle.
Remus wusste, dass seine Klassenkameraden sich gerade wunderten, wo er war, aber es war nicht in seinem Interesse, ihnen allen direkt auf die Nase zu binden, dass er bereits am ersten Tag in den Krankenflügel musste. Freilich, er war nicht krank und er besuchte die Krankenschwester Hogwarts‘ nicht, weil er einen schmerzenden Zeh hatte. Im Brief, den Professor Dumbledore an ihn und seine Eltern geschickt hatte, hatte der Schulleiter genaustens erklärt, wie er geplant hatte, Remus trotz seiner Kondition nach Hogwarts holen zu können. Die Peitschende Weide – ein mehr als gefährlicher Baum, der jedem die Knochen brechen würde, der sich zu nahe heranwagte – wurde extra wegen Remus auf den Ländereien gepflanzt, genauso wurde extra für ihn ein Tunnel in das eigens erbaute, heruntergekommen aussehende Haus in Hogsmeade angefertigt. Dumbledore hatte es passenderweise als die Heulende Hütte getauft und direkt ein Gerücht im Dort verbreitet, dass eine wütende Meute an Geistern dort ihr Unwesen trieben. Diese Geister gab es natürlich nicht. Das Heulen und Kratzen, das die Dorfbewohner schon bald hören würden, würde von Remus stammen, wenn man ihn in der Vollmondnacht in der Heulenden Hütte einsperren würde, damit er sich in seine Werwolfform verwandeln konnte.
Der Vollmond war nur noch drei Nächte entfernt und Remus konnte seinen Ruf jetzt schon spüren; seine Knochen taten mit jedem Schritt weh, seine Haut fühlte sich an, als wolle sie jeden Moment bersten und er spürte einen unersättlichen Hunger in sich, diesen Drang zu jagen und zu reißen und zu töten. Der Mond übte seine verheißungsvolle Anziehungskraft auf ihn aus, wann immer er voller wurde, aber mittlerweile hatte Remus gut gelernt damit zu leben und seinen animalischen Instinkten nicht nachzugeben. Sein Körper hatte zwar das Verlangen eines Wolfes, aber Remus‘ Geist war stärker. Zumindest solange er nicht verwandelt war. Sobald die Verwandlung in den frühen Abendstunden einsetzen würde, würde Remus sich nicht kontrollieren können. Er würde in diesem Zustand seine Mutter umbringen und könnte sich am nächsten Tag nicht mehr daran erinnern. Dieses Szenario war oft genug Inhalt seiner endlosen Albträume als kleiner Junge gewesen, dass er das Bild nie ganz aus seinem Kopf verbannen konnte.
Je näher die Verwandlung außerdem rückte, desto ruheloser wurde Remus. Er konnte nicht mehr schlafen, hatte viel zu viel überschüssige Energie, könnte essen und essen ohne satt zu werden und wurde darüber hinaus auch noch mürrisch. Seine Eltern waren seine Gefühlsausbrüche gewohnt, wann immer der Vollmond sich ankündigte, aber keiner seiner Klassenkameraden wusste überhaupt davon, dass er ein Werwolf war und wenn es nach ihm gehen würde, dann würde es auch nie jemand herausfinden. Dumbledore hatte ihm gesagt, dass die Lehrer und Madam Pomfrey, die Krankenschwester der Schule, Bescheid über seine Lykanthropie wussten und deswegen ein Auge zudrücken würden, wenn er nach einer Verwandlung in ihren Unterrichtsstunden nicht ganz anwesend wäre. Er hatte außerdem die Freistellung des Folgetages bekommen, um sich von der Verwandlung zu erholen, auch wenn es Remus bereits jetzt davor graute, wie er sich seinen Mitbewohnern im Schlafsaal erklären sollte. Selbst wenn er ihnen eine Lüge auftischen würde, irgendwann mussten sie Zweifel bekommen und würden anfangen, Fragen zu stellen. Er hoffte, er würde ihnen lang genug ausweichen können, dass sie sich gar nicht erst für ihn und seinen Verbleib interessierten.
Der Krankenflügel befand sich im ersten Stock des Schlosses. Es war ein langgezogener Saal, abschließbar mit zwei schweren Holztoren, die gerade speerangelweit offen standen und bereits vom Gang einen Blick auf ein gutes Dutzend weißbezogener, schlichter Betten frei gab. Vorhänge waren um jedes Bett angebracht, damit etwaige Patienten ihre Privatsphäre wahren konnten – Remus konnte sich gut vorstellen, dass an dieser Schule eine Menge Unfälle passierte, nachdem das Opfer sich lieber für ein paar Tage vor den Blicken der anderen Schüler verstecken wollte. Eine weitere Tür ging vom Krankenflügel ab in ein Bürozimmer, gefüllt mit einem Massivholzschreibtisch, einem bequem aussehendem Sessel und mehreren Schränken und Regalen voll mit Zaubertränken, Zutaten und anderem Zeug, dass die Schulheilerin brauchen würde.
Ebendiese war gerade damit beschäftigt, leere Phiolen zu säubern, als Remus den Krankenflügel betrat und das Echo seiner Schritte ihn ankündigte. Madam Pomfrey war eine sehr junge Heilerin. Sie sah aus, als hätte sie erst wenige Jahre zuvor ihr Studium an Hogwarts beendet, mit einem jugendlichen Gesicht, hellen, blonden Locken und glänzenden, blauen Augen. Als sie Remus sah, legte sie ihre Arbeit beiseite und kam mit festen, resoluten Schritten auf ihn zu. „Sie müssen Mr. Lupin sein“, sagte sie und ihre Stimme überschlug sich vor Aufregung fast. Madam Pomfrey streckte förmlich die Hand aus und Remus schüttelte sie zaghaft.
„Nur Remus reicht“, murmelte er mit roten Wangen.
Madam Pomfrey schien ihn nicht zu hören. Sie betrachtete mit eingehendem Interesse die Narben auf seiner Haut und ihr Blick bohrte sich in seine Augen. „Verzeihen Sie mir“, sagte sie schnell, „aber es ist tatsächlich das erste Mal, dass ich einem Menschen mit Lykanthropie begegne. Ist das, wo der Werwolf Sie –“
„Oh, nein“, erwiderte der Junge. Er blickte auf seine Schuhe. „Die sind von mir“, fügte er murmelnd hinzu. Er tippte sich auf seine linke Seite, nahe seiner Hüfte. „Dort wurde ich gebissen.“ Sechs Jahre war es her und doch erinnerte sich Remus an den Tag, als wäre es gerade erst geschehen; ein eingeschlagenes Fenster, ein riesiger Schemen in seinem Kinderzimmer, rote, glühende Augen, die in der Dunkelheit immer näher kamen, schließlich ein solch stechender Schmerz in seinem gesamten Körper, dass der kleine Remus ohnmächtig wurde. An was er sich am besten erinnern konnte, war das viele Blut, das sein Zimmer danach bedeckt hatte. Der Anblick hatte sich in seine Augen gebrannt.
Die Schulkrankenschwester entschuldigte sich ein weiteres Mal für ihr Interesse. „Kommen Sie, setzen Sie sich hin, Mr. Lupin. Minerva – ich meine, Professor McGonagall wird ebenfalls jede Minute eintreffen.“ Madam Pomfrey führte Remus in ihr kleines Bürozimmer und deutete an, dass er sich auf einen der Stühle setzen sollte. „Wo haben Sie die Vollmondnächte zuvor verbracht?“, fragte die Krankenschwester und sah einen Augenblick später so aus, als würde sie sich gerne selbst schlagen. „Tut mir leid, das akademische Interesse –“
„Im Keller meiner Eltern“, unterbrach Remus sie, der sich immer mehr wie ein Ausstellungsstück in einer Freakshow vorkam. Er krallte die Finger in den Sitz. „Mein Dad hat den Keller mit etlichen Schutzzaubern belegt, damit ich nicht entkommen und das ganze Dorf abmetzeln kann.“
Madam Pomfreys harte Miene wurde sanfter. „Das muss schwierig für Sie sein, Mr. Lupin“, sagte sie leise. „Ich kann mir nicht vorstellen, wie diese Nächte für Sie und Ihren Körper sein müssen. Ich habe mich natürlich ein wenig schlaugelesen, wissen Sie, damit ich genau weiß, wie ich Ihnen am besten helfen kann, aber ich befürchte, dass es nicht gerade viele Aufzeichnungen von Lykanthropie gibt, die sich darum dreht, dem Menschen zu helfen.“ Sie machte einen verärgerten Gesichtsausdruck. „Allein die Strapazen, die Sie jedes Mal bei der Verwandlung durch machen müssen.“ Madam Pomfrey schüttelte kaum merklich den Kopf.
Remus wurde erspart, darauf antworten zu müssen – nicht, dass er überhaupt wüsste, wie er der Krankenschwester erklären sollte, dass er sich mittlerweile daran gewöhnt hatte – als Professor McGonagall den Krankenflügel betrat und mit schnellen Schritten auf das Büro zukam.
„Mr. Lupin, wie schön, Sie haben den Weg gefunden. Poppy, wollen wir dann gleich zur Sache kommen?“, fragte die Lehrerin an die Heilerin gewandt.
„Absolut“, erwiderte Madam Pomfrey eifrig nickend. Sie bot Professor McGonagall ebenfalls einen Stuhl an, dann sagte sie: „Wir wollen nur sicher gehen, dass alles für den nächsten Vollmond in drei Tagen geklärt ist. Sicherlich hat Professor Dumbledore Ihnen erklärt, dass Sie Ihre Verwandlung in der Heulenden Hütte durchführen werden.“
Remus nickte nur. Er fand es verwirrend, so förmlich angesprochen zu werden.
Unbeirrt fuhr die Heilerin fort. „Sie werden nach dem Abendessen zu mir kommen, hier zum Krankenflügel. Ich werde Sie auf die Ländereien begleiten und durch den Tunnel unter der Peitschenden Weide zur Hütte bringen. Professor Dumbledore selbst hat für die Schutzzauber in und um die Hütte gesorgt, es gibt also keinen Grund zur Sorge, dass jemand Sie während der Verwandlung finden könnte.“ Die letzten Teil hatte sie sicherlich angefügt, als sie Remus‘ Gesichtsausdruck gesehen hatte.
Er mochte die Heulende Hütte bisher noch nicht gesehen haben, aber von den Beschreibungen aus dem Brief, den Dumbledore geschrieben hatte, war es nur eine einfache, heruntergekommene Holzhütte, ohne jeglichen natürlichen Schutz gegen die wütenden Kräfte eines Werwolfs. Seine Mutter hatte Remus immer wieder versichert, dass Professor Dumbledore wissen würde, was er sagte und es war die eine Sache, in der sie und sein Vater sich einig gewesen waren; wenn Dumbledore sagte, Remus würde in der Hütte sicher sein, dann wäre er das auch. Das war etwas, dass Remus ebenfalls aufgefallen war. Seit der Brief gekommen war, wurde nur noch davon geredet, wie es für Remus am sichersten sein würde und nicht, wie alle anderen gesichert werden würden. Er wusste nicht warum, aber es gab ihm ein gutes Gefühl in der Magengegend.
„Pomfrey wird zum Tagesanbruch erneut die Hütte betreten und Sie wieder zum Schloss geleiten“, fuhr Professor McGonagall fort, als würde sie vor einer Klasse sprechen. „Dort werden Sie wieder aufgepäppelt und können die Erschöpfung der Verwandlung ausschlafen. Die Lehrer wissen natürlich Bescheid und geben Ihnen, sollte es so weit sein, auch Aufschub für ihre Schularbeiten.“ Mit den Augenbrauen dicht zusammengezogen fügte sie an: „Mir soll allerdings nicht zu Ohren kommen, dass sie ihre Hausaufgaben überhaupt nicht erledigen würden, Mr. Lupin. Ausnahmen werden für Sie gemacht, aber Sie sind weiterhin ein vollkommen normaler Schüler Hogwarts‘.“
„Wenn ich wirklich normal wäre, dann müsste man mich nicht in eine Hütte einsperren“, murmelte Remus, bevor er sich dran hindern konnte. Er biss sich auf die Zunge.
Die erwartete Rüge blieb aus. Stattdessen nahm ein sehr weicher Ausdruck McGonagalls Gesicht ein und Madam Pomfrey sah so aus, als würde sie jeden Moment anfangen zu weinen. „Mr. Lupin“, sagte die Verwandlungslehrerin mit überraschend beruhigender Stimme, „glauben Sie bitte nicht, Sie seien auch nur im geringsten Maße eine Belastung für diese Schule. Professor Dumbledore hat alles in seiner Macht Stehende getan, damit Sie eine akademische Ausbildung abschließen können, genau wie jedes andere Kind in Ihrem Alter. Die Lehrerschaft hat einstimmig zugestimmt, dass Sie ebenfalls die Chance haben sollten, Hogwarts zu besuchen. Lassen Sie Ihre Unterschiede zu anderen Kindern nicht Ihre Sicht darauf verschleiern, dass Sie im Kern doch ein gänzlich normaler Junge sind, Mr. Lupin. Niemand kann sich seine inneren Dämonen aussuchen.“
Madam Pomfrey wischte sich über die Augen. „Sehr schön gesagt, Minerva“, sagte sie.
„Tut mir leid, Professor“, murmelte Remus peinlich berührt. „Ich wollte nicht –“
„Ich verstehe sehr wohl, woher Ihre Gefühle kommen, Mr. Lupin“, sagte Professor McGonagall. „Aber seien Sie versichert, dass jeder hier voll und ganz auf Ihrer Seite steht. Also dann – haben Sie noch Fragen über den Ablauf?“ McGonagall hatte ein Talent dazu, ihre Stimmlage im Bruchteil einer Sekunde von sanft und verständnisvoll zu streng und faktisch zu ändern.
„Was ist mit den anderen Schülern?“, fragte er leise. „Sie werden mein Verschwinden bemerken.“
McGonagall hob die Augenbrauen. „Was Sie in ihrer freien Zeit tun oder wieso Sie eine Nacht lang verschwinden, geht niemanden außer Sie etwas an, Mr. Lupin. Sie sind keinem von ihnen eine Erklärung schuldig.“
„Aber was sage ich ihnen? Meinen Mitschülern, meine ich“, presste er weiter, die Gedanken an Sirius Black und James Potter, die seit der Zugfahrt immer wieder versucht hatten, Remus in ihre Gespräche miteinzubeziehen.
„Was immer richtig für Sie erscheint, Mr. Lupin“, antwortete Madam Pomfrey. „Es liegt nicht an uns, Ihnen vorzuschreiben, was sie Ihren Freunden erzählen wollen, auch wenn Ihre Eltern Sie sicherlich davor gewarnt haben, ihre Kondition nicht frei herauszuposaunen.“
„Menschen mit Lykanthropie sind eine Rarität“, sagte McGonagall. „Und die Gerüchte um solche sind wie zu erwarten dunkel und ängstigend. Sollten Sie sich sicher sein, dass Sie Vertrauen in Ihre Freunde haben, dann können Sie Ihnen die Wahrheit erzählen, aber ansonsten würde ich Ihnen raten, eine Ausrede zu nutzen, die nicht zu viel Aufmerksamkeit auf sich lenkt.“ Ihre Brauen kräuselten sich leicht.
Remus nickte nur. Wie sollte er der Professorin und der Heilerin denn erklären, dass er nicht vorhatte, sich Freunde an der Schule zu suchen? Er war aus einem Grund hier – Bildung. Remus würde sich nicht von Freunden ablenken lassen, die versuchen würden, sein Geheimnis herauszufinden. Das müsste er Sirius und James auch noch irgendwie klar machen. „Danke, Professor. Ich habe keine Fragen mehr.“
McGonagall nickte. „Dann können Sie jetzt zum Mittagessen gehen, Mr. Lupin.“
Ohne einen Blick zurück, oder sich von Madam Pomfrey zu verabschieden, eilte Remus aus dem Krankenflügel, sein Herz raste mit einem drückenden Vorgefühl an den kommenden Vollmond. Er war nicht aufgeregt.
Er hatte Angst.
Chapter 4: 4. Jahr 1: Was uns verbindet
Chapter Text
Als Mr. und Mrs. Potter es schon lange aufgegeben hatten, eigene Kinder zu haben, wurden sie unerwartet mit einer Schwangerschaft im fortgeschrittenen Alter gesegnet. Selbst für den Zaubererstandard waren Euphemia und Fleamont Potter alt, aber das hatte sie nicht daran gehindert, wie ein jugendliches, junges Paar Eltern zu reagieren, als sie die Nachricht erhielten, dass sie doch noch einen Erben geschenkt bekommen würden. Als James Fleamont Potter in einer Spätmärznacht geboren wurde, hätte das Glück der beiden Eltern nicht höher sein können. Da sie sich nie hätten träumen lassen können, überhaupt noch Mutter und Vater sein zu können, wurde James mit allem aufgezogen, was sich ein heranwachsender Junge überhaupt wünschen konnte. Die neusten Besenmodelle, kaum war er alt genug, um zu laufen, teure Umhänge und die besten Spielzeuge waren nur der Anfang. James wuchs mit genug Geld in seiner Erbschaft auf, dass er den gesamten Inhalt der Winkelgasse aufkaufen könnte und noch immer genug Gold haben würde, um sein ganzes Leben lang nicht arbeiten gehen zu müssen.
Unendlich geliebt, mit soviel Fürsorge gebettet, dass es für fünf Kinder gereicht hätte und mit jedem Wunsch erfüllt, den er nur jemals haben konnte, war James ein freundlicher, loyaler und unfassbar vertrauenswürdiger Junge. Wie seine rothaarige und reizbare Mitschülerin Lily Evans aber gerne betonte, wann immer sie und James in Kontakt gerieten, war er ebenso arrogant und hatte sein Kinn so hoch erhoben, dass er den Boden nicht mehr sehen konnte. Alles schien James auf einem Goldtablett angereicht zu werden, er musste nur danach fragen und jedes Kind würde damit den Sinn der Realität verlieren.
James Potter mochte arrogant und teilweise ziemlich gemein sein, aber er hatte das Herz am rechten Fleck. Als er und Sirius Black am Freitagnachmittag von einer erschöpfenden Stunde Kräuterkunde mit dem Rest der Gryffindor- und Hufflepufferstklässler zum Schloss zurückkehrten, zeigte sich, dass James Potter mehr als nur ein reicher Trottel war, der mehr Gold als Verstand besaß.
Kaum hatten sie die Eingangshalle betreten, wurde James‘ Gryffindormut auf die Probe gestellt. Eine Gruppe von Slytherinsechstklässlern hatte die Zauberstäbe erhoben und ließ die Schulsachen eines Ravenclawmädchens hoch über ihrem Kopf schweben, während sie alle über die frustrierten Tränen der Schülerin lachten und gackerten. Kaum einer schenkten ihnen Beachtung. Die Schüler, die durch die Eingangshallte liefen, waren zu sehr damit beschäftigt, zum Essen in die Große Halle zu kommen oder in ihre Gemeinschaftsräume zu eilen, dass niemand anhielt, um dem Mädchen zu helfen, dass von wesentlich älteren Schülern gemobbt wurde.
„Finite!“, sagte James mit lauter Stimme, den Zauberstab auf die schwebenden Sachen des Mädchens gerichtet. Ein eiliger Schwebezauber hinderte die Bücher und Tintenfässer daran, auf den Steinboden zu klatschen und kaputt zu gehen. Den Arm wie ein Dirigent ausgestreckt, manövrierte James die Sachen vorsichtig zu den Füßen der Schülerin, die sich mit tränenverschmiertem Gesicht nach ihrem Retter umschaute.
Die Slytheringruppe entdeckte ihn zuerst. „Was soll das, Winzling?“, spuckte ein fies aussehender Typ ihm entgegen, der erschreckende Ähnlichkeit mit einem Bergtroll hatte. „Was mischt du dich ein?“
Obwohl der Junge und seine Freunde um einige Köpfe größer waren, trat James nicht zurück. Er ließ seinen Zauberstab sinken und, sich dessen bewusst, dass gerade all seine Klassenkameraden ihn anstarrten, als wäre er verrückt geworden, sagte: „Warum legt ihr euch nicht mit Leuten an, die eurem Intelligenzlevel nah genug sind? Ich schlage die Grindelohs im Schwarzen See vor.“
Es gab ein paar verhaltene Lacher seiner Mitschüler. Das Ravenclawmädchen hatte indes ihre Sachen zusammengesammelt und war mit wehendem Umhang davongeeilt, nicht ohne James einen dankbaren Blick zuzuwerfen. James sah aus dem Augenwinkel, wie Sirius sich dichter an ihn schob und seinen eigenen Zauberstab hervorholte.
„Du solltest dich nicht in Dinge einmischen, von denen du keine Ahnung hast, Erstklässler“, sagte eine Schülerin aus der Gruppe vor ihm. „Andernfalls könntest du ganz schnell als nächstes Opfer enden.“
„Greift ihr immer in Überzahl die Schwachen an?“, fragte James. „Ist das die einzige Möglichkeit, die sich euch bietet, um tatsächlich mal einen Sieg in eurem erbärmlichen Leben zu ergattern? Kein Wunder, dass man euch nach Slytherin gesteckt hat.“
Die Slytherin lief puterrot an und richtete ihren Stab blitzschnell auf James. „Pass bloß auf, was du sagst, sonst –“
„Ah, hier wird sich doch nicht gestritten, oder?“, bellte die laute Stimme Professor Slughorns durch die Eingangshalle. Überraschend leise hatte sich der rundliche Mann aus der Kerkertür neben ihnen bewegt.
„Nicht doch, Professor“, erwiderte die Schülerin mit Unschuldsmiene. „Der Winzling – ich meine, der Erstklässler hat nur nach dem Weg gefragt, nicht wahr?“
James wusste, wann es Zeit war, mutig zu sein und wann man besser die Klappe hielt, allerdings hatte er noch nicht ganz gelernt, wie er dieses Wissen auch umsetzte. Bevor er die Gruppe Slytherins allerdings bei ihrem Hauslehrer hätte anschwärzen können, erhob Remus Lupin hinter ihm die Stimme: „Richtig, Professor. Wir waren uns nicht mehr ganz sicher, wie man zu den Waschräumen kommt. Glücklicherweise waren diese hilfsbereiten Schüler in der Nähe.“ Remus spuckte das Wort hilfsbereit aus, als wäre es Gift.
Slughorn lachte auf. „Dann ist ja alles geklärt! Carrow, kommen Sie, kommen Sie, ich habe gehört, es gibt heute wahnsinnig guten Pudding zum Nachtisch. Sie auch, Belby.“ Slughorn schubste und schob die Gruppe an Slytherins in Richtung Großer Halle.
Als er sich sicher war, dass sie außer Hörweite waren, wirbelte James zu Remus um. „Was sollte das?“, zischte er. „Wieso hast du mich sie nicht verpetzen lassen?“
„Was glaubst du, was sie getan hätten, wenn du das machst?“, fragte Remus unbeeindruckt zurück. „Als nächstes würden sie dich durch die Luft fliegen lassen.“
„Pah“, meinte James und verschränkte die Arme. Sirius klopfte ihm auf die Schulter. Peter Pettigrew betrachtete ihn mit glänzenden Augen, als wäre James gerade als Kriegsheld zurückgekehrt, was ihm tatsächlich bessere Laune verpasste.
„Aber das war echt cool, wie du gehandelt hast, James“, sagte eine Gryffindormitschülerin, Marlene McKinnon, hinter ihm.
„Das war ziemlich mutig, James“, fügte Mary Macdonald an. „Mir zittern immer noch die Knie, obwohl ich gar nichts gemacht habe.“
James drehte sich grinsend zu den Mädchen um, wurde dabei aber direkt vom zweifelnden, missbilligenden Blick Lily Evans getroffen. „Was ist, Evans? Keine gute Show?“
„Musst du dich immer in den Vordergrund stellen?“, fragte sie mit geschürzten Lippen. „Du hättest die Sache einem Vertrauensschüler oder Lehrer überlassen sollen.“
„Und diese Gruppe an Idioten das Mädchen weiter so behandeln lassen?“, erwiderte er mit hochgezogenen Augenbrauen. „Nein, Danke, Evans. Lieber tue ich sofort was, als zusehen zu müssen, wie jemand fertig gemacht wird.“
Lily schnaubte. „Das sagst du, aber vorhin noch hast du Kitzelflüche auf Abby und Laura geworfen. Du bist nicht besser als diese Typen, Potter.“ Ohne ihn zu einer Antwort kommen zu lassen, stürmte Lily in Richtung Mittagessen davon. Mit ihr teilte sich langsam die Gruppe an Erstklässlern und jeder ging wieder seinen eigenen Weg. Zurück blieben lediglich James, Sirius und Marlene McKinnon.
„Nimm es ihr nicht so übel, James“, sagte Marlene achselzuckend. „Ich glaube, insgeheim war Lily auch beeindruckt von deiner Aktion, aber sie will es sich nicht anmerken lassen.“
„Ist mir egal“, log er. „Ich kann auch den Tag überstehen, wenn Evans nicht bei meinem Anblick in Ohnmacht fällt.“
„Macht sie bestimmt bald, wenn du diese Mähne nicht bald zähmst“, kommentierte Sirius grinsend und zog an einer wilden Strähne auf James‘ Kopf.
„Lass das, Black.“
„Jedenfalls war es echt cool von dir, dem Mädchen zu helfen“, fuhr Marlene fort als sie gemeinsam mit Sirius und James die Große Halle betrat. „Wir könnten uns alle ein Beispiel an dir nehmen.“ Sie winkte den beiden noch zu, ehe sie sich zu Lily und Mary an den Tisch setzte.
James und Sirius gingen etwas weiter in die Halle hinein. „Hast du das gehört?“, grinste James.
„Lass dir das nicht zu Kopf steigen, Potter, sonst passt du bald nicht mehr durch die Tür.“ Sirius schaufelte sich eimerweise Kartoffeln auf seinen Teller. „Allerdings finde ich, dass wir es den Schlangen heimzahlen sollten. Zur Abwechslung sollte mal jemand ihnen das Leben schwer machen.“
„Ich mag es, wie du denkst, mein Freund“, erwiderte James grinsend, ein Glitzern in seinen Augen. „Und ich weiß auch schon, wer unser glückliches Opfer sein wird.“ Über Sirius‘ Schulter hinweg fand James sein Ziel am Slytherintisch schneller als einen bunten Hund. Die öligen, schwarzen Haare und dieser kalte, dunkle Blick im Gesicht des hakennasigen Schniefelus riefen doch förmlich danach, dass man ihnen einen Streich spielte.
„Ah. Schniefelus. Sehr gut.“ Sirius war seinem Blick gefolgt und grinste nun ebenfalls.
„Könnt ihr ihn nicht in Ruhe lassen?“, fragte Remus Lupin neben Sirius. „Was hat er euch denn getan?“
„Es ist persönlich, Lupin“, erwiderte Sirius. „Wir hatten auf der Fahrt hierher schon eine kleine Auseinandersetzung und außerdem ist Schniefelus ein ziemlich schleimiger Typ. Hast du nicht auch mitbekommen, wie er der Evans immer hinterherglotzt? Gruselig, wenn du mich fragst.“
„Und das gibt euch das Recht, euch auf die Stufe dieser Slytherinschüler zu begeben?“, fragte der Erstklässler mit zerknittertem Gesicht. „Findet ihr das nicht ziemlich albern?“
„Ich weiß nicht, was du hast“, meinte James. „Wir werden ihn ja nicht verletzen. Ein harmloser Streich, ein paar Lacher für alle und die ganze Sache vergisst sich in zwei Tagen wieder. Dem ollen Schniefelus wird kein Haar gekrümmt – nicht, dass ich die anfassen wollen würde.“
Sirius bellte vor Lachen auf und selbst auf Remus‘ Gesicht erschien die Spur eines Lächeln. „Was schwebt euch denn vor?“
„Wieso, willst du mitmachen?“, grinste Sirius.
„Wenn dann will ich euch aus Schwierigkeiten halten, damit ihr nicht die Punkte verliert, die ich heute bei Professor Sprout bekommen habe. Du hast McGonagall doch auch gehört – Slytherin hat den Hauspokal die letzten drei Jahre gewonnen und es liegt schon in meinem Interesse, dass sich das ändert.“ Remus zuckte lediglich mit den Schultern und wollte sich wieder seinem Mittag widmen.
„Man wird uns schon keine Punkte für einen harmlosen, kleinen Streich abziehen. Aber eine Idee habe ich wirklich noch nicht“, gab James zu. Er bediente sich ebenfalls an dem aufgetischten Essen.
Während die Erstklässler das köstliche Mittag genossen, grübelte James darüber nach, was er Snape denn für einen Streich spielen könnte. Wenn er Zuhause bei seinen Eltern Langeweile bekommen hatte, dann waren Dungbomben immer ein schöner Zeitvertrieb gewesen, auch wenn seine Mutter dann immer mit ihm geschimpft hatte. Manchmal versteckte er das Tafelsilber vor dem Hauselfen, aber das machte nicht wirklich lange Spaß, wenn der Elf einfach einen Aufrufezauber nutzte und das ganze sorgfältig versteckte Geschirr wieder in die Küche flog. Einmal hatte er alle Umhänge seines Vaters umgefärbt, aber sein Vater hatte es so lustig gefunden, dass er die grellgelben Roben den ganzen Tag getragen hatte, auch wenn er damit wie ein in die Jahre gekommener Kanarienvogel ausgesehen hatte.
Wenn sie doch nur das Dorf Hogsmeade besuchen könnten, dann könnte James sich genügend Inspiration aus dem Scherzartikelladen Zonkos holen. Dort würden ihm sicherlich gleich hundert Ideen kommen, wie er Schniefelus das Leben erschweren könnte. Irgendwas an dem Snape-Jungen störte ihn. Es war einerseits wie Sirius gesagt hatte, ihr kurzer Streit im Zug hatte bereits den Ton für den Rest ihrer Beziehung gesetzt, aber auch wie Snape Lily Evans anstarrte, als wäre sie eine Preistrophäe, die er unbedingt vor gierigen Händen schützen musste, während er selbst mit seinen schleimigen Fingern nach ihr grabschte. Es war unheimlich, wirklich.
James wollte gerade frustriert aufstehen, als die aufgeregte Stimme von Peter Pettigrew neben ihm – von dem er zuvor nicht einmal Notiz genommen hatte – erklang. „Wie wärs denn, wenn wir Snape eine Wäschezauber aufhalsen“, sagte der blonde Junge.
„Du meinst einen Waschzauber“, korrigierte Remus ihn geduldig klingend. Der blasse Erstklässler mit den vielen Narben war dabei, seinen dritten Teller voll mit Kartoffeln und Fleisch zu verdrücken. Wie konnte er bitte so viel essen und trotzdem dünner als James sein? „Aber den könnte auch jemand mit Finite beenden.“
„Kann man den Zauber nicht permanent machen?“, fragte Sirius. „Dann hätten wir ihm sogar geholfen und sein fettiges Haar würde es uns danken. Und der Rest der Schule gleich mit.“
„Wie wärs mit einer tragbaren, verfolgenden Dusche?“, schlug Peter nachdenklich vor.
James riss den Kopf hoch und starrte den anderen Jungen an. „Das ist ja genial, Pettigrew!“ Er blickte aufgeregt zu Sirius. „Meinst du, das bekommen wir hin? Ein verzaubertes Objekt kann man nicht so einfach mit Finite beseitigen, nicht wahr?“ Die letzte Frage war an Remus gestellt gewesen, der mit den Schultern zuckte.
„Professor McGonagall kann es bestimmt.“
„Dann müssen wir es eben dort tun, wo McGonagall nicht sieht, was passiert“, sagte Sirius.
„Weißt du überhaupt, wie so ein Zauber funktioniert?“, fragte Remus ihn mit hochgezogenen Brauen. „Das ist sicherlich keine Magie, die ein Erstklässler können wird.“
„Ah, ein gewöhnlicher Erstklässler vielleicht nicht, Lupin, aber ich schon. Und Potter sicher auch, nicht?“
„Sicher doch, Black. Mit einem Talent wie unseren sollte so ein Zauber ein Kinderspiel sein.“
Remus seufzte ergeben und legte sein Besteck zur Seite, den geleerten Teller von sich schiebend. „Ihr werdet euch auf jeden Fall in eine Menge Ärger begeben, soviel steht fest.“
James lehnte sich auf seinem Platz zurück. „Nur, wenn wir erwischt werden, Lupin. Nur wenn wir erwischt werden.“
***
„Hätte ja keiner ahnen können, dass sie uns erwischen. Warum musste McGonagall auch genau in dem Moment um die Ecke kommen, als wir den Zauber vervollständigt haben?“ James grummelte, während er mit einem schmutzigen Schwamm einen noch schmutzigeren Kessel schrubbte. „Das war einfach nur Pech.“
„Immerhin haben wir Schniefelus voll erwischt, bevor Minnie ihn gerettet hat“, erwiderte Sirius auf der anderen Seite des Raumes, wo er einen ebenso verklebten Kessel von den Restes eines verunglückten Tranks versuchte zu befreien.
„Sein Gesicht, als die ganze Ladung Wasser ihn erwischt hat, war es schon wert“, grinste James.
„Und als dann diese Seife angefangen hat, um seinen Kopf zu schweben? Ich muss schon sagen, diese Idee war echt gut, das muss ich Pettigrew ja lassen.“
„Aber am besten war sowieso der Moment, als die Bürste in seinen Mund geflogen ist und versucht hat seine Zunge zu schrubben.“
Sirius lachte in seinen Kessel. „Das nächste Mal wird es noch besser und dann werden wir auch nicht erwischt“, versprach er. „Dann bekommen wir sicher auch Pettigrew und Lupin dazu, uns richtig zu helfen. Irgendwie –“
„ – hat es Spaß gemacht, ja?“, beendete James seinen Satz. Dafür stand es für James schon fest. Es war gleichstimmig entschieden, dass Remus Lupin und Peter Pettigrew ab sofort seine Freunde waren, auch wenn die beiden Glücklichen noch nichts davon wussten. Ein Nein wäre nicht zu akzeptieren. Wer solche Einfälle für geniale Streiche hatte, musste einfach zu seinen Freunden gehören, fand James. Zwar hatte er Remus Lupin am Anfang für ein wenig seltsam gehalten, mit seiner blassen Haut, den gelblichen Augen und den vielen Narben auf seiner Haut, aber allein diese Planung mit ihm und Peter hatte jegliche Zweifel weggeblasen. Gemeinsam mit Peters Ideen würde Remus einen großartigen Teil von James Potters Freundesgruppe abgeben, die bisher nur zwei Mitglieder hatte. Ihn eingeschlossen.
Zwanzig Minuten später waren Sirius und er vom Kesselschrubben erlöst, als der grummelige, grantige Hausmeister Mr. Filch sie in ihren Schlafsaal schickte. Die Kerkergänge waren erfüllt vom leisen Knistern der Fackeln an den Wänden und ihren Schritten über den dunklen Stein. Obwohl es schon sehr später Abend war, fühlte James sich hellwach. Am liebsten würde er die Zeit nutzen, in der alle Schüler in ihren Gemeinschaftsräumen waren und die Gänge des Schlosses genauer erkunden. Sein Vater hatte ihm sehr kryptisch erzählt, dass es in Hogwarts eine ganze Menge Geheimnisse zu entdecken gab, aber bisher hatte James noch keine Möglichkeit gehabt, irgendwas zu finden.
Sie waren kurz vor der Tür in die Eingangshalle, als ihnen jemand in den Weg trat. Es war eine große, blasse Slytherinschülerin mit rückenlangen blonden Haare, die im schummrigen Licht der Fackeln fast weiß wirkten. Eine kleines, silbernes Abzeichen glänzte auf ihrer Schuluniform. „Sirius“, sagte sie mit fester Stimme, als die beiden Gryffindors stehen geblieben waren. „Kann ich kurz mit dir reden?“
„Was willst du, Narzissa?“, fragte er kurz angebunden. „Ich bin beschäftigt.“
„Du kommst vom Nachsitzen, du kannst nicht beschäftigt sein“, erwiderte Narzissa höhnisch. Ihr Blick flackerte zu James und ihre kühlen, dunklen Augen verengten sich kaum merklich. Sie hatte ein sehr hübsches Gesicht, allerdings sah sie auch die ganze Zeit so aus, als hätte sie gerade an einer Dungbombe gerochen; ihre Stirn lag in Falten und die Haut unter ihrer Nase war leicht angehoben.
„Was willst du, Narzissa?“, wiederholte Sirius genervt. „Wenn es nichts Wichtiges ist, dann würde ich gerne in meinen Schlafsaal zurückkehren.“
„Eigentlich geht es genau darum.“ Narzissas Blick glitt wieder zu Sirius. „Es ist mir nicht entfallen, dass du nicht in Slytherin gelandet bist.“
„Was für eine Auffassungsgabe du doch besitzt“, applaudierte Sirius ihr höhnisch. „Musste Lucius es dir erklären, als ich mich beim Festessen nicht neben dich gesetzt habe?“
Narzissa schnaubte abfällig, bevor sie den Kopf schüttelte. „Du bist wirklich unglaublich, Sirius. Du weißt ganz genau, was das für Konsequenzen haben wird. Glaubst du, deine Mutter ist mit der Entscheidung des Hutes einverstanden?“
„Mir und dem Hut ist es tatsächlich sehr egal, ob Mutter einverstanden ist. Ich bin in Gryffindor und das wars.“ Sirius wollte sich an der älteren Schülerin vorbeidrängen, aber sie hielt den Arm ausgestreckt und blockierte somit den Weg.
„Du kannst unmöglich so langsam im Kopf sein, dass du nicht verstehst, was passieren wird, sollte Tante Walburga erst einmal erfahren, dass du nicht nach Slytherin wie der Rest deiner Familie bist. Und glaub mir, sie wird davon erfahren.“ Narzissa schnalzte ungeduldig mit der Zunge. „Du tätest gut daran, wenn du dich an deine Loyalitäten erinnern würdest, Sirius.“
Dieses Mal schnaubte Sirius laut. „Soll das eine Drohung sein, Zissy?“
„Es ist eine Warnung“, meinte sie mit harter Stimme, offensichtlich gar nicht angetan von diesem Spitznamen. „Deine Eltern werden alles in Bewegung setzen, damit du in dein rechtmäßiges Haus eingeteilt wirst und –“
„Das bin ich bereits“, unterbrach Sirius sie. „Gryffindor ist mein rechtmäßiges Haus, vielen Dank.“
Trotz der nur kurzen Bekanntschaft fühlte James eine ganze Welle an Stolz über sich kommen, als er Sirius so reden hörte.
Narzissa verengte die Augenbrauen und starrte den jüngeren Schüler für ein paar Augenblicke an, dann nahm sie den Arm langsam herunter. „Wie du meinst. Aber sag hinterher nicht, ich hätte dich nicht gewarnt, Sirius. Du wirst die Konsequenzen zu spüren bekommen, da kannst du dich noch so dumm stellen. Tante Walburga ist keine sehr vergebende Frau. Du solltest das am besten wissen.“ Sie drehte sich um und ging den gleichen Weg zurück, aus dem sie gekommen war und ließ die beiden Gryffindor-Jungs allein zurück.
„Alte Ziege“, murmelte Sirius und lief weiter, als wäre nichts gewesen. „Wer glaubt sie eigentlich, wer sie ist?“
James sagte nichts, bis sie den dritten Stock erreichten. Erst dann fragte er leise: „Wird deine Mutter dich denn bestrafen?“
„Wahrscheinlich“, erwiderte Sirius nonchalant. „Aber ich will sehen, was sie hier anstellen will. Sie kann mich schlecht vor der gesamten Schule verfluchen.“
„Aber das würde sie tun, oder?“, fragte James, der sich von den sehr wenigen Informationen, die er von Walburga Black besaß, ein eindeutiges Bild der Hexe bemalt hatte. „Das hat sie schon mehrmals getan, oder?“
Sirius zuckte mit den Schultern. „Öfter, als ich mich erinnern kann. Es verliert mit der Zeit an Wirkung und ich kann mittlerweile sehr gut damit leben, wenn man mir für ein paar Stunden die Zunge an den Gaumen klebt. Soll die alte Hexe doch Terror machen, Dumbledore wird sie nicht klein bekommen.“
James wusste nicht, ob er beeindruckt oder besorgt sein sollte. Sein Freund schien sehr unbekümmert damit umzugehen, dass seine Mutter ihn bestrafen würde, wenn sie davon erfahren würde, dass er in Gryffindor gelandet war. Sirius hatte gesagt, seine ganze Familie wäre seit hunderten von Jahren in Slytherin gewesen – wenn das stimmte, dann hatte er eine uralte Tradition gebrochen. Eine Familie wie die Blacks, geführt von einer Frau wie Walburga, würde das nicht auf die leichte Schulter nehmen. Ob Narzissa vielleicht Recht hatte? Wäre Sirius in Slytherin besser aufgehoben – oder zumindest sicherer?
Ein Blick auf den schwarzhaarigen Jungen mit dem federnden Gang reichte schon aus, damit James wusste, dass das nicht stimmte. Es gab gute Gründe dafür, dass Sirius nach Gryffindor gekommen war. Er gehörte dorthin. Gryffindor war jetzt sein Zuhause, egal was Narzissa oder Walburga sagen würden.
James hechtete die Schritte zu Sirius auf, schlang einen Arm um seine Schulter und verkündete ihm, dem leeren Korridor und den schlummernden Portraits an den Wänden lautstark: „Wenn sie versuchen, dich nach Slytherin zu ziehen, dann müssen sie erstmal an mir vorbei.“
Sirius starrte ihn für einen Augenblick an. „Na das wird sie abschrecken“, sagte er schließlich trocken. „Ein Elfjähriger mit Sehschwäche und einem Wischmopp auf dem Kopf.“
„Hey, ich setze mich hier für dich ein, Black, zeig mal ein bisschen mehr Dankbarkeit.“
„Ah, der gute, großmütige Potter, ich verdiene es gar nicht in deinem heiligen Schatten zu leben, darf ich bitte, bitte deine Füße küssen?“
„Du darfst“, erwiderte James, das Kinn gereckt.
Sirius trat ihm auf den Zeh. „Sehr großzügig“, meinte er, als James vor Schmerz zischte. Dann lachte der Junge laut auf, legte seinen eigenen Arm über James‘ Schulter und drückte seinen Klassenkameraden an sich. „An uns kommt die alte Hexe nicht vorbei“, sagte er. „Die wird sich die Zähne ausbeißen.“
„Gryffindors sind eben nicht so einfach kleinzukriegen“, erwiderte James mit einem zusammengekniffenen Auge. Er rammte Sirius einen Ellbogen in die Rippe. „Nur ein Gryffindor kann einen anderen Gryffindor besiegen.“
„Ach ja?“, fragte Sirius, die dunklen Augenbrauen beinahe im Ansatz seiner Haare verborgen. „Willst du dich duellieren, Potter? Ich mach dich fertig, darauf kannst du Gift nehmen.“
„Mit Gift kennst du dich ja aus, wenn ich mir so anschaue, was in deiner Familie rumläuft“, sagte James mit Gedanken an Narzissas angewiderten Blick. Er grinste breit. „Außerdem würde ich dich in einem Duell schneller fertig machen, als Schniefelus Shampoo sagen könnte.“
„Als ob Schniefelus weiß, was Shampoo ist“, konterte Sirius. „Du würdest in wenigen Sekunden untergehen, Potter, ich bin der amtierende Duellierkönig!“
„Ah, ja, gegen wen musstest du gewinnen, um den Titel zu bekommen? Deinen Hauselfen?“
Die beiden Jungs rauften sich weiter auf dem Weg in den Gryffindorgemeinschaftsraum und als sie schließlich vor dem Gemälde der Fetten Dame angekommen waren, waren Sirius‘ Roben verrutscht und James‘ Brille schief auf seiner Nase, aber ein dickes Grinsen klebte auf beiden Gesichtern. „Meine Güte“, sagte die Fette Dame. „Ihr zwei seht aus, als ob ihr euch gerade geprügelt hättet.“
„Ich hab gewonnen“, sagte Sirius stolz und erntete dafür einen Tritt gegens Bein.
„Klappe, Black“, erwiderte James. Zur Fetten Dame sagte er: „Leo Superbus.“
„Auch dir einen schönen Abend“, sagte das Portrait mit schnalzender Zunge, ehe es nach innen schwang und den Eingang zum Gemeinschaftsraum präsentierte.
Immernoch mit den Armen über den Schultern zwängten sich James und Sirius durch das Portraitloch in den Gemeinschaftsraum, grinsten über beide Ohren, als sie schließlich auf den roten Teppich stolperten und ernteten dafür mehr als ein paar irritierte Black.
„Wo kommt ihr denn her?“, fragte Montana Fortescue, der auf einem der Sessel lag, die Beine über die Lehne geworfen und ein Quidditchmagazin aufgeschlagen auf seinen Knien liegen hatte.
„Nachsitzen“, erwiderte Sirius mit schiefem Grinsen.
„Es ist der zweite Schultag“, erinnerte Marlene McKinnon sie, die im Schneidersitz auf dem Boden saß und sich die Fingernägel lackierte. „Wie habt ihr das bitte hinbekommen?“
James zuckte mit den Schultern. „Wir wurden erwischt, als wir den ollen Schn –“, er stoppte kurz und blickte sich im Raum um, aber als er keinen Hinweis auf einen temperamentvollen roten Haarschopf finden konnte, führte er fort: „als wir den ollen Schniefelus verhext haben. Nächstes Mal sind wir vorsichtiger.“
„Nächstes Mal?“, fragte Mary Macdonald, die gegenüber von Marlene saß und über ihre Schulter blicken musste.
„Natürlich gibt es ein nächstes Mal, Macdonald“, sagte Sirius.
Mary verengte die Augen. „Wieso?“
„Wieso nicht?“, stellte er die Gegenfrage, entfernte seinen Arm von James‘ Schulter und streckte sich ausgiebig. „So ein kombiniertes Genie wie unseres“, er deutete mit einem Finger auf sich und James, „kann doch nicht von einem lausigen Streich befriedigt werden. Nein, nein, Miss.“
„Verliert bitte nicht all die Punkte, die wir angesammelt haben“, sagte Marlene, ohne die Augen von ihren Fingern zu nehmen.
„Witzig, das hat Remus auch gesagt und trotzdem war er sehr begeistert von unserer Idee gewesen“, meinte James grinsend. „Wo ist er überhaupt?“
„Im Schlafsaal“, antwortete Monty. „Zusammen mit Peter. Remus wollte ihm beim Aufsatz für Verwandlung helfen.“ Achselzuckend, als könnte man den anderen Jungen bloß nicht mit Schularbeiten an einem Freitagabend belästigen, widmete er sich wieder seiner Quidditchzeitschrift. Auf dem Titelbild war eine schnatzfangende Spielerin zu sehen, die auf dem neusten Rennbesen durch die Luft sauste.
Sirius und James verabschiedeten sich von den anderen Erstklässlern, erklommen die Treppen zu den Schlafsälen und betraten dann ihren Raum. Wie Monty gesagt hatte, saßen Remus und Peter auf Remus‘ Bett, ein ganzer Stapel an Büchern zwischen ihnen ausgebreitet, während Ersterer seinen Zauberstab erhoben hatte und dem anderen Schüler geduldig etwas erklärte.
„Du musst – ah. Da seid ihr ja“, unterbrach Remus seine Ausführung. „Lass mich raten; man hat euch erwischt?“ Der Anflug eines Grinsens schlich sich auf seine Züge. „Wer hätte das nur kommen sehen?“
„Oh, sei ruhig, Lupin“, meinte Sirius und warf sich auf sein eigenes Bett. „Nur zu deiner Information, der Zauber hat einwandfrei funktioniert. Wäre Minnie nicht in genau dem Moment um die Ecke gekommen, dann wären wir auch damit davongekommen.“
„Selbstverständlich wärt ihr das.“
„Wie viele Punkte habt ihr verloren?“, fragte Peter aufgeregt.
„Zwanzig jeder“, meinte James mit einer wegwerfenden Handbewegung. „Keine große Sache, ehrlich. Die bekommen wir am Montag noch vor dem Mittag wieder rein.“
„Besonders wenn Evans wieder ihren absolut perfekten Zaubertrank zusammenbraut“, kicherte Sirius. „Slughorn frisst ihr doch jetzt schon aus der Hand.“
James setzte sich auf sein Bett und gähnte lautstark. Er rieb sich über die Augen, bevor er verkündete: „Ich habe beschlossen, dass wir jetzt alle eine Gruppe an Freunden sind.“
„Bitte was hast du?“, fragte Sirius. „Hast du zu viele Dämpfe vom Kesselschrubben eingeatmet?“
„Klappe.“ James nahm die Brille vom Gesicht und wischte sie an seinem Hemd sauber, bevor er sie langsam wieder aufsetzte. „Wir haben doch richtig gut bei der Planung von der ganzen Sache zusammengearbeitet. Peter hatte die tolle Idee“, Peter strahlte bei diesem Lob, als ob ihm jemand einen ganzen Sack Galleonen geschenkt hätte, „Remus hat den Zauber verbessert und wir beide haben ihn bis zur Perfektion ausgeführt. Ein Blinder könnte diese atemberaubende Dynamik erkennen.“
Remus klappte mit einem lauten Knall sein Verwandlungsbuch zu. „Wie kommst du darauf“, fragte er leise und beherrscht, „das einfach zu bestimmen? Wer hat dich zum Anführer gemacht?“
James öffnete den Mund, um etwas zu sagen, aber schloss ihn direkt wieder. Das war nicht unbedingt die Reaktion, die er erwartet hatte. Wo blieben denn die Freudensprünge?
„Ich für meinen Teil kann mich nicht erinnern, gefragt zu haben, dass ihr mit mir befreundet seid“, führte Remus weiter.
„Dafür fragt man auch nicht, du Spinner“, sagte Sirius träge, eine Hand auf dem Mund, um ein Gähnen zu unterdrücken. „Niemand fragt danach, ob man befreundet sein will. Man wird es einfach.“
„Aber –“
„Nichts aber, Lupin.“ Mit den Ellbogen in die Matratze vergraben, richtete Sirius sich auf. „Was, hast du etwa vor, die nächsten sieben Jahre an der Schule keinen einzigen Freund zu haben und wie ein Parasit neben uns zu existieren? Willst du dich in deinen Büchern vergraben und kein bisschen Spaß im Leben haben? Es wird dich nicht umbringen, mit uns befreundet zu sein“, fügte er grinsend hinzu. „Auch wenn James es sicher nicht einfach machen wird.“
„Oy!“
„Der Punkt ist, dass du nichts dagegen sagen kannst, dass wir uns alle bisher super verstehen und sogar gut zusammenarbeiten. Unsere Gehirne denken gleich, wir sind wie in einem gut geölten Uhrwerk.“ Sirius gestikulierte wild mit seiner Hand herum. „Und jetzt stell dich nicht so an, Lupin, und sei unser Freund.“
Plötzlich waren alle Blicke auf Remus gerichtet, der rot angelaufen und sein Gesicht hinter dem Verwandlungsbuch versteckt hatte. James hatte das ungute Gefühl, dass er jeden Moment anfangen würde zu heulen, wurde aber eines Besseren belehrt, als ein lautes Lachen von dem Jungen kam. „Hat dir schon mal jemand gesagt, dass du ein großer Trottel bist, Black?“
„Oh, das bekomme ich mindestens zwei Mal am Tag zu hören“, grinste Sirius.
Remus nahm das Buch vom Gesicht, sein Lächeln ebenso breit und erhellend wie das des Black-Sohns. Es ließ seine blasse Haut weniger kränklich wirken, die vielen Narben weniger bedrückend. „Und trotzdem hast du immer noch so ein aufgeblasenes Ego“, sagte er kopfschüttelnd. „Schön. Na schön!“
„Na schön?“, fragte James. „Heißt das, du stimmst zu und wir sind jetzt alle die besten Freunde?“
„Ich werde das sicherlich bereuen, wenn ihr mich ungefragt in irgendwelche Pläne und Streiche einbezieht, die uns Nachsitzen einbringen werden, aber – ja. Ja, ich stimme zu.“ Remus konnte kaum zu Ende reden, da hatten sich James und Sirius unabgesprochen schon mit einem lauten Freudenschrei auf ihn geworfen. „Oof!“
„Du wirst es nicht bereuen“, sagte Sirius lachend, der Peter ebenfalls mit in ihren Angriff gezogen hatte.
„Ich fange jetzt schon damit an“, brachte Remus etwas atemlos aber ebenfalls lachend hervor. Sein Gesicht war rot und die Augenwinkel glänzten. „Geht runter von mir, ihr brecht mir ja noch alle Knochen!“
„Niemals“, erwiderte James, dessen Brille schief von seinem Ohr hing.
„Selbst Schuld“, meinte Peter achselzuckend, der irgendwo unter James‘ Bein lag. „Du hattest ja die Chance, abzuhauen.“
Remus versuchte etwas zu erwidern, aber Sirius drückte ihm eine Hand auf den Mund. „Shhh, Lupin, shhh. Gleich wird alles bes- IH! Leck mich nicht an, Lupin.“
„Dann geh von mir runter, Black.“
„Zwing mich doch dazu.“
„Würde ich, aber du liegst auf meiner Hand.“
„Dein Pech, würde ich mal sagen.“
„An deiner Stelle würde ich lernen mit offenen Augen zu schlafen.“
„Du bist nicht wirklich bedrohlich, Lupin. Ist so, als ob ein kleiner Welpe mich anbellt.“
Peter kicherte unter James‘ Körper atemlos und murmelte: „Da haben sich ja zwei gefunden.“
„Die beiden streiten wie ein altes Ehepaar“, erwiderte James lachend.
„Tun wir nicht!“, sagten Sirius und Remus gleichzeitig.
Ein kurzer Augenblick der Stille nahm den Schlafsaal ein, dann fingen alle vier Jungs lautstark an zu lachen, bis ihnen die Bäuche weh taten und sie mit roten Gesichtern und tränenden Augen nach Luft schnappen mussten. Ab diesem Moment waren James, Sirius, Peter und Remus Freunde – beste Freunde, würde James sogar sagen. Vollkommen egal, ob sie sich zwei Tage oder zwei Jahre kannten. So schnell würde nichts zwischen Gryffindors neuster Gruppe an Meisterstreichespielern kommen.
Chapter 5: 5. Jahr 1: Der erste Mond
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Sonntag war bisher der schlimmste Tag für Remus. Gerade, als er gedacht hatte, er hätte vielleicht doch die Chance darauf, ein ganze normales Schulerlebnis zu haben, hatte ihn seine kommende Verwandlung wie ein Bus eingeholt. Er war bereits mit einem unguten Gefühl aufgewacht, sein Magen hatte sich geweigert, das Frühstück länger als zwei Stunden zu behalten und jeder einzelne seiner Knochen fühlte sich, als würde er versuchen, aus seinem Körper zu entkommen. Seine Schläfen pochten, sein Kopf tat weh und dazu half es nicht, dass James und Sirius davon ausgingen, dass er jetzt all seine freien Minuten mit ihnen verbringen würde, nur weil er zugestimmt hatte, mit ihnen befreundet zu sein. Nachdem er bereits vehement dagegen gestimmt hatte, die beiden zum Quidditchfeld zu begleiten, musste er ihnen auch noch klar machen, dass er keine Lust hatte, das Schloss zu erkunden, noch in der Stimmung war, Snape in den Kerkern aufzulauern. Er war den ganzen Morgen und den Großteils des Mittags sehr gereizt und als Marlene McKinnon ihn unschuldig fragte, ob er den Aufsatz für Professor Sprout schon fertig hatte und ihr vielleicht bei den Details helfen könnte, hatte er seine Mitschülerin ungerechterweise angeschnauzt, dass sie sich gefälligst einen anderen suchen sollte, dessen Arbeit sie klauen könnte.
Bevor er sich hätte bei Marlene entschuldigen können, war sie mit roten Augen und Wangen davongelaufen. „Brutal, Mann“, sagte James, der in ein Schachspiel mit Peter vertieft. Schach schien das einzige zu sein, in dem James von Natur aus schlecht war und das regte den jungen Zauberer sehr auf. Peter hingegen war ein wahres Naturtalent und hatte James bereits fünf Mal in Folge geschlagen. „Ein einfaches Nein hätte doch gereicht.“
Remus stöhnte. „Ich wollte sie nicht so anfahren“, murmelte er erschöpft.
„Geht es dir auch wirklich gut?“, fragte Sirius zum wiederholten Male an diesem Tag. „Du bist immer noch ganz schön blass. Also – naja, blasser als sonst.“
„Ha Ha“, erwiderte Remus humorlos. Er vergrub für den Moment das Gesicht in den Händen und biss sich so fest auf die Innenseiten seines Mundes, dass er Blut schmeckte. Eigentlich war es zu früh, um bereits in den Krankenflügel zu gehen – der Vollmond war noch Stunden entfernt – aber Remus hielt es nicht mehr aus. Bevor er noch jemanden ungewollt anschnauzte und Gefühle verletzte, die er nicht verletzen wollte, erhob er sich. „Ich werd zum Krankenflügel gehen“, murmelte er.
Als wäre es eine Einladung gewesen, stand Sirius ebenfalls auf. „Ich begleite dich“, sagte er feierlich. „Nicht, dass unser Remu hier noch umkippt.“
„…Remu?“
„Ein Spitzname“, erklärte Sirius grinsend. „Jeder sollte einen haben.“
Remus war zu müde und zu kraftlos, um großartig zu argumentieren. Er zuckte lediglich mit den Schultern und ließ sich dann von Sirius zum Portraitloch bugsieren. Er schaffte es gerade so, den Jungs ein: „Bis später“, zu zu rufen, da hatte Sirius ihn auch schon in den Gang verfrachtet. „Du musst wirklich nicht mitkommen“, versuchte er es, aber hätte genauso gut mit der Treppe reden können.
„Unsinn“, meinte Sirius. „Dafür sind Freunde ja da.“
Das Schloss war so gut wie ausgestorben. Da es ein herrlicher Tag draußen war, hatte es sich ein Großteil der Schüler am Schwarzen See gemütlich gemacht, wo sie im Schatten der breiten Kronen Bücher lasen, Hausaufgaben machten oder dösten, während wieder andere mit nackten Füßen im seichten Ufer Steine über die Wasseroberfläche springen ließen oder die trägen Fangarme des Riesenkraken kitzelten, die immer mal wieder hervorbrachen. Als sie gerade den dritten Stock erreicht hatten, wurden sie von Peeves dem Poltergeist aufgehalten.
Peeves war ein fieser Geist. Kaum größer als ein Erstklässler, aber mindestens fünfmal so nervig, schwebte er eine Handbreit über dem Treppengeländer und stopfte Kaugummis in die Schlüssellöcher der Türen oder zerkratzte den Lack der Portraits. Der Poltergeist war kopfüber damit beschäftigt, ein noch feuchtes Kaugummi in eins der Schlüssellöcher zu drücken, als er Remus und Sirius bemerkte. „Ooooooh, Oooohhho!“, sagte er freudig erregt. „Winzige Erstklässler.“
„Oh, verzieh dich, Peeves“, zischte Sirius und versuchte Remus schnell die Treppe weiterzuziehen.
„Warum denn so frech, Black?“, fragte der Poltergeist mit gackernder Stimme. „Auf dem Weg, ein bisschen schwarze Magie zu lernen? Suchst du ein nettes Opfer zum verhexen?“ Peeves kicherte und verschwand mit einem Blinzeln, nur um im nächsten Augenblick direkt vor ihnen aufzutauchen.
Sirius schob einen Arm vor Remus. „Lass uns durch, Peeves“, sagte er befehlend. Wahrscheinlich funktionierte es jedes Mal bei seinem Hauselfen, aber Peeves gackerte nur noch lauter.
„Führst du dein Haustier spazieren, Black, ja?“ Der Poltergeist drehte sich wieder auf den Kopf und streckte ihnen die Zunge heraus. „Bringst die kleine Halbbrut wahrscheinlich in den Kerker zum Sezieren.“
Peeves Worte hätten Remus fast stolpern und eine ganze Ladung an Treppenstufen herunterfallen lassen, wenn Sirius ihn nicht gepackt hätte. Eiskalt lief es dem Jungen den Rücken herunter und er starrte den Geist vor sich mit weitaufgerissenen Augen an. Peeves konnte unmöglich darüber Bescheid wissen, was Remus war. Das konnte nicht sein. Dumbledore hätte es ihm nicht gesagt, das würde er – aber dann hatte er es ihm wohl auch nicht gesagt. Peeves hatte spioniert! Remus hatte zwar alle Farbe im Gesicht verloren und war wacklig auf den Beinen, aber er zog seinen Zauberstab langsam aus der Umhangstasche, während Sirius neben ihm umso dunkler im Gesicht geworden war.
„Pass auf, was du sagst, Peeves“, zischte er gefährlich. „Du willst mich nicht kennenlernen, wenn ich sauer bin.“ Wahrscheinlich wäre sogar James jetzt einen Schritt von Sirius weggestolpert, hatte der junge Zauberer einen doch sehr bedrohlichen Blick aufgesetzt und versprühte Funken aus seinen Augen, aber Peeves lachte nur noch lauter, ein hässliches, ohrenschmerzendes Geräusch, dass im Echo der Treppen nur noch abscheulicher klang.
Remus klingelten die Ohren und er hatte das Gefühl, sich jeden Moment erneut übergeben zu müssen, aber seine Wut und seine Angst, dass Peeves ihn verraten könnte, übermannten jede Müdigkeit. Er richtete seinen Stab unter Sirius ausgestrecktem Arm auf das Schlüsselloch, murmelte: „Waddiwasi“, und beobachtete mit äußerster Genugtuung, wie die Kaugummireste wie eine Pistolenkugel durch die Luft direkt in Peeves Nasenlöcher schossen.
Der Poltergeist ließ ein langgezogenes Heulen von sich, dann rauschte er unter wüsten Beschimpfungen die Treppen hoch.
Sirius starrte ihn beeindruckt an. „Cool“, sagte er schließlich. „Obwohl du so aussiehst, als würdest du jeden Moment tot umfallen, kannst du trotzdem noch mit Peeves fertig werden.“ Sirius legte ihm vorsichtig eine Hand auf die Schulter, um ihn weiter zu stützen, während sie endlich die Treppe hinunterstiegen. „Ich wusste, es war eine gute Entscheidung, mit dir befreundet zu sein.“
Remus lächelte fahrig. „Wenn du mich auch irgendwann so nervst, dann nutz ich den Zauber gegen dich.“
„Nicht, wenn ich ihn zuerst verwende“, konterte Sirius grinsend, aber selbst sein Lachen konnte die Sorge aus seinem Blick nicht verbannen, als er das blasse Gesicht und die blutunterlaufenen Augen seines Freundes sah. „Man, du siehst echt scheiße aus.“
„Trotzdem besser als du“, brummte Remus.
„Ich tue so, als ob ich diesen absolut verletzenden Kommentar nicht gehört hätte“, sagte Sirius. „Du bist im Krankheitsdelirium, du weißt einfach nicht, wovon du redest.“ Im zweiten Stock angekommen und mit den Füßen bereits auf den Stufen hinunter in den ersten Stock, fügte Sirius hinzu: „Keine Sorge, Madam Pomfrey bekommt dich in wenigen Minuten wieder auf die Beine. Sie hat bestimmt irgendeinen Trank für dich.“
Remus bezweifelte stark, dass ein einfacher Aufpäppeltrank ausreichen würde, damit die wölfischen Emotionen in seinem Körper Ruhe geben oder der Schmerz in jeder Zelle vergehen würde, aber er schenkte Sirius ein dankbares Lächeln, auch wenn er glaubte, dass es viel eher als Grimasse endete. Die letzten Meter bis zum Krankenflügel warf Sirius ihm immer wieder einen besorgten Seitenblick zu, als glaubte er wirklich, Remus würden jeden Augenblick einfach umkippen.
Kaum hatte Sirius Remus über die Türschwelle in den Krankenflügel gezerrt, rauschte Madam Pomfrey wie vom Blitz getroffen aus ihrem Bürozimmer auf die beiden Erstklässler zu. Ein Rest Soße klebte an ihrem Mundwinkel und ihre Schürze sah aus, als hätte sie eine Kartoffel darauf fallen lassen. Sie sagte nicht sofort etwas, sondern führte Remus zum Bett, das ihnen am nächsten stand und drückte ihn mit sanfter, aber bestimmter Hand auf die weichen, weißen Laken. Erst dann drehte sie sich zu Sirius um. „Vielen Dank, Mr. Black. Ab hier kann ich übernehmen.“ Sie wollte ihn bereits mit ungeduldiger Miene aus dem Saal scheuchen, doch Sirius setzte eine trotzige Miene auf.
„Was hat er denn?“, fragte er mit einem Kopfnicken auf Remus. „Ich will gern wissen, ob ich helfen kann.“
„Das ist sehr rührend, Mr. Black“, murmelte Madam Pomfrey, die bereits das Kissen auf Remus‘ Bett ausschüttelte und aus einem Schränkchen daneben einen sauberen Pyjama zog, „aber ich glaube kaum, dass Sie so gebildet in der Heilkunst sind, dass Sie jetzt noch eine sonderlich große Hilfe wären. Tut mir leid“, fügte sie mit einem sanfteren Blick über die Schulter hinzu. „Mr. Lupin ist bei mir in guten Händen.“
„Das bezweifle ich auch gar nicht, aber –“
„Sirius“, sagte Remus und war selbst überrascht, wie kraftlos seine Stimme klang. „In der Schublade neben meinem Bett liegt eine Tafel Schokolade aus dem Honigtopf.“
„Gute Idee, ja, ja, Schokolade kann Wunder bewirken“, sagte Madam Pomfrey fahrig. „Gehen Sie, Mr. Black, holen Sie Mr. Lupins Schokolade.“
Sirius sah verwirrt drein. Seine dunklen Augenbrauen waren so stark zusammengezogen, dass sie wie eine einzige wirkten. „Bist du dir sicher, Remus? Soll ich nicht lieber hier bleiben?“
„Nein!“, rief Remus aus. „Nein“, fügte er etwas ruhiger hinzu. „Ich meine, ich weiß es zu schätzen, aber nein.“
„Mr. Lupin braucht Ruhe“, sagte Madam Pomfrey hilfreich. „Sie dürfen ihn morgen besuchen kommen und dann die Tafel Schokolade mitbringen.“
Obwohl Sirius sich zur Tür umdrehte, sah er nicht überzeugt aus. Remus lächelte, obwohl ihm speiübel war. „Ich komm schon klar“, murmelte er in die Richtung seines Freundes, bevor er sich von Madam Pomfrey aufhelfen ließ. „Das ist nicht das erste Mal, dass es mir mies geht, Sirius.“
„Ich bin direkt morgen früh hier“, sagte Sirius, drehte sich um und verschwand dann aus dem Krankenflügel.
Madam Pomfrey wartete ein paar Momente, bis sie sich sicher war, dass die Schritte, die sie gehört hatten, auch wirklich seine waren, dann wandte sie sich an Remus. „Sie haben sehr fürsorgliche Klassenkameraden, Mr. Lupin.“ Sie zog die Vorhänge um das Bett zu, damit Remus sich umziehen konnte.
„Er lässt mir nicht wirklich eine andere Chance“, sagte er müde lächelnd, während er sich den Umhang über den Kopf zog. Es dauerte ein paar Minuten, aber schließlich hatte Remus sich den Pyjama angezogen, den Madam Pomfrey ihm gegeben hatte und war ins Bett gestiegen. Er seufzte und legte sich beide Hände aufs Gesicht.
„Wie geht es Ihnen denn, Mr. Lupin?“, fragte die Heilerin und kam um den Vorhang herumgelaufen. „Sie sehen wirklich sehr blass aus.“
„Mir geht’s bestens“, brachte er lahm hervor. „‘S der Mond. Der Wolf will raus.“
Madam Pomfrey nickte verstehend, aber er konnte an ihren Augen erkennen, dass sie es nicht wirklich verstand. Wie könnte sie auch? Sie musste sich immerhin nicht jeden Monat in ein mörderisches Biest verwandeln. „Ruhen Sie sich noch ein wenig aus, ich werde sie wecken, sobald wir zur Weide müssen.“ Sie zeichnete eine runde Form mit ihrem Stab in die Luft und konjugierte einen Eimer aus dem Nichts, den sie neben sein Bett stellte. „Nur für den Fall“, fügte sie lächelnd hinzu, bevor sie die Vorhänge komplett zuzog und mithilfe ihres Stabes das Licht um sein Bett dimmte.
„Danke“, krächzte Remus, hörte aber nicht mehr, ob sie etwas antwortete, denn da war er bereits eingeschlafen.
Es konnten nur Sekunden vergangen sein, da rüttelte Madam Pomfrey ihn sanft an der Schulter und weckte Remus sofort auf. Ihm war eiskalt und jeder Winkel seines Körpers tat weh, als hätte er sich in einen brodelnden Kessel gesetzt. Madam Pomfrey drückte ihm kurz einen kühlen Lumpen auf die Stirn. „Ich fürchte, wir müssen los, Mr. Lupin.“
Remus gab ein unverständliches Geräusch von sich, bevor er sich mithilfe seines Ellbogen hochdrückte. Kaum hatte er die Augen geöffnet, war ihm schwindelig und bevor es zu spät war, warf er den Oberkörper zur Seite und übergab sich mit einem widerwärtigen Platschen in den Eimer.
Madam Pomfrey verzog keine Miene, sondern ließ das Erbrochene lediglich mit dem Wink ihres Zauberstabes verschwinden, bevor sie Remus einen Kelch voll Wasser reichte, den er gierig leerte. Sie half ihm aufzustehen und warf dann einen dicken Umhang über seine Schultern.
Vor den Fenstern war der Tag bereits verschwunden. Die Sonne war lediglich als halbe Scheibe am Horizont zu sehen und es war nicht mehr viel Zeit, ehe der Vollmond am Himmel stehen und nach dem Wolf rufen würde. Obwohl Remus am liebsten wieder in die weiche Decke sinken würde, ließ er sich von Madam Pomfrey durch das leere Schloss führen. Ihre Schritte hallten durch die menschenleeren Korridore. Die meisten Fackeln waren bereits erloschen, aber Madam Pomfreys erleuchtete Zauberstabspitze sorgte für genug Licht, damit sie sich nicht stolpern würden.
Die Ländereien sahen aus, als würden sie in Flammen stehen. Das Abendrot hatte sich wie eine Decke über die weiten Wiesen gelegt und auf der stillen Wasseroberfläche des Schwarzen Sees war der Rest der brennend roten Sonne zu sehen, die sich immer weiter verabschiedete. Genau bekam Remus nicht mit, wo Madam Pomfrey ihn entlang führte, oder wie sie es schaffte, dass die Peitschende Weide – ein riesiger Baum mit dicken, knorrigen Ästen, die wild um sich schlugen, sobald man ihm zu nahe kam – sie nicht grün und blau prügelte, aber schließlich geleitete sie den müden Jungen in einen schmalen, erdigen Tunnel. „Nicht mehr weit“, sagte sie mit sanfter Stimme hinter ihm, eine Hand vorsichtshalber auf seiner Schulter, damit er nicht umkippen würde.
Wer auch immer die Heulende Hütte gebaut hatte, Remus applaudierte im Stillen die Kunst, ein absolut neues Gebäude aussehen zu lassen, als wäre es seit Jahrhunderten nicht mehr bewohnt gewesen. Eine dicke Staubschicht bedeckte die losen Dielenbretter, sodass das Holz hellgrau aussah. Kaputte Lampen standen in den Ecken, ein altes, schmutziges Piano nahm den Großteil eines Raumes ein, den Remus als Wohnzimmer bezeichnen würde und eine Tür weiter stand ein mottenzerfressenes Himmelbett an die Wand gelehnt. Die Fenster waren alle mit Holzbrettern vernagelt, die einem Werwolf nicht standhalten würden.
Madam Pomfrey half Remus, damit er sich auf das schmuddelige Bett setzten konnte, dass sie mit dem Wink ihres Stabes vom gröbsten Staub und Schmutz befreite. Sie drehte sich taktvoll um, damit Remus sich des Umhangs und des Pyjamas entledigen konnte – bei der Verwandlung würde keines der Kleidungsstücke sonderlich lange überleben – bevor sie die Kleidung blind entgegennahm.
Remus schlang sich schnell eine dünne Tagesdecke um den Körper. „Sie müssen gehen“, sagte er gepresst. Um nicht vor Schmer aufzuschreien, biss er sich die Zunge. Sein Kopf wollte explodieren.
„Ich bin direkt bei Sonnenaufgang wieder hier und werde dich holen, Remus, es gibt keinen Grund zur Sorge“, sagte Madam Pomfrey mit schnellen, sanften Worten. „Hörst du? Es wird alles gut.“
Der Junge krümmte sich über, nickte, stöhnte vor Schmerz. „Gehen Sie!“, rief er laut. Er hoffte, dass die Heilerin wusste, dass er sie nicht anschreien wollte.
Madam Pomfrey eilte aus dem Haus und schlug die Falltür in den Tunnel hinter sich wieder ins Schloss. Das Gefühl von mächtiger Magie hüllte sich um das Haus, so stark, dass Remus für den Moment das Gefühl hatte, man hätte ihn verzaubert.
Viel Zeit hatte er nicht mehr. Er warf die Decke wieder von sich und stopfte sie unter das Bett, hatte aber nicht mehr genug Kraft, aufzustehen. Auf allen Vieren knieend schrie er vor Schmerz auf, als er die ersten Anziehungskräfte des Vollmondes spürte. Es war nur noch eine Frage von Sekunden, dann würde der Wolf hervorbrechen, würde Knochen brechen und verschieben, Haut zerreißen und dichtes, schwarzes Fell am gesamten Körper sprießen lassen. Remus hoffte, dass seine Freunde sich keine Sorgen um ihn machen würden, dann verlor er sein menschliches Bewusstsein.
Der Wolf war mit einem schmerzerfüllten, lauten Heulen erwacht.
***
Die Verwandlung war lange nicht mehr so schlimm gewesen. Remus erwachte in kaltem Schweiß und mit dutzenden frischen Wunden am ganzen Körper, blaue Flecke, Schürfungen und dicke Stellen bedeckten seine Haut wie ein radikales Kunstwerk und jeder Atemzug brannte in seiner Lunge, als wäre sie mit Feuerwhisky gefüllt. Der Junge kam nur halb zum Bewusstsein. Er wusste, er lag auf dem Boden, ein Arm schmerzhaft unter seinem Körper eingeklemmt und der Pein zufolge, die seinen linken Fuß einnahm, hatte er sich mehr als nur einen Knochen gebrochen. Der widerwärtig metallische Geruch von Blut lag in der stickigen Luft – von seinem Blut.
Remus stöhnte vor Schmerzen, sein Mund war trocken und voller Haare. Er spuckte und versuchte sich aufzurichten, aber ein blinder Schmerz raste wie ein Blitz durch seinen Körper, ließ ihn wieder zusammensacken. Seine Finger waren blutig gekratzt, die Nägel rissig und abgebrochen, die Haut war aufgebrochen und blutig. Jeder noch so seichte Luftzug schickte eine neue Welle an feurigen Schmerzen über seine Haut.
Obwohl er die Augen kaum öffnen konnte, konnte er einen Teil seiner Umgebung erkennen. Er war nicht im Keller seiner Eltern, da waren keine massiven Betonwände, die den Krallen des Wolfes standhielten. Überall war nur Holz. Zersplitterte Dielen brachen in die Luft an den Stellen, an denen Remus versucht haben musste, hindurchzubrechen, ein Stuhl lag mit Biss- und Krallenspuren einsam und verlassen in einer Ecke, eins der Stuhlbeine war abgerissen und den Zahnabdrücken nach zu urteilen als Kauspielzeug verwendet worden. Dem alten Piano fehlten ein paar Tasten, aber es war größtenteils noch intakt. Die Vorhänge, die um das Bett gehangen hatten, waren zerrissen worden, Stofffetzen klebten an den Wänden wie Blutlachen. Lediglich die verrammelten Fenster waren gänzlich unberührt. Remus konnte nicht sagen, ob er versucht hatte, die Bretter davonzureißen oder ob die Magie, die sie schützte, einfach stark genug war, damit nicht einmal ein Werwolf einen Kratzer hinbekommen würde, aber es kümmerte ihn auch nicht wirklich. Wichtig war nur, dass die Hütte standgehalten hatte.
Remus schaffte es, die dünne Decke unter dem Bett hervorziehen und warf sie sich mit schmerzhaften Bewegungen über den geschundenen Körper. Wenn er versuchen würde, aufzustehen und sich ins Bett zu legen, dann würde er sich nur noch mehr verletzen und für eine Nacht hatte er sich genug angegriffen. Er wartete auf dem kühlen, schmutzigen Boden. Mit brennenden Tränen in den Augenwinkeln bemerkte er die massiven Pfotenabdrücke, die sich in den Staub gepresst hatten. Seine Abdrücke. Er legte eine Hand darauf. Sie war um ein Vielfaches kleiner als die Pranke des Wolfes.
Er musste wieder eingeschlafen sein – hatte vielleicht auch nur das Bewusstsein wieder verloren – aber als er das nächste Mal die Augen öffnete, begegnete er den besorgten Augen Madam Pomfrey. „Oh, Merlin sei Dank“, rief sie erleichtert aus. „Für einen Moment dachte ich – aber du bist ja wach.“ Die Heilerin hatte dunkle Schatten unter den Augen und das Weiß ihrer Augäpfel war blutunterlaufen. „Ich konnte die ganze Nacht nicht schlafen“, sagte sie, als hätte sie Remus‘ Blick bemerkt. „Die ganze Zeit war ich so in Sorge.“
„Schon gut“, wollte Remus sagen, aber er verschluckte die meisten Silben und alles, was seinem Mund entkam, war ein leises Krächzen.
„Bleib liegen, Schatz“, sagte Madam Pomfrey fahrig. Sie hatte die Decke eng um seinen Körper gewickelt, damit er nicht gänzlich entblößt vor ihr liegen musste. „Ich muss mir erst einmal all diese Verletzungen ansehen.“
Die Heilerin arbeitete schnell und präzise. Sie schloss kleinere Schnitte und Kratzer mit ihrem Stab, ließ Blutungen stoppen und reduzierte blaue Flecken zu kaum erkennbaren Hautirritationen. Seine zerstörten Fingernägel ließ sie wieder nachwachsen und nachdem sie seine Haut gereinigt hatte, schloss sie auch die Wunden an Fingern und Knöcheln, bevor sie einen Verband beschwörte. Trotz ihrer sanften Arbeit tat jede Berührung weh. Sie heilte seinen gebrochenen Fuß und legte eine Schiene an, flickte ebenso zwei gebrochene Rippen, die Remus nicht einmal mehr bemerkt hatte und ließ lange Krallenspuren auf seinem Bauch und den Oberschenkeln verschwinden, bis lediglich feine, rote Schlieren zu erkennen waren. „Ich kann nicht alles verschwinden lassen“, murmelte die Heilerin, als sie zum dritten Mal in Folge mit ihrem Stab auf eine besonders garstige Verletzung an seinem Rücken drückte.
„‘S ok“, murmelte Remus. „Bin an Narben g’wöhnt.“
Madam Pomfrey sah aus, als wollte sie etwas darauf erwidern, aber sie schüttelte lediglich den Kopf. Sie half Remus in eine aufrechte Position. „Ich kann es nicht fassen“, murmelte sie. „Seit sechs Jahren geht das so. Es ist ein Wunder, dass du überhaupt noch lebst. Ich habe noch nie von – aber so junge Leute werden meist auch nicht… deine armen Eltern müssen jedes Mal krank vor Sorge sein – man muss doch besser helfen können –“ Anstatt direkt mit Remus zu reden, murmelte die Heilerin säuerlich vor sich hin, während sie noch einmal seinen Körper auf Verletzungen untersuchte, die sie übersehen hatte.
Remus hatte es nicht in sich, ihr zu sagen, dass sie sich bloß keine Sorgen machen sollte. Wahrscheinlich würde er eh auf taube Ohren stoßen. Madam Pomfrey sah nicht so aus, als würde sie auch nur ein Widerwort akzeptieren, egal wie seicht es auch wäre. Es wäre besser, wenn er sie wütend murmeln ließ.
Als sie sich sicher war, dass die gröbsten und schlimmsten Verletzungen und Wunden geheilt waren, reichte sie Remus den Pyjama, den er gestern Abend ausgezogen hatte und bestand darauf, ihm beim Anziehen zu helfen, auch wenn er protestierte. „Es gibt nichts an dir, was ich nicht schon ein Dutzend Mal gesehen hätte“, meinte sie brüsk, auch wenn der Junge bemerkte, dass ihre Augen über seine vielen Narben flackerten, zu denen sich heute eine neue gesellen würde.
Wenn er dachte, sein Körper würde schon wehtun, wenn er nur den Pyjama anzog, dann war es nichts im Vergleich mit dem Rückweg in den Krankenflügel. Obwohl Madam Pomfrey so langsam ging, wie sie es zuließ und ihn mit beiden Händen sachte stützte, war es eine Qual. Noch nie musste Remus den Folterfluch spüren – einen Unverzeihlichen Fluch, der dem Opfer die schlimmsten Schmerzen überhaupt bereiten würde – aber er glaubte, er würde damit zurechtkommen, wenn er diesen Morgen überstand. Jeder Schritt tat weh. Alles in seinem Körper schrie. Zwei Mal wäre er fast eingeknickt und musste von der mütterlichen Hexe gestützt werden. Die Strecke von den Ländereien zum Krankenflügel war nur eine kurze, aber mit Remus‘ Kondition brauchten sie trotzdem so lange, dass die Sonne mittlerweile gänzlich über den Wipfeln des Verbotenen Waldes aufgegangen war. Die warmen Strahlen waren wie ein Friedensangebot der Welt auf seine Haut.
Im Krankenflügel angekommen, wollte Remus nichts anderes, als in die weichen Laken zu fallen und für die nächsten einhundert Stunden zu schlafen. Madam Pomfrey hatte ihn gerade zum Bett geführt und die Vorhänge um ihn herum gezogen, als sie Gesellschaft bekamen.
„Schulleiter!“, rief Madam Pomfrey überrascht aus, als niemand anderes als Albus Dumbledore durch die Pforten des Krankenflügels trat.
Albus Dumbledore war ein höchst seltsamer Mann. Seine Haare und sein Bart waren weiß wie Schnee und beide so lang, dass er sie in seine Gürtelschnalle stecken konnte. Er trug einen purpurfarbenen Umhang mit goldenen Stickereien und Mustern, die niemand wirklich verstand, außerdem hohe, schwarze Stiefel mit hohen Haken sowie einen passenden Hut zum Umhang. Sein Gesicht war zwar mit den Zeichen des Alters versehen, aber strahlte noch immer unglaubliche Macht und unendliches Wissen aus. Grelle, blaue Augen glänzten hinter einer Halbmondbrille hervor, die das frühe Sonnenlicht einfing und in kleine Flecken auf den Boden warf. Er lächelte. „Poppy“, sagte Dumbledore mit einer warmen, tiefen Stimme, bei der Remus an einen liebenden Großvater dachte. „Ich bin gekommen, um ein paar Worte mit dem jungen Mr. Lupin zu wechseln, wenn es keine Umstände macht.“
Jede andere Person hätte dem Schulleiter Hogwarts‘ diesen Wunsch wohl ohne jede Widerworte erfüllt, aber Madam Pomfrey war aus einem sehr unterschiedlichen Holz geschnitzt. „Bei allem Respekt, Albus“, fing sie an und riss die Vorhänge um Remus‘ Bett zu, sodass der Junge nur noch nie die Stimmen der beiden Erwachsenen vernehmen konnte, „aber der Junge braucht Ruhe. Ich werde ihm sogleich verschiedene Tränke geben, die ihm helfen werden, zu heilen und zu schlafen und –“
„Ich verstehe, Poppy“, unterbrach Albus sie sanft. „Gib mir eine Minute.“
Madam Pomfrey senkte die Stimme und obwohl sie nur noch flüsterte, kamen ihre Worte klar und deutlich bei Remus an. „Du hast ihn nicht gesehen, Albus. Sowas – sowas habe ich noch nie gesehen“, sagte sie fassungslos. „Er lag wie der Tod persönlich auf dem Boden, überall Blut, diese ganzen Verletzungen – der arme Junge kann kaum atmen, ohne Schmerzen zu erleiden. Ich habe getan, was ich konnte, aber ich kann nichts gegen Werwolfverletzungen tun.“
„Es ist das traurige Schicksal des jungen Mr. Lupin“, erwiderte Dumbledore. „Ich kann mir nur vorstellen, wie du dich fühlen musst, Poppy“, Remus stellte sich vor, wie der Schulleiter der aufgebrachten Heilerin den Arm tätschelte, „aber ich denke – und Remus wird mir sicherlich zustimmen – dass niemandem geholfen ist, wenn du dich in Sorge verlierst. So schwierig es auch ist, aber Mr. Lupin musste sich nicht das erste Mal verwandeln.“
„Albus!“, sagte Madam Pomfrey protestierend, doch es war nicht geholfen.
Im nächsten Moment drückte Dumbledore die Vorhänge sanft zur Seite und trat neben Remus‘ Bett. Der spielerische Glanz aus seinen Augen war verschwunden, als er die frischen Verletzungen auf Remus‘ Haut entdeckte. „Es tut mir leid, dass ich dich belästigen muss“, sagte Dumbledore und senkte leicht den Kopf.
„Das ist okay, Sir“, erwiderte Remus schnell, fühlte er sich doch etwas seltsam, wenn der Schulleiter ihn so behandelte. „Wie kann ich Ihnen helfen, Professor Dumbledore, Sir?“
Ein eher trauriges Lächeln erschien auf Dumbledores Lippen. „Ich komme nur vorbei, um von dir zu hören, wie deine Nacht gelaufen ist, Remus.“
„Meine Nacht, Sir? Ich – es tut mir leid, aber ich kann nicht viel sagen. Wissen Sie, ich erinnere mich nicht daran, wenn ich mich verwandle.“
„An überhaupt nichts?“, fragte der Schulleiter.
„Ich –“, fing Remus an, aber stockte dann. Jetzt, wo der erwachsene Zauberer es ansprach, schien es, als wäre eine Blockade in seinem Kopf gelöst worden. Unzusammenhängende Bilder flossen vor seinen Augen auf und ab.
Wolfspfoten, die an brüchigem Holz kratzten, ein lautes Heulen, als der Wolf seine Krallen gegen die Falltür presste, die so unwiderstehlich nach Mensch roch, beißender Schmerz in seinem Bein, als Splitter sich tief in seine Haut jagten, der Geschmack von Holz und Blut im Maul, Zähne, die in sein eigenes Fleisch bissen, ein lautes Knacken, als der Wolf wütend gegen die Wand sprang und einen Ausweg suchte, Schmerz bei jedem Schritt, Pfoten im Staub, Krallen an den Fenstern, Zähne im Stuhl… Das unmissverständliche Gefühl der Angst, als der Wolf erkannte, dass er nicht mehr in seinem alten Heim war, als er das erste Mal die Holzwände sah, als er mit lautem Heulen nach den Gerüchen der Menschen suchte, die immer in seiner Nähe waren, nach den Gerüchen der Eltern des Menschen in ihm und als er sie nicht fand, die Realisation, dass er komplett allein war, verlassen selbst von denen, die ihn liebten und –
Remus versuchte es so gut zu beschreiben, wie er konnte und als er fertig gesprochen hatte, nahm Madam Pomfrey langsam die Hände von ihrem Gesicht und wischte sich über die tränenden Augen. Dumbledore allerdings weinte nicht. Er nickte verständnisvoll und dankte Remus.
„Es wird Zeit, dass du dich ausruhst“, sagte Dumbledore. Er hatte sich bereits zum Gehen umgewandt, blickte allerdings noch einmal über die Schulter zum Jungen auf dem Bett. „Viele ausgewachsene Zauberer würden bei deinen Erfahrungen den Verstand verlieren. Du bist wesentlich stärker, als du vielleicht glaubst, Remus, vergiss das nicht. Wir wissen beide, dass die Welt ein unfairer Ort für jemanden wie dich ist und dass du es nicht verdient hast, so leben zu müssen, aber in jeder Dunkelheit kann man eine Spur des Lichts finden. Du bist ein sehr starker Mensch, Remus.“
Professor Albus Dumbledore verließ den Krankenflügel und kaum war die Tür hinter ihm zugefallen, holte Madam Pomfrey die angekündigten Zaubertränke hervor. Noch immer glänzten Tränen in ihren Augen und sie konnte ebenso eine gesunde Portion Schlaf vertragen, aber bevor sie überhaupt an sich denken konnte, eilte sie um Remus herum. „Hier, Liebling, nimm die.“ Sie drückte ihm einen Trank nach dem anderen in die Hand, einer schmeckte widerlicher als der zuvor. „Die helfen der Heilung“, erklärte sie fahrig. „Und hier“, sie gab Remus einen letzten Becher voll mit durchsichtiger Flüssigkeit, die hoffentlich kein Vergessenstrank war, „der wird dich ohne Träume einschlafen lassen.“
Remus hatte kaum den Becher geleert, da wurden seine Augen auch schon schwer. Er bekam gerade noch mit, wie Madam Pomfrey die Decke über seinen Körper warf und ihn bis zum Kinn darin einwickelte, dann war er auch schon eingeschlafen.
***
Es gab großen Tumult im Schlafsaal der Gryffindorerstklässler. Nachdem Remus Lupin am Sonntagabend nicht mehr zurückgekehrt war, hatte Sirius sich mit der angewiesenen Schokoladentafel auf den Weg zum Krankenflügel gemacht. Er hatte die Tafel so fest mit den Fingern umschlossen, dass er die Schokolade unter der Hitze seiner Haut hatte schmelzen spüren, aber in dem Moment war es ihm relativ egal gewesen. Remus hatte ihm den Auftrag gegeben, ihm die Süßigkeit vorbeizubringen, damit er sich besser fühlen würde und Sirius nahm seine Mission sehr ernst, auch wenn James ihn dafür ausgelacht hatte.
„Was, spielst du jetzt Laufburschen für Lupin?“, hatte der Erbe des Potter-Namens gefragt.
„Klappe, Potter. Ich tue einem Freund einen Gefallen, ich weiß, davon verstehst du nicht viel.“ Peter, Mary und Monty hatten daraufhin laut gelacht und Sirius war aus dem Portraitloch geklettert. Als er allerdings im Krankenflügel angekommen war, hatte Madam Pomfrey ihn direkt wieder weggeschickt.
„Mr. Lupin schläft“, hatte die Heilerin mit gedämpfter Stimme verkündet. Ihre Augen waren auf die Tafel Schokolade gefallen, die Sirius in den Fingern hatte. „Aber er wird sich sicher über ihren Besuch freuen, Mr. Black, ich werde es ihn wissen lassen.“
Sirius hatte protestiert. Er wollte dableiben, bis Remus wieder aufwachte und ihm dann die Süßigkeit persönlich präsentieren, aber Madam Pomfrey wollte nichts davon hören. Sie hatte ständig davon geredet, dass der Krankenflügel kein Aufenthaltsraum für streunende Schüler war, die nicht in den Unterricht wollten und ihn dann mit ausschweifenden Handbewegungen fortgeschickt.
Der Montag war vergangen und es hatte keine Nachricht von Remus gegeben. Nach dem Mittagessen und nach dem Abendessen war Sirius beides Mal noch einmal in den Krankenflügel gegangen und war schon drauf und dran gewesen, sich an Madam Pomfreys Vorhängen vorbeizuschleichen, doch er war kaum in Reichweite gewesen, den Stoff auch nur anzuatmen, da war die Heilerin schon aus ihrem Büro gerannt. „Mr. Black“, hatte sie aufgebracht gerufen. „Man sollte meinen, Sie wären ein Klettfluch, so schwierig ist es, sie loszuwerden! Ich versichere Ihnen, Mr. Lupin ist am Leben und guter Gesundheit, aber er benötigt Ruhe. Der Junge hat ein Dutzend verschiedene Aufpäppeltränke intus und wahre mir Merlin, ich werden Ihnen ebenfalls die gesamte Dosis einflößen, wenn das bedeutet, dass Sie dann endlich Ruhe geben.“ Als hätte die Heilerin gespürt, dass ihr aufbrausender Tonfall Sirius verschreckt haben könnte, hatte sie angefügt: „Sie dürfen Mr. Lupin morgen nach Ihrem Unterricht besuchen kommen, Mr. Black. Dann wird er wach und in einer Verfassung sein, auch mit Ihnen zu reden. Und jetzt ab mit Ihnen oder ich setze Professor McGonagall davon in Kenntnis.“
Eher widerwillig hatte Sirius den Krankenflügel verlassen und war mit den Händen tief in den Hosentaschen vergraben wieder in seinen Gemeinschaftsraum gestiegen. Mies drauf, wie er war, hatte er unterwegs eine Gruppe an Ravenclawschülerinnen verhext, die ihm zu laut gelacht hatten. Ihr aufgeregtes Quaken hatte ihn bis zum Portrait der Fetten Dame verfolgt.
Dienstagabend war Remus schließlich blass, müde und mit tiefen, schwarzen Schatten unter seinen Augen im Schlafsaal aufgetaucht, gerade als Sirius eine Rettungsaktion mit James und Peter planen wollte.
„Remus – äh – Jedediah Lupin!“, rief Sirius aufgebracht, woraufhin der blasse Neuankömmling zusammenzuckte.
„Was?“, murmelte dieser mit krächzender Stimme.
„Ich kenn deinen Zweitnamen nicht“, gab Sirius zu, „aber das tut nichts zur Sache. Wo bei Merlins Unterwäsche warst du!?“
„Im Krankenflügel“, erwiderte Remus und ließ sich auf sein Bett fallen. Er wühlte in seinem Koffer und zog eine weitere Tafel mit bester Schokolade aus dem Honigtopf hervor. Seine Haut war noch immer wahnsinnig blass und seine Augen wirkten trübe, als hätte er nicht die letzten drei Nächte durchgeschlafen. Als Remus sich mit der Schokolade auf sein Bett legte und das erste Stück in seinen Mund schob, rutschte der Stoff seines Pullovers etwas hoch und gab den Blick auf blasse, zarte Kinderhaut frei, die von roten Striemen und silbrigen Narben durchzogen war.
„Wir dachten schon, Pomfrey will dich nicht mehr rausrücken“, sagte James gähnend, der die übermäßige Sorge Sirius‘ nicht ganz nachvollziehen konnte. „Dich muss es ja ordentlich erwischt haben, wenn du drei Tage außer Gefecht bist.“
„Hm?“ Remus schluckte den schwerfälligen Bissen herunter. „Oh ja, klar. Ja, ich war einfach krank. Starke Grippe, du weißt schon.“
James nickte, als wäre damit alles erledigt, aber Sirius war nicht so einfach zu beruhigen. Der junge Black rutschte auf dem Boden bis er an Remus‘ Bett saß und sagte: „Madam Pomfrey wollte nicht, dass ich dich sehe. Sie hätte mich beinahe ausgeknockt, als ich einen Blick auf dich werfen wollte.“
„D-Du – hat sie das?“ Es gab keinen wirklichen Zweifel daran, dass Remus noch mehr Farbe im Gesicht verloren hatte. Seine Augen huschten durch den Schlafsaal, ehe sie mit einer panischen Suche auf Sirius landeten. „Warum?“
„Warum was?“
„Warum wolltest du mich unbedingt sehen?“
„Hä?“ Sirius kratzte sich am Kinn, die Augenbrauen zusammengezogen. „Weil ich mir Sorgen gemacht hab, Lupin. Du sahst echt scheiße aus.“
„Komplimente sind echt nicht deine Stärke“, brummte Peter vom Fußboden aus, aber Sirius ignorierte ihn.
„Lass es gut sein, Black“, mischte sich auch James wieder ein. „Remus war krank, aber jetzt ist er doch wieder da. Lass uns das ordentlich feiern und planen, wie wir Schniefelus heimlich erwischen können.“ James‘ Augen glänzten voller Schalk hinter seiner Brille. „Ich hab noch ein paar Dungbomben über, die könnten wir –“
„Kannst du auch mal nicht alle zwei Minuten von Schniefelus reden?“, warf Sirius scharf ein. „Man glaubt langsam, du wärst in ihn verknallt, so oft wie du von ihm redest.“ Die Härte in seiner Stimme ließ James die Augenbrauen heben. „Ach, tu nicht so, Potter“, fügte er gereizt hinzu.
„Du musst dir keine Sorgen machen“, kam Remus‘ langsame, leise Antwort. Er lenkte Sirius‘ Aufmerksamkeit wieder auf sich. Schokolade klebte an seinem Mundwinkel, aber er sah deutlich besser aus als zuvor. „Mir geht es gut, Sirius. Ich bin nur manchmal eben ein bisschen kränklich, da kann man nicht viel machen.“
„Oh, meiner Schwester geht es auch so“, warf Peter aufgeregt klingend ein, als wäre er froh, etwas zur allgemeinen Stimmung beitragen zu können. „Sie wird auch ständig krank und nicht mal die Heiltränke helfen dann. Ein Muggelheiler hat gesagt, ihr Ammorsystem wäre schwach.“
„Immunsystem“, verbesserte Remus lachend.
„Oder das. Jedenfalls steckt sie sich auch ganz schnell bei allen an und liegt dann ein paar Tage flach, aber nach genügend Schlaf und Mums Hühnersuppe geht es wieder.“
„Siehst du, Black?“, fragte James laut. „Remus wird nicht sofort sterben, weil ihm mal ein bisschen schlecht ist. Kannst du es jetzt gut sein lassen?“
Sirius biss sich heftig auf die Zunge. Er warf einen Blick auf Remus‘ Gesicht, der zwar noch immer müde und erschöpft aussah, aber mittlerweile nicht mehr so schlimm wie am Sonntag. James und Peter starrten ihn abwartend an, aber Remus blickte ihm direkt in die Augen, sein Blick offensichtlich herausfordernd aber auch unsicher, was der junge Black als nächstes sagen oder tun würde. Schließlich seufzte Sirius und stützte seinen Ellbogen auf Remus‘ Bett ab, damit er seinen Kopf mit der Hand abstützen konnte. „Okay, gut, ich bin ja überzeugt“, sagte er in den Raum. Wortlos versuchte er den Jungen vor sich zu fragen, ob denn auch wirklich, wirklich alles in bester Ordnung sei, aber er bekam als Antwort nur ein müdes Lächeln.
„Perfekt!“, rief James aufgeregt aus. „Zurück zu diesen Dungbomben und wie man sie dem ollen Schniefelus am besten unterjubeln kann, ja?“
Chapter 6: 6. Jahr 1: Ein Heulen der Reinheit
Chapter Text
Die Wochen in Hogwarts vergingen nach Lilys Geschmack viel zu schnell. In einem Moment war es der späte Sommer gewesen, der September hatte gerade erst begonnen und das Wetter war wechselhaft von warm und kühl gewesen und im nächsten Augenblick war es bereits Anfang Oktober. Die Luft war feucht, der Boden dauerhaft nass und die Ländereien hatten sich von den schönen, dunkelgrünen Wiesen in matschige Rutschbahnen verwandelt, bei denen Lily bereits den ein oder anderen Schüler dabei beobachtet hatte, wie er ausgerutscht und im Schlamm gelandet war. Kaum ein Tag ging bei, an dem der Regen nicht laut wie Pistolenkugeln gegen die Scheiben donnerte. Der Unterricht in Kräuterkunde wurde immer schwieriger zu verstehen, auch wenn ihre Professorin laut gegen die Naturgewalten entgegenwirken konnte.
In den letzten Tage hatte Lily sich bereits in einen vertrauten Trott fallen sehen. Sie stand am Morgen gemeinsam mit Mary und Marlene auf, verließ mit den beiden den Schlafsaal und ging in die Große Halle, aß ein leichtes Frühstück, nur dann und wann von den Posteulen und den lauten Stimmen von Jungs wie Potter und Black unterbrochen, die sich wie kleine Könige aufführten. Lily besuchte ihre Klassen, arbeitete fleißig mit und bekam tolle Noten. Zaubertränke war mit Abstand ihr bestes Fach, sie war sogar viel besser als Severus, der sich mittlerweile gut damit abgefunden hatte, dass Lily ein solches Naturtalent zu sein schien. Das Mittag- und Abendessen lief ebenfalls wie ein geplanter Ablauf ab und an den meisten Tagen fand Lily sich mit Marlene und Remus Lupin in der Bibliothek wieder, wo die drei gemeinsam ihre Hausaufgaben bearbeiteten oder für die nächsten Klassen lernten. Lily würde lügen, wenn sie sagen würde, es würde ihr keinen Spaß machen. Selbst das stundenlange büffeln und Durchgehen von komplizierten Formeln und Zaubern machte ihr Spaß. Es war besser, als sie es sich vorgestellt hatte.
Bis Severus sie an einem Tag fragte, ob sie endlich mal wieder zusammen essen könnten, konnte Lily nicht sagen, was sie gestört hatte, aber kaum hatte er es ausgesprochen, war es ihr wie Schuppen von den Augen gefallen. Seit sie an Hogwarts waren, konnte Lily ihre gemeinsam verbrachte Zeit mit Severus an einer Hand abzählen und ihr wurde schlagartig bewusst, dass sie ihren besten Freund vermisst hatte.
Weil Professor Sprout sie früher hatte gehen lassen – Gewächshaus Drei war überschwemmt und die rundliche, immer ein wenig nach Erde riechende Professorin musste sich um die empfindlichen Pflanzen kümmern – war die Große Halle noch ziemlich leer, als Lily und Severus sich gemeinsam an den Slytherintisch setzten. Lily fühlte sich sehr fehl am Platz, obwohl es keinen Grund dafür gab. Der Tisch sah genauso aus wie der Gryffindortisch und selbst die Kelche, Platten und Saucenkannen standen an den exakt gleichen Plätzen. Aber die Blicke, die ihr einige der älteren Schüler zuwarfen, waren nicht sehr einladend. Lily sank in sich zusammen, aber Severus schien nichts zu bemerken. Glücklicher, als sie ihn seit langem gesehen hatte, tat er ihnen beiden großzügige Kellen mit Nudelsuppe auf.
„Das ist nett“, sagte Lily. „Wieder gemeinsam Essen, meine ich.“
Severus nickte heftig, seine Haare schwangen wie Vorhänge um seinen Kopf. „Finde ich auch. Es ist echt eine Schande, dass du nach Gryffindor gekommen bist, so sehen wir uns kaum.“
„Also ich mag es in Gryffindor“, sagte Lily.
„Aber in Slytherin wären wir zusammen gewesen“, erwiderte Sev mit dunklen Wangen. „Ich bekomme dich ja kaum noch zu sehen, weil du immer mit diesen Mädchen zusammen bist.“
„Mary und Marlene sind meine Freundinnen“, entgegnete sie brüsk klingend. „Und Dorcas und Emmeline auch, auch wenn wir nicht im gleichen Haus sind. Ich kann auch mit ihnen Zeit verbringen, obwohl wir kaum Klassen zusammen haben.“
Severus murmelte etwas Unverständliches, dann sagte er recht flatterhaft: „Ich seh dich auch manchmal mit diesem Lupin. Findest du ihn nicht auch seltsam?“
„Seltsam?“, fragte Lily. „Nein, gar nicht. Remus ist sehr nett und wir verstehen uns sehr gut. Er ist echt gut in Geschichte und hilft uns immer bei den Aufsätzen, die wir für Binns schreiben müssen.“
Als Lily nicht weiter darauf einging, wie seltsam Remus doch war, ließ Sev das Thema fallen. „Hoffentlich hängst du nicht mit Potter und Black ab“, sagte er düster. „Die beiden sind echt das Letzte. Laufen durch die Schule, als würde sie ihnen gehören und verhexen ständig Leute, nur weil sie ihnen in den Weg kommen. Sie haben mir letzte Woche erst wieder versucht eine Beinklammer auf den Hals zu hetzen, als ich auf dem Weg zu Verwandlung war, wusstest du das? Ich hätte mir fast das Genick gebrochen! Aber darüber redest du wahrscheinlich nicht mit Lupin, was?“
Etwas erschlagen lehnte Lily sich in ihrem Sitz zurück. „Gibst du jetzt mir die Schuld, weil ich mit Remus befreundet bin und er mit Potter und Black abhängt? Was hätte ich denn da tun sollen, wenn die beiden solche Idioten sind?“ Lily verschränkte abweisend die Arme.
„Ich gebe dir keine Schuld“, antwortete ihr bester Freund schnell. „Es ist nur – ach, egal. Vergiss es, Lil.“
Lily hätte sowieso nichts mehr sagen können. Sie wusste nicht, ob es ein Zufall war, dass Sev das Thema so schnell beendet hatte, oder es mit der Ankunft seiner Klassenkameraden zusammenhing, aber einen Augenblick später ließen sich Ennis Mulciber und Nestor Avery auf Severus‘ Seite nieder. Ihre Blicke fielen gemeinsam auf Lily. „Hallo“, sagte sie in der Hoffnung, höflich und nicht eingeschüchtert zu klingen.
Mulciber tat so, als würde Lily nicht existieren. „Du bist so schnell abgehauen, Snape, wolltest du nicht mehr mit uns spielen?“
Avery, die Augen verengt und weiterhin auf Lily gerichtet, kicherte verhalten. „Wie wir sehen, hat er doch ein heißes Date.“
Der andere Slytherin schnaubte verhalten und Severus wurde pink im Gesicht. „Hab ich nicht“, murmelte er. „Ich wollte nur zum Essen gehen und –“
„Wo ist Macdonald?“, fragte Avery laut und unterbrach Severus‘ Gemurmel. „Du hängst doch immer mit dem Schlammblut ab, eh?“ Seine fiesen, dunklen Augen bohrten sich in Lily, aber sie weigerte sich, den Blick abzubrechen.
„Nenn sie gefälligst nicht so!“, sagte sie. Auch nach einem Monat in der Zaubererwelt war es für sie schwierig zu verstehen, wieso so viele Zauberer und Hexen so versessen auf Blut und die Reinheit dessen waren. Lily wusste nicht, wieso Mulciber und Avery so gemein waren, aber sie würde es nicht auf sich ruhen lassen, dass sie Mary beleidigten, nur weil diese nicht in der Nähe war.
„Ah, was denn?“ Avery grinste, eine recht makabre Geste in seinem Gesicht. „Ich interessiere mich doch lediglich für meine Mitschülerin.“
„Du beleidigst sie“, stellte Lily klar. „Und damit beleidigst du auch mich.“ Hilfesuchend warf sie einen raschen Blick zu Severus, aber der machte sich in seinem Platz sehr klein und starrte lediglich auf seinen leeren Teller. „Du bist ziemlich feige“, sagte sie an Avery gewandt.
„Feige nennst du mich, Evans?“ Das Grinsen war aus seinem Gesicht verschwunden, er zog die Augenbrauen hoch. Ein bedrohlicher Ausdruck war in seinen Augen erschienen. „Wie kannst du es überhaupt wagen, mit mir zu reden? Ein dreckiges –“
Weiter kam er nicht. Ein lautes Klatschen hallte durch die gesamte Halle und die wenigen Schüler, die anwesend waren, blickten sich neugierig nach der Quelle des Geräusches um. Lilys Hand tat weh. Sie stierte Avery nieder, zischte: „Sprich nicht so über Mary oder mich, sonst nutze ich das nächste Mal Magie“, dann warf sie einen letzten, enttäuschten Blick auf ihren Freund, der sie verdutzt anstarrte und rauschte schließlich zurück an den Gryffindortisch.
„Heilige Scheiße, Evans“, kam die beeindruckte Stimme von James Potter zu ihrer Linken. Ohne hinzugucken, wo sie sich hingesetzt hatte, war sie direkt neben James und Sirius gelandet, Peter und Remus ihr gegenüber. „Das war richtig abgefahren! Wieso hast du Avery eine verpasst?“
Lily schnaubte. „Er ist ein Arsch“, sagte sie.
„Amen, Schwester“, erwiderte Sirius Black grinsend. „Das war ein guter Schlag. Machst du sowas öfter?“
„Allerdings. Und wenn du nicht aufpasst, dann bist du der nächste, der eine verpasst bekommt, Black“, zischte sie säuerlich. Sie hatte keine Lust mehr auf seine und Potters dummen Sprüche, auf die Streiche, die sie Severus ständig spielten und wie sie sich benahmen, als würde ihnen jeder zu Füßen liegen, nur weil sie aus irgendwelchen reichen Familien kommen. Lily sah noch einmal hinüber zum Slytherintisch, aber sie hätte sich genauso gut weiter mit Potter und Black unterhalten können. Severus saß noch immer auf seinem Platz, in einer, wie es aussah, sehr zivilen Konversation mit Avery und Mulciber. Er lächelte sogar und nickte rigoros, als hätten die beiden sie, Lily, nicht noch wenige Augenblicke vorher beleidigt und er hätte nichts getan, um ihr zu helfen.
Lily spürte das Brennen in ihren Augenwinkeln, bevor sie die ersten Tränen auf ihrer Haut wahrnahm. Wütend wischte sie sich übers Gesicht – das letzte, was sie jetzt gebrauchen könnte, wären Potter und Black, die sie beim Heulen sehen würden. Sie verbannte Severus aus ihren Gedanken und griff blindlings nach etwas Essbarem. Sollte er doch mit seinen Freunden abhängen, die Lily und Mary für den Abschaum der Zaubererwelt hielten. Sollte er doch denken, Lily würde ihn weiter verteidigen, wenn jemand hinter seinem Rücken schlecht über ihn sprach. Sollte er doch denken, er könnte weiter ihr bester Freund sein, wenn er sich nicht einmal die Mühe machte, sie zu unterstützen, wenn sie aufgrund ihres Blutes angegriffen wurde. Schlagartig fiel Lily die Unterhaltung wieder ein, die sie und Sev am Anfang des Sommers hatten, am Ufer des Sees, nachdem ihre Hogwartsbriefe endlich angekommen waren. Hatte er ihr dort nicht versichert, dass es keinen Unterschied machen würde, mit welchem Blut man nach Hogwarts kam? War das eine dreiste Lüge gewesen, damit Lily sich besser fühlen würde oder hatte er es nicht besser gewusst? Lily wollte daran glauben, dass er genauso überrascht und verletzt von den Sprüchen, Beleidigungen und Gerüchten war wie sie selbst.
„Alles okay, Lily?“ Die leise, sanfte Stimme von Remus Lupin war wie Balsam auf der Seele. Der Junge ihr gegenüber hatte einen besorgten Blick aufgesetzt und sich etwas über den Tisch gebeugt, als wäre es sein Versuch, subtil zu sein.
Nickend erwiderte Lily: „Ja, danke. Nur aufgebracht.“
Remus lächelte schwach. „Ich weiß.“ Er deutete mit einem Finger auf ihren Teller, auf dem Lily ein kleines Massaker angestellt hatte – Kartoffeln waren zur Unkenntnis zerquetscht und sie hatte das Gemüse so fest mit ihrer Gabel zerdrückt, dass alles wie ein einheitlicher, bunter Brei aussah. Warum auch immer hatte sie sich dann in ihren Gedanken auch noch dazu entschieden, Ketchup über alles zu kippen.
Lily musste auflachen, als sie das sah und schlug sich eine Hand vor den Mund. „Ups. Tut mir leid.“
„Bei mir brauchst du nicht zu entschuldigen“, grinste er sie an. „Ich glaube aber deinen Kartoffeln schuldigst du eine Erklärung.“
Das Mädchen legte ihr Besteck beiseite und beugte sich dann mit versucht neutralem Gesichtsausdruck zu ihrem Teller herunter. „Es tut mir sehr leid, Kartoffel. So wollte ich dich nicht behandeln.“
James und Sirius, die die ganze Unterhaltung natürlich mitbekommen hatten – saßen sie immerhin direkt neben Lily – blickten sich für einen Moment irritiert an, dann drehten sie ihre Gesichter ebenfalls zu ihren Tellern. „Bitte vergib mir, oh Fleischpastete, dass ich dich mit meinem Messer angeschnitten habe“, sagte Sirius mit einer Hand auf dem Herz.
„Du arme Gemüsepfanne, kannst du mir je vergeben? Wie konnte ich es nur wagen, dich von deinen Freunden zu trennen?“ James grinste.
„Man sollte das gleiche mit mir anstellen!“
„Auge um Auge.“
„Zahn um Zahn.“
„Ein Messer in die Rippen und deine Sünden seien dir verziehen“, erklärte James feierlich einem gespielt hysterischen Sirius. „Bist du bereit, für deine Fleischpastete zu leiden, Mr. Black?“
„Ich bin bereit!“ Sirius breitete die Arme aus, als wartete er nur darauf, dass man ihn an das Kreuz für seine Sünden nageln würde.
James tat so, als würde er Sirius ein Brotmesser ins Fleisch jagen, auch wenn er es sicher und ohne jeglichen Hautkontakt unter seiner Achsel hindurchzog und Lily, ob sie es wollte oder nicht, fand sich vor Seitenstechen ihre Seiten haltend. James und Sirius grinsten wie die zwei Schuljungen, die sie waren und verbeugten sich. „Immer wieder gerne, Evans. Du kannst unsere Darstellung gerne jederzeit wieder bewundern, sag nur das Zauberwort und deine treuen Reiseschauspieler werden auf der Stelle in deinem Dienste stehen.“
„Ihr seid richtig bescheuert“, lachte Lily und wischte sich eine Lachträne aus dem Auge. Sie fing Remus‘ Blick auf, der sich mit einem wissenden Lächeln über den Rest seiner Eier hermachte. „Danke, Jungs, das war echt witzig.“
James grinste. „Alles für unsere Gryffindormitschüler, die sich traurig fühlen, Evans.“
Zu einer Antwort konnte Lily nicht mehr ansetzen. Als hätte jemand die gesamten Blicke der Halle im gleichen Augenblick auf sich gezogen, ging ein leises Flüstern durch die versammelte Schülerschaft, als alle gemeinsam beobachteten, wie ein wunderschöner, dunkelgefiederter Vogel durch eine Luke in der Decke segelte. Wassertropfen fielen von den lautlosen Flügeln der schwarzen Eule, als sie mit graziler Eleganz einen Kreis in der Halle drehte, ihren Empfänger entdeckte und dann mit einem gezielten Tiefflug einen knallroten Brief auf dem Gryffindortisch fallen ließ – direkt auf den leeren Teller von Sirius Black, der gerade noch seinen letzten Bissen heruntergeschluckt hatte.
„Ohoh“, murmelte James.
„Was denn?“, fragte Lily irritiert, aber selbst Peter und Remus beäugten den roten Brief mit Sorgfalt in den Augen. „Ist was?“
„Ein Heuler“, brachte Sirius gepresst hervor.
„Ein Heuler?“
„Ein explodierender Brief, der seinen Inhalt laut vorliest“, erklärte Remus. „Sirius, vielleicht solltest du ihn öffnen.“
„Pah, bist du von allen guten Geistern verlassen?“, fragte Sirius. „Wenn der von meiner liebsten Maman ist, dann laufe ich Gefahr, dass ein versteckter Fluch meine hübsche Nase trifft.“
Lily hatte noch immer nicht ganz verstanden, was an einem Heuler so schlimm war, aber lange Zeit zum Grübeln hatte sie eh nicht mehr. Der Brief auf Sirius‘ Teller begann zu kokeln und bevor einer der Erstklässler irgendetwas hatte tun können, explodierte er in kleine Fetzen, eine laute, hallende Stimme mit sich bringend.
„Sirius Orion Black!“, schrie die Stimme einer Frau so laut, dass Lily sich die Ohren zuhalten musste und trotzdem alles verstand. „Wie kannst du es überhaupt wagen, deinen Vater und mich so zu enttäuschen? Du hast Schande über das Haus Black gebracht, du hast Schande über eine ganze Reihe deiner Ahnen gebracht! Dein Verhalten war schon immer zweifelhaft, aber jetzt hast du es zu weit getrieben! Kein Sohn meiner Familie wird in einem anderen Haus außer Slytherin aufgenommen werden und ich werde es nicht annehmen, dass der Erbe der Familie Black ein dreckiger, schlammblutliebender, blutsverratender Gryffindor-Abschaum geworden ist! Wir sind das Gespött der heiligen Achtundzwanzig geworden und das ist allein deine Schuld, Sirius! Und wenn ich noch einmal hören muss, dass du mit Schmutz und Abschaum wie dem Potter-Jungen Umgang pflegst oder dich mit Schlammblütern und Halbbrut-Gören anfreundest, dann werde ich dich sofort von dieser Schule nehmen.“
Sirius und James waren weiß geworden. Die ganze Halle hielt kollektiv den Atem an, als sie auf weitere Worte von Walburga Black warteten. Am Slytherintisch gackerten Avery und Mulciber wie zwei dumme Hühner miteinander und Severus warf einen raschen, düsteren Blick zum Gryffindortisch, wahrscheinlich hin und hergerissen zwischen Schadenfreude, weil sein Feind endlich sein Fett weg bekam, und Schuld, weil er Lily dahin vertrieben hatte.
„Dein Vater und ich haben dieses Anliegen bereits umgehend beim Schulleiter angesprochen“, Lily warf zum Lehrertisch, konnte den weißhaarigen Dumbledore nicht entdecken, dafür aber Lehrkräfte wie Slughorn und McGonagall, die das ganze Schauspiel mit ebenso blassen Mienen beobachteten, „und wir fordern deine sofortige Umteilung ins ehrwürdige Haus Salazar Slytherins an. Wenn du weißt, wo deine Prioritäten, Loyalitäten und deine wahre Familie liegt, dann wirst du die richtige Entscheidung treffen, Sirius. Enttäusche uns nicht ein weiteres Mal!“
Das letzte Echo von Walburga Blacks Heuler verklang in der Halle und eine unheimliche Stille legte sich über sie. Selbst die kichernden Slytherins waren ruhig und warfen kühle, abwartende Blicke auf den Empfänger des Briefes.
Es war Sirius, der die Stille brach. Er lachte lauthals und wischte dann etwas Asche vom Tisch. „Alte Schnepfe“, sagte er grunzend. „Hab’s dir ja gesagt, die ist voll durch“, fügte er an James gewandt hinzu.
James betrachtete seinen besten Freund mit in Falten gelegte Stirn und zusammengezogenen Augenbrauen. „Kumpel, ich –“
Aber Sirius achtete nicht auf ihn. „Wer hat Lust auf ‘ne Partie Zauberschach?“
Lily fing Remus‘ Blick auf, der sich auf die Lippen biss und kaum merklich die Schultern anzog. Immerhin war sie dann nicht die Einzige, die vom Verhalten ihres Mitschülers irritiert war – wenn ihre Mutter ihr solch einen schrecklichen Brief schicken würde, dann würde sie in Tränen ausbrechen!
Sirius Black allerdings ließ sich nicht anmerken, ob der Brief ihn emotional getroffen hatte. Er grinste schalkhaft und hatte sich selbst von seinem kurzzeitigen Weißwerden erholt, als Walburga James erwähnt hatte. „Komm schon, keiner?“
„Ich spiel gegen dich“, sagte Peter mit mutiger Stimme, auch wenn der Junge so aussah, als wäre er genauso nah an den Tränen, wie Lily sich fühlte. Wie konnte eine Mutter nur so einen Brief an ihren eigenen Sohn schicken?
„Du bist ein echter Freund, Pete“, rief Sirius enthusiastisch aus und seine Stimme ließ nicht die geringste Ahnung hindurch, dass er die Worte Walburgas gehört hatte. Entweder er kümmerte sich wirklich nicht darum, was seine Mutter sagte, oder – oder Lily musste zugeben, dass Sirius Black ein besserer Schauspieler war, als sie angenommen hatte.
***
„Er hat wirklich gar nicht reagiert?“, fragte Mary erstaunt.
„Naja, einmal ist er ganz blass geworden, aber nur weil James erwähnt wurde“, erklärte Lily geduldig zum wiederholten Male. „Ich weiß nicht, ob ihn das wirklich getroffen hat, wenn ich ehrlich bin.“
„Er redet nicht sehr viel von seiner Familie“, meine Marlene. Sie tippte sich nachdenklich mit der Federspitze ans Kinn und verteilte kleine Tintenflecken auf ihrer Haut. „Und wenn man den Gerüchten vertrauen kann…“
„Was für Gerüchte?“, fragten Lily und Mary gleichzeitig, woraufhin sie ein ärgerliches Zischen von Madam Pince ernteten. Die Bibliothekarin beobachtete die drei Erstklässlerinnen mit zusammengekniffenen Augen, als hätte sie Angst, sie würden ihre hochwertigen, seltenen Bücher beschmutzen, in dessen Nähe sie sich nicht einmal befanden.
Marlene beugte sich leicht über den Tisch. „Alle sagen, dass Sirius ein richtiger Rebell ist und er seinen Eltern wohl immer auf der Nase tanzt. Eigentlich hätte er als Reinbluterbe wichtige Verantwortungen und müsste ein gutes Bild abgeben, damit nichts auf den guten Namen seines Hauses zurückfallen könnte, aber wenn ich mir so angucke, wie er sich hier in der Schule benimmt und in welches Haus er gekommen ist… Ich glaube, da ist was dran, dass er nicht gerade glücklich in seiner Rolle ist.“
„Das wusste ich ja gar nicht“, sagte Mary. „Und ich hab ihn die ganze Zeit nur für einen nervigen Idioten gehalten, der nicht weiß, wann er die Klappe halten soll.“
Lily kaute auf ihrer Unterlippe. „Aber was passiert denn, wenn er nicht den Wünschen seiner Eltern entspricht? Alle schienen ja sehr darüber aufgewühlt zu sein, dass Sirius nicht nach Slytherin gekommen ist.“
„Seine ganze Familie war in Slytherin“, wiederholte Marlene lediglich die Worte von Walburga Black. „Ich glaube, für die Blacks ist es fast schon ein Staatsverbrechen, wenn du nicht nach ihren Regeln und Traditionen spielst. Habt ihr denn nicht gehört, was sie mit Sirius‘ Cousine Andromeda gemacht haben?“
„Nein, was?“, fragte Mary neugierig und vergaß dabei ganz, dass sie eigentlich keinerlei Ahnung von Reinblutfamilien hatte und einen Aufsatz über Koboldkriege beenden müsste.
„Ich hab von einem Siebtklässler gehört, dass Andromeda einen Muggelgeborenen gedatet hat. Ihrer Familie hat das überhaupt nicht gefallen und deswegen haben sie ihr damit gedroht, sie zu enterben und aus dem Stammbaum zu streichen! Soweit ich weiß, hat sie dann mit ihrem Freund deswegen Schluss gemacht.“
Lily schlug die Hand vor den Mund. „Das ist ja schrecklich“, flüsterte sie. „Aber warum machen die denn sowas?“
„Besessenheit“, sagte Marlene schulterzuckend. „Die Blacks und viele andere Familie sind absolut besessen damit, dass sie ihr Blut so rein halten, wie es geht. Deswegen heiraten sich auch bei denen untereinander Cousins und Cousinen. Irgendwie sind aus dem Grund glaube ich alle Reinblutfamilien miteinander verwandt. Sirius ist wahrscheinlich mein Cousin neunzehnten Grades oder sowas.“
„Unglaublich“, erwiderte Mary. „Echt unglaublich. Ich wusste ja, Zauberer sind alle ein bisschen bescheuert, aber dass die echt so durch sind?“ Kopfschüttelnd strich sie ihr Pergament wieder glatt. „Kein Wunder, dass Sirius so drauf ist, wenn er aus so einer Familie kommt.“
Marlene nickte, bevor sie ebenfalls wieder zu ihrem Aufsatz blickte. Für die beiden war das Thema damit beendet und in stiller Übereinkunft führten sie ihre Hausaufgaben weiter fort, Daten und Namen von Kobolden durcheinanderbringend und Geschehnisse vertauschend.
Lily allerdings konnte ihre Gedanken nicht mehr davon abbringen. Ständig hallten ihr die Worte von Walburga Black im Kopf herum, wie enttäuscht und teilweise angeekelt sie geklungen hatte, als sie Sirius adressiert hatte. Es war für Lily unverständlich, wie eine Mutter ihr Kind so verachten könnte – ihre eigene Mutter war das genaue Gegenteil von Walburga. Liebevoll, fürsorglich, glücklich und vor allem immer stolz auf ihre Kinder, sei es, dass Lily eine Hexe war, oder dass ihre Schwester Petunia eine Goldmedaille im Gedichtswettbewerb gewonnen hatte. Für Lilys Mutter gab es kein besser oder schlechter, es gab nur ein Kind, dass sein Bestes versucht hatte und eine Mutter, die stolz darauf war, egal wie das Ergebnis ausgefallen war.
Bisher hatte sie Sirius Black für einen ziemlich arroganten und idiotischen reichen Schnösel gehalten, aber wenn er aus einer Familie kam, die ihn nicht für das würdigte, was er war – nun, dann konnte Lily verstehen, wieso Sirius alle Aufmerksamkeit auf sich ziehen musste, wenn er einen Raum betrat, wieso er Dungbomben und Fangzähnige Frisbees im Unterricht warf oder wieso er kleine Verwünschungen auf ein unschuldiges Opfer im Korridor schleuderte. Wahrscheinlich war es für ihn die einzige Möglichkeit gewesen, die komplette Aufmerksamkeit seiner Eltern auf sich zu ziehen, auch wenn sie ihn dafür bestrafen mussten. Lily konnte sich nicht vorstellen, wie sein Elternhaus sein musste. Sie hatte immer an ein großes Anwesen gedacht, vielleicht eine riesige Villa mit einem eigenen Pool und allem, was reiche Menschen noch so brauchten, aber jetzt… jetzt kam ihr lediglich ein verfallenes, düsteres Haus in den Sinn, ohne jegliche Liebe zwischen den Wänden. Eine laute Persönlichkeit wie Sirius Black war wie eine tickende Zeitbombe in solch einem Haus.
Auf einmal war sie sogar froh, dass er und James Potter immer zusammen lachten und Unsinn anstellten. Sie war froh, dass Sirius nicht allein war und dass er an Hogwarts jemanden hatte, der ihn unterstützen konnte. Und nicht einmal Lily – die Sirius und James für die nervigsten Volltrottel der Schule hielt – konnte verneinen, dass James Potter ein guter Freund war, so gerne sie es auch würde.
Nach einer Stunde stiller Arbeit waren Mary und Marlene fertig mit ihren Aufsätzen, aber Lily hatte kaum die Hälfte geschafft. Mary bot ihr zwar an, dass sie den Rest einfach bei ihr abschreiben könnte, aber Lily lehnte ab. Einerseits wollte sie ihre Hausaufgaben alle selbst schaffen, andererseits wusste sie, dass Mary nicht sehr viel Enthusiasmus in ihre Geschichte der Zauberei Aufgaben steckten. Natürlich war Professor Binns Unterricht wirklich langweilig und immer öfter erwischte Lily sich dabei, wie sie döste oder auf ihrem Blatt herumkritztelte, aber eher könnte man sie von der Schule werfen, als dass Lily ihre Aufgaben nicht ernst nehmen würde. Also hatte sie Mary und Marlene bereits vorgeschickt und – unter den wachsamen Augen Madam Pinces – ihren Aufsatz allein fertig gestellt. Sie hatte noch eine extra Stunde in der Bibliothek verbracht und in einem Buch über die alten Reinblutfamilien gelesen, bis die Bibliothekarin sie schließlich an die Sperrstunde erinnert und Lily aus der Bibliothek geworfen hatte. Nicht einmal das Buch durfte sie sich ausleihen, obwohl sie gerade mitten in der Ahnengeschichte der Blacks gesteckt hatte.
Es war bereits dunkel, als sie den Weg zum Gemeinschaftsraum antrat. Die meisten Fackeln in den Korridoren waren erloschen und ein kühler Wind zog durch die Flure, der sie leicht frösteln ließ. Ein Raunen und Flüstern ging durch die meisten Portraits, als Lily sie passierte, aber mittlerweile hatte sie sich daran gewöhnt und schreckte nicht mehr jedes Mal zusammen, wenn einer der Bewohner des Bildes mit ihr sprach. Die wenigsten Portrait allerdings beachteten die Schüler des Schlosses und selbst wenn man mit ihnen reden wollte, war die Chance gering, dass sie auch antworteten. Die Fette Dame war immerhin erfreut Lily zu sehen. „Kurz vor knapp“, sang sie, als Lily ihr das Passwort nannte. „Dann mal rein mit dir, Liebes.“
Auf den ersten Moment war der Gemeinschaftsraum bereits ausgestorben – ein sanftes Flackern ging vom Kamin aus, der auf die letzten Holzreste niedergebrannt war und vor den Fenstern tobte der Regen durch den Himmel, die knuddeligen Sessel lagen alle verlassen und vergessene Tintenfässer, Aufsätze und Federkiele bedeckten die Tische, die rund im Raum verteilt standen. Lily war schon halb durch den gesamten Raum, als sie schließlich doch noch jemanden bemerkte.
In einen Sessel eingerollt, das Gesicht zum Feuer gerichtet, hatte es sich Sirius Black gemütlich gemacht. Er blickte nicht auf, als Lily überrascht vor ihm stehen blieb, starrte stattdessen weiter in die orangeroten Flammen, als erhoffte er sich eine Antwort auf eine stumme Frage in ihnen zu finden.
Lily glaubet erst, dass der Feuerschein ihr einen Streich spielte, aber bei genauer Betrachtung war sie sich sicher, dass Sirius‘ Gesicht rot und verquollen war, als hätte er lange Zeit geweint. Ihre Vermutung wurde bestätigt, als er lauthals schniefte und sich über die blutunterlaufenen Augen wischte. „Sirius?“
Der Angesprochene schreckte zusammen und wäre beinahe aus dem Sessel gefallen. „Verdammt, Evans“, murmelte er, bevor er den Kopf abwandte. „Was musst du dich so anschleichen?“
„Alles okay?“, überging sie seine Frage. „Du bist – ich meine, ist es wegen dem Brief deiner Mutter?“
Sirius riss das Gesicht zu ihr, ein abgehetzter Glanz in seinen roten Augen. „Du – du hast keine Ahnung, wovon du redest, Evans“, zischte er.
„Du hast geweint“, stellte sie fest.
„Ich –“, Sirius stockte. Er schniefte und wischte sich wieder über die Augen. „Keine Ahnung, was du meinst. Ich hab Allergien. Meine dumme Mutter hat damit nichts zu tun. Nicht, dass ich überhaupt daran denken würde, was sie tut oder sagt. Soll sie doch an Dumbledore schreiben und sich beschweren, mir vollkommen egal. Diese ganze Familie kann mich mal.“ Als hätte er für einen Augenblick vergessen, dass Lily noch immer dort stand, riss er die Augen auf. „Evans, geh lieber schlafen. Es ist spät.“
Lily überlegte, ob sie nicht einfach wirklich gehen sollte, entschied sich aber dann dazu, sich auf den Sessel ihm gegenüber hinzusetzen. „Du kannst gerne mit mir darüber reden, Sirius. Über deine Familie, meine ich. Ich hab ein bisschen über euch gelesen und –“ Aber sie hatte das Falsche gesagt.
Sirius sprang auf, wobei er den Sessel ein paar Schritt nach hinten stieß. „Du sollst dich nicht einmischen, Evans“´, rief er laut. „Du hast keine Ahnung davon, du bist nur – du bist nicht – du hast keine Ahnung!“ Er ließ Lily keine Chance mehr und stürmte mit stampfenden Schritten davon.
„Sirius!“, konnte sie ihm gerade einmal hinterherrufen, aber da war die Tür zum Schlafsaal der Jungen auch schon wieder zugefallen und Lily blieb allein im Gemeinschaftsraum zurück. Sie seufzte und warf einen Blick auf das knisternde Feuer. „Idiot“, murmelte sie leise, bevor sie ebenfalls in ihren Schlafsaal einkehrte.
Chapter 7: 7. Jahr 1: Operation Halloween
Chapter Text
Als der erste September vorbeigegangen war, hätte Peter niemals gedacht, dass er mit den coolsten Typen aus der Schule befreundet sein würde, noch dass sie ihn wie einen gleichgestellten behandeln würden. Es mochte nicht immer so für alle wirken – anderen Leute, mit denen er befreundet war, hatten ihm schon oft sorgenvoll gebeichtet, dass sie glaubten, Sirius Black würde Peter erpressen oder verfluchen, wenn er nicht hinguckte, aber Peter wusste, dass es alles nur Einbildung war. Peter würde lügen, wenn er sagen würde, er hätte keine Vorurteile gehabt, als er das erste Mal gehört hatte, dass Sirius Black in seinem Jahrgang sein würde und dass er dann auch noch ein Zimmer mit ihm teilen müsste. Die alleinige Vorstellung, dass er mit einem potenziell gefährlichen schwarzmagischen Erben zusammenleben würde, der ihn im Schlaf verhexen könnte, war so angsteinflößend gewesen, dass Peter schon an diesem Abend gedacht hatte, dass der Sprechende Hut einen Fehler mit seiner Einteilung gemacht hatte. Aber es kam wie es kommen musste, und mittlerweile war Peter sich sicher, dass er und Sirius richtige Freunde waren, trotz der manchmal harten Worte, die der etwas ältere Junge an ihn richtete.
Alle wussten, dass Peter nicht so talentiert, reich oder schlau wie seine Freunde war, er hatte nicht die natürlichen Flugkünste wie James, war nicht der Beste in jedem Fach wie Remus oder war so selbstbewusst wie Sirius. Es gab Gemurmel, warum die drei besten Schüler ihres Jahrgangs überhaupt mit jemand mittelmäßigem wie Peter befreundet waren. Gerüchte brodelten in Hogwarts auf, beinahe glaubhaft, dass Peter schon seit seiner Kindheit ein Freund von James sei und deshalb noch bei den anderen mitmache, bis hin zu absolut lächerlich, dass Peter am Anfang des Schuljahres einen so starken Verwirrungszauber auf seine Klassenkameraden gewirkt hatte, dass diese nun dachten, er wäre genau so cool und talentiert wie sie selbst. Peter machten diese Gerüchte nicht viel aus. Sollten andere doch denken, er wäre es nicht wert, mit Menschen wie James, Sirius und Remus überhaupt in einem Raum zu sein, er wusste es besser. Jeder Tag war ein neuer Beweis, dass die drei mit ihm befreundet sein wollten, sei es weil sie am Morgen auf ihn warteten, damit sie alle gemeinsam zum Frühstück gehen konnte, oder dass sie ihn immer mal fragten, was er unternehmen wollte, wenn sie eine Freistunde hatten. Es gab nichts, was diese Freundschaft für Peter zerstören konnte.
Nichts, außer Sirius, der zu allen und jedem miserabel war. Sirius würde es niemals zugeben, dafür war er viel zu stolz, aber der Brief seiner Mutter und die darauffolgende Unterhaltung, die er mit Professor Dumbledore und Professor McGonagall führen musste, hatten ihn alles andere als kalt gelassen. Peter war sich sicher, dass er nachts gehört hätte, wie Sirius in seinem Bett geweint hatte, aber er hatte es nie angesprochen. Es gab gewisse Grenzen, bei denen er sich noch immer nicht sicher war, wie und wann er sie überschreiten sollte. Seit der Heuler von Walburga Black gekommen war, war Sirius launenhaft geworden; er gab den Lehrern patzige Antworten, er verhexte Drittklässler, wenn sie beim Vorbeigehen mit zu lauten Stimmen über ihn redeten, er hatte sogar Mrs. Norris, die schreckliche Katze vom Hausmeister, in eine Besenkammer gesperrt und dafür zwei Wochenenden Nachsitzen bekommen. Als er lediglich andere Leute mies behandelt hatte, hatten sich Peter und die anderen nicht viel dabei gedacht, aber als Sirius eines Abends Mary Macdonald so sehr angemeckert hatte, dass sie weinend in ihren Schlafsaal geflüchtet war, war ihnen klar geworden, dass sie Sirius irgendwie aufmuntern mussten, bevor er den Rest des Jahres Nachsitzen bekommen würde. Remus hatte ihnen zwar versichert, dass Mary sich sicherlich wieder beruhigen würde – hatte er doch eine ähnliche Situation mit Marlene schon erlebt, bei der das Mädchen ebenfalls weinend geflüchtet war, nachdem der Junge sie hart angefahren hatte – aber James hatte es sich in den Kopf gesetzt, dass er seinen besten Freund jetzt aufmuntern musste.
„Sich nur bei Mary entschuldigen, bringt ihm nichts“, sagte James mit wissendem Blick. „McKinnon hat sich schnell beruhigt, aber dir kann ja auch keiner böse bleiben, Remus. Du bist einfach zu gutmütig.“
„Sehr witzig“, brummte Remus als Antwort.
„Also Männer.“ James klatschte in die Hände und das Geräusch ließ ein paar der älteren Schüler im Gemeinschaftsraum den jungen Erstklässlern genervte Blicke zuwerfen. „Was machen wir, damit es Sirius wieder besser geht?“
„Seine ganze Familie mit dem Confundus-Zauber belegen?“, fragte Peter, der sich an die Gerüchte erinnerte, die über ihn kursierten. „Vielleicht denken sie dann, Sirius wäre ein perfekter kleiner Engel.“
„So einen starken Verwirrungszauber könnte nicht mal Dumbledore“, schnaubte Remus belustigt. „Wo ist Sirius überhaupt hin?“
„Im Schlafsaal“, erwiderte James. „Monty leistet ihm Gesellschaft. Langweilt ihn wahrscheinlich grad mit Quidditchtaktiken zu Tode, die er eigentlich mit mir besprechen wollte…“
„Wir könnten seine Cousine entführen“, meinte Remus achselzuckend.
„Und dann?“, fragte Peter. „Willst du sie im Gryffindorturm festhalten?“
„Sirius würde es bestimmt lustig finden.“
„Wahrscheinlich. Aber es ist zu unpraktisch“, sagte James. „Außerdem würde Narzissa uns sofort Punkte abziehen und dann Nachsitzen verpassen. Wir brauchen etwas, dass ihn aufmuntert, irgendwie legal ist, aber hart an der Grenze, damit er es trotzdem lustig findet und dass ihn so sehr ablenkt, dass er seine schreckliche Familie für ein paar Tage vergessen kann.“
„Halloween steht doch vor der Tür“, sagte Peter begeistert.
„Ein paar Kürbisse werden ihn nicht unbedingt ablenken, Pete.“
„Nein, hör zu. An Halloween ist die ganze Schule beim Festessen, ja? Was ist, wenn wir der gesamten Schule einen riesigen Streich spielen? Und nicht nur Schniefelus?“ Peters Augen glänzten vor Aufregung. „Stellt es euch doch nur mal vor, wie genial wäre das bitte?“
Es war, als hätte man James gesagt, er würde für Nationalmannschaft spielen können. Er sprang begeistert auf und rief: „Pete, das ist ja – ich bin beeindruckt! Das ist die beste Idee, die du bisher hattest. Das schlägt den Wäscheklammerfluch um Längen, den du Schniefelus aufgehetzt hast.“
Remus, der bei der Erinnerung daran immer lachen musste, grunzte vor Belustigung. „Aber schaffen wir sowas auf die Beine zu stellen? Und was sollen wir überhaupt machen?“
„Klar schaffen wir das, Lupin“, meinte James. „Wenn wir Sirius mit ins Boot holen, dann wird das doch ein Klacks. Wir sind nicht umsonst die besten Schüler, nicht wahr?“
Peter wusste, dass er nicht mitgemeint war, aber interessierte sich nicht wirklich dafür. Das Lob von James klingelte noch immer wie ein wohltuendes Glöckchen in seinen Ohren nach. „Ich hab auch schon ein paar Ideen, Leute.“
Die nächsten Tage verbrachten Peter, Remus, James und Sirius – der, wie erwartet, Feuer und Flamme für ihren Plan war – damit, ihren Streich gegen die Schule zu planen. Die meisten Leute würde es nicht glauben, aber um einen perfekten Streich auf die Beine zu stellen, musste man eine ganze Menge Bücher wälzen. Peter war kein schneller Leser wie Remus oder verstand immer sofort, worum es in den ganzen komplizierten Zaubersammlungen ging, aber jedes Mal, wenn er etwas Nützliches fand, fand er einen Augenblick später eine Hand auf seiner Schulter wieder, die ihm stolz auf den Rücken klopfte. Peters Ideen wurden zumeist durch Remus verfeinert, der sich am besten mit Zaubern auskannte. James und Sirius waren immer bereit, die Zauber zu testen, auch wenn sie dadurch das ein oder andere Mal in den Krankenflügel laufen mussten, weil sie einen fehlgeleiteten Fluch nicht mehr umkehren konnten. Merlin sei Dank stellte Madam Pomfrey nicht sonderlich viele Fragen und war mit der Erklärung, dass James und Sirius sich duelliert oder bei einer Hausaufgabe die Kontrolle verloren hatten, zufrieden.
Madam Pince, die Bibliothekarin, vertraute den vier Erstklässlern kein Stück. Jedes Mal, wenn sie die Bibliothek betraten, um ein wenig freie Zeit für Streichrecherche zu opfern, geisterte die misstrauische Frau ihnen hinterher und lauerte zwischen den Gängen auf, als würde sie nur darauf warten, dass sie einen Grund fand, die vier rauszuschmeißen. Von ihnen allen konnte sie Remus noch am ehesten tolerieren, der manchmal mit Lily Evans in der Bibliothek Hausaufgaben machte oder lernte, auch wenn das nicht hieß, dass sie ihm nicht ebenfalls zwei argwöhnische Augen hinterherwarf, wann immer er die vielen Regalreihen durchwanderte.
Eine Woche vor Halloween hatten sie alle Zauber beisammen, die sie brauchten. James hatte Sirius oft genug bei Laune gehalten, aber selbst er konnte seinen besten Freund nicht daran hindern, an späten Abenden in einen Sessel eingerollt in die Glut zu starren und trübe Gesichtsausdrücke zu bekommen. Es half am besten, hatten sie herausgefunden, wenn sie ihn einfach für ein paar Stunden in Ruhe ließen, damit er grübeln und schmollen konnte. Sirius war in solchen Phasen sowie nicht ansprechbar, es sei denn, man wollte von ihm angeschrien oder verhext werden. Wo James und Peter massiv versagten, wenn sie versuchten, Sirius spät abends dazu zu bewegen, ins Bett zu gehen, fand Remus immer die richtigen Worte. Keiner von ihnen hörte, was der Junge seinem Mitschüler zuflüsterte, aber es war jedes Mal das richtige. Sirius stand, ohne zu schreien, ohne zu meckern und ohne Verwünschungen auf und schlurfte ins Bett, die Augen zwar immer noch trüb, aber das Glänzen in ihnen wiederhergestellt. Remus wollte sein Geheimnis nicht preisgeben und hatte lediglich gesagt, dass er Sirius eben besser verstand, was diese Sachen anging.
Es war ein sehr kalter Herbsttag. Mit dem langsam endenden Oktober hatte fröstelnde Luft in Hogwarts Einzug gehalten und der Innenhof war eigentlich kein sehr angenehmer Aufenthaltsort. Schülergruppen standen eng beieinander, die Älteren hatten die großen Fackelhalter für sich in Anspruch genommen, während sich die Jüngeren mit den wenigen Resten zufrieden geben mussten. Absterbendes Laub lag in dicken Haufen in allen Ecken verteilt und das ein oder andere Mal konnte man die Laubberge zittern sehen, wenn ein Niffler oder der Hund von Hagrid, dem riesenhaften Kerl, der sie vom Zug abgeholt hatte, in ihnen spielten. Peter war sich sogar sicher, dass er einmal einen Phönix über den eisblauen Himmel hatte fliegen sehen, aber keiner wollte ihm glauben.
Da James und Sirius einmal mehr Strafarbeiten absitzen mussten und Remus mit Lily und Mary in der Bibliothek lernte und Hausaufgaben erledigte, hatte Peter sich mit seinen anderen Freunden zusammengefunden. Es war eigentlich Marlene zu verdanken, dass Peter in dieser anderen Gruppe aufgenommen wurde, aber Peter redete sich ein, dass er auch ohne ihre Hilfe zu ihnen gefunden hätte. Immerhin hatte er Dorcas Meadows und Emmeline Vance bereits kennengelernt und mit ihnen eine Zugfahrt verbracht, auch wenn er den fünften in ihrer Gruppe, Benjy Fenwick, nicht wirklich gut kannte.
Emmeline, die sehr gut in Beschwörungen war, hatte ein winziges Feuer in ein leeres Einmachglas beschworen, um welches sie verteilt standen, in der Hoffnung, es würde sie genügend wärmen, damit sie ihre Pause nicht in den zugigen Korridoren des Schlosses verbringen mussten. „Es wäre wesentlich einfacher, wenn Hogwarts einfach modernisieren würde“, sagte Benjy Fenwick mit klappernden Zähnen. „Abwassersysteme haben sie hinbekommen, aber eine Heizung war zu viel verlangt?“ Benjy war ein ziemlicher schmächtiger Junge, mit gebräunter Haut und hellbraunen Haaren, die sehr kurzgeschoren waren. Er trug eine schmale, drahtige Brille und hatte einen Umhang an, der ihm etwas zu groß war.
„Also mir macht die Kälte nichts aus“, erwiderte Dorcas, die als einzige von ihnen keinen Winterumhang trug und trotzdem nicht zitterte. Sie hatte sogar ihre Ärmel hochgekrempelt. „Wir könnten ja ein wenig Quidditch spielen, dann wird euch warm.“
„Kommt nicht in Frage“, sagte Marlene, Peter und Benjy zustimmend nickend. Sie hatte eine dicke Wollmütze auf dem Kopf, wodurch ihre blonden Strähnen kaum noch zu erkennen waren. „Ihr beiden nehmt das immer viel zu ernst und am Ende hat keiner von uns Spaß.“
„Ist ja nicht unsere Schuld, wenn wir gewinnen wollen“, meinte Emmeline achselzuckend, woraufhin Dorcas grinste.
„Wenn wir schon kein Quidditch spielen, dann könnte uns Peter aber ruhig mal verraten, was er und seine Kumpels vorhaben.“ Dorcas hatte eine Augenbraue gehoben und sah Peter abwartend an.
Es war weithin bekannt, dass Peter, James, Sirius und Remus für die meisten Streiche und Unterbrechungen im Schulalltag verantwortlich waren, eine große Menge von diesen gegen die Slytherins gerichtet, ganz spezifisch, Severus Snape, der sich immer wieder lautstark bei den Professoren beschwerte, aber nur müde belächelt wurde. Seit Peter aber angedeutet hatte, dass sie etwas Großes planten, hatte Dorcas bei jeder Gelegenheit versucht herauszufinden, was genau das war. Bisher hatte sie lediglich erraten, dass es an Halloween stattfinden würde.
„Ich verrate nichts“, sagte Peter. „Ich habe ein Ehrenwort gegeben und ich werde meine Freunde nicht verraten.“
„Ach komm schon, Pete“, meinte Benjy mit seinen besten Hundeaugen, „nur ein Hinweis. Komm, sei nicht so.“
„Kommt nicht in Frage.“
„Du bist total langweilig“, maulte Marlene. „Keiner von euch will uns irgendwas verraten.“
„Dann wäre es ja auch keine Überraschung mehr, oder?“ Peter grinste, als Marlene einen Schmollmund aufsetzte. „Nimm’s nicht so schwer, Marls, in vier Tagen ist es doch so weit, dann hat das Warten ein Ende.“
„Aber wehe ihr unterbrecht das Festessen“, sagte Benjy. „Darauf freue ich mich schon seit unserer Ankunft und das lasse ich mir nicht kaputt machen.“
Das hatten die vier Gryffindors natürlich ebenfalls bedacht. Ein Festessen zu unterbrechen oder gar zu ruinieren, würde nicht mit ihren Prinzipien übereinstimmen, zumal damit die ganze Arbeit der schwer schuftenden Hauselfen vernichtet wäre und, da hatten sie sich alle zugestimmt, das wäre einfach nicht fair den kleinen Kreaturen gegenüber. „Keine Sorge, du wirst schon zu deinen fünf Portionen Kuchen kommen“, erwiderte Peter lachend, woraufhin Benjys Gesicht eine dunklere Färbung annahm.
„Ich bin noch im Wachstum, ja! Ich muss essen, sonst bleibe ich immer so klein!“ Benjy hasste es, dass er der kleinste aus dem gesamten Jahrgang war und Emmeline erinnerte ihn liebend gern mit ihrem diebischen Grinsen genau daran.
„Red dir das ruhig ein, Benjy“, sagte sie und verwuschelte seine Haare, als würde sie mit einem kleinen Bruder reden. „Aber ich finde du könntest uns ruhig einen kleinen Hinweis geben, Pete. Dann können wir uns auf das Unvermeidliche vorbereiten, wenn euer ganzer Plan nach hinten losgeht.“
„Das war gemein und genau deswegen sage ich jetzt gar nichts mehr“, erwiderte Peter gespielt verletzt. „Wer so wenig Vertrauen in die Fähigkeiten von mir und meinen Freunden setzt, verdient es nicht, dass ich etwas verrate.“
„Du hättest eh nichts verraten“, meinte Marlene.
„Richtig, aber es geht ums Prinzip.“
„Spielverderber“, sagte Benjy.
„Miesepeter.“
„Wie die kleinen Kinder“, schüttelte Dorcas grinsend den Kopf.
„Du bist nur vier Monate älter als ich“, sagte Peter trocken.
„Und vier Monate weiser.“ Dorcas nickte beständig. „Glaub mir, diese vier Monaten machen eine ganze Menge aus.“
„Trotzdem sind deine Zauberkunstnoten echt mies“, kommentierte Emmeline.
„Oh, das war fies und hinterhältig und ich werde nicht zulassen, dass du so mit mir redest.“
„Was willst du machen, mich bei meiner Mum anschwärzen?“, grinste ihre Freundin. „Du weißt doch, dass ich dich lieb hab.“
Dorcas grummelte etwas, aber sie wurden alle unterbrochen, als ein großer Schatten hinter ihnen auftauchte. Aus Angst, es könnte ein Lehrer oder ein Vertrauensschüler auf der Suche nach unartigen, regelbrechenden Schülern, versteckte Dorcas schnell das Einmachglas mit der kleinen Flamme in ihrer Umhangstasche, bevor man sie erwischte. Keiner wusste so genau, ob es verboten war, aber sie wollten es auch nicht herausfinden – sie strapazierten die Regeln nicht so gerne, wie ein Sirius Black es tat.
Der Schatten stellte sich als große, blonde Sechstklässlerin mit schimmerndem Vertrauensschülerabzeichen auf der Brust heraus, die ein breites Grinsen im rundlichen Gesicht hatte, als sie die kleine Gruppe ansteuerte.
„Phyllis!“, rief Peter überrascht aus, als er seine Schwester erkannte, die sofort einen Arm um seine Schulter legte und ihn an sich drückte.
„Hey, Petey“, erwiderte Phyllis Pettigrew, die ungefähr zwei Köpfe größer als ihr Bruder war, aber ebenso eine füllige, rundliche Statur hatte. Ihre Haaren waren in einem langen Pferdeschwanz zurückgebunden und sie trug eine ähnliche Brille wie Benjy, drahtig und silbern, die ihre braunen Augen wesentlich größer erscheinen ließ, als sie eigentlich waren. Trotz ihrer blonden Haare hatte Phyllis sehr kräftige, dunkle Augenbrauen. „Dachte ich mir doch, dass ich dich hier gesehen habe.“
„Gibt’s was?“, fragte der jüngere der beiden Geschwister. Seine Freundesgruppe hielt, plötzlich überaus schüchtern im Angesicht mit einer älteren Schülerin, die noch dazu Vertrauensschüler war, großen Abstand, außer Marlene, die bereits an ältere Schüler gewöhnt war, hatte sie doch selbst einen Bruder, der die Schule bereits abgeschlossen hatte.
„Kann eine große Schwester nicht einfach Hi zu ihrem kleinen Bruder sagen?“, fragte Phyllis grinsend. Sie und Peter sahen sich dabei sehr ähnlich – wenn sie grinsten, dann konnte man ganz deutlich das Rot in ihren Wangen sehen, die dann noch runder wirkten. „Eigentlich wollte ich dich sowieso schon länger mal erwischen, aber du hast ein ziemliches Talent dafür, unbemerkt davonzuschleichen.“
Peter lachte. „Oder du hast nicht richtig gesucht.“
„Unwahrscheinlich, aber na gut. Nein, eigentlich wollte ich dir sagen, dass ich sehr stolz auf dich bin, Petey.“
Peter wurde sehr heiß im Gesicht, als er versuchte eine Antwort zu stammeln. Dass er dabei auch noch die mittlerweile feixenden Blicke von Emmeline, Dorcas und Benjy auffing, half ihm nicht weiter. „W-Wie das?“
„Ich hab mit ein paar deiner Lehrer gesprochen“, erklärte seine ältere Schwester geduldig. „Weißt du, einfach weil ich wissen wollte, wie du dich so anstellst und ich war positiv überrascht, dass alle in sehr hohen Tönen von dir gesprochen haben. Na gut, außer Slughorn. Wir Pettigrews sind aber auch keine Tränkebrauer.“
„Oh.“ Er wusste, er sollte sich freuen, dass seine Schwester stolz auf ihn und seine Leistungen war und dass seine Lehrer ihn lobten, aber er konnte nicht umhin, als sich zu sehr auf die Überraschung zu fixieren, die Phillys verspürt hatte, als sie davon gehört hatte. War es denn so unwahrscheinlich, dass Peter gut in der Schule war? Musste man deswegen wirklich überrascht sein? Peter hatte so sehr gehofft, in Hogwarts würde er endlich für das erkannt werden, was er war, aber stattdessen ließ ihn das alte Bild nicht zur Ruhe kommen, das seine Familie noch immer von ihm hatte. Wahrscheinlich sah seine Schwester ihn noch immer als den kleinen, dicken Jungen an, der mit sieben von der Schaukel springen wollte und sich dabei den Fuß gebrochen hatte. Aber Peter war kein kleiner Junge mehr! Er war schon bald zwölf, er bekam gute Noten (er redete sich nicht ein, dass er einer der besten Schüler wie seine Freunde oder Lily Evans war) und er hatte ein tolles Umfeld, mit Leuten, die ihn mochten. Reichte das nicht aus? „Mum hat dich dazu angestiftet, oder?“, fragte er leise, die Stimme etwas rau.
Phyllis war schon immer eine schlechte Schauspielerin gewesen. Sie täuschte einen Hauch von Überraschung vor, dann seufzte sie geschlagen und hob kapitulierend die Hände. „Hat sie. Sie wollte, dass ich ein Auge auf dich halte, damit du nicht in Schwierigkeiten gerätst oder in der Schule zurückhängst.“
Es sollte Peter nicht überraschen, dass seine Mutter so etwas dachte. Sie hatte noch nie sehr viel Vertrauen in ihren jüngsten Sohn gesteckt, war es doch von jungen Jahren schon klar gewesen, dass er nicht so mächtig wie sein Vater oder so talentiert wie seine Schwester sein würde. Nicht, dass sie den Vergleich zu seinem Vater noch ziehen würde. Keiner aus der Pettigrew-Familie hatte seit gut sieben Jahren von ihm gehört; nach allem, was sie wussten, war er längst tot.
„Nimm’s nicht persönlich, Petey. Du weißt doch, dass sie sich nur Sorgen macht.“
„Ich weiß“, erwiderte Peter leise. „Aber dann kannst du ihr ja sagen, dass sie das nicht muss. Ich komme super zurecht.“ Er fälschte ein Lächeln.
„Petey…“
„Nein, wirklich“, sagte er und wich aus ihrem Arm um seiner Schulter aus, sodass Phyllis‘ Hand schlaff an ihre Seite fiel. „Richte Mum aus, dass ich sie schon stolz machen werden.“
Phyllis zog eine Grimasse. „Du weißt genau, dass sie das bereits ist.“
„Tut mir leid, ich muss weiter. Der nächste Unterricht, du weißt ja –“ Peter eilte an seiner Schwester vorbei und war fest davon überzeugt, allein ins Schloss zu laufen, aber wurde in der Eingangshalle von Marlene und den anderen eingeholt.
„Alles okay, Pete?“, fragte Marlene leise.
„Alles bestens.“
„Du sahst sehr gekränkt aus“, meinte Emmeline vorsichtig.
„Wirklich, es ist alles gut.“
„Du kannst ruhig ehrlich sein“, sagte Benjy. „Sowas muss dir nicht –“
„ES IST ALLES GUT, OKAY!?“, rief Peter laut und gereizt aus und war einen Augenblick später selbst von sich überrascht. Er machte einen Schritt von seinen Freunden weg und blickte schamvoll zu Boden. „Tut mir leid“, murmelte er.
„Das muss es nicht“, sagte Marlene mit sanfter Stimme. „Mein Bruder hat mich auch manchmal so aufgeregt, obwohl er sehr freundlich war und ich weiß, wie es ist, wenn man im Schatten des älteren Geschwisterkindes steht.“ Sie zog eine Grimasse, der von Phyllis nicht unähnlich. „Deine Schwester meint es sicherlich nicht böse, wenn sie von deinen guten Ergebnissen überrascht ist. Meine Mum hat mir auch schon fünf Briefe geschickt, wie stolz und alles sie doch ist, dass ich auch so gute Noten wie Marek schreibe, aber ich solle mich doch mehr in Verwandlung und Zauberkunst anstrengen, Marek hätte in meinem Alter wesentlich besser in diesen Fächern abgeschnitten.“ Sie verdrehte die Augen. „Eltern können manchmal richtig doof sein, wenn es um die Gefühle ihrer Kinder geht, nicht?“
„Schätze schon“, erwiderte Peter und wischte sich über die Augen. Die Haut an seiner Lippe war aufgerissen, als er sich zu sehr gebissen hatte. „Danke, Marlene. Benjy, tut mir leid, ich wollte nicht –“
„Vergeben und vergessen, Pete“, erwiderte Benjy, bevor Peter seinen Satz beenden konnte. „Ehrlich, ich hab vielleicht nicht die größte Ahnung, was so Familiendrama angeht, aber ich weiß, wann jemand mal ordentlich schreien muss und ich glaube, du konntest das richtig gut gebrauchen.“ Er grinste, als Peter rot anlief. „Du solltest mal versuchen vom Astronomieturm zu brüllen. Danach geht es dir bestimmt besser.“
„Ich werd’s versuchen“, antwortete Peter.
Emmeline und Dorcas warfen ihm einen `Alles bereits wieder vergessen`-Blick zu, dann folgten sie den anderen drei die Treppe hinauf. Im siebten Stock gingen Emmeline, Dorcas und Benjy in die andere Richtung, um zum Ravenclawgemeinschaftsraum zu gekommen (irgendwann würde Peter schon herausfinden, wo der war) und Peter und Marlene bewegten sich zum Portrait der Fetten Dame.
„Und du verrätst wirklich gar nichts?“, fragte Marlene, als sie das Passwort genannt hatte. (Diesen Monat war es Phönixträne.) „Nicht einmal mir, deiner super guten Freundin Marlene?“
„Tut mir leid, Marls“, erwiderte Peter, nachdem er hinter ihr in den Gemeinschaftsraum geklettert war. „Es wäre unfair meinen Freunden gegenüber, wenn ich etwas verrate. Aber“, er beugte sich verschwörerisch vor, „ich kann dir sagen, dass es der Wahnsinn sein wird. Das willst du nicht verpassen.“
Marlene schnaubte und verschränkte die Arme. „Na schön. Behalt deine Geheimnisse, Pettigrew, eigentlich will ich es sowieso nicht wissen.“ Aber Marlene grinste, als sie zu Mary, Lily und Monty ging.
Peter gesellte sich zu Remus, der sein Buch beiseitelegte und ihn prompt zu einer Partie Zaubererschach herausforderte. „Oh, du wirst untergehen, Lupin.“
„Beweis es, Pettigrew!“
***
Halloween brach in einem kühlen, klaren Morgen an, mit stahlblauem Himmel und den langsam braun werdenden Wipfeln des Verbotenen Waldes. Es war ein Morgen voller hibbeliger Aufregung, Vorfreude und hoffnungsvollen Erwartungen an den Abend. Peter hatte die ganze Nacht nicht richtig schlafen können. Jedes Mal, wenn er die Augen geschlossen hatte, war er ein paar Sekunden später wieder aufgeschreckt und hatte die nötigen Zauber rezitiert, die sie für ihren grandiosen Streich brauchen würde, ehe er wieder in sein Kissen gefallen war. Die wenigen Stunden, die er tatsächlich geschlafen hatte, waren gefüllt von Träumen, in denen er seinen Einsatz verpasste, in denen er seine Hose vergaß anzuziehen oder in denen sie alle zu spät zum Festessen kamen und vom Hausmeister Mr. Filch in die Kerker gesperrt wurden. Letzteres ließ den Erstklässler schweißgebadet zurück. Es war allgemein bekannt, dass Mr. Filch Dumbledore ständig darum bat, die alten Bestrafungen der Mittelalterzeit wieder einzuführen, bei denen man an den Daumen von der Decke gehangen wurde. Peter fand es erstaunlich, dass eine solche Schule überhaupt noch bestand, wenn man Schüler derart gefoltert hatte.
Die vier Jungs waren den ganzen Tag über verteilt ein Knäuel aus zu viel Energie, Schreckhaftigkeit und der Unfähigkeit, für auch nur zwei Minuten an etwas anderes als an ihren Streich zu denken. Obwohl sie alle wussten, dass sie die Zauber im Schlaf konnten und dass sie nichts vergessen hatten, ging James mindestens alle halbe Stunde mit ihnen den gesamten Plan durch, als hätte er Angst, sie könnten etwas durcheinanderbringen und damit die ganze Mission zum Scheitern bringen.
Peter war besonders nervös. Ihm war klar, dass die ganze Mission darauf beruhte, dass sie alle zur gleichen Zeit zauberten und keinen Moment zu früh oder zu spät anfingen und ihm war auch klar, dass Sirius ihn wahrscheinlich in einen Teewärmer verwandeln würde, sollte er derjenige sein, der Mist baute. Nicht einmal James konnte ihn wirklich davon überzeugen, dass Sirius es nicht ernst meinte.
Von ihnen allen war Remus noch die Ruhe selbst. Er saß die meiste Zeit mit einem seiner Bücher in seinem Sessel, die Knie an die Brust gezogen und das Gesicht in den Seiten versteckt, aber ab und zu konnte Peter sehen, dass seine Augen sich nicht bewegten und er für ein paar Minuten auf die immer gleiche Stelle starrte und dabei nervös auf seiner Lippe kaute. Er würde sich zwar wieder fangen und dann umblättern, aber es passierte trotzdem regelmäßig genug, dass Peter sich nicht ganz allein fühlte.
James und Sirius hingegen waren zwar ebenso aufgeregt wie die anderen beiden, aber sie nutzten ihre überschüssige Energie lieber, um durch den Gemeinschaftsraum zu rasen, den anderen zu jagen und sich auf dem Boden zu raufen. Vertrauensschüler Frank Longbottom musste die beiden mehrfach ermahnen, bis sie schließlich aufgehört hatten, sich wie zwei streitende Gänse zu benehmen, auch wenn Peter sich nicht sicher war, ob ihre neue Methode des Zeitvertriebs nicht noch schlimmer war. James ließ allerlei Objekte im Gemeinschaftsraum mit seinem Zauberstab über Franks Kopf schweben, sodass dieser sie nicht sehen konnte, während Sirius unbeteiligten, unschuldigen Schülern Stichzauber in die Seiten warf. Peter hatte ebenfalls einen davon abbekommen – es war kein schmerzhafter Fluch, aber sehr nervig. Als würde man mit einer kleinen Nadel gestochen werden.
Die Mädchen, allen voran Marlene, wussten natürlich, dass die Jungs etwas planten. Selbst, wenn Peter ihnen keinen kryptischen Andeutungen gegeben hätte, James‘ unnatürlich breites Grinsen und ihr Verhalten in den letzten Tagen hatte genügend Hinweise darauf gegeben, dass irgendwas im Busch war. Keiner von ihnen wusste, was genau sie planten, soviel stand fest. Marlene hatte zwar versucht, Remus dazu zu bringen, alles zu verraten, in dem sie ihm vorgespielt hatte, dass James sie in den Plan eingewiesen hatte und sie jetzt noch einmal alles mit ihm besprechen sollte, aber er hatte sie durchschaut, bevor er wichtige Dinge verraten konnte.
Dadurch, dass Halloween auf einen Sonntag fiel, gab es keinen Unterricht, mit dem sie sich hätten ablenken können und selbst Remus hatte seine Hausaufgaben nicht angefasst. Lily Evans war zwei Mal vorbeigekommen und hatte gefragt, ob er mit ihr lernen wollte, aber sein glasiger Blick hatte Aufschluss darauf gegeben, dass er sie nicht einmal wahrgenommen hatte. Als James beim zweiten Mal angeboten hatte, dass er mit ihr lernen würde, hatte Lily ihm einen Giftblick zugeworfen und war mit wehenden Haaren davongestapft.
Beim Mittagessen, einer recht kargen Erfahrung vor dem eigentlich Festessen am Abend, redete keiner von ihnen viel. James und Sirius schaufelten sich kiloweise Essen in die Münder, Remus stocherte mit seiner Gabel in seiner Suppe herum und Peter war der Appetit vergangen, als er daran denken musste, was alles schief gehen konnte. Benjy Fenwick kam beim Essen zu ihnen herüber und hatte versucht Peter in seinem Zustand nach dem Plan auszufragen, aber James hatte ihn mit wüsten Beschimpfungen verscheucht, die Mrs. Potter sicherlich nicht gerne hörte. Benjy hatte aber nur gegrinst und war wieder zum Ravenclawtisch zu Dorcas und Emmeline gegangen, die sofort die Köpfe zusammengesteckt hatten.
Nach dem Mittagessen kehrten sie alle in den Schlafsaal zurück. Monty war nicht da – er schaute dem Gryffindorquidditchteam jedes Mal beim Training zu – und so hatten sie den leisen Raum, den sie brauchten, um ein weiteres Mal über den Plan zu gehen und die Zauber zu üben. Alles funktionierte so, wie sie es wollten und selbst Peter bekam jeden Zauber perfekt hin. Sie waren alle bestens vorbereitet und doch so nervös, als würden sie unvorbereitet in die Abschlussprüfungen gehen. Dies würde den Anfang bedeuteten, den Anfang einer großen, besonderen Streichkarriere, wie James so schön gesagt hatte. Vorbei waren die Tage von lausigen Kitzelflüchen in den Gängen oder stinkigen Dungbomben im Klassenzimmer. Ab diesem Abend würde die vier Gryffindorschüler von unartigen Jungs zu Meistern des Chaos aufsteigen. Sirius posierte daraufhin sehr authentisch mit einer Krone und einem Schwert. Das Planen des Streiches hatte ihn mehr als erfolgreich von seiner miesepetrigen Phase heruntergeholt. Der Junge, der im Gemeinschaftsraum geschmollt und andere angemeckert hatte, wenn sie zu laut Spaß gehabt hatten, war nicht mehr. Stattdessen war er wieder sein altes, energetisches Selbst, voller Witz und Elan und grandiosen Ideen.
„Wir sollten den Riesenkraken aus dem See heben und in die Gewächshäuser verlegen!“, schlug er vor. „Was ist, wenn wir Filchs Katze in eine Taschenuhr verwandeln? Oh, ich weiß, wir könnten die Große Halle fluten! Oder gleich die Kerker und damit die Slytherins rauslocken!“
James war mehr als glücklich seinen besten Freund wiederzuhaben und ermutigte Sirius in all seinen Vorschlägen, so wahnsinnig und hanebüchen sie auch sein mochten. „Vielleicht merken wir uns davon was“, hatte er Peter leise gesagt. „Wir sind ja noch ein paar Jahre hier.“ Dann hatte er gezwinkert und war wieder zu Sirius gelaufen, der drauf und dran war, einen Sechs-Etappen-Plan aufzustellen, mit dem er jedes einzelne Portrait im Schloss gegen einen Spiegel tauschen wollte, der Beleidigungen auf denjenigen warf, der hineinblickte. Eine Idee, die er wohl von einem Handspiegel seiner Mutter geklaut hatte.
Es war Fluch und Segen zugleich, als es Zeit wurde, zum Festessen zu gehen. Die ganze Schule strotzte nur so vor Energie; es gab aufgeregtes Geschnatter, Gerüchte flogen durch die Korridore, dass Dumbledore die Große Halle in einen echten Friedhof verwandelt hätte, ein paar Sechstklässler erzählten den ahnungslosen Erstklässlern alles über Traditionen der Schule (auch wenn sie teilweise übertrieben) und der Großteil der Schule war einfach nur drauf und dran endlich in die köstlichen Speisen langen zu können.
Als Peter mit seinen Freunden die Große Halle erreichte, blieb ihm für einen Augenblick der Atem im Hals stecken. Seine Schwester hatte ihm oft genug von Hogwarts‘ vielen Festessen erzählt und wie erinnerungswürdig jedes einzelne von ihnen war, aber er hätte sich niemals gedacht, dass er einen Ort wie diesen betreten würde. Die eintausend schwebenden Kerzen in der Halle waren durch fünfhundert fliegende Jack O‘ Lanterns ersetzt worden, jede von ihnen in einem anderen gruseligen, erstaunten oder lachendem Gesicht. Der Himmel hatte ein kühles Nachtblau angenommen, die Silhouette des Mondes stach hinter den weißgrauen Wolken hervor und ganze Schwärme von Raben und Krähen kreisten über den Köpfen der Schüler. Die schwarzen Vögel flogen ihren ganz eigenen himmlischen Tanz und ließen sich nicht von den ankommenden Schülern unterbrochen, die mit den Fingern auf sie zeigten oder aufgeregt kreischten. Peter war sich sicher, dass die Vögel ein Extra von Professor Flitwick waren, der sich auf künstlerische Magie spezialisiert hatte.
Abgesehen von den spektakulären Dekorationen, war der wirkliche Hingucker das Essen. Es gab Berge an Kartoffeln, kleine Seen an Saucen, riesige Platten mit Schwein und Rind, Hühnerbeine, Rühreier, Gemüse in allen Farben und Formen und Körbe voll mit runden, knackigen, glänzenden Äpfeln, die nur darauf warteten, dass man in sie hineinbiss. Peter hatte noch nie etwas so Köstliches gesehen. Für den Moment sah selbst James so aus, als hätte er ihren Plan vergessen, als er mit beinahe gierigem Blick die vielen Speisen betrachtete.
„Reißt euch zusammen“, brummte Sirius, der die Augen selbst nicht ganz von einem besonders appetitlich aussehendem Gemüseauflauf nehmen konnte. Er leckte sich über die Lippen. „Erinnert euch an den Plan, Männer.“
„Klar“, meinte James mit entfernt klingender Stimme. „Der Plan. Bin voll dabei.“
Sirius zerrte James zum Gryffindortisch, der unter der Last der hunderten Speisen ächzte. Zwischen dem vielen Essen gab Dekorationen aus Kürbissen und die Karaffen, in denen normalerweise Wasser, Saft oder süßlicher Wein enthalten war, waren alle blutrot und in Form von menschlichen Schädeln. Ein mutiger Schluck von James verkündete allerdings, dass es noch immer der gute alte Kürbissaft war. Rote, gelbe und orangefarbene Blätter bedeckten die Platten und Schüsseln und der Tisch selbst war mit Spinnenweben eingesponnen, die sich wie eine seltsam seidige Tischdecke anfühlten.
Professor Dumbledore erhob sich von seinem goldenen Sitz am Lehrertisch und das Geflüstert erstarb mit einem Mal. Seine hellblauen Augen leuchteten hinter den Gläsern seiner Halbmondbrille auf. „Willkommen zu einem weiteren Festessen an Hogwarts“, sagte er feierlich. „Es gibt Zeiten, in denen soll viel geredet werden und es gibt Zeiten, in denen soll viel gegessen werden. Entscheidet selbst, welche Zeit es ist. Guten Appetit!“ Unter tosendem Applaus und ein paar enthusiastischen Zwischenrufen von älteren Schülern, setzte Dumbledore sich wieder hin und das Festessen war eröffnet.
Peter wusste nicht, wo er beginnen sollte. Er hatte extra beim Mittagessen viel Platz gelassen, aber ihm wurde beim Anblick der dutzenden verschiedenen Gerichte klar, dass er nie genug Platz haben würde, um wirklich alles zu probieren. Ein paar Sitze weiter hatte Marlene sich bereits einen Teller voll mit Erbsen und Kartoffeln genommen und Lily auf dem Platz ihr gegenüber probierte den Gemüseauflauf, den Sirius gesehen hatte. Mary Macdonald indes schien in den Himmel zu entschweben, zumindest ihrem Gesichtsausdruck zu urteilen, nachdem sie einen Bissen eines knusprigen Stück Steaks genommen hatte.
Peters Nervosität ihres Streiches wegen wurde auf eine heftige Probe gestellt, als der Nachtisch serviert wurde. Die geleerten Gemüseschüsseln und verschmierten Fleischpaletten verschwanden, nur um eine Sekunde später mit den wunderschönsten Kuchen, Torten, Schüsseln voller Bonbons und Lutscher und Eiscremebergen ersetzt zu werden, die Peter je gesehen hatte. Ganze Wasserfälle an Vanillesauce rannen über die eiskalten Desserts, Schokoladenpudding mit saftigen Kirschen stand in kleinen Schälchen überall verteilt und die Kuchen – oh die Kuchen! Es gab sie in allen Größen und Geschmacksrichtungen, aber eines vereinten sie: Sie hatten alle die Form von Grabsteinen. Es gab kleine Schokograbsteine, die mit dunkler Sahne verziert wurden, große Gräber mit Vanille- und Erdbeergeschmack, die mit grünem Zuckerguss bedeckt waren und Grabsteine, die nach Nougat schmeckten und so aussahen, als würde eine untote Hand komplett aus Keksen aus der essbaren Erde greifen.
Über die Halle hinweg fing Peter Benjys Blick auf, der aussah, als würde er jeden Moment umfallen, weil er so viel gegessen hatte und sich trotzdem von jedem Kuchen ein Stück nahm und von jeder Süßigkeit eine Kleinigkeit auf seinen Teller packte. Peter selbst konnte sich ein weiteres Mal nicht entscheiden, wo er anfangen sollte, und entschied sich einfach dafür, alles zu probieren, was in seiner Reichweite war. Nach seiner dritten Portion des köstlichsten Schokopuddings, den er jemals probiert hatte, stieß James ihn unter dem Tisch an.
„Bereit?“, flüsterte er kaum hörbar über das Klimpern von Besteck und aufgeregte Geschnatter von Schülern.
Peter schluckte schnell herunter und nickte. Er wartete, bis James Sirius und Remus Bescheid gab, dann tauschten sie alle einen vielsagenden Blick. Mit seinem Finger klopfte James fünf Mal langsam auf den Tisch und beim fünften Mal hatten sie alle ihre Zauberstäbe herausgeholt, subtil in den Himmel gerichtet und murmelten gleichzeitig den Spruch, den sie so lange geübt und perfektioniert hatten.
Die fünfhundert fliegenden Jack O‘ Lanterns stockten in ihren sachte schwebenden Bewegungen. Den Bruchteil einer Sekunde passierte gar nichts und dann verwandelten sich die leuchtenden, ausgehölten Kürbisse alle in derselben Zeit in lebendige Fledermäuse. Laut kreischend flatterten sie in der nun sehr viel dunkleren Halle herum und sorgten dabei für einiges an Chaos.
Es gab ein paar milde Schreie, als das Licht der Kürbisse plötzlich erloschen war, aber als die Fledermäuse anfingen wie eine Einheit durch die Halle zu fliegen, brach Panik zwischen den Schülern aus. Die zuvor friedlichen Raben und Krähen stoben aus ihrem Tanz in der Luft und rasten hinter den pechschwarzen Fledermäusen hinterher. Federn flogen durch die Luft und landeten auf den Tischen, als die Vögel in rasanten Sturzflügen und bahnbrechenden Wendungen durch die düstere Halle jagten.
„Kein Grund zur Panik“, hallte die magisch verstärkte Stimme Dumbledores über ihren Köpfen hinweg. „Bleibt ruhig!“
James und Sirius warfen ein paar gezielte Zauber in den Himmel, wodurch ein Großteil der Fledermäuse in goldene und rote Funken zerstoben. Remus murmelte: „Colloportus“, und die Türen der Großen Halle verschlossen sich mit einem lauten Knall. Damit jeder einen Blick auf das wahnwitzige Spektakel in der Luft hatte, schoss Peter kleine Lichtkugeln an die Decke, die wie Miniatursterne über den streitenden Vögeln hingen. Gespenstisches, weißes Licht erhellte die Halle und gab allen Schülern einen sehr untoten Glanz.
„Zeit für das Finale“, sagte James neben ihm.
„Oh yeah!“ Sirius grinste und rollte seine Ärmel hoch. „Lasst uns Geschichte schreiben, Jungs.“
Remus und Peter nickten einstimmig und sie alle hoben die Zauberstäbe an, sodass sie sich an den Spitzen trafen. Keiner achtete auf die vier Erstklässler. Die meisten Schüler waren zu sehr damit beschäftigt, ihre Köpfe vor den Vögeln zu schützen oder die fliehenden Fledermäuse zu beobachten, dass niemand mitbekam, die ein stecknadelgroßer Kürbis in der Mitte der Halle, zehn Fuß über allen schwebend, erschien.
„Weiter, weiter“, murmelte James.
„Je größer, desto besser“, fügte Sirius an.
Ihre vereinten Schwellzauber ließen den gerade erschienen Kürbis rapide wachsen. Als die gesamte Schüler- und Lehrerschaft das schwebende Gemüse entdeckt hatte, hatte es bereits die Größe eines Einfamilienhauses erreicht. Remus ließ seinen Zauber als erstes abklingen, aber er war noch nicht fertig. Da er die ruhigste Hand hatte, zeichnete er augenscheinlich wahllos Grimassen mit seinem Zauberstab in den Himmel, aber nur wenige Sekunden später wurden genau diese Grimasse aus dem riesigen Kürbis in der Luft geschnitten. Peter nahm seinen Zauber als nächstes raus, wodurch das Wachstum des Gemüses weiter verlangsamt wurde. Er dirigierte seine Lichtkugeln ins Innere des Kürbisses.
Eine riesige Jack O‘ Lantern bedeckte nun den gesamten Himmel und starrte mit dutzenden Grimassen und Gesichtern auf die Schüler hinab.
Alles lief einfach nur perfekt nach ihrem Plan. James ließ seinen Zauberstab ebenfalls sinken und grinste seine Freunde an. „Wenn wir dafür keinen Orden bekommen, dann stimmt etwas mit dieser Schule nicht.“
„Solange wie keinen Ärger bekommen, bin ich schon ganz froh“, murmelte Remus, aber das Lächeln auf seinen Lippen verriet ihn. Er sah glücklich aus.
„Komm schon, Lupin, ein bisschen Vertrauen in unsere – Sirius!“, zischte James plötzlich, doch zu spät.
In ihrer eigenen Ekstase gefangen, den Streich an die Schule so perfekt hinbekommen zu haben, hatte niemand von ihnen auf den jungen Black geachtet, der seinen Schwellzauber nicht vom Kürbis genommen hatte. Panisches Gekreische erfüllte nun die Halle und als James Sirius‘ Zauberstab endlich herunterdrückte und ihn wütend anfunkelte, wackelte ihr glänzendes Werk, als würde in seinem Inneren ein Erdbeben stattfinden.
„Das kann nicht gut sein“, murmelte Peter, dem unglaublich heiß geworden war. „Sollten wir nicht –“
Der riesenhafte Kürbis, so groß wie eine kleine Kirche, mit dutzenden grinsenden Gesichtern in seine orangene Haut geritzt, explodierte vor ihren Augen. Es war ein sehr ungünstiger Augenblick gewesen. James, Sirius und Remus hatten gleichzeitig ihre Zauberstäbe in die Luft gehoben und auf den Kürbis gerichtet. Die Explosion des massiven Gemüses bedeckte jeden Schüler, jeden Lehrer, jeden Tisch und jede Fackel mit schleimigen, orangenen Kürbisinnereien. Kerne so groß wie Kleinwagen flogen durch die Luft und es war nur dem schnellen Einschreiten von Dumbledore und den anderen Lehren zu danken, dass niemand von den schweren Geschossen verletzt wurde.
Es war totenstill. Niemand wagte es, auch nur einen Atemzug zu tätigen. Peter war von Kopf bis Fuß mit faserigem Kürbisfleisch bedeckt, genau wie jeder andere Schüler in der Halle. Geistesgegenwärtig nahm Remus den Schlosszauber von den Türen. Erst dann erfüllten laute Stimme, unschlüssiges Gelächter und schließlich chaotische Unterhaltungen die Luft.
„Das war der Wahnsinn!“
„Glaubst du, das sollte passieren?“
„Ich habe Kürbis in meinem Umhang!“
„Ob Filch das alles saubermachen muss?“
„Ups“, meinte Sirius leise neben ihnen.
James verpasste ihm eine auf den Hinterkopf. „Idiot“, zischte er.
„Tut mir leid“, sagte der junge Black. „Ich dachte nicht, dass er gleich in die Luft geht.“
„Genau deswegen haben wir doch einen perfekten Plan ausgearbeitet, damit das nicht passiert!“
„Aber es war trotzdem lustig!“
„Mr. Black“, ertönte die kühle Stimme McGonagalls hinter ihnen. „Mr. Potter, Mr. Lupin und Mr. Pettigrew.“ Sie schaute jedem von ihnen direkt in die Augen, als sie ihre Namen aussprach. „Ich gehe Recht in der Annahme, dass Sie vier dafür verantwortlich waren?“ Professor McGonagall war noch immer furchteinflößend und erschien respektvoll, obwohl sie mit orange-gelben Kürbisinnereien bedeckt war.
„Professor, ich –“, fing Sirius an, aber wurde durch einen stählernen Blick der Hexe ruhig gestellt.
„Sie alle werden“, sie schnippte den Zauberstab in den Himmel und das laute Gekreische der Vögel verstummte, als sie die Tiere allesamt mit den Fledermäusen verschwanden, „Nachsitzen dafür bekommen. Vier Wochen lang. Außerdem werden Sie die Große Halle wieder säubern und – ja, ich denke, ich werde Gryffindor Fünfzig Hauspunkte abziehen. Für kindisches und gefährdendes Verhalten.“
Sie alle blickten schamvoll zu Boden, sich der neugieren und teilweise sauren Blicke ihrer Klassenkameraden wohl bewusst.
„Fünf Punkte allerdings“, fügte McGonagall an, „gebe ich Ihnen für diese herausragende Demonstration von Verwandlungszauberei. Objekte in lebendige Wesen verwandeln ist sehr anspruchsvolle Magie.“ Der Anflug eines Lächeln erschien auf McGonagalls dünnen Lippen, aber ihr Blick blieb hart. „Nutzen Sie Ihr Talent doch lieber für die richtige Art von Unterhaltung, meine Herren. Ich würde Sie ungerne weiter für grandiose, fortgeschrittene Magie bestrafen müssen.“
Trotz der Strafe und den anklagenden Blicken und den verlorenen Hauspunkten und dem wütenden Schnauben von Lily Evans, grinsten die vier Jungs an schelmisch an. Operation Halloween war eben doch ein voller Erfolg gewesen.
Chapter 8: 8. Jahr 1: Andromeda entschwindet
Chapter Text
Wochen nach dem Halloweenfiasko war es noch immer eins der beliebtesten Gesprächsthemen der ganzen Schule. Es verging kein Tag, an dem nicht irgendjemand es wieder ansprach und dann lächerliche Details in seine Erzählungen einband, die so niemals passiert waren. Es gab Gerede von Fledermäusen so groß wie Findlinge, die Schüler in die Lüfte gezerrt hatten, dass der riesige Kürbis versucht hatte, Dumbledore zu fressen – der die ganze Sache überaus amüsant gefunden hatte – oder dass die Vögel zusammen durch die Decke gebrochen waren und nun als wilde Jagd durch den Verbotenen Wald flogen. Dadurch, dass jeder wusste, wer für diesen Streich verantwortlich war, war es für die vier Gryffindor-Erstklässler schwierig, irgendwo hinzugehen ohne erkannt und lauthals bejubelt zu werden.
Für James und Sirius war es ein wahrgewordener Traum. Siebtklässler schüttelten ihnen die Hände und gratulierten ihnen für ihre beeindruckende Zauberei, Ravenclaws aus allen Jahrgängen wollten wissen, welche Zauber sie für die Verwandlung genutzt hatten und selbst Professor Flitwick war sehr interessiert daran gewesen, wie sie es geschafft hatten, seine sonst so friedlichen Raben und Krähen so aufzurauen. Jedes Mal, wenn ihnen jemand über den Gang hinweg ein Lob zurief, strahlten die beiden Jungs, als hätten sie den jährlichen Goldpreis des Tagespropheten gewonnen.
James‘ Eltern hatten einen sehr wütenden Brief geschrieben, als sie davon erfahren hatten. Anscheinend hatte Professor McGonagall ihre Eltern über die Schwierigkeiten informiert, die ihre Kinder in der Schule verursacht hatten. Euphemia und Fleamont waren enttäuscht von ihrem Sohn und dass er so einen Unsinn anstellen würde, hätten sie nie für möglich gehalten, Walburga Black hatte einen weiteren Heuler geschickt und Sirius mit ein paar sehr gewählten, wüsten Worten beleidigt, die den Jungen noch Tage danach aufgewühlt hatte. Der erste Heuler hatte ihn zu einem mürrischen Schatten seiner Selbst werden lassen, aber der zweite hatte ihn mitten ins Herz getroffen. Er wusste, dass seine Mutter eine grauenhafte Kreatur war, die ihren eigenen Sohn häuten würde, wenn man es ihr befehlen würde, aber dass sie ihn so derart beleidigen und vor der ganzen Schule bloßstellen würde… Lediglich den Jubelrufen und dem Beifall der anderen Schüler war es zu verdanken, dass Sirius nicht erneut in ein Loch gefallen war.
Von Peters Mutter kam ein ellenlanger, detaillierter Brief, wie enttäuscht sie von ihrem Sohn sei und dass er sich auf jeden Fall mit den falschen Leuten einließ und dass er doch nie wieder Kontakt mit solchen Rabauken und Tunichtguten suchen sollte. James fand es ziemlich witzig, dass man ihnen einen Tunichtgut nannte.
Der schlimmste Brief war allerdings von Hope Lupin gewesen. Eine kurze Notiz, eine kleine Nachricht, dass sie sehr traurig darüber war, dass Remus sich so daneben benahm und hoffte, dass er in Zukunft bessere Wahlen treffen würde – mehr nicht. Für Remus, der unfassbar blass bei dem Brief seiner Mutter geworden war, war es schlimmer, als angeschrien zu werden. Sirius wusste nicht genau, warum es seinen Freund so sehr traf, dass Hope nur ein paar wenige Worte für ihren Sohn übrig hatte, aber dann wiederrum wusste Sirius auch nicht, wie eine richtige Mutter-Kind-Beziehung überhaupt aussehen sollte. Die wenigen Informationen, die er Remus entlocken konnte, ließen auf eine sehr enge Beziehung mit seiner Mutter sprechen.
Nur wenige Tage nach dem Halloween-Fiasko ereilte Sirius ein sehr persönliches Fiasko – sein zwölfter Geburtstag. Für jedes andere Kind ein Grund zum Feiern, für Sirius ein Tag voller Unannehmlichkeiten und unerträglichen Gesprächen mit Leuten, die ihn nicht interessierten. Zwar musste Sirius für diesen Geburtstag nicht im Grimmauldplatz eine schreckliche Party ertragen, in der seine Eltern ihn mit vorgetäuschtem Stolz an wichtige Erwachsene reichten, damit diese ihm viel Glück wünschen und einen kleinen Check in die Hand drücken konnten, den Orion Black einkassieren würde, aber die Alternative war nicht gerade besser. Am Morgen in der Großen Halle wurde Sirius von Narzissa erwartet, seiner schrecklich nervigen Cousine – sie drückte ihm eine widerlich riechende Einladung in die Hand, dass er doch seinen Geburtstagstee mit ihr und ihren Schwestern in der Black-Manor verbringen sollte.
Genauso gut hätte sie ihn vom Astronomieturm stoßen können. Black-Manor war das Haus, das seine Mutter immer haben wollte. Es gehörte Narzissas Eltern, Cygnus und Druella Black, die dort mit ihrer ältesten Tochter Bellatrix und ihrem Verlobten Rodolphus Lestrange lebten. Ein Tee mit den Black-Schwestern war das grausamste Geschenk, dass man ihm je gemacht hatte und leider hatte Professor McGonagall ihm die Erlaubnis erteilt, dafür den Nachmittagsunterricht ausfallen zu lassen, auch wenn sie dabei nicht sonderlich glücklich ausgesehen hatte.
Narzissa, Bellatrix und Druella Black hatten Sirius die ganze mit einem Gesicht voll Ekel betrachtet, als wäre er eine widerliche Kakerlake, die sich an den Tisch verirrt hatte und nicht der Erbe des gesamten Black-Vermögens. Es waren ätzende drei Stunden voller schaler Konversation, gehässigen Bemerkungen und dem unerträglichen Wunsch, seiner Tante Druella eine Kuchengabel zwischen die Augen zu rammen, wann immer sie ihr hässliches Mundwerk öffnete. Sirius war nach dem Tee so zermürbt gewesen, dass er Remus‘ Abwesenheit vom Schlafsaal erst am nächsten Morgen bemerkt hatte.
Der blasse Junge hatte den Unterricht am nächsten Tag und dem darauf verpasst und kam erst am Samstagmorgen wieder zurück in den Gemeinschaftsraum, müder, blasser und zerschundener als sonst.
„Wo bist du gewesen?“, fragte Sirius mit besorgt zusammengezogenen Augenbrauen.
Remus mied seinen Blick. „Zuhause. M-meine Mutter ist krank.“ Für ihn war das Gespräch damit beendet gewesen, aber nicht für Sirius.
„Du besuchst deine kranke Mutter Zuhause, aber kommst mit einer neuen Narbe am Arm wieder?“ Sirius verschränkte die Arme und reckte das Kinn, während Remus die Ärmel seines Umhangs tiefer zog. „Ich glaub dir kein Wort.“
„Es stimmt aber“, murmelte Remus. „Es geht ihr nicht gut.“
„Was hat sie denn?“, fragte er. „Und woher kommt die neue Narbe, Remus?“
Aber Remus wollte nicht mit der Wahrheit rausrücken. Er bestand darauf, dass seine Mutter krank war und er sie besuchen musste und dass er keine neue Narbe hatte. Als Sirius seinen Ärmel hochzerren wollte, damit er sie besser sehen konnte, zog James ihn zurück. „Beruhige dich, Black“, hatte er in sein Ohr gemurmelt. „Lass ihn. Er wird schon seinen Grund haben.“
Sirius wusste, dass James Recht hatte, aber es brachte ihn zur Weißglut. Wieso hatte einer seiner besten Freunde Geheimnisse vor ihm, wurde einmal im Monat krank oder musste seine Mutter besuchen fahren und kam dann noch schlimmer aussehend wieder, als er ohnehin schon tat? Woher kamen diese verdammten Verletzungen, mit denen Remus Lupin immer wieder auftauchte? Wurde er Zuhause etwa misshandelt? Schlug sein Vater ihn? Sirius war bereit zu glauben, dass seine Mutter krank war, aber Remus sagte nie etwas über seinen Vater. Alles, was Sirius über Lyall Lupin wusste, hatte James ihm erzählt, der es von seinem Vater wusste. Remus hatte nicht ein Wort über sein Zuhause verloren.
„Es gibt sicher logische Erklärungen dafür“, versicherte James ihm ruhig, als Sirius eines Nachts darüber mit ihm redete. „Remus ist unser Freund, oder? Wenn er uns nicht die Wahrheit erzählt, dann hat seinen Grund. Glaubst du echt, er würde immer wieder nach Hause fahren, wenn man ihn dort misshandeln würde?“
Sirius musste zähneknirschend zugeben, dass es nicht so wirkte, als ob das wahr sein könnte. Obwohl er sich weiterhin seinen Kopf darüber zerbrach, was Remus vor ihnen verbergen könnte, kam er auf keine Antwort, die alles erklärte. Er war schon drauf und dran zu glauben, dass sein blasser Freund ein Vampir sei, aber ein paar einfache Tests (Remus‘ Spiegelbild einfangen und ihn mit einem ganzen Knoblauchzopf bewerfen) stellten auch diese These als falsch dar.
Die Weihnachtsferien standen bevor – für James und Peter ein Grund zu Feiern und selbst Remus wirkte glücklich, dass er für ein paar Tage nach Hause fahren würde. Marlene McKinnon erzählte allen, die es wissen wollten, dass sie sich wahnsinnig darauf freute, ihren älteren Bruder zu sehen, der für die Feiertage extra aus dem Ausland anreisen würde. Aus ihrem Jahrgang – wahrscheinlich sogar aus der gesamten Schule – war Sirius der einzige, dem Weihnachten wie ein böses Omen vorkam. Es würde das erste Mal seit seiner Einteilung und seit dem Halloween-Fiasko sein, dass er seine Eltern persönlich wiedersehen würde. Und Sirius hatte eine wahnsinnige Angst davor. Er glaubte nicht mehr daran, dass Remus bei sich zuhause misshandelt und eventuell geschlagen wurde, wusste dafür aber umso genauer, dass es im Grimmauldplatz Nummer 12 auf jeden Fall dazu kommen könnte. Genau wie Remus sein Geheimnis über seine mysteriösen Verletzungen für sich behielt, behielt auch Sirius seine düstere Vorstellung des kommendes Weihnachtens für sich.
Wenn es eines gab, dass Walburga Black mehr liebte als das angehäufte Gold der Familie, dann waren es Disziplin und Loyalität. Sie würde es nicht auf sich ruhen lassen, dass Sirius weiterhin in Gryffindor war, noch würde sie ihn seicht davonkommen lassen, dass er für solch einen Tumult gesorgt hatte. Walburga hatte es ihm schon mehrmals bewiesen, dass sie nicht davon zurückschreckte, Magie zur Bestrafung zu nutzen. Wie oft wurde Sirius in sein Zimmer gesperrt, wenn er sich einen Spaß erlaubt hatte, wie oft wurde ihm die Stimme aus der Kehle geraubt, wie oft hatte er das schlechte Ende des Zauberstabes erfahren müssen? Sirius konnte nicht mehr zählen, wie oft seine Mutter versucht hatte, ihn nach ihrem Bild zu formen, ihn zu einem perfekten kleinen Erben zu mustern, der nicht fragte, sondern nur tat, was man von ihm verlangte.
Sirius war lange keine Marionette mehr in Walburgas krankem Spiel. Er würde sich nicht einer Tyrannin unterjochen, die ihre Kinder nicht lieben konnte.
Damit James sich keine Sorgen um ihn machen würde, wenn er zu Weihnachten nach Hause fuhr, hatte Sirius sich nichts von seinen Ängsten anmerken lassen. Er lachte am lautesten und er grinste am breitesten, wann immer es nötig war und lediglich nachts, wenn keiner seiner Freunde sein Gesicht sehen konnte, ließ er zu, dass die angstvollen Tränen seine Wangen benetzten. Sirius spuckte gerne große Töne, er setzte sich gerne auf den höchsten Thron, den er finden konnte, aber in Wahrheit hatte er eine noch größere Angst vor seiner Mutter, als er sich eingestehen wollte. Er wusste nicht, wann bei ihr eine Grenze erreicht war, wann sie den Zauberstab zücken und zu einem schlimmeren Fluch greifen würde, wann sie ihn wirklich dafür bestrafen würde, dass er nicht der Sohn war, den sie sich gewünscht hatte. Wie sollte er seinen Freunden denn ins Gesicht sehen, wenn er wie ein Kleinkind in seinem Bett heulte und Angst vor seiner eigenen Mutter hatte? Nein. Sirius Black war vieles, aber er würde kein Feigling sein. Er würde nach Hause fahren, er würde den Grimmauldplatz Nummer 12 ohne den Hauch von Furcht betreten und er würde die Weihnachtsferien mit seinen Eltern, seinem Bruder und den Rest der Black-Familie verbringen, ohne dass man ihm ansehen würde, wie sehr er jede Sekunde davon hasste.
Sirius Black war kein Feigling.
Es war der Abend vor ihrer Abreise, als seine Nerven dennoch blank lagen. James und Peter waren in ein intensives Spiel Gobstein vertieft und Remus hatte es sich bei Lily, Mary und Marlene gemütlich gemacht, die sich gemeinsam über ihre Pläne für Weihnachten unterhielten. („Ich kann es kaum erwarten, meiner Schwester all meine guten Noten zu zeigen“, sagte Lily aufgeregt. „Dann wird sie bestimmt erkennen, wie toll es ist, dass ich eine Hexe bin. Das hat Sev auch gesagt, wisst ihr?“ – „Ich hoffe, mein Bruder bringt mir was Cooles mit“, meinte Marlene nachdenklich. „Er hat versprochen, dass ich dieses Jahr das beste Weihnachtsgeschenk aller Zeiten bekommen würde!“)
Sirius wollte kein Miesepeter sein, aber es fiel ihm schwer, sich auf die kommende Zugfahrt und Anreise am Grimmauldplatz zu freuen, wenn all seine Freunde darüber redeten, was für schöne Ferien sie haben würden.
Als hätte James geahnt, was in seinem Kopf vor sich geht, sagte er: „Du kannst uns auch besuchen kommen, Sirius. Meine Mum hat gesagt, sie würde sich freuen, dich bei uns zu haben.“
„Geht nicht“, erwiderte Sirius knapp, aber mit einem dankbaren Lächeln. „Meine Mutter würde es nicht erlauben. Schon vergessen, sie denkt ihr wärt alle dreckige Blutsverräter.“
James grinste. „Das macht es doch umso besser, oder?“
„Glaub mir, wenn ich könnte, dann würde ich“, sagte Sirius. „Aber für die Familie Black ist Weihnachten traditionell sehr wichtig.“ Er verdrehte die Augen. „Was auch nur heißt, dass die Erwachsenen sich betrinken werden, Geld hin und her schieben und die Erfolge ihrer Kinder vergleichen. Kanns kaum erwarten, von meinen Eltern als die Enttäuschung dargestellt zu werden, die sie sich immer gewünscht haben.“
Stirnrunzelnd fragte James: „Aber du wirst das schon aushalten, ja?“
„Komm schon, Potter, wer wird denn da sentimental? Glaub mir, ich hab genug Erfahrung darin, ein paar reiche Snobs zu unterhalten und mich in einem guten Licht darzustellen. Ich fasle einfach was davon, wie traurig ich bin, nicht in Slytherin zu sein und dass der Sprechende Hut und Dumbledore irgendwelche unnützen Tölpel sind und schon fressen sie mir alle aus der Hand und meine Eltern haben am Ende des Tages ein paar Galleonen mehr in der Tasche. So läuft das eben bei uns.“
„Das klingt nicht nach einem schönen Weihnachten“, erwiderte Peter, der sich ein wenig der sauren Flüssigkeit aus den Gobsteinen aus dem Gesicht wischte.
„Es gibt nichts Schönes, wenn man ein Black ist“, zuckte Sirius mit den Schultern. „Deswegen erwarte ich auch absolut unglaubliche Geschichten von euch, wenn wir wieder da sind, klar? Ihr müsst mir alles erzählen, dann fühlen sich meine Ferien vielleicht auch nett an.“
Sirius war noch nie jemand gewesen, der neidisch geworden war, aber seit er von James gehört hatte, wie seine Familie die Weihnachtsfesttage jedes Jahr verbrachten, hatte er das erste Mal einen unerklärlichen Neid auf seinen besten Freund verspürt. Wieso hatte James den Gewinn des Jahrtausends gezogen und war der Erbe einer liebevollen Familie, während Sirius von seiner Mutter kaum mehr beachtet wurde als die Ratten im alten Gemäuer ihres Hauses? Wieso gab es im Grimmauldplatz Nummer 12 kein berauschendes Weihnachtsfest mit goldenem Lametta und einem riesigen Baum mit Bergen an Geschenken? Es erschien Sirius sehr unfair, dass James Potter all das hatte, was Sirius sich immer gewünscht hatte.
„Dann musst du wenigstens im Sommer zu uns kommen“, sagte James aufgeregt. „Sag deinen Eltern einfach, du besuchst deinen Onkel Alphard oder so, das werden sie erlauben.“
„Und was mach ich, wenn sie unangekündigt bei Onkel Alphard auftauchen, aber der kleine Sirius Black ist nicht da, um abgeholt zu werden?“, erwiderte Sirius knirschend. „Kumpel, ich würde nichts lieber tun, als acht Wochen lang in deinem Anwesen zu faulenzen und dich im Quidditch fertig zu machen –“
„Pah“, murmelte James, „das werden wir ja sehen.“
„ – aber meine liebste Mutter würde mir das nur dann erlauben, wenn deine Familie plötzlich anfangen würde, Muggel zu hassen. Sieh es ein, Mann, das wird nichts.“ Sirius hatte nicht vorgehabt, so bitter zu klingen. Zwei besorgte Paar Augen landeten auf ihm.
„Du könntest auch meine Familie besuchen“, schlug Peter vorsichtig vor und Sirius musste sich stark zusammenreißen, den anderen Jungen nicht auszulachen.
„Danke, Pete“, sagte er stattdessen, seine Stimme kontrolliert und ruhig. „Nächstes Mal vielleicht.“
James warf seinen nächsten Stein und stöhnte. „Das ätzt doch“, meinte er. „Sie sollten dir nicht verbieten können, mit wem du deine Zeit verbringst.“
Sirius war wirklich dankbar für James, aber manchmal könnte er den anderen Jungen erdrosseln, wenn er wieder so dämliche Sachen sagte. Es lag nicht in der Natur der Familie Black, ihre Kinder liebevoll und großzügig aufzuziehen – Regeln, Grenzen, Verbote, das gab es zuhauf. Sirius hatte die vielen unterschiedlichen Bestecksorten bei einem schicken Dinner auseinanderhalten können, bevor man ihn aus den Windeln geholt hatte. Jeden Tag aufs Neue wurde er daran erinnert, dass er nichts mit Muggeln, Muggelliebhabern oder gar Muggelgeborenen zu tun haben sollte. Seine Eltern hatten sehr gewählte Worte für Leute wie James‘ Eltern über und Sirius war sich sicher, wenn Walburga und Orion ihn auch nur ansatzweise liebevoll aufgezogen hätten, dann wäre er ihnen ein perfektes Ebenbild geworden. Also eigentlich musste er seinen Eltern dankbar dafür sein, dass sie so in ihrer Erziehung versagt hatten – nur so konnte Sirius zu jemandem heranwachsen, der Schwarz von Weiß unterscheiden konnte.
Den Rest des Abends verbrachten die Jungs damit, Sirius‘ Familie nicht mehr zu erwähnen und in dem Glauben zu bleiben, dass die Ferien für sie alle eine angenehme Zeit werden würden. Peter erzählte ihnen aufgeregt von den Aktivitäten, die seine Mutter mit ihm und seiner Schwester Phyllis vorhatte und James war Feuer und Flamme, bereits jetzt den Inhalt seiner Geschenke zu erraten. Er war sich sicher, den neuen Rennbesen zu bekommen, den er sich mit seinem Vater in der Winkelgasse angeschaut hatte und sicher würde seine Mutter ihm wieder ein ganzes Blech mit seinen Lieblingskeksen backen. Sirius tat sein Bestes, sich für seinen besten Freund zu freuen.
Selbst Remus, der wieder zu ihnen gestoßen war, nachdem die Mädchen sich in ihren Schlafsaal verabschiedet hatten, erzählte mit einem Glänzen in den Augen, dass er hoffte, mit seiner Mutter wieder rodeln gehen zu können. Auf den Hogwartsländereien wäre das kein Problem gewesen – Schnee bedeckte die Erde wie eine dichte, weiße Decke und fiel in dicken Flocken vom Himmel. Die Gewächshäuser mussten jeden Morgen von Professor Sprout mit einer ganzen Brigade an Wärmezaubern wieder aufgetaut werden, damit ihre geliebten Pflanzen nicht eingehen würden. „Die letzten Jahre gab es bei uns kaum Schnee“, erklärte Remus dem erstaunten James. „Wir hatten gerade mal genug für ein paar Schneebälle.“
„Echt? Krass, unser Garten ist jeden Winter vor Schnee gar nicht mehr zu retten! Pass auf, nächstes Jahr kommt ihr zu Weihnachten alle zu mir“, er mied dabei Sirius‘ Blick, „und dann veranstalten wir die größte Schneeballschlacht des Jahres!“
Remus versprach mit einem müden Lächeln, dass er mit seinen Eltern darüber reden würde.
Als der Himmel vorm Fenster immer dunkler und der Gemeinschafstraum immer leerer wurde, schickte der Vertrauensschüler Frank Longbottom sie alle ins Bett. „Wenn ihr morgen früh verschlaft, dann wartet der Zug nicht auf euch“, sagte er. „Also los, hoch mit euch und dann Licht aus.“
Grummelnd und unschöne Dinge über Frank murmelnd, schleppten sich die vier Erstklässler in ihren Schlafsaal. Die Vorhänge rund um Montanas Bett waren bereits zugezogen und der andere Junge schnarchte. Ohne viel zu reden, damit sie ihren Mitbewohner nicht aufwecken würden, zogen sie sich ihre Pyjamas an und begaben sich in ihre Betten. Sirius konnte hören, wie James in seiner Schublade nach seinem Vorrat an Bertie Botts Bohnen kramte (die Sirius bereits alle verdrückt hatte) und konnte ebenfalls das leise, vertraute Rascheln aus Remus‘ Richtung hören, als dieser noch ein paar letzte Seiten vor dem Schlafengehen las. Obwohl keine Lampe mehr brannte und die Wolken den Himmel verdeckte, konnte sein seltsam blasser Mitbewohner nur allzu gut in der Dunkelheit lesen. Vielleicht hatte er einen lichtlosen Lesezauber entdeckt, überlegte Sirius gähnend, bevor er sich tief in seine Kissen drückte und die Augen schloss.
Schon bald mischte sich Peters Schnarchen mit dem von Monty und dem gleichmäßigem Atem der anderen beiden Betten nach zu urteilen, waren James und Remus ebenfalls eingeschlafen. Sirius lag noch lange wach. Er starrte an die Decke seines Himmelbettes, die Arme hinter dem Kopf verschränkt und versuchte nicht an den morgigen Tag zu denken.
Es dauerte lange, bis er einschlief, aber als er endlich schlief, träumte er schlecht. Im Traum war er bereits im Grimmauldplatz Nummer 12 und die Vorhänge seines Bettes hatten sich in Gefängnisgitter verwandelt. Sirius rüttelte an ihnen und schrie, dass man ihn rauslassen sollte, aber auf der anderen Seite der Gitter standen nur seine Freunde und lachten ihn aus.
„Du hast echt geglaubt, ich würde dich zu mir nach Hause einladen wollen?“, lachte James gehässig. „Als ob ich Abschaum wie einen Black bei mir dulden würde!“
„Wir wären alle besser dran, wenn du einfach in Slytherin wie der Rest deiner Familie gelandet wärst“, sagte Peter mit einem bösartigem Grinsen. „Du gehörst hier nicht her, du bist kein Gryffindor.“
„Du hast Recht, ich habe ein Geheimnis.“ Remus‘ Stimme war die Einzige, die nicht allzu verändert klang, aber er blickte Sirius dennoch mit Ekel in den Augen an. „Mein Geheimnis ist, dass ich dich nicht ausstehen kann und wünschte, du würdest einfach verschwinden!“
Seine Freunde lachten und in ihre Stimmen mischten sich auch die von Lily Evans und Marlene McKinnon, die zwar nichts sagten, aber mit den Fingern auf ihn zeigten, als wäre er ein Tier im Muggelzoo. Narzissa erschien zwischen seinen Freunden. „Hättest du doch auf mich gehört, Sirius“, sagte sie traurig, bevor sie sich abwandte und Platz für seinen Vater machte.
Orion Black sah im Traum noch bedrohlicher aus. Sein fein säuberlich zurückgekämmtes, pechschwarzes Haar glänzte im Schein einer unsichtbaren Lampe. Er starrte Sirius aus hasserfüllten, dunklen Augen an, sein Mund war dünn und hart. „Abschaum“, zischte er. „Schwächling. Feigling. Deine Mutter hätte dich direkt nach deiner Geburt ertränken sollen.“ Er hob seinen peitschenähnlichen Zauberstab an.
Sirius rüttelte mit Tränen in den Augen an den Gitterstäben. „Lasst mich doch raus, bitte“, schrie er. „Ich werde auch gut sein, ich schwöre es!“
„Du bist kein Black mehr, Sirius!“, keifte Orion Black und ließ einen Folterfluch auf seinen Sohn los.
Sirius schrie. Es waren die schrecklichsten Schmerzen, die er je gespürt hatte. Sein ganzer Körper stand in Flammen, Messerstiche durchbohrten sein Haut, unsichtbare Hände zerrten an seinen Eingeweiden, etwas drückte sein Herz zusammen und drohte es zu zerquetschen, eisige Nadeln stachen in seine Augen und -
„Sirius!“
Der Schmerz ließ nach, als Orion seinen Stab sinken ließ. „Die Enttäuschung der Familie Black“, sagte er.
„Sirius!“
„Du bereitest deiner armen Mutter nur Kummer und Sorgen. Sie hat alles für dich gegeben, hat ihre Träume und Wünsche geopfert, damit du leben kannst und so dankst du es ihr?“ Orion schüttelte den Kopf. „Crucio!“
Vor seinen Gitterstäben lachten James und Peter und Remus und Lily und Marlene und sein Vater und Narzissa und Kreacher tanzte vor Freuden im Kreis, als er sah, wie Sirius gefoltert wurde und inmitten den Leute sah er seinen kleinen Bruder, der schrie: „Endlich bekommst du, was du verdienst, Sirius!“
„Sirius!“
„Lasst mich“, schrie Sirius, der sich auf dem Boden eingerollt hatte. „Lasst mich, lasst mich, lasst –“
Mit einem wortwörtlichen Schlag erwachte Sirius schwer atmend. Tränen klebten auf seinen Wangen und Schweiß bedeckte seine Stirn. Es war stockfinster, noch immer mitten in der Nacht. Schwerfällig richtete Sirius sich auf und erst da bemerkte er den dunklen Schemen, der auf seinem Bett hockte.
„Heilige Scheiße“, flüsterte Sirius, als er Remus‘ besorgtes, blasses Gesicht in der Dunkelheit ausmachen konnte. „Schon mal was von Privatsphäre gehört, Lupin?“
„Du hast um dich geschlagen“, sagte Remus leise. „Im Schlaf.“
Heiße Scham stieg in ihm auf und er hoffte inständig, dass Remus seine roten Wangen nicht sehen würde. „Ich hab vom Boxen geträumt“, log er. „Ich bin Weltmeister geworden.“
„Sirius“, murmelte Remus. „Ich hab dich doch gehört. Du hattest einen Albtraum.“
„Hatte ich nicht“, beharrte der junge Black. „Es war – höchstens ein unangenehmer Traum, nichts weiter.“
Remus seufzte leise. „Du hast von deiner Familie geträumt, nicht wahr? Du hast die ganze Zeit Lasst mich, lasst mich gemurmelt und um dich geschlagen.“ Der andere Junge zog die Beine an seine Brust. „Ich träume auch oft schlecht.“
„Wirklich?“, fragte Sirius, der vollkommen vergessen hatte, zu verneinen, dass er einen fiesen Albtraum gehabt hatte. Der Folterfluch hatte sich viel zu echt angefühlt. Noch immer kribbelte seine Haut.
„Ja, schon lange“, nickte Remus in der Dunkelheit. „Aber ich hab“, er stockte kurz und biss sich auf die Lippe, „ich hab dann jemanden, der mich in den Arm nimmt und sagt, dass alles gut wird.“
„Ich –“, fing Sirius an, aber brach ab. Er rieb sich die Augen und drehte den Kopf von Remus weg, als seine Augenwinkel wieder verräterisch anfingen zu brennen. Er hasste es zu weinen. Sein Vater hatte ihn immer einen Schwächling genannt, wenn er geweint hatte, schon als kleinen Jungen. Einmal war Sirius im Garten von Black Manor vom Apfelbaum gefallen und hatte sich den Arm gebrochen, aber Orion hatte ihn nur angebrüllt, dass er gefälligst nicht wie ein Baby heulen sollte. Sirius hasste es, wenn er weinte, aber er hasste es noch mehr, wenn andere ihn beim Weinen sahen. „Mir geht’s gut“, murmelte er mit gedrückter Stimme.
„Mir hilft es immer, wenn ich darüber rede“, sagte Remus. „Meine Mutter sagt –“
„Ich sagte, mir geht’s gut“, zischte Sirius wütend. Er starrte den anderen Jungen an, doch Remus verzog keine Miene. Stattdessen lächelte er ihn schwächlich an.
„Es ist wirklich schwer mit dir befreundet zu sein, wenn du uns immer versuchst wegzustoßen, wenn es dir nicht gut geht, Sirius.“ Remus schnaubte leise. „Meinst du, ich weiß nicht, dass du uns seit Tagen anlügst? James kannst du vielleicht vortäuschen, dass dein Weihnachten nicht so schlimm wird, aber mir machst du nichts vor, Sirius. Du kannst ruhig mit uns – mit mir darüber reden.“
Für einen Augenblick sah Sirius seinen blassen Freund wütend an, dann wurde seine Miene sanfter. Er ließ seinen Blick nach unten fallen und drückte die Hände in seinem Schoß zusammen. „Ich will – ich meine, ich kann nicht. Es – es ist nicht so – du verstehst das nicht.“
„Du wärst überrascht, wie viel ich verstehen kann“, meinte Remus. „Ich lese diese ganzen Bücher nicht umsonst.“
Sirius lachte leise. „So mein ich das nicht, du Arsch. Ich kann einfach noch nicht –“, Sirius holte tief Luft. „Ich schaff das schon allein. Sie sind meine Familie und ich komme mit ihnen klar.“ Wie sollte er Remus denn erklären, dass Sirius viel zu viel Angst davor hatte, mit seinen Freunden über die Behandlung seiner Eltern zu reden, weil es dadurch nur noch realer werden würde? Wenn nur er davon wusste, dann konnte er sich einreden, es sei nur ein Traum. Eine grausame Realität, die sich sein Kopf ausgedacht hatte und die niemals so passieren würde. Welche Mutter würde ihr Kind denn in einen Keller mit einem Dementor sperren? Welcher Vater würde seinen achtjährigen Sohn dazu zwingen, bei der Enthauptung des alten Hauselfen zuzugucken? Welche Eltern würden ihr Kind mit Flüchen bedrohen, damit es tat, was sie verlangten? Sirius wollte – konnte – nicht glauben, dass das echt war. Solange er es für sich behielt, war es nicht echt.
Remus betrachtete Sirius für einen sehr langen Moment, dann nickte er kurz angebunden. „Deine Entscheidung“, sagte er. „Aber wir sind da, wenn du reden willst.“ Er hatte bereits die Beine vom Bett geschwungen und war halbwegs zu seinem eigenen Bett, als er mitten in der Bewegung stockte.
Ohne es zu bemerken, hatte Sirius Remus am Handgelenk festgehalten. „Kannst du“, fragte er mit leiser, zittriger Stimme, „kannst du bleiben?“ Er rückte näher ans andere Ende des Betts. „Bitte?“
Die angespannten Schultern des anderen Jungen fielen in sich zusammen und sein Gesichtsausdruck wechselte von harter Überraschung zu einem sanften Lächeln. „Na klar.“ Remus kroch unter Sirius‘ Decke und legte sich mit dem Gesicht zu seinem Freund.
„Danke“, murmelte Sirius kaum hörbar. „Aber –“
„Ich sag James nichts davon“, versprach Remus. „Du hast mein Wort.“
Sirius nickte und schloss die Augen. Er atmete tief ein und aus.
Der elfjährige Remus Lupin ließ zu, dass der zwölfjährige Sirius Black unter der Decke nach seiner Hand suchte und sie festhielt.
***
Die einzige Person, die sich über Sirius‘ Erscheinen im Grimmauldplatz Nummer 12 freute, war der zehnjährige Regulus Black. Regulus war seinem Bruder in sehr vielen Belangen ähnlich; sie hatten beide das schulterlange, pechschwarze Haar der Black-Familie, die gleichen hellen Augen mit dem Glänzen in den Pupillen, die gleichen scharf geschnittenen Augenbrauen und Kieferknochen. Regulus allerdings hatte noch immer das Aussehen der kindlichen Unschuld in seinem Gesicht, er hatte runde Wangen und Schrammen vom Spielen und das aufgeregt kindliche Grinsen, als er seinen Bruder erblickte, während Sirius ein schlankes, hartes Gesicht hatte, dunkle Blicke und schiefes Grinsen und der versteckte, panische Blick hinter seinen Augen, der sicherstellte, dass der Ausgang noch frei war.
„Sirius!“ Regulus schlang seine Arme um die Taille seines älteren Bruders und drückte ihn fest. „Du musst den Rest des Schuljahres hierbleiben, ja? Dann fangen wir einfach gemeinsam an Hogwarts an.“
„Ach, Reggie“, meinte Sirius lachend und tätschelte seinem kleinen Bruder den Kopf. „Ich dachte, du bist schon ein großer Junge und brauchst mich nicht mehr als deinen Aufpasser.“
„Aber es ist so langweilig“, beschwerte sich der jüngere der Black-Brüder. „Keiner spielt richtig mit mir, seit du weg bist. Und Kreacher schummelt immer beim Verstecken. Er nutzt Magie!“
„Unerhört“, lachte Sirius bellend. „Pass auf, ich spiel mit dir Verstecken, okay? Und keiner von uns kann Magie benutzten.“
„Okay!“ Regulus ließ von Sirius ab, aber die Freude, die Grimmauldplatz kurz heimgesucht hatte, wurde in wenigen Sekunden wieder entrissen, als eine schlurfende Stimme im düsteren Gang ertönte.
„Die Herrin ruft nach dem jungen Master Sirius“, sagte Kreacher mit einer tiefen Verbeugung. „Die Herrin wünscht, dass Kreacher Master Sirius sofort in das Büro im zweiten Stock bringt. Kreacher hat der Herrin gesagt, dass sie sich auf Kreacher verlassen kann.“
„Ich kann allein laufen“, erwiderte Sirius kühl. Er warf dem Elfen einen verächtlichen Blick zu, dann wandte er sich wieder an Regulus. „Ich muss jetzt mit Mum und Dad reden, aber wir spielen nachher, ja?“
Regulus nickte. „Ich erinnere dich dran.“
„Tu das, Reggie.“ Sirius verwuschelte Regulus‘ Haare, dann stapfte er grimmig die Stufen in die höheren Stockwerke hinauf.
Die Tür zu seinem eigenen Zimmer stand offen und eins der Fenster war geöffnet, sodass eiskalte Winterluft hineinfloss. Einen Augenblick lang zog Sirius es in Erwägung, sich einfach in seinem Zimmer zu verkriechen und seine Eltern zu ihm kommen zu lassen, aber er wusste, es würde nicht gut enden. Er warf einen sehnsüchtigen Blick auf sein Bett, dann begann er den Aufstieg in den zweiten Stock. Normalerweise war es Regulus und Sirius verboten, in den zweiten Stock zu gehen. Das Schlafzimmer ihrer Eltern, die verbotene Bibliothek und das Büro seines Vaters befand sich auf dieser Etage und Sirius wurde oft genug von Kreacher dabei erwischt, wie er die Treppen hinaufgeschlichen war. Heute, mit der expliziten Einladung, dass er ins obere Geschoss gehen sollte, fühlte es sich wie sein letzter Gang auf Erden an.
Düstere Familienportraits schmückten die Wände des zweiten Stocks. Längst verstorbene Familienmitglieder flüsterten miteinander, als Sirius an ihnen vorbeiging, das Kinn in die Luft gereckt. Sie redeten über ihn, als könnte er sie nicht hören. Die zweihundert Jahre tote Urgroßmutter Black spuckte, als er ihr Bild passierte. „Blutsverräter“, murmelte sie. „Gryffindorabschaum.“
Sirius tat so, als würde er sie nicht hören. Er ging mit festen Schritten an der pechschwarzen Tür in die verbotene Bibliothek vorbei, auch wenn es ihm in den Fingern juckte, den Raum dahinter zu erkunden und in den hunderten Büchern zu stöbern, die seine Familie über die Jahrtausende gesammelt hatte. In den Regalen der Bibliothek im Grimmauldplatz standen die dunkelsten Bücher, die je geschrieben wurden, genaue Anleitungen für die schwärzeste Magie, Rituale und Opferungen, Bücher mit Inhalten, die so abscheulich waren, dass jeder, der sie las, verflucht wurde, Bücher mit Einbänden aus Menschenhaut, Bücher, die in Blut geschrieben wurden, Bücher, die erst dann ihren Inhalt präsentierten, wenn man ihnen Blut opferte… Sirius hatte all diese Geschichten gehört und noch mehr. Es musste der dunkelste Raum des ganzen Hauses sein, dachte er. Passend, dass er direkt neben dem Schlafzimmer seiner Eltern war.
Ein riesiges Portrait von Salazar Slytherin schmückte das Ende der Halle. Der alte Zauberer stierte Sirius mit kühlen Augen nieder, aber Sirius hielt seinem Blick stand. Er streckte die Brust etwas vor, als könnte Salazar das Abzeichen auf seinem Umhang übersehen, als würde er den rot-goldenen Löwen nicht mit derartigem Hass in den Augen betrachten, dass er ein Loch in Sirius‘ Brust brannte.
„Wie hängt es sich hier so, Salazar, altes Haus?“
„Du wagst es, mit mir zu reden, Bursche?“, zischte der Hausgründer Slytherins. „Du wagst es, mich überhaupt anzusehen?“
„Was willst du groß machen?“, fragte Sirius mit einem selbstsicheren Grinsen. „Du bist nur ein staubiges, altes Bild in einem dunklen Flur. Wahrscheinlich hat selbst Kreacher mehr Würde als du.“
„Du –“
„Sirius“, ertönte die donnernde Stimme Orion Blacks im Flur. „Komm rein.“
Die Tür zu seiner Linken öffnete sich von allein und präsentierte das Büro seines Vaters, einen ovalen Raum mit einem Schreibtisch so groß, dass fünfzehn Leute daran hätten gemütlich arbeiten können. Orion selbst saß auf einem throngleichen Stuhl, die Lehne mit Gold und Schwarz verziert, wie Teer in der Mittagssonne. Regale und Schränke mit Büchern bedeckten die Wände und ein Fenster hinter Orions Stuhl deutete hinaus in das winterlich weiße Muggellondon.
Sirius schluckte und trat ein. Seine Mutter saß in einem kleineren Stuhl neben ihrem Mann, die Hände demütig im Schoß verschränkt, ein schwarzes Kostüm mit silbernen Stickereien tragend. Sie sah aus, als käme sie von einer Traurede.
„Sirius“, sagte Orion erneut. Er sagte nicht, dass er sich setzen sollte, obwohl im Raum genügend Stühle frei waren. „Weißt du, was das ist?“ Das Oberhaupt der Blacks schob einen Pergamentbogen über den Tisch.
„Meine Zauberkunsthausaufgaben, Vater?“, fragte Sirius unschuldig.
Orions Blick wurde hart. „Ein Brief dieses Tölpels Dumbledore“, donnerte er, sodass selbst Walburga zusammenzuckte. „Eine Ablehnung“, fügte er hinzu, „auf unseren Wunsch, dass man dich nach Slytherin stecken würde.“ Orions Hand zuckte hervor und er packte den Brief, sodass das Pergament unter seinen Fingern knisterte und tiefe Falten warf. Dann las er vor: „Ich bedauere Ihnen mitteilen zu müssen, dass an der Entscheidung des Sprechendes Hutes nichts mehr geändert werden kann. Zumal ich Ihren Ärger verstehen kann, müssen Sie doch auch verstehen, dass Ihr Sohn sein eigener Mensch ist und demnach nicht nur nach dem Namen seiner Familie gehandhabt werden sollte. Sirius ist ein fleißiger junger Mann, der sich in seinem ihm zugeteilten Haus sehr gut eingefunden hat.“
Sirius schluckte. „Das klingt doch nett.“
„Es ist eine Beleidigung!“, rief Orion Black aus, bevor er Dumbledores Antwort zu Boden warf. „Dass er es wagt, so mit mir zu reden! Seit Jahrhunderten war jedes Mitglied dieser Familie im ehrwürdigen Haus Slytherins, wir sind seine treusten und demütigsten Unterstützer. Salazar Slytherins Hand hat unsere Familie geleitet, da waren wir alle noch nicht geboren und dieser Trottel Dumbledore versucht mir klarzumachen, dass mein Sohn“, Orion spuckte dieses Wort aus, als hätte es ihm große Schmerzen bereitet, es überhaupt auszusprechen, „diese Tradition nicht würdigt? Dass mein Sohn, Sirius Orion Black, kein Slytherin ist?“ Er erhob sich schwer atmend und ging um den Tisch herum.
„Du hast Schande über diese Familie gebracht, Sirius“, sprach nun Walburga zum ersten Mal. Ihr Gesicht war verzerrt und angestrengt. „Deine Taten haben uns großen Kummer bereitet.“
Mit einem Mal fiel Sirius ein, was Orion Black in seinem Traum gesagt hatte. Du bereitest deiner armen Mutter nur Kummer und Sorgen. War es die Wahrheit? Hatte Sirius mit seinen selbstsüchtigen Aktionen der Familie Kummer und Sorge bereitet und nur sich selbst gesehen, während der Rest leiden musste? Hatte er denn auch nur einmal an seinen Bruder gedacht, der noch wie ein Kind darauf gewartet hatte, dass sein großer Bruder endlich wieder nach Hause kommen würde? Sirius ballte die Hände zu Fäusten und rammte sich die Nägel tief in die Handinnenflächen. Nein. Es war nicht seine Schuld.
„Gryffindor hat mich trotz meines Namens aufgenommen“, sagte er, angestrengt die Stimme ruhig zu halten. „Als ich die Schule betreten habe, wurde ich nur als Black wahrgenommen, mehr nicht. Ich war kein Mensch, ich war nur ein Name. Nach Gryffindor eingeteilt zu werden, war das Beste, was mir je passiert ist. In Gryffindor habe ich wahre Freunde gefunden.“ Sirius hatte die Faust seines Vaters kommen sehen, aber hatte nicht die Zeit, ihr auszuweichen.
Mit der Wucht einer Kanonenkugel kollidierte die Faust Orion Blacks mit dem Magen seines Sohnes und ließ Sirius nach Luft ächzend in die Knie gehen.
„Wir sind noch nicht fertig, Sirius“, sagte Orion gefährlich leise. Walburga verzog keine Miene, als sie ihren Sohn auf allen Vieren betrachtete, der nach Luft rang und mit Tränen in den Augen versuchte den Schmerz wegzublinzeln. „Du kannst rebellieren, soviel du willst, aber du wirst unserer Führung folgen. Ich werde nicht zulassen, dass du noch mehr Enttäuschung in diese Familie bringst. Du wirst als Erbe der Familie Black das tun, was von dir verlangt wird und du wirst nicht hinterfragen, was wir von dir verlangen, Sirius. In einer Familie wie unserer ist kein Platz für einen jämmerlichen Feigling wie dich. Entweder, du folgst unserem Beispiel“, Orions Stimme war kaum mehr ein Wispern und doch füllte sie den gesamten Raum, wie ein langsames Gift die Luft füllte, „oder du wirst ausgelöscht. Vergiss nicht, dass du nicht der einzige Sohn bist.“
***
Der Junge im Spiegel sah miserabel aus. Sein schwarzes Haar glänzte und war in einen feinen Zopf gebunden. Dunkle Schatten lagen unter den sturmgrauen Augen und das Glänzen war aus ihnen verschwunden. Die schwarze Festrobe, die er trug, war schlicht und leger, mit wenig Schnickschnack und lediglich einem Wappen des Hauses Black auf der Brust. Silberne Ränder zierten den schwarzen Stoff und gaben dem Umhang damit einen schicken Glanz, wenn das Licht sich darin brach. Unbequeme Lederschuhe bedeckten die Füße des Jungen und obwohl er nichts lieber wollte, als sie von sich zu stoßen, ließ er zu, dass der Hauself die Schnürsenkel noch fester zuband.
„Der Master Sirius sieht unglücklich aus“, kommentierte Kreacher mit leiser Stimme, als wäre er unsicher, ob es ihm erlaubt war, zu reden. Er zupfte mit den dünnen Fingern am Saum des Umhangs und entfernte damit die Falten darin. „Gefällt Master Sirius sein Outfit für den Abend nicht?“
„Master Sirius würde sich am liebsten aus dem dritten Stock werfen“, brummte Sirius, dessen Magen noch immer weh tat. Er wischte sich durch die Haare, dann riss er das Zopfgummi heraus und ließ zu, dass seine dunklen Strähnen frei um sein Gesicht fielen, so als ob sie es einrahmen würden. „Das reicht, Kreacher. Lass mich in Ruhe.“ Er drückte Kreacher mit der freien Hand von sich.
„Wie der Master Sirius wünscht“, sagte Kreacher und verbeugte sich. „Kreacher wird der Herrin Bescheid geben.“ Der Hauself apparierte auf der Stelle und ließ Sirius allein in seinem Zimmer zurück.
Sirius‘ Augen sprangen sofort zu seinem offenstehendem Koffer, aus dem einer seiner Gryffindorumhänge guckte. Das rot-goldene Symbol des Löwen flehte ihn förmlich an, getragen zu werden. Er warf einen sehnsüchtigen Blick darauf, aber wandte schnell den Kopf zur Seite. Heute konnte er sich keinen weiteren Fehltritt erlauben, andernfalls würde sein Vater nicht mehr vor dem Folterfluch zurückschrecken. Sirius strich sich über die Festrobe. Sie ließ ihn älter wirken, wichtiger. Als wäre er tatsächlich ein einflussreiches Mitglied der Familie, dessen Wappen auf seiner Brust prangte, und nicht nur eine Marionette, die für die Machtspiele seiner Eltern da war. Wenn Sirius tatsächlich seinen Gryffindormut besitzen würde, dann würde er einfach abhauen und das Haus Black hinter sich lassen.
„Sirius!“, bellte die Stimme Walburgas durchs Haus, wie sie es die vielen Wochen zuvor im Sommer schon getan hatte. Sein Streich mit den Dungbomben schien eine halbe Ewigkeit her zu sein. Wie konnte der Junge nur so sehr gealtert sein? „Komm herunter!“
Seufzend wandte er sich vom Spiegel ab, stellte sicher, dass sein Zauberstab in seinem Ärmel verstaut war – nur für den Fall – und ging mit langsamen Schritten die Treppe ins Kaminzimmer herunter. Sie warteten alle auf ihn.
Seine Mutter hatte sich in einen Traum aus schwarzer Seide geworfen. Ein dekorativer Schleier fiel über ihr Gesicht und verdeckte den kalten, harten Ausdruck in ihren Augen, als sie ihren ältesten Sohn erblickte. Eine Hand hatte sie auf der Schulter ihres jüngsten Kindes gelegt. Regulus hatte eine ähnliche Festrobe wie Sirius an, allerdings fehlten bei ihm die silberne Akzente. Er war nun Mal kein Erbe.
„Du siehst aus, wie ein Muggellandstreicher“, sagte Orion missbilligend mit einem Blick auf Sirius‘ offene Haare. Er selbst trug einen festlichen Umhang, aus nachtblauer Seide und schwarzer Wolle. Ein silberner Fellkragen schmückte seinen Hals und ein halbes Dutzend silberner Ringe glänzten an seinen Händen. Eine unbezahlbare weiße Taschenuhr ragte aus seiner Brusttasche.
„Wir müssen los“, sagte Walburga. „Druella erwartet uns.“
„Ich weiß“, erwiderte Orion kühl. Er wandte sich von seinem Sohn und trat näher an den Kamin. Aus einer feinen Schale aus Jade nahm er ein schwarzes Pulver, welcher er ins knisternde Feuer streute. Der warme, rote Schein erlosch und einen Moment später leckten giftgrüne Flammen die Holzscheite entlang und loderten wie ein Nest voll Schlangen auf. Orion trat in den hohen Kamin, sagte laut: „Black-Manor“, bevor er mit einer halben Umdrehung seines Oberkörpers verschwand.
„Sirius“, sagte Walburga und bedeutete ihrem Sohn mit einem Kopfnicken, seinem Vater zu folgen.
Widerwillig stellte er sich ebenfalls in die giftgrünen Flammen. Sie krochen an seinen Beinen herauf, aber er spürte keine Hitze. „Black-Manor“, sprach er seinem Vater nach und verschwand ebenso. Sirius wurde in einen wirbelnden Farbstrudel gezerrt. Er raste an dutzenden Kaminen vorbei und achtete darauf, seine Ellbogen dicht an seinem Körper zu halten. Die Farben verschwammen vor seinen Augen langsam zu einer Einheit, aber er hielt die Augen offen, damit er –
Im Kamin Black-Manors sprang er heraus, stolperte über das schmiedeeiserne Gerüst und musste sich am Marmor stützen. Ein missbilligendes Schnalzen mit der Zunge kommentierte seine Ankunft.
Sirius trat zur Seite, damit er nicht von seinem Bruder aus dem Weg geworfen wurde, der einen Augenblick später hinter ihm ankam. Automatisch packte Sirius Regulus an der Schulter, um ihm Halt zu geben.
Regulus lächelte ihn dankbar an.
Als Walburga nur Sekunden später ebenfalls mit ihnen im Raum stand, straffte er die Schultern. Walburga hakte sich bei ihrem Ehemann ein, dann schubste sie Sirius vor sich. „Blamier uns nicht“, zischte sie leise in sein Ohr, bevor sie und Orion die Türen in den Eingangssaal öffneten.
Black-Manor war um ein vielfaches größer als Grimmauldplatz Nummer 12. Allein die Eingangshalle war groß genug, damit das gesamte untere Stockwerk von Sirius‘ Zuhause darin Platz gefunden hätte. Schwarz-weiße Fliesen bedeckten den Boden, verziert mit schnörkeligen Mustern und Blumenmotiven. Die dunkle Holztäfelung wurde von eisernen Fackelhaltern beleuchtet, die alle die Form von ausgestreckten Händen hatten. Gemälde von Landschaften, Häusern und Menschengruppen zierten die Wände. Kleine Erkerfenster ließen den Blick hinaus auf das große Anwesen. Ein Kronleuchter, groß genug damit alle vier Blacks darunter stehen konnten, hing von der Decke und spendete dem gesamten Saal ein sanftes, goldenes Licht. Direkt gegenüber dem Eingang, einem Set aus zwei wunderschön geschnitzten Eichentüren, befand sich die Treppe in den ersten Stock. Die Treppe teilte sich halbwegs in zwei, wodurch zwei Wege entstanden, die von einem schicken Balkon überdacht wurden.
Auf ebenjenem Balkon stand eine Frau mit schwarzen Haaren, die bereits mit meliertem Grau durchzogen waren, einem runden Gesicht und einer korpulenten, gut ausgestatteten Figur. Tante Druella Black, die Besitzerin von Black-Manor, blickte mit dem Ansatz eines Lächelns auf sie herab. „Walburga, Orion“, begrüßte sie die beiden. „Wie nett von euch, dass ihr auch kommt. Der Rest ist bereits im Ballsaal. Ihr findet den Weg, ja?“
„Selbstverständlich, Druella“, erwiderte Walburga mit zusammengebissenen Zähnen. Es war ein offenes Geheimnis, dass Walburga Druella hasste. Es war eines ihrer liebsten Themen, wenn sie einmal wieder Dampf ablassen musste und sie konnte wirklich stundenlang darüber reden, wie unfair sie es fand, dass ihr Bruder Cygnus Black-Manor bekommen hatte, während man Walburga und Orion lediglich den Grimmauldplatz Nummer 12 gegeben hatte. Walburga war lange Zeit in einem schrecklichen Zwist mit ihrem Bruder gewesen, doch nachdem lediglich sie männliche Kinder geboren hatte und ihr damit das gesamte Erbe der Familie Black zugestanden hatte, hatten sie sich wieder vertragen. Im Gegensatz zu seiner Schwester war Cygnus ein einfacher Zeitgenosse.
Sirius hasste es, mit seiner Mutter einer Meinung zu sein, aber er konnte Tante Druella ebenfalls nicht ausstehen. Sie war eine schrecklich eitle Frau, viel zu stolz darauf, dass sie in die Black-Familie geheiratet hatte und mit einem Gesicht, dass der Junge am liebsten jedes Mal schlagen würde. Auch wenn er Druella verabscheute, konnte er zumindest nicht umhin, als zuzugeben, dass ihr Einfluss auf Black-Manor nur positiver Natur gewesen war. Zuvor war es ein düsteres, unfreundliches Haus gewesen, dem Grimmauldplatz nicht unähnlich, aber nachdem Druella entschlossen hatte, dass ab sofort alle Familienversammlungen in den großen Hallen Black-Manors stattfinden sollte, hatte sie das Haus ordentlich herausgeputzt.
Ein riesiges, lebensgroßes Portrait schmückte den Balkon, auf dem Druella stand und zeigte sie, ihren Ehemann Cygnus und ihre drei Töchter, Bellatrix, Andromeda und Narzissa. Auf dem Portrait waren Narzissas Haare noch schwarz und ihr Gesicht war jugendlich und beinahe schon fröhlich. Ihre Schwester Bellatrix hingegen, ein Mädchen mit scharfen Kieferknochen, dunklen Augen und schweren, schwarzen Locken, sah alles andere als fröhlich aus. Sirius‘ Lieblingscousine Andromeda hingegen machte ihren Standpunkt selbst in diesem zehn Jahre alten Bild deutlich. Sie stand abseits ihrer Schwestern, sie trug ihr hellbraunes Haar in einem langen Pferdeschwanz und sie warf ihrer Familie einen skeptischen Blick zu.
„Sie hätten es längst ändern sollen“, sagte Walburga leise, ihre Augen ebenfalls auf das Familienbild geworfen. „Mit all dem, was diese schreckliche Göre getan hat.“
„Noch ist sie ein Teil dieser Familie, Walburga“, erwiderte Orion langsam. „Wenn auch ihr Verhalten anderes zeigt.“
Sirius musste sich schwer zusammenreißen, nicht zu grinsen. Andromeda Black war nicht umsonst seine Lieblingscousine. Sie hatte sich schon früher immer dafür eingesetzt, dass die Familie Black offener und weniger altmodisch sein sollte. Sie hatte während ihrer Hogwartszeit den muggelstämmigen Ted Tonks gedated und hate sich fast enterben lassen, als ihre Mutter davon erfuhr. Andromeda war das einzige Mitglied der Familie Black, zu der Sirius aufsah. Sie war immer die Schwester für ihn und Reg gewesen, die sie nie gehabt hatten.
„Soll das Kind doch abhauen und unter Muggeln leben“, zischte Sirius‘ Mutter. „Sie ist Abschaum, mehr nicht.“
Glücklicherweise betraten sie den Ballsaal einen Augenblick später, andernfalls hätte Sirius ein paar sehr gewählte Worte für seine Mutter übrig gehabt. Der Saal ähnelte in der Größe der Eingangshalle Hogwarts‘. Es war ein riesiger, hell erleuchteter Raum, mit dutzenden, hohen Fenstern mit vergoldeten Simsen, einem massiven Kamin gegenüber der Eingangstür, der ein weiteres Portrait der Familie Black zierte und einem edlen Parkettboden, der unter dem Leuchten von zehn teuren, bronzefarbenen Kronleuchtern aussah wie flüssiges Gold. Für die Feierlichkeiten war ein üppiges Büffet aufgebaut worden und ein Dutzend runder Tische waren im Raum verteilt, die weißen Decken darauf ließen sie beinahe wie Schneekugeln wirken. Der Raum war gefüllt mit einhundert Verwandten, Freunden und anderen wichtigen und sehr reichen Menschen, gedämpfte Gespräche, verhaltenes Gelächter und das Klacken von Schuhen auf Parkett echote durch den riesigen Saal. An einem großen, marmorweißem Piano saß ein junger Zauberer und spielte sich die Finger wund.
Walburgas Hand griff fest an Sirius‘ Schulter. „Dieser Abend ist sehr wichtig für unsere Familie. Blamier uns nicht, Sirius. Benimm dich ein einziges Mal in deinem Leben wie ein vornehmer Erbe, ansonsten wirst du deine kleinen Freunde in dieser Schule nie wieder sehen, verstanden?“
Sirius konnte nicht anders, als stumm zu nicken.
„Gut. Geh mit Regulus zu den anderen Kindern und verhaltet euch ruhig, bis das Dinner beginnt.“ Sie schubste Sirius in Richtung des Kamins.
„Komm mit, Reggie.“ Blindlings fasste Sirius nach hinten, packte seinen Bruder etwas zu grob am Handgelenk und zog ihn mit sich quer durch den Raum, vorbei an den missbilligenden Blicken von Erwachsenen, die ihn nicht kannten, alten Hexen, die aussahen, als hätten sie bereits zu viel Brandy gesoffen und Hauselfen, die mit Tabletts auf den Köpfen durch die Menschenmenge liefen und Champagner-Gläser darboten. Als er sich sicher war, dass seine Mutter ihn nicht mehr sehen konnte, schnappte sich Sirius ein volles Glas des prickelndem, sanften Alkohol und leerte es in einem Zug, bevor er es einem anderen Hauselfen aufs Tablett stellte.
Die anderen Kinder waren unter anderem seine Cousinen Narzissa, Bellatrix und Andromeda, Narzissas schrecklicher Freund Lucius Malfoy, Bellatrix‘ Verlobter Rodolphus und ein paar Slytherins, die Sirius nicht mit Namen kannte, darunter aber auch welche aus seinem Jahrgang, die er gekonnt ignorierte.
Bellatrix, war die erste, die Sirius und Regulus erblickte. Sie hatte sich von ihrem Portrait auf dem Balkon am meisten verändert. Nicht länger war sie das unglücklich dreinblickende Mädchen, sondern eine hochgewachsene, schlanke Frau, deren schwarze Locken wie ein dichter Wald über ihren Rücken fielen. Dunkles Make-Up ließ ihre schwarzen Augen noch bedrohlicher wirken und als sie lächelte, verzogen sich ihre knallroten Lippen zu einer Grimasse. „Sirius“, sagte sie mit beinahe schon fröhlichem Unterton. „Regulus. Welch Freude.“
„Sirius?“ Andromeda sah als einzige so aus, als würde sie sich wirklich freuen, Sirius zu sehen. Aus dem abseits stehenden Mädchen auf dem Portrait war eine blasse junge Frau geworden, die ihre hellbraunen Haare so zusammenband, dass sie kaum zu sehen waren, wenn man ihr ins Gesicht blickte. Sie hatte dunkle Ringe unter den Augen, aber ein echtes Lächeln auf den Lippen. „Oh, Sirius, es ist so schön, dich wiederzusehen!“ Sie lief um ihre Schwester herum und warf die Arme um ihn.
„Ich freu mich auch, Andy“, murmelte er, damit nur sie es hören konnte. „Immerhin haben sie dich noch reingelassen.“
Andromeda lachte leise. „Ich musste auch sehr artig sein, damit ich mitkommen durfte.“ Sie ließ von Sirius ab und begrüßte auch Regulus herzlich. Solch eine öffentliche Darstellung von Zuneigung wurde von Bellatrix, Narzissa und Lucius Malfoy mit höhnischen Blicken gewertet.
„Noch immer bei Mami und Papi Zuhause, Bella?“, fragte Sirius. „Keine Lust, ein eigenes Haus zu kaufen, nicht wahr?“
Bellatrix zeigte ihre weißen Zähne, als sie grinste. „Oh, kleiner Cousin, du hast noch immer nicht gelernt, wann es besser ist, den Mund zu halten. Ich hab gehört, wie du die Familie in Verruf gebracht hast. Gryffindor“, spuckte sie hinterher.
Sirius hielt ihrem Blick stand. „Besser als das stinkige Slytherin“, erwiderte er. „Nichts für ungut, Andy.“
Andromeda machte ein wegwerfende Handbewegung. „Schon okay. Aber gut, dass Bella es anspricht, darüber wollte ich mit dir auch noch reden, Sirius.“
„Hoffentlich willst du ihm nicht noch mehr Flausen in den Kopf setzen, Andromeda“, sagte Narzissa langsam. „Ich meine, dein Einfluss auf Sirius hat bereits genug Schaden angerichtet.“
„Ach, sei ruhig, Zissy“, meinte Sirius augenverdrehend. „Dir ist wohl die Bleiche zu Kopf gestiegen“, fügte er mit einem Blick auf ihre hellen, blonden Haare hinzu, die zu denen von Lucius Malfoy passten, dessen Arm sie die ganze Zeit hielt.
Narzissa lief rot an. „Immerhin weiß ich noch, wo meine Loyalitäten liegen, Sirius. Ich habe dich doch gewarnt, oder nicht? Und sieh nur, was es dir gebracht hat.“ Sie zuckte mit den Augenbrauen und für einen Moment fragte Sirius sich, ob sie und ihre Schwestern wussten, was sein Vater gesagt hatte. „Du bist das Gesprächsthema Nummer Eins“, fügte sie an.
Die angespannten Schultern entspannten sich ein wenig und Sirius atmete tief aus. „Dann reden die Leute immerhin mal über was Gutes“, erwiderte er. „Ständig nur über Bellas falsche Verlobung sprechen, kann ja nicht gesund sein.“
Bellatrix lief nicht rot an. Im Gegensatz zu ihrer Schwester lächelte sie weiterhin und klammerte sich nicht an den Arm ihres Verlobten. „Ich tue, was richtig für die Familie ist“, sagte sie. „Glaub mir, du wirst irgendwann verstehen, dass wir nicht das Privileg haben, jemanden zu heiraten, nur weil wir ihn lieben. Nicht wahr, Andy?“
Andromeda schnaubte leise. „Natürlich, Bella.“
„Nicht“, fuhr Bellatrix fort, als hätte ihre Schwester nichts gesagt, „dass ich überhaupt jemanden lieben würde. Ich habe mich nur einem Mann versprochen und er“, ihr Lächeln wurde ein wenig breiter, fast schon gespenstischer, „wird diese Welt grundlegend verändern.“
„Fängst du schon wieder von diesem Kerl an“, zischte Narzissa. „Ich hab dir doch gesagt, dass du das lassen sollst, Bella.“
„Welcher Kerl? Cousine Bellatrix, bist du etwa verliebt?“, fragte Regulus unschuldig, woraufhin Bellatrix lauthals lachte.
„Oh, süßer, kleiner Regulus“, sagte sie. „Du weißt aber auch gar nichts.“ Bellatrix kämmte sich mit ihren langen Fingern durch die dicken Locken. „Nein, ich bin nicht verliebt – nicht wirklich, zumindest. Weißt du, es gibt viel mehr da draußen auf der Welt als nur den Grimmauldplatz und das Black-Manor, Regulus. Du wirst schon sehen, bald wirst du auch deinen Teil beitragen können.“
„Wovon redest du bitte?“, fragte Sirius mit zusammengezogenen Augenbrauen. „Du klingst ja noch irrer als sonst.“
„Spotte nur, Sirius. Blutsverräter stehen ganz oben auf seiner Liste. Du und Andromeda, eure Spielchen werden euch nicht lange schützen können. Ihr steht auf gleichem Level mit Schlammblütern und Muggeln, ihr werdet schon sehen.“ Bellatrix‘ Augen weiteten sich ein wenig. „Schon bald wird es endlich wieder eine Ordnung in dieser verdorbenen Welt geben.“
Narzissa schüttelte träge den Kopf. „Das geht schon seit Monaten so“, erklärte sie müde. „Bella ist ganz fanatisch nach irgendeinem Lord, den sie kennengelernt hat.“
„Einen Lord? Es gibt keine Lords in der Zaubererwelt“, schnaubte Sirius.
Bellatrix allerdings grinste. „Ein Titel ist nicht von Bedeutung. Das Einzige, was wirklich zählt, ist Ambition und Macht. Du wirst schon sehen, Sirius. Du wirst schon sehen.“ Sie drehte sich um und verließ die Gruppe, ihr Verlobter Rodolphus wie ein treuer Hund an ihren Fersen. Ihre Schritten hallten wie Pistolenschüsse wider.
„Was ist mir ihr?“, fragte Sirius, aber Andromeda zuckte nur mit den Schultern.
„Ist nicht wirklich wichtig. Du weißt doch, wie Bella manchmal ist. Sie findet immer Gründe, um über Blutsverräter und Muggelgeborene zu keifen.“ Sie setzte ein schmales Lächeln auf. „Ich hab gelernt, dass es am besten ist, wenn man ihr keine Aufmerksamkeit schenkt, dann geht sie irgendwann einfach weg.“
Sirius lachte, aber Narzissa schnaubte nur abfällig. „Rede dir nur ein, dass alles in bester Ordnung ist, Andy. Ich weiß nicht, wie lange Mutter und Vater es noch dulden werden, dass du den Namen unserer Familien durch den Schmutz ziehst.“
„Und kaum ist Bella weg, geht es wieder gegen mich“, murmelte Andromeda leise, bevor sie sich an ihre Schwester wandte. „Warum zeigst du Lucius nicht dein Zimmer, Zissy? Sicher ist er ganz interessiert an deinem Poster von Celestina Warbeck, das genau über deinem Bett hängt.“
Narzissa und Lucius wurden beide dunkel im Gesicht und, mit einem giftigen Blick auf Andromeda, entschuldigten sich, bevor sie in die Richtung liefen, in der auch Bella verschwunden war.
„Wäre es doch immer so einfach, die beiden loszuwerden“, seufzte Andromeda.
„Reggie, setz dich doch zu den anderen und unterhalte dich“, sagte Sirius an Regulus gewandt. „Ich will kurz mit Cousine Andy allein reden.“
Regulus sah für den Moment enttäuscht aus, aber tat trotzdem, wie ihm geheißen wurde. Er ging an Sirius und Andromeda vorbei und setzte sich etwas plump an den Tisch voll mit Slytherin-Schülern und jüngeren Kindern, die genauso mies dreinblickten, wie Sirius sich fühlte. Kannen mit Kürbissaft und Granatapfellimonade standen überall verteilt, sowie Gestecke mit hübschen Blumen, die die Aufmerksamkeit der Kinder genauso lange auf sich zogen, wie ein Gespräch über die neusten politischen Ereignisse.
„Du willst mit mir allein reden?“, fragte Andromeda grinsend. „Was, hast du in der Schule ein nettes Muggel-Mädchen getroffen und willst jetzt wissen, wie du sie am besten mit nach Hause bringen kannst, um Walburga einen Herzinfarkt zu verpassen?“
„Nein“, lachte Sirius. „Aber wahrscheinlich komm ich darauf in ein paar Jahren zurück, das klingt witzig.“
***
Der Vorteil daran, dass Sirius nicht in Black-Manor lebte, war dass er in jeden Raum gehen konnte, ohne einem Verbot seiner Mutter entgegenzuwirken. Black-Manor hatte ungefähr zweihundert Zimmer und ein Großteil waren ungenutzt. Es gab dutzende Gästezimmer, Badezimmer und kleine Küchen im ganzen Haus verteilt, aber es gab nur einen Raum, den Sirius unbedingt sehen wollte. Um von der öden Party zu fliehen, bevor seine Eltern ihn wie einen kleinen Vorzeigeerben herumzeigen konnten, hatte Andromeda vorgeschlagen, dass sie sich in ihrem Schlafzimmer verstecken würden, aber Sirius hatte eine bessere Idee gehabt. Die Bibliothek im Grimmauldplatz Nummer 12 durfte Sirius nicht betreten – von Black-Manor war aber nie die Rede gewesen.
„Bei Merlins linker Socke, das müssen ja tausende Bücher sein“, hauchte Sirius beeindruckt. „Lass mich raten, alles voll schwarzer Magie?“
„Schätze schon“, erwiderte Andromeda. Sie hatte ein Champagnerglas in der Hand und ihre Haare geöffnet, sodass sie ihr in langen Wellen über die Schultern fielen. „Dad will nicht, dass wir hier rumstöbern.“
„Wie gut, dass ich nicht stöbere“, meinte Sirius. „Wie geht’s Ted?“
„Oh.“ Andromeda leerte ihr Glas und stellte es auf einen nahen Beistelltisch mit einer hässlichen Vase ab. „Gut, denke ich. Wir haben uns lange nicht gesehen.“
„Ihr habt euch doch nicht wirklich getrennt, oder?“, fragte er, während er mit dem Finger über die verschiedenen Buchrücken strich, In dieser Bibliothek gab es all das, was es in Hogwarts nur in der Verbotenen Abteilung gab. Schwarze Magie des 16. Jahrhunderts, Dunkle Magie – ein Leitkurs in die verbotenen Künste, Eine Anleitung für die gewöhnlichsten Flüche und Verwünschungen, Schwarze Seele, schwarze Flüche – einhundert narrensichere Wege, um mit Ihren Feinden fertig zu werden und Der Weg in die dunklen Künste waren nur ein paar der ausgewählten Titel, die Sirius ins Auge stachen. Kein Wunder, dass sie nicht in die Bibliotheken durften. Er müsste sich nur in eines dieser Bücher lesen und würde dann wahrscheinlich genug dunkle Magie beherrschen, um seinen gesamten Familienstammbaum auszulöschen.
Andromeda setzte sich vorsichtig auf ihren mottenzerfressenen Sessel, der wohl ihrem Vater gehörte. Das silberne Wappen der Blacks glänzte auf der Lehne. „Ich kann ihn nicht sehen, solange ich hier wohne“, erklärte sie langsam. „In der Schule konnten sie nicht verhindern, dass wir zusammen waren, aber jetzt… seit wir aus der Schule sind, hab ich ihn nicht mehr zu Gesicht bekommen. Aber er schreibt mir immer noch.“
„Und das lässt Druella zu?“
„Er nutzt einen falschen Namen. Roderick Thinbarg“, lachte sie, ehe der kurze Schauer an Freude von ihrem Gesicht fiel. „Mum glaubt, er wäre ein reicher, ausländischer Zauberer, der mir den Hof macht.“
„Was hast du vor?“ Sirius drehte sich von einem Regal um und wandte sich zum nächsten, warf aber seiner Cousine einen raschen Blick zu. „Wegen Ted, meine ich. Willst du mit ihm weglaufen?“
Andromeda seufzt leise. „Ich weiß es nicht“, sagte sie. „Wirklich, ich hab einfach keine Ahnung. Wenn ich noch länger in diesem Haus bleibe, dann ist es nur eine Frage der Zeit, bis meine Eltern mir einen Verlobten wie Bella suchen, und dann werde ich wahrscheinlich ein Leben wie meine Mutter führen müssen. Weißt du noch, die Geschichten, die ich dir früher immer vorgelesen habe?“
„Du meinst diese Muggelmärchen? Aschentrödel und Zunderbella?“
„Aschenputtel und Cinderella“, korrigierte sie. „Aber, ja, diese. Da gab es doch immer dieses Happy End und sie haben die wahre Liebe gefunden, nicht?“
„Genau sowas willst du auch“, sagte Sirius. Es war keine Frage, er wusste es. Seine Cousine hatte schon immer einen sehr romantischen Blick aufs Leben gehabt. „Dann tu das.“
„So einfach ist das nicht, Sirius“, erwiderte sie. „Ich kann nicht einfach losgehen und entgegen den Wünschen meiner Familie leben und – und Ted heiraten!“
„Wieso nicht? Es ist dein Leben und du bist nicht einmal die älteste Tochter.“ Sirius zuckte mit den Schultern. „Was soll’s, selbst wenn du die Älteste wärst, würd ich dir das sagen. Die Blacks können nicht für immer dein Leben bestimmen und du siehst ja, was es aus unseren Müttern gemacht hat.“ Sowohl Walburga als auch Druella wurden mit jungen Jahren, da waren sie kaum aus der Schule, verlobt und mussten heiraten. Ihre einzige Aufgabe im Leben war es gewesen, einen reichen, reinblütigen Ehemann zu finden und die Blutlinie fortzusetzen. Es war egal gewesen, was sie gewollt hatten. Sirius und Andromeda waren beide das Produkt einer lieblosen Blutehe. „Du willst ja wohl nicht enden wie Druella, oder? Einen Ehemann, den du hasst und Kinder, die du kaum lieben kannst. Nicht, dass meine Mutter besser wäre.“
Andromeda stand wieder auf. „Du verstehst das nicht Sirius, du bist noch zu jung dafür“, antwortete sie gereizt. „Es geht im Leben nicht immer nur darum, was ich will, sondern ich muss auch daran denken, was das Beste für meine Familie ist.“
„Wer sagt das?“, fragte er trocken. „Wer erzählt dir, du musst zuerst an andere denken? Deine Mutter? Bella?“
Das sonst so sanfte Gesicht Andromedas wurde hart. „Ich muss mir nicht von einem zwölfjährigen anhören, wie ich mein Leben zu leben habe“, zischte sie säuerlich, aber Sirius wusste es besser, als sich davon angegriffen zu fühlen. Seine Cousine war in die Ecke gedrängt und suchte nach einem Ausweg.
„Na schön“, sagte er schulterzuckend und zog ein dickes, schweres Lederbuch aus dem Regal. Es hatte keinen Titel, aber faszinierende Symbole auf dem Einband. Als er es aufschlug, verschluckte er sich beinahe am ganzen Staub, der sich zwischen den brüchigen Seiten gesammelt hatte. Das Buch war in keiner Sprache geschrieben, die er kannte oder verstand. Enttäuscht packte er es wieder zurück, auch wenn er sich nicht sicher war, nach was er überhaupt suchte. Vielleicht suchte er auch nichts und wollte nur eine Möglichkeit haben, die Regeln seiner Familie zu strapazieren.
„Was soll das heißen?“, fragte Andromeda gereizt.
„Soll heißen, na schön“, wiederholte Sirius. „Stell dich selbst hinten an. Soll ich Ted sagen, dass du nicht mehr mit ihm zusammen sein willst, weil du lieber einen Mann heiraten willst, den du nicht kennst, damit du ein paar Erben in die Welt setzen kannst, oder willst du das selbst übernehmen?“
„Du –“ Das Gesicht seiner Cousine lief puterrot an. „Du hast keine Ahnung, wovon du redest, Sirius!“
„Wirklich?“, fragte er laut und drehte sich zu ihr um. „Denn so wie ich das sehn, habe ich wesentlich mehr Ahnung als du. Du bist zu feige, eine Entscheidung für dein eigenes Leben zu treffen, also wartest du darauf, bis es jemand für dich macht. Lieber wartest du ab, dass Druella dich an den nächstbesten Reinblut verlobt, als dass du den Mann heiratest, den du liebst. Oder willst du mir etwa sagen, du bist besonders scharf darauf, Rodolphus‘ Bruder Rabastan als Verlobten zu bekommen, sobald er mit der Schule fertig ist? Denn wenn du noch länger wartest, dann wird das früher oder später passieren, Andy. Hör auf so feige zu sein.“
„Du redest dir das Leben gerne sehr einfach, Sirius“, erwiderte sie noch lauter, „aber das ist es nicht! Nicht jeder von uns gibt einen Scheiß auf seine Familie und tut alles dafür, von ihnen gehasst zu werden. Ich liebe meine Schwestern und ich liebe meine Eltern und es tut mir leid, dass du keine Ahnung hast, wie das ist, aber ich werde nicht selbstsüchtig sein und nur an mich denken, während ich ein Erbe habe, dass ich erfüllen muss. Bella kann keine –“, sie stockte, das Gesicht heiß und rot, der Mund eine dünne Linie.
Sirius riss überrascht die Augenbrauen in die Höhe. „Bella kann keine was? Keine Kinder bekommen?“
„Du solltest das nicht wissen. Ich sollte es auch nicht wissen“, gab Andromeda zu. „Ich hab Bella und Mum darüber reden hören, deswegen…“
„Deswegen willst du jetzt ihren Job übernehmen und ein paar kleine Black-Kinder in die Welt setzen?“, beendete Sirius ihren Satz. „Andy“, sagte er leise, „das ist nicht, was du willst. Ich weiß, dass du deine Eltern nicht im Stich lassen willst, aber du bist nicht dazu verpflichtet, ihren Wünschen nachzugehen. Scheiße. Was glaubst du, warum ich so bin? Meinst du, ich rebelliere aus Spaß gegen meine Mum?“
„Ich dachte immer du wärst ein wenig lebensmüde“, murmelte sie träge lächelnd und Sirius lachte bellend auf.
„Ein wenig wahrscheinlich. Aber tatsächlich hat es mir nicht gut getan, dass meine Mum mir seit ich vier war gesagt hat, dass ich mich im Leben nur darauf vorbereiten soll, irgendwann eine reinblütige Frau zu heiraten und ihr ein paar Erben zu schenken. Mann, wenn es nach mir geht, dann geh ich kinderlos drauf, damit ich diese kranke Blutlinie beende.“ Er lachte erneut, dann drückte er Andromeda zwei Finger in den Oberarm. „Willst du nicht auch einfach mal so richtig rebellisch sein?“, fragte er.
***
Sirius und Andromeda kehrten in den Ballsaal zurück, als es gerade Zeit für den letzten Toast des Abends war. Ein sehr alter, sehr gebrechlicher Zauberer in komplett grauen Umhängen stand mit zittrigen Händen auf einem Stuhl und redete etwas von Vergänglichkeit, Zukunftsglauben und Glauben an den Bund der Familie, bevor man ihm mit mehreren Leuten wieder auf den Boden helfen musste. Schließlich erhob Cygnus Black das Wort, der Eigentümer des Black-Manors und Vater von Andromeda, Bellatrix und Narzissa.
„Meine lieben Leute“, sagte er mit seiner sanften Altherrenstimme, „es freut mich, dass ihr alle hier beisammen gekommen seid, um die Weihnachtstraditionen mit mir und meiner Familie fortzuführen. An jedem normalen Abend wäre es nun Zeit, das letzte Glas zu leeren und die letzte Pastete vor dem Nachhauseweg zu verdrücken, aber ich habe noch eine wichtige Ankündigung zu machen.“
„Was soll das?“, hauchte Andromeda neben ihm. „Davon hat er nichts erwähnt.“
„Würden meine reizenden Töchter und meine wunderschöne Frau bitte die Bühne mit mir betreten?“ Cygnus‘ Stimme war vielleicht sanfter als die der meisten Blacks, aber er sprach mit einer Autorität in ihr, dass niemand es auch nur wagen würde, sein Wort in Frage zu stellen. Als Narzissa in Begleitung von Bellatrix und Druella zu ihrem Vater ging, wurde klar, dass Andromeda die Einzige war, die nicht wusste, was ihr Vater vorhatte.
„Oh Merlin“, flüsterte sie leise. Sie war furchtbar blass geworden, aber straffte die Schultern und folgte ihren Schwestern.
Sirius eilte zu seinem Platz neben seinem Bruder, der ihm einen irritierten Blick zuwarf, aber Sirius konnte nichts anderes tun, als mit den Schultern zu zucken, bevor Cygnus weiter sprach.
„Seit Jahrhunderten ist die Familie Black die mächtigste, reichste und vor allem reinste Familie der Zaubererwelt“, sagte er, die Hand von Druella an seinem Ellbogen. „Es gibt keine Familie, die mehr Wert darauf legt, die Reinheit unseres geschenkten Blutes aufrechtzuerhalten und die Schönheit der Magie in unserem kleinen Kreis weiterzureichen. Meine wunderschöne Frau ist eine Hexe von solcher Reinheit, dass unsere Töchter mit einem Blut geboren worden, dass selbst das anderer in den Schatten stellst.“ Er schenkte zuerst Bellatrix, dann Andromeda und schließlich Narzissa einen liebevollen Blick und es wäre wirklich rührend gewesen, dachte Sirius, wenn Cygnus seine Töchter nicht wie Zuchthengste vorstellen würde. „Deswegen ist es mir auch eine umso größere Freude“, fuhr Cygnus fort, die Stimme plötzlich lauter als zuvor, „dass ich verkünden darf, dass meine älteste Tochter Bellatrix nicht mehr die Einzige sein wird, die nächstes Jahr den Bund der Ehe knüpfen wird.“
Grausiges Eis schwamm seinen Nacken hinab und Sirius‘ Gesicht nahm die Farbe von Pergament an. Er sah mit weit aufgerissenen Augen zur Bühne, versuchte den Blick seiner Cousine einzufangen, aber diese starrte lediglich mit schreckgeweitetem Blick ans andere Ende der Halle. Die Hände, die sie vor sich verschränkt hatte, zitterten. Sirius suchte seine Umgebung ab, um etwas zu finden, mit dem er eine Ablenkung erschaffen könnte – irgendetwas, damit Andromeda fliehen konnte, aber es war zu spät.
„Mit Freude darf ich Ihnen allen die zukünftige Andromeda Mulciber und ihren künftigen Ehemann Cervantes Mulciber vorstellen!“ Cygnus strahlte wie ein Kind an seinem Geburtstag, als ein dunkelhaariger Mann mit dem Gesicht eines Yorkshire-Terriers die Bühne betrat.
Der Mann, Cervantes Mulciber, sah aus, als wäre er schon weit über vierzig und dem Blick nach zu urteilen, den er flüchtig in die Reihe der Kinder warf, war er bereits Vater einer der Slytherin-Schüler. Als wäre es das natürlichste auf der Welt, dass dieser weitaus ältere Mann eine kaum Zwanzigjährige ehelichen würde, griff er mit einem grimmigen Gesichtsausdruck nach den zitternden Händen Andromedas.
„Cervantes, der erst vor ein paar Jahren seine liebe Frau Rosalind verlor, hat meiner süßen Andromeda den Hof gemacht“, erklärte Cygnus, als würde er nicht darüber reden, seine mittlere Tochter an einen fast doppelt so alten Mann verheiraten. „Meine Frau und ich sind einverstanden, dass es das Beste für unsere Tochter ist, wenn sie einen Mann –“
„Nein!“, rief Andromeda plötzlich lautstark aus. Sie entriss sich Cervantes‘ dürren Fingern und trat entgeistert ein paar Schritte zurück.
„Liebes?“, fragte Cygnus unschuldig klingend. „Alles in Ordnung, Dromeda?“
„Gar nichts ist in Ordnung!“, schrie sie panisch. „Ich kann doch nicht – du kannst nicht von mir verlangen, dass ich diesen – diesen – dass ich diese Person dort heirate!“ Mit einem Finger deutete sie auf Cervantes, der tatsächlich eher gelangweilt als entsetzt aussah.
Sirius biss sich so heftig auf die Lippen, dass er Blut schmeckte, aber er konnte nichts anders, als lauthals lachen zu wollen. Es musste ein Wink des Schicksals gewesen ein, ein Segen der Fortuna selbst, dass er erst Stunden zuvor mit Andromeda genau darüber gesprochen hatte. Er konnte sehen, wie ihre Augen flüchtig die Menge durchsuchten und im Bruchteil einer Sekunde fällte er eine Entscheidung. Sirius sprang von seinem Sitz auf und rief lauthals: „Sag Ihnen, wen du lieber heiraten willst, Andy!“
„Sirius!“ Die Stimme seiner Mutter war wie ein Peitschenschlag in der Stille und einen Moment später spürt er, wie sich zwei klauenartige Hände in seine Schultern bohrten. „Wie kannst du es wagen?“ Walburga war wie aus dem Nichts hinter ihm aufgetaucht und zerrte ihn mit sich. „Du –“
„Mutter, Vater“, Andromeda hatte die Stimme wieder erhoben. Sie sah plötzlich entspannt aus, jegliche Panik war aus ihren Augen verschwunden. Mit einem Lächeln auf den Lippen sagte sie: „Mein Herz gehört bereits einem Mann namens Edward Tonks. Ich habe vor, ihm einen Antrag zu machen und es interessiert mich nicht, ob ihr es gutheißt, oder nicht. Ich liebe Ted und ihr könnt mich nicht von ihm fernhalten.“
Bellatrix sah aus, als hätte man ihr ins Gesicht geschlagen und Narzissa hatte einen Blick aufgesetzt, der eine deutliche Mischung aus Hass und Belustigung war – Sirius empfand plötzlich Mitleid für seine blondierte Cousine, aber konnte nicht lange darüber nachdenken, denn seine Mutter hatte ihn bis zum Ausgang gezerrt.
„Ich kann nicht fassen, dass du es wagst, die Stimme in solch einer peinlichen Situation zu erheben“, zeterte Walburga, während sie Sirius weiter zum Zimmer mit dem Kamin zog. „Es war nie die richtige Entscheidung gewesen, Andromeda auf dich und Regulus aufpassen zu lassen, ich wusste das Kind hat nur Dummheiten im Kopf, als sie das erste Mal von diesem Muggel geschwärmt hatte. Druella hätte sie schon damals richtig züchtigen sollen, aber sie und dieser dumme Cygnus sind einfach zu sanft! Oh, aber das war es, Sirius, glaub mir. Das war das letzte Mal, dass du diese Hexe gesehen hast. Andromeda Black ist gestorben, Sirius, das kannst du mir glauben!“ Walburga schubste Sirius in den Kamin, dann warf sie ein wenig Flohpulver hinterher. „Du wartest auf mich und deinen Vater“, fügte sie leise hinzu, dann sagte sie laut: „Grimmauldplatz Nummer 12!“, und Sirius wurde in einen Strudel aus Farben gerissen, bevor er hätte ein Wort sagen können.
Sirius stolperte aus dem Kaminsims und fiel auf den teuren Teppich. Mit dem Gesicht zum Boden blieb er für einen Moment liegen, dann fing er laut an zu lachen, bis ihm Tränen in den Augen standen. Ein seltsamer Stolz durchfloss jede Pore seines Körpers, als er sich immer wieder vor Augen führte, wie Andromeda ihren Eltern die Stirn geboten hatte.
„Andromeda Tonks“, flüsterte er in die Düsternis und Stille des Grimmauldplatz, grinsend, dass seine Mundwinkel weh taten.
Chapter 9: 9. Jahr 1: Der fehlende Glückwunsch
Chapter Text
Die Euphorie des vergangenen Weihnachtens hatte noch lange genug angehalten, damit James nicht daran denken musste, dass Sirius deutlich blasser als zuvor wieder nach Hogwarts gekommen war. Auf der Zugfahrt war er sein übliches, gesprächiges Selbst, hatte Witze gerissen und wollte von ihm, Remus und Peter alles über ihre Weihnachtsferien wissen. Noch Tage später hatte der junge Black danach gefragt, dass man ihm noch einmal erzählen sollte, wie seine Freunde ihre freien Tage verbracht hatten. Am Anfang war besonders Peter sehr angetan gewesen, hatte er sonst nie die volle Aufmerksamkeit Sirius’ für sich gehabt und ihm mehr als enthusiastisch erzählt, wie er mit seiner Schwester am Weihnachtsmorgen die Geschenke ausgepackt hatte, wie sie gemeinsam mit ihrer Mutter und den Verwandten, die zu Besuch waren, eine Gans verspeist hatten und wie er stundenlang mit den kleinen Cousinen und Cousins im Schnee gespielt hatte. Sirius war kaum zu sättigen, so oft wollte er die immer gleichen Geschichten hören und am Anfang hatte James lediglich gedacht, Sirius wäre einfach nur neugierig, wie man Weihnachten in einer Familie feierte, die nicht vollkommen bekloppt war, aber mit der Zeit hatte er bemerkt, dass irgendwas passiert sein musste.
Richtig überzeugt davon war er, als er sich einen Abend an Sirius näherte, der im Sessel im Gemeinschaftsraum eingeschlafen war und ihn mit einem vorsichtigen Rütteln an der Schulter wecken wollte. Statt mit einem üblichen kurzen Laut der Überraschung oder dem Grunzen von Sirius begegnet zu werden, dass der Junge immer von sich gab, wenn man ihn weckte, zuckte Sirius stattdessen bei der sanften Berührung zusammen, als hätte er sich verbrannt. James zog seine Hand zurück und starrte Sirius an, der schwer atmete und sich übers Gesicht wischte.
„Was hat sie gemacht?“, fragte er leise und ging in die Hocke. Vor dem Fenster tobte ein Schneesturm und bedeckte das Glas mit einer Schicht an weißem Frost. Das Knistern des Kaminfeuers schickte kleine Funken in die Luft, die verdampften, bevor sie den Teppich in Brand setzen konnten. „Was ist passiert, Sirius?“
„Was soll das?“, erwiderte Sirius mürrisch. „Verzieh dich, Potter.“
James zog die Augenbrauen zusammen. „Deine Mum hat was gemacht“, sagte er. „Was war es?“
„Keine Ahnung, wovon du redest, lass mich in Ruhe.“ Sirius wollte sich aufdrücken, aber James packte sein Handgelenk. „Lass los“, zischte der Junge.
„Erst, wenn du mir die Wahrheit sagst. Was war über Weihachten? Du hast gar nichts erzählt.“
„Weil es nichts zu erzählen gibt, Potter, und jetzt lass mich los, sonst sag ich Frank du würdest mich belästigen.“
„Versuchs doch, Black“, erwiderte James, der ebenfalls sauer wurde. Er drückte etwas fester zu. „Sag mir die Wahrheit, Sirius. Du weißt, dass ich es ernst meine.“
„Was willst du machen?“, fragte Sirius müde, aber mit einem düsteren Blick in den Augen. „Willst du zu Dumbledore rennen und sagen, meine Familie wäre böse? Eilmeldung, Potter, das weiß er. Das weiß jeder, der auch nur einen Funken Verstand hat.“
Überrascht ließ James Sirius‘ Handgelenk los. „Ich dachte, wir wären Freunde. Ich dachte –“
„Du denkst ziemlich viel“, höhnte Sirius, „aber meistens kommt nicht sehr viel dabei raus, Potter. Wie wärs, wenn du auf deine Mami hörst und dich von mir fernhältst, wo ich doch ein schlechter Umgang für dich bin. Wahrscheinlich wartet sie nur darauf, dass ich dich im Schlaf verhexe, hm?“
James wusste, dass Sirius versuchte, ihn wegzustoßen, aber es half nicht weiter, dass er nicht trotzdem verletzt war, als Sirius sich mit einem giftigen Blick an ihm vorbeidrückte und die Treppen zum Schlafsaal hochstapfte. Er ließ dem Jungen ein paar Sekunden, dann folgte er ihm mit ebenso schnellen Schritten. „Bleib stehen, Sirius“, rief er laut. „Bleib stehen und rede mit mir, du Feigling!“
Sirius wirbelte auf dem Absatz herum, sein dunkles Haar wie ein peitschende Vorhang vor seinem Gesicht. In seinen sturmgrauen Augen blitzte es bedrohlich. „Du nennst mich einen Feigling, Potter?“ Ohne, dass James es gemerkt hatte, hatte Sirius seinen Zauberstab hervorgezogen und ihn auf James‘ Brust gerichtet. „Fordere dein Glück nicht heraus. Ich komme aus einer Familie, in der man schwarze Magie mit der Muttermilch aufnimmt. Ich kann dir die Inneren nach außen hexen, ohne dass du es mitbekommst. Ich kann deiner Lunge jeglichen Sauerstoff entziehen, ich kann deinem Körper jegliche Flüssigkeit entziehen, ohne mich sondern anstrengen zu müssen. Fordere mich nicht heraus, Potter.“
„Das bist nicht du“, sagte James leise, den Blick stur auf seinen wütenden Freund gerichtet. Die Spitze von Sirius‘ Stab drückte durch sein Pyjama-Oberteil und James meinte, dass er das Holz auf seiner nackten Haut fühlen konnte. „Wo ist der Junge, der mir vor ein paar Wochen noch gesagt hat, er verabscheut jede Form von dunkler Magie? Wo ist er, Sirius?“
„Keine Ahnung!“, rief Sirius frustriert aus, ließ seinen Stab sinken und raufte sich mit der anderen Hand die Haare. Die Winkel seiner Augen wurden rot. „Ich weiß nicht, ob ich jemals dieser Junge war, ok? Ich bin ein Black, das kann ich nicht bestreiten. Schwarze Magie liegt mir im Blut, James. Was soll ich mit denn weiter gegen das wehren, was ich bin? Ein verdammter Black, mehr nicht.“
James nahm einen tiefen Atemzug und legte Sirius vorsichtig eine Hand auf den Arm. „Wenn du mir erzählst, was passiert ist, dann kann ich dir helfen. Ich hab dir doch gesagt, dass du da nicht allein durchmusst. Du bist mein bester Freund, Sirius.“
Es kostete James all seine Willenskraft, nicht sofort zu Dumbledore und McGonagall zu rennen, nachdem Sirius ihm erzählt hatte, was seine Eltern in den Ferien getan hatten. Sie saßen gemeinsam auf James‘ Bett, die Vorhänge zugezogen und ein Schallschutzzauber darum gelegt, den James während seiner Freizeit gelernt hatte. Er zitterte am ganzen Körper und musste seine Hände fest in die Laken krallen, damit er nicht unkontrolliert auf sein Kissen einprügeln würde. „Das können sie nicht tun“, sagte er zum wiederholten Male. „Das können sie nicht tun!“
„Sie haben es längst getan, Kumpel“, erwiderte Sirius müde. Die Narben auf seiner Brust, die im Schein seines Zauberstabes wie frische, rote Farbstriche glänzten, ließen ihn so viel älter aussehen, als er eigentlich war. Sirius‘ Hand zitterte ebenso, sodass der Lichtkegel an der Stabspitze auf und ab hüpfte. „Du kannst es nicht ändern.“
„Aber“, fing James an, wusste aber nicht, wie er seine verwirrten Gedanken zusammensetzen sollte. „Sie können dich nicht für etwas bestrafen, dass du nicht getan hast! Sie tun ja so, als hättest du deiner Cousine gesagt, sie sollte sich vor den Augen aller der Familie enteignen!“
„Es war nah genug dran“, murmelte der andere Junge. „Eigentlich bin ich schuld dran, nicht? Ich hab ihr doch gesagt, sie soll nicht feige sein und sich alles gefallen lassen und dann hat sie genau das getan, was ich ihr geraten habe und“, er deutete mit der freien Hand auf seine Verletzungen, „die Quittung sehen wir hier.“
„Ich akzeptiere das nicht“, erwiderte James.
„Das wird sie davon abhalten, mich zu verfluchen“, sagte Sirius mit dem Versuch eines Lachens. „Komm schon, James, du kannst es nicht ändern. Was passiert ist, ist passiert, wir alle haben unsere Lektion gelernt, Andy wurde aus dem Familienstammbaum gebrannt und gut ist.“
„Gut ist?“, zischte James aufgebracht. Er öffnete den Mund, schloss ihn wieder und öffnete ihn dann ein weiteres Mal. Sein ganzer Kopf schien zu schwimmen. Eintausend Gedanken rasten hin und her, prallten gegen seine Hirnwände und ließen sich als drückender Schmerz hinter seinen Schläfen nieder. Er rieb sich den Nasenrücken. „Deine Cousine wurde quasi aus der Familiengeschichte gelöscht und jetzt sollen einfach alle so tun, als hätte sie nie existiert? Findest du das wirklich gut?“
„Natürlich finde ich es nicht gut, James, heilige Scheiße“, rief Sirius aus. „Was hätte ich tun sollen? Ich hab gebettelt und geschrien und geheult wie ein Kleinkind und meine Mutter hat mich nur angeguckt und gesagt, ich hätte die Bestrafung verdient, für das, was ich der Familie schon wieder angetan habe. In ihren Augen hat nicht Andy angekündigt, sie würde einen Muggelstämmigen heiraten, sondern ich.“ Seine Augen waren blutunterlaufen und er zog sich das Shirt wieder über den Kopf. „Sag mir, was ich hätte anders machen sollen?“
James suchte angestrengt nach einer Antwort, nach einer gottverdammten Lösung, aber alles, was er fand war Ärger und Wut und Hass und die Sehnsucht danach, sich zu rächen, was Walburga und Orion Sirius angetan hatten. Seine Finger lechzten nach seinem Zauberstab und er wollte sich in die Verbotene Abteilung schleichen und die ganzen dunklen Flüche lernen, vor denen sie sich in Verteidigung gegen die dunklen Künste verteidigen mussten, er wollte lernen, wie er ihnen so sehr wehtat, wie sie Sirius wehgetan hatten. James wollte, dass sie litten. „Du gehst nicht dahin zurück“, sagte er leise, angewidert von sich selbst und den Gedanken, die er pflegte. Er war ein Gryffindor – er kämpfte mit Mut und Tapferkeit und nicht mit der dunklen Magie einer Familie, die keine Liebe empfinden konnte. „Du kommst mit zu mir, es ist mir egal – du – du kannst da nicht wieder hin. Die töten dich noch!“
„Sie werden mich nicht töten“, erwiderte Sirius. „Ich bin der Erbe. Sie brauchen mich lebendig.“
„So sieht das aber nicht aus!“, rief James. „Mann, Sirius, ich – ich kann doch nicht einfach nur zusehen, wie sie dich foltern und verfluchen und sonst noch was tun.“
„Eigentlich bin ich gut davongekommen, sie haben den Dementor dieses Mal nicht benutzt.“ Sirius hätte James genauso gut die Nase mit einem gezielten Faustschlag brechen können, denn als er James‘ entsetzten Gesichtsausdruck sah, sagte er schnell: „Nur ein Witz.“
James schüttelte mit offenem Mund den Kopf. „Du machst Witze in so einer Situation?“
„Besser als die ganze Zeit zu heulen, oder?“ Sirius setzte ein schwaches Lächeln auf. „Komm schon, Potter, wo ist dein Sinn für Humor?“
„Ich fass es nicht.“
„Sei nicht so ein Weichei, Potter“, sagte Sirius und stieß James gegen die Schulter. „Ich musste schon schlimmere Strafen ertragen. Es sind nur noch fünf Jahre, dann kann ich da legal abhauen, nicht? Bis dahin halt ich ab jetzt einfach meine Klappe und spiele den perfekten kleinen Reinblutsohn, der nie auch nur einen Fehler macht. Ich werde der Erbe sein, den meine verdammte Mutter sich wünscht und sobald ich siebzehn bin, heirate ich die erstbeste Muggelstämmige, die sich mit anbietet. Meinst du Evans hätte Lust?“
„Du bist der Wahnsinn“, erwiderte James, der nicht mehr verstand, wie Sirius von einem Moment auf den anderen so ruhig und gelassen wirken konnte, wenn er doch zuvor noch fast an die Decke gegangen war. „Und was sollte überhaupt die ganze Scheiße von wegen du seist doch nur ein Black und könntest dich nicht mehr dagegen wehren?“
Zu seiner Überraschung grinste Sirius schief. „Das war mein sehr dramatischer, schlechter Versuch, dich davon abzuhalten, weiter Fragen zu stellen. Du kannst ziemlich hartnäckig sein, wusstest du das?“
„Merlin“, seufzte James erleichtert. „Und ich dachte schon, sie hätten dir ‘ner Gehirnwäsche unterzogen oder so.“
Sirius lachte bellend auf und sah damit wieder aus, wie ein energetisches Selbst und nicht wie der verängstigte Junge, der mit neuen Narben auf der Brust einschlafen musste. „Du gehst aber auch direkt vom schlimmsten aus, Potter. Weißt du denn nicht, dass ich ein wahnsinnig guter Schauspieler bin? Ich wette, ich bin der beste Lügner an der ganzen Schule!“
James betrachtete seinen grinsenden Freund für einen Moment, dann schüttelte er selbst lachend den Kopf und drückte Sirius mit einer Hand weg. „Geh in dein eigenes Bett, Black, und lass mich schlafen. Ehrlich, ich mach mir nie wieder Sorgen um dich.“
***
Es kam, wie es kommen musste: Kaum war Sirius wieder sein altes Selbst, lachend und dämliche Witze reißend und Pläne schmiedend, landeten er und Peter beim Nachsitzen. Ein Streich gegen Schniefelus („Mein Willkommen-Im-Neuen-Jahr-Geschenk, quasi“, hatte Sirius mit einem Zwinkern gesagt.) hatte den Slytherin zwar mit einem Gesicht voll Bubotubler-Eiter zurückgelassen, aber den beiden Gryffindors auch sofort zwei Wochen Nachsitzen eingeräumt. Peter musste die Zaubertrankzutaten nach Alphabet sortieren, während Sirius jeden Abend mit Professor McGonagall sitzen und Sätze schreiben musste, während sie Hausaufgaben kontrollierte. Remus hatte nach dem Ende der Ferien wieder an Farbe dazugewonnen, war zwar immer noch schmächtig und blass, aber sah um Längen gesünder als sonst aus. Als James ihn darauf ansprach, meinte der andere Junge nur, dass er sich wohl in den Ferien gut erholt hätte, auch wenn sein Lächeln nicht ganz seine Augen erreicht hatte.
Der abendliche Gemeinschaftsraum war für James ohne Sirius sterbenslangweilig. Selbst er konnte nur begrenzt Montanas ewiges Gerede über Quidditch-Taktiken ertragen (die ersten Tage war es unterhaltsam gewesen, mit einem Gleichgesinnten zu reden, aber irgendwann wiederholte sich alles nur), weswegen James die schwerwiegende Entscheidung traf, sich mit Remus gemeinsam zu den Mädchen zu setzen.
Lily warf ihm einen einzigen Blick zu, dann sammelte sie ihre Sachen zusammen und verschwand mit einer gemurmelten Entschuldung in den Schlafsaal.
Ihr wehender Umhang war kaum hinter der Ecke verschwunden, da hatte Mary sich vorgelehnt und geflüstert: „Sie hatte ein schreckliches Weihnachten. Hat sich mit ihrer Schwester gestritten und seitdem ist sie richtig schlecht drauf. Sie hat bereits an die zwanzig Packungen mit Schokofröschen leergefuttert und weint fast jeden Abend.“
„Deswegen wollen wir ihr eine Überraschung bereiten“, fügte Marlene ebenso leise hinzu, als hätte sie Angst, Lily könnte jeden Moment um die Ecke springen. „Ihr Geburtstag steht am Ende des Monats an und Mary und ich haben vor, ihr eine Party zu schmeißen, damit sie ihre doofe Schwester vergisst. Wollt ihr helfen?“
„Na klar“, erwiderte James sofort. „Was können wir tun?“
„Wir brauchen Süßkram“, sagte Mary. „Tonnen, würde ich meinen. In letzter Zeit isst sie nur noch Sachen, in denen unglaublich viel Zucker ist. Sie will auch nicht hören, dass das ungesund sei…“
„Was wir am meisten brauchen“, meinte Marlene in bestimmendem Ton, „ist Musik. Wir können keine Party ohne Musik veranstalten, es sei denn ihr wollt alle, dass Pettigrew singt.“
Remus grinste. „Lieber nicht. Es reicht, wenn wir ihn unter der Dusche hören müssen.“
„Ja, der gute Pete steht ziemlich auf Celestina Warbeck“, fügte James an, was Marlene kichern ließ.
„Wir brauchen aber Muggel-Musik“, sagte Mary nachdenklich. „Lily kennt doch gar keine Zauberer-Musik.“
„Wie sollen wir das denn machen?“, fragte James und kratzte sich am Kinn. „Muggeltechnik funktioniert hier doch nicht.“
„Überlass das mir“, erwiderte Remus, womit er nicht nur James überraschte. „Was ist?“, fragte er auf die verdutzten Blicke. „Ich breche keine Regeln damit, ich… verbiege sie nur etwas.“
James legte seinem Freund einen Arm um die Schultern. „Sie werden so schnell erwachsen“, schniefte er gefälscht. „Vor Monaten hat der gute Lupin nicht eine Regel nur schief angeguckt und guckt ihn euch jetzt an!“
„Aww, James, fängst du gleich an zu weinen?“, neckte Marlene ihn grinsend.
„Wahrscheinlich“, erwiderte er nickend. „Mein kleiner Regelbrecher.“
Remus wand sich aus seinem Arm und schnaubte: „Verrückter“, auch wenn er sein eigenes Lächeln nicht verbergen konnte.
„Also dann wäre das mit der Musik ja geklärt“, sagte Mary. „Ich kümmere mich um den Süßkram. Ich schreib meiner Oma, dass ich hier halb verhungere, dann schickt sie bestimmt genug, damit ich die ganze Schule versorgen kann.“
„Und ich kann die Hauselfen in der Küche fragen, ob sie noch was zusteuern können. Getränke und so, du weißt schon“, erklärte James sich bereit.
„Du weißt, wie man in die Küche kommt?“, fragte Marlene beeindruckt.
„Ein echter Magier verrät niemals seine Tricks“, grinste der Potter-Junge und fuhr sich mit der Hand durch die Haare. „Was ist mit Geschenken? Wollt ihr Evans nicht noch was schenken?“
Marlene nickte. „Ich besorge ihr ein neues Federkielset. Sie hat gestern ihre dritte diese Wochen zerbrochen, weil sie zu fest aufgedrückt hat.“
„Wahrscheinlich stellt sie sich das Gesicht ihrer blöden Schwester vor“, grummelte Mary. „Von mir bekommt sie einen magischen Kompaktspiegel. Den hab ich in der Hexenwoche bestellt, der soll dir anzeigen, wie du mit verschiedenem Make-Up aussehen würdest. Ich hab mir direkt auch einen gekauft.“
Remus verdrehte die Augen und murmelte etwas, das nur James hören konnte und das sich verdächtig nach: „Mädchen“, anhörte.
„Ich lass mir auch was einfallen“, sagte James, der seine Brille abgenommen und an seinem Shirt sauber machte, auch wenn er dadurch seine Umgebung nur noch recht verschwommen wahrnahm. Wenigstens konnte er Mary und Marlene noch sehen, auch wenn er ihre Gesichter nicht erkennen konnte. „Irgendwas Praktisches. Vielleicht ein Buch.“
„Gute Idee“, sagte Mary. Sie war drauf und dran aufzustehen und mit ihren erledigten Hausaufgeben in den Schlafsaal zu verschwinden, als sie noch einmal innehielt. „Und kein Wort zu Lily, kapiert? Es soll nicht umsonst eine Überraschungsparty werden, Jungs, ich will nicht, dass sie es vorher schon weiß.“
„Ich sag überhaupt nichts“, erwiderte der Potter-Junge, der seine Brille mittlerweile wieder aufgesetzt hatte und damit Marys ernsten Gesichtsausdruck erkannte. „Merlinehrenwort.“
„Ich hoffe für dich, dass das auch was bedeutet, Potter, ansonsten lerne ich den Ohrenschmalzfluch auswendig und hexe ihn dir auf den Hals.“
***
„Weiß nicht, warum du dir so einen Kopf machst“, meinte Sirius träge. Er lag auf seinem Bett im Schlafsaal, den Füße gegen die Wand gestellt und den Kopf vom Bett hängen, damit er James ansehen konnte, der auf dem Boden saß und einen Katalog durchblätterte. 1001 nützliche Hexenwerkzeuge stand in sehr schnörkliger Schrift auf der Buchfront. „Du kannst Evans doch nicht mal leiden.“
„Das stimmt überhaupt nicht“, erwiderte James, der eine weitere Seite umblätterte. „Ich kann sie schon gut leiden, sie ist nur – manchmal echt nervig. Sag ihr nicht, dass ich das gesagt habe.“
„Würde mir im Traum nicht einfallen“, grinste Sirius. „Kauf ihr doch einfach ein doofes Buch und gut ist.“
„Das ist zu langweilig“, sagte James. „Mary hat mir erzählt, wie schlimm Evans sich mit ihrer Schwester gestritten hat und ich weiß auch nicht, aber irgendwie will ich, dass sie dann was Besonderes bekommt. Ich würde das gleiche für dich tun, okay?“
Sirius schnaubte. „Da fühl ich mich aber geehrt, dass du mich auf die gleiche Stufe wie Evans stellst. Ihr zwei habt kaum eine Unterhaltung hinter euch, die nicht in irgendwelchen Streitereien geendet ist.“
Auch wenn James gern dagegen argumentieren würde, musste er zugeben, dass es stimmte – er und Lily stritten sich ziemlich oft. Meist war es nicht mal, dass er sich unbedingt mit ihr anlegen wollte, sondern dass es einfach so passierte. Der letzte große Streit war vor den Weihnachtsferien gewesen; es war zwei Wochen nach dem Halloween-Fiasko gewesen und James war gerade von seinem Nachsitzen in den Gemeinschaftsraum zurückgekehrt, als Lily ihm entgegengekommen war, einen Stapel Bibliotheksbücher in den Armen. James wollte lediglich nett sein und hatte ihr angeboten, ihr die Bücher abzunehmen, da war Lily an die Decke gegangen. Hatte ihn Dinge genannt, die er immer noch nicht verstand und ihn angeschrien, dass er aufhören sollte, so zu tun, als würde er sich um andere Sorgen, wenn er doch ganz klar nicht einmal genügend Verstand im Kopf hätte, um an sein eigenes Haus zu denken. Sie war davongestürmt, bevor er überhaupt hätte fragen konnte, was die Hälfte von all dem bedeuten sollte.
James fand, dass Lily ihn ziemlich unfair behandelte. Meist hatte er doch gar keine bösen Absichten, wenn er mit ihr reden wollte und es war ganz schön nachtragend von ihr, ihm immer noch wegen dieses einen Mal böse zu sein, als er ihr Plappertrank in den morgendlichen Kürbissaft geschüttet hatte. Oder als er die Mäuseschwänze im Zaubertrankunterricht verzaubert hatte, damit sie auf sie zugekrochen kamen. Oder als er ihr mit einem permanenten Stift eine Karikatur von Schniefelus auf die Wange gemalt hatte, als sie im Gemeinschaftsraum gedöst hatte. Die meiste Zeit war sie sowieso nur sauer auf James, weil er und Schniefelus sich nicht ausstehen konnten und sie Merlin wusste warum immer noch seine Freundin war.
Seufzend fuhr er sich durch die Haare. „Ich werd aus Mädchen eh nicht schlau“, sagte er. „Woher soll ich denn wissen, was Evans gebrauchen kann?“
„Glaube schon mal nicht, dass Evans sich sonderlich über ein selbstrollendes Nudelholz freuen würde“, kommentierte Sirius trocken. „Du machst dir sowieso viel zu viele Gedanken darum. Am Ende wird sie dich eh wieder nur einen arroganten Trottel nennen und ihr werdet ein paar Tage lang nicht miteinander reden.“ Er zuckte mit den Schultern. „Das ist sie nicht wert, Kumpel.“
„Du hast ja keine Ahnung“, erwiderte James mürrisch. „Als ob du jemals mit einem Mädchen geredet hättest, dass dich gemocht hätte.“
Sirius setzte ein schiefes Grinsen auf und zuckte anzüglich mit den Augenbrauen. „Die meisten Mädchen schätzen es auch, wenn ich andere Dinge mit ihnen tue.“
„Ach, halt die Klappe, Black.“ James warf ein Kissen nach ihm.
„Halt du doch die Klappe, Potter“, erwiderte sein Freund und warf das Kissen zurück.
Der magische Bestellkatalog lag ein paar Minuten später vergessen unter James‘ Bett, als eine völlig eskalierte Kissenschlacht zwischen den beiden Jungs entstanden war. James und Sirius lachten und rauften und verfolgten sich lauthals brüllend mit den Kissen, die sich gegenseitig an den Kopf schlugen und hörten auch nicht auf, als Peter und Remus den Schlafsaal betraten.
„Ich wusste, wir hätten sie anleinen sollen“, sagte Peter.
„Die hätten sie durchgekaut“, erwiderte Remus träge lächelnd.
„Kommt schon, Männer, schließt euch dem Krieg an!“, bellte Sirius, der auf seinem Bett mit einer Siegerpose stand und das Kissen wie ein Schwert angehoben hatte. Nur eine Sekunden später fiel er hintenüber, als James sich gegen ihn geworfen hatte und gemeinsam krachten sie auf Sirius‘ Matratze auf, die unter dem plötzlichen Gewicht von den zwei heranwachsenden Jungs ächzte.
Peter und Remus tauschten einen Blick, zuckten mit den Schultern, griffen sich die nächstliegenden Kissen und schlugen laut brüllend auf James und Sirius‘ Körper ein, die wie ein Knäuel aus Armen und Beinen auf dem Bett lagen.
„Verräter“, rief James entsetzt. „Die Schweine haben sich zusammengetan!“
„Waffenstillstand, Potter“, entgegnete Sirius laut mit einem Arm über seinem Gesicht. „Wir zeigen den beiden schon, was es heißt, sich mit uns anzulegen!“
Ein Geschenk für Lily fand James an dem Abend nicht. Auch am nächsten nicht und an dem darauffolgenden auch nicht. Da der dreißigste Januar immer näher rückte, wurde er zunehmend nervöser, dass er nichts mehr finden würde. Er hatte sogar Mary gefragt, ob er sich ihre Ausgabe von der Hexenwoche ausleihen dürfte, aber das hatte auch nichts geholfen, außer dass Sirius ihn dafür geneckt hatte, dass er bestimmt nur das Quiz Wie bekomme ich den süßen Zauberer nur dazu, mit mir auszugehen? machen wollte.
Selbst Remus hatte er angebettelt, ihm zu helfen, doch der andere Junge hatte sich geweigert. „Wenn du keine eigene Idee für ein Geschenk hast, dann kann ich dir nicht helfen, James. Du musst schon allein herausfinden, was Lily gerne mag.“
Ein paar Mal war er kurz davor gewesen, Schniefelus zu fragen, aber konnte sich daran hindern. Er hatte genug Würde und Stolz übrig, dass er niemals solch drastische Maßnahmen eingehen würde, selbst wenn das bedeuten sollte, dass er geschenklos zu Lilys Überraschungsparty kommen musste. Weder Peter noch Sirius waren eine große Hilfe, deswegen wandte er sich an die einzig andere Person, von der er hoffte, dass sie ihm helfen konnte.
„Hi, Madam Pince.“ James lehnte sich lässig gegen den Tresen in der Bibliothek, hinter dem Irma Pince, die Bibliothekarin saß und einen Stempel mit ihren dürren Fingern umklammerte. Sie betrachtete ihn mit zusammengekniffenen Augen, die hinter ihrer dünnen Brille wie zwei enorme Käfer aussahen. „Ich dachte, ich schau mal vorbei“, meinte er. „Lerne Sie ein bisschen kennen, Sie wissen schon.“
„Was wollen Sie, Potter?“, fragte die Bibliothekarin mit gefährlich leiser Stimme – wobei Madam Pince immer leise redete. In einer Bibliothek zu leben hatte wohl so seine Nebeneffekte.
„Warum denn sie förmlich? Nennen Sie mich ruhig James“, erwiderte er mit einer angedeuteten Verbeugung. „Mr. Potter ist mein Vater.“
Madam Pince sagte nichts sondern hob lediglich ihre schmalen, dunklen Augenbrauen an, die beinahe in den dunklen Fransen ihrer Haare untergingen.
„Eigentlich bin ich hier“, sagte James schnell, der sein Glück und Madam Pinces Geduld nicht herausfordern wollte, „um nach Ihrer Hilfe zu fragen. Wissen Sie, eine meiner Mitschülerinnen hat bald Geburtstag, Lily Evans, vielleicht erinnern Sie sich und ich wollte fragen, was Evans – ich meine Lily – sich denn so für Bücher ausleiht. Inspiration, verstehen Sie?“
Die Bibliothekarin untersuchte James‘ Gesicht mit einem sehr intensiven, geierartigen Blick – sie stierte ihn hinter ihren Brillengläsern hervor an und hatte die Augen so sehr verengt, dass sie kaum noch Schlitze waren. Madam Pince atmete laut und langsam, während sie nach Anzeichen von Schuld in James suchte. Der Junge überlegte, ob er einen bettelnden Blick aufsetzen sollte, entschied sich aber doch dagegen – noch musste er nicht so niedrig sinken.
Anstatt ihm eine Antwort zu geben, fing Madam Pince nach ein paar sehr langen Minuten an, in einem dicken Buch auf ihrem Tresen zu blättern. Es hatte ungefähr die Größe von Hagrids Fuß und wog sicherlich eine Tonne. Die Seiten raschelten, während die Frau darin blätterte.
James wagte es kaum zu atmen, aus Angst, dass er Madam Pinces heilige Ruhe unterbrechen würde.
„Miss Lily Evans, ja?“, fragte sie plötzlich und blickte auf.
„Genau die. Klein, rothaarig. Ziemlich vorlaut, wenn ich das so anmerken darf.“
„Ein fleißiges Mädchen“, erwiderte Pince mit ihrer Schleifsteinstimme. „Sie lernt hier fast jeden Abend. Leiht sich ständig Schulbücher aus höheren Klassenstufen aus und bringt sie zwei Tage später durchgelesen zurück. Sie ist ein sehr cleveres Ding.“
„Absolut“, nickte James. „Gibt kaum jemanden, der engagiertet ist als Evans.“
Madam Pince schürzte die Lippen, dann sagte sie so langsam wie möglich, als würde es ihr innere Schmerzen bereiten: „Miss Evans liest sehr viel über Zaubertränke und die Kunst des Brauens. Sie hat sich Ein Einblick in die Brauarten bereits viermal ausgeliehen.“
„Vielen Dank, Madam Pince“, sagte James breit grinsend. „Sie wissen ja gar nicht, wie sehr mir das geholfen hat!“
Mit einem zweifelnden Blick schlug Madam Pince ihr massives Buch zu, wodurch eine Staubwolke in die Luft stob. „Sollte ich hören, dass sie Unfug mit dieser Information anstellen, Mr. Potter, dann erteile ich Ihnen lebenslanges Bibliotheksverbot.“
„Und niemand würde das mehr bedauern als ich, Irma“, grinste James und stieß sich vom Tresen ab. „Sie sind ein Engel!“ Mit schnellen Schritten verließ James die Bibliothek, bevor Madam Pince ihn dafür rügen könnte.
Endlich mit einem Plan und einer Idee bewaffnet, eilte James so schnell wie möglich zurück in den Gemeinschaftsraum, wo er sich ein Stück Pergament, eine Feder und Tinte borgte und dann einen hastig gekritzelten Brief an seine Mutter schrieb. Keiner beachtete James, während er mit dem eilig beschriebenen Stück Pergament wieder aus dem Gemeinschaftsraum verschwand („Wozu hast du mich dann überhaupt gestört?“, fragte die Fette Dame entrüstet.) und die Korridore entlangeilte.
In der Eulerei roch es nach Vogeldreck, kaltem Stein und feuchtem Getreide. Es war ein schmaler Turm, der sich dutzende Meter in die Höhe drehte, mit gut hundert kleinen Öffnungen, durch die die Eulen ein und ausfliegen konnten, wann immer sie wünschten. Etliche Holzbalken waren über den gesamten Turm gespannt, auf dem es sich seine vielen Bewohner gemütlich machen konnten und ein niemals endender Trinkbrunnen stand direkt in der Mitte auf dem Boden, leise plätschernd, als bereits ein paar der Eulen dort etwas Wasser hinunterwürgten.
James musste nicht lange nach seiner eigenen Eule Ausschau halten – ein rotbraun gefiederter Vogel mit intelligenten, dunklen Augen saß ein paar Meter über seinem Kopf in einer schmalen Nische und döste vor sich hin. Aridia war ein schönes Tier, wenn euch sehr faul. Sie verbrachte ihre Tage am liebsten damit, mit dem Kopf unter dem Flügel zu schlafen, ein paar Körner zu futtern und dann weiterzuschlafen, bis die Nacht hereinbrach. Während alle anderen Eulen unterwegs waren und jagten, Päckchen und Briefe auslieferten oder die Gegend erkundeten, suchte Aridia sich lediglich einen bequemen Ast im Verbotenen Wald und döste dort weiter. An guten Tagen fing sie sich selbst ein Abendessen.
„Aridia“, sagte James und schnalzte mit der Zunge. „Hey, Kleine, ich hab einen Brief für dich!“ James‘ Eule ignorierte ihn wesentlich länger, als der Junge es für annehmbar gehalten hatte. Glücklicherweise war er allein, sodass niemand seine kläglichen Versuche sehen musste, die Eule dazu zu überzeugen, zu ihm herunterzukommen, damit er ihr den Brief an den Fuß binden konnte. Etliche Minuten und ein hoch und heiliges Versprechen, dass er ihr einen ganzen Karton an Eulenkeksen vorbeibringen würde, wenn sie wiederkam, später, hatte James Aridia zu einer der kleinen Öffnungen in der Wand getragen. Er streichelte vorsichtig ihr sanftes Gefieder, sie kniff zärtlich in seinen Finger und ließ sich dann von James in die Luft werfen, ein paar Meter fallen und schlug dann lautlos die Flügel auf, damit sie dem Horizont entgegenfliegen konnte.
Die nächsten Tage wartete James auf die Rückkehr seiner Eule und das damit ankommende Geschenk für Evans. Er hatte seine Mutter gebeten, es für ihn in der Winkelgasse zu besorgen und hoffte, dass sie keine Fragen stellen würde, sobald sie sich am Anfang der Sommerferien sehen würden – er hatte keine große Lust darauf, seiner Mutter erklären zu müssen, dass Lily Evans nicht seine Freundin war, vielen herzlichen Dank auch. Sie war eine Mitschülerin und hatte Geburtstag, James fand es angebracht, dass er ihr eine Kleinigkeit besorgte, zumal sie auch noch so eine schlechte Weihnachtszeit hatte.
Drei Tage vor Lilys Geburtstag hatte Remus endlich geschafft, woran er die ganze Zeit gearbeitet hatte. „Endlich“, sagte er und wischte sich über die Stirn. „Ich dachte schon, das würde nie funktionieren.“ Ein alter Muggel-Plattenspieler (James und Sirius hatten sich skeptisch von Remus und Mary erklären lassen, was das für Gerätschaften waren) stand auf Remus‘ Bett und obwohl er durch die ganze Magie in der Luft nicht funktionieren sollte, spielte er einwandfrei eine schwarze, kreisrunde Platte ab, wodurch Musik in ihrem Schlafsaal ertönte.
„Wahnsinn“, meinte Peter erstaunt. „Was sind das für Leute?“
„Die Beatles“, erwiderte Remus. „Mum hat mir ein paar ihrer Platten mitgegeben. Hier, das ist mein Lieblingslied.“ Remus drehte ein wenig an dem Gerät herum (James hielt weiterhin einen Sicherheitsabstand ein – diese Nadel sah scharf aus und er hatte schon von wesentlich unschuldig aussehenden Gerätschaften gehört, die spitze Dinge nach einem schleuderten) und schließlich ertönten ein paar neue Melodien.
„Here comes the sun“, las Sirius von der Plattenverpackung vor. „Ein bisschen kitschig, oder, Lupin?“
Remus‘ blasse Wangen wurden dunkler und er riss Sirius die Packung aus der Hand. „Man nennt es Geschmack, Black, schlag es nach.“
Da für die Musik gesorgt war, Mary und Marlene die Einladungen an die anderen Erstklässler weitergereicht hatten und James und Sirius einen ganzen Berg an Essen aus der Küche bestellt hatten, war alles für die Überraschungsparty vorbereitet. Die Hauselfen hatten James versprochen, dass sie ganz besonders leckere Küchlein und Dessert für Lily zubereiten würden und dass sie sie alle in das leere Klassenzimmer bringen würden, das Mary und Marlene sich ausgesucht hatten. Remus‘ Plattenspieler hatte keine ruhige Minute mehr gehabt, seit er ihn repariert hatte. Nach seiner anfänglichen Skepsis der Muggel-Gerätschaft gegenüber, konnte Sirius gar nicht mehr genug davon bekommen. Er spielte jede einzelne der Platten, die Remus dabei hatte, bis er sie auswendig konnte und jeden Morgen und jeden Abend konnten sie den Jungen die ein oder andere Beatles-Melodie pfeifen hören, während er unter der Dusche stand, sich anzog oder seine Hausaufgaben fünf Minuten vor Unterrichtsbeginn hinkritzelte.
„Du hast ein Monster erschaffen“, sagte James am Morgen von Lilys Geburtstag, als sie Sirius laute, enthusiastische Stimme aus dem Badezimmer hören konnten, der gerade Eleanor Rigby sang, als würde er die Muggel-Frau persönlich kennen. „Es ist deine Schuld, dass wir nie wieder auch nur eine ruhige Minute haben werden.“
Remus, der mit blassem Gesicht aus seiner Decke schielte, lächelte schwach. „Die hätten wir auch sonst nie gehabt.“
„Alles ok bei dir?“, fragte Peter besorgt, der bereits geduscht war und gerade versuchte einen sauberen Umhang aus seinem Wäschestapel zu zerren, ohne dass alles auf den Boden fallen würde. „Du siehst nicht gut aus, Remus.“
„‘S geht schon. Bisschen müde. Hab nicht gut geschlafen“, murmelte der Junge und schloss die Augen.
„Bestimmt weil Peter so laut schnarcht“, erwiderte James anklagend.
„Ich schnarche nicht!“
„Dann eben Monty.“
„Ich habe eine schiefe Nase, dafür kann ich nichts! Meine Mutter sagt, sie lässt mich verwegen aussehen.“
„Deine Mutter lügt.“
„Nimm das zurück, Potter!“
„James, da ist eine Eule am Fenster.“ Peters Wäschestapel war laut krachend in sich zusammengebrochen, aber der Junge, der jetzt unter einem Berg an sauberen T-Shirts und Umhängen begraben lag, deutete mit einer Hand auf das Fenster neben James‘ Bett.
„Oh, perfekt“, erwiderte James und sprang auf. „Das ist sicher Aridia mit Evans‘ Geschenk.“
Und so war es. James‘ Eule hüpfte glücklich in den Schlafsaal und streckte stolz ihr Bein aus, an dem ein dicker Faden hing, der um ein großes Päckchen gebunden war. James löste den Faden und das Päckchen und ließ dann zu, dass Aridia ihn ins Ohr kniff. Wie er ihr versprochen hatte, gab er ihr eine ganze Packung an knusprigen Eulenkeksen, ehe sie sich wieder auf den Weg in die Eulerei machte, wahrscheinlich um die nächsten Wochen durchzuschlafen.
Fast schon hibbelig mit Aufregung, lief James im Schlafsaal auf und ab, bis endlich all seine Mitbewohner bereit waren. Genau wie Mary es geplant hatte, trafen sie zur gleichen Zeit im Gemeinschaftsraum aufeinander, Lily in der Mitte von Mary und Marlene, die beide beinahe teuflisch grinsten, als die Jungs sahen.
„Phase Eins“, sagte Marlene gebieterisch und legte einen Arm um Lilys Schulter.
„Eingeleitet“, beendete Mary und legte ihren Arm um Lilys andere Schulter, sodass es aussah, als hätten sie das rothaarige Mädchen in der Mangel.
„Wovon redet ihr beiden bitte?“, fragte Lily mit roten Wangen.
Mary, die Finger wie eine Dirigentin erhoben, stimmte eine sehr peinliche, sehr enthusiastische und sehr laute Version von Happy Birthday to you an, in die sobald die fünf Jungs mit eingestiegen waren, jeder in einer anderen Lautstärke und Tonlage. Ein paar der älteren Schüler, die noch anwesend waren, grinsten sich bei dieser Darstellung von Geburtstagsbeglückwünschung an und lachten, als Lily das Gesicht in den Händen vergrub.
„Ihr seid schrecklich“, rief Lily lachend aus, als Sirius endlich mit seiner Version des Liedes geendet hatte. „Müsst ihr mich so blamieren?“
„Natürlich“, sagte Mary, als wäre es eine Selbstverständlichkeit. „Dafür sind Freunde doch da. Außerdem kannst du froh sein, dass wir es nicht in der Großen Halle gemacht haben.“
„Ich war dafür, aber McKinnon hatte Lampenfieber“, meinte Sirius grinsend. „Alles Gute, Evans. Jetzt gehörst du auch endlich zu den alten, weisen Schülern.“
„Wer hat dir denn gesagt, du wärst weise?“, fragte Peter schnaubend. „Da wurdest du aber ganz schön angelogen, Black.“
„Oh, du bist ja mal ruhig, Pettigrew, mit deinen zarten elf Jahren. Du bist quasi das Küken der ganzen Runde“, erwiderte Sirius.
„Ich würde liebend gern tauschen, wenn das heißt, ich muss nie wieder so bloßgestellt werden“, sagte Lily, deren gesamtes Gesicht rot angelaufen war, wodurch sie eine erschreckende Ähnlichkeit mit einer reifen Tomate hatte. Bevor wieder eine Diskussion ausbrechen konnte, ging die Erstklässlergruppe hinunter zum Frühstück.
In der Großen Halle wurde – zu Lilys Erleichterung – keine zweite Version vom Geburtstagslied angestimmt, aber Mary, die wie ein richtiger Partyplaner den ganzen Tag bis zur letzten Minute durchkalkuliert hatte, setzte Lily einen nicht zu übersehene spitzen, grünen Hut auf, auf dem Geburtstagskind stand. Jedweder Protest wurde geflissentlich ignoriert, mit dem Versprechen, dass Lily sich rächen könnte, sobald Marys oder Marlenes Geburtstag wieder anstand, die im Dezember und Oktober gewesen waren.
„Ich weiß nicht, warum ihr für mich so einen großen Aufstand macht“, sagte Lily, die am Band herumzupfte, das um ihr Kinn gebunden war. „Es gab für keine von euch eine Gesangseinlage oder Partyhüte und ich hätte die Möglichkeit nur zu gerne genutzt, euch mit anderen vor der Schule ebenso bloßzustellen, hätte ich gewusst, was ihr vorhabt.“
„Du warst in letzter Zeit sehr traurig, Lily“, sagte Marlene, die dem Geburtstagskind großzügig Toast mit Marmelade bestrich. „Außerdem können wir alle eine kleine Ablenkung gebrauchen. Diese Tonnen an Hausaufgaben töten mich noch irgendwann.“
„Ihr hättet doch nicht –“
„Nimm es doch einfach an, Evans“, sagte Sirius ungeduldig. „Deine Freunde wollten etwas für dich tun, also sei jetzt kein Spielverderber, ja? Genieß es, einmal im Mittelpunkt zu stehen.“ Grinsend fügte er hinzu: „Wahrscheinlich macht Slughorn sich vor Aufregung in die Hose, wenn er mitbekommt, dass seine kleine Wunderschülerin Geburtstag hat.“
„Oh, sei ruhig, Black“, sagte Lily peinlich berührt, hörte aber auf, sich zu beschweren.
Der Rest des Frühstücks verging den Umständen entsprechend ruhig. Frank Longbottom und Alice Fortescue, die Vertrauensschüler von Gryffindor, gratulierten Lily, genauso wie Peters Schwester Phyllis, die dadurch Emmeline Vance, Dorcas Meadows und Benjy Fenwick darauf aufmerksam machte. Die drei Ravenclaw-Erstklässler schlossen sich der Frühstücksrunde an und schon bald gratulierten Lily selbst Schüler, mit denen sie noch nie etwas zu tun gehabt hatte. Eine Hufflepuff-Sechstklässlerin kam mit einem Muffin zu ihnen herüber und überreichte ihn Lily feierlich, als gäbe es auf den ganzen Tischen nicht noch ungefähr zweihundert andere von den Gebäckteilen, die für alle da waren, aber Lily nahm es mit rotem Kopf und tausend Dankbarkeiten entgegen.
Wie Sirius vorausgesagt hatte, kam selbst Professor Slughorn mit Professor McGonagall in Begleitung zu ihnen herunter. Wo die Hauslehrerin Gryffindors sehr souverän und professionell wirkte, als sie Lily einen schönen Geburtstag wünschte, war der Hauslehrer Slytherins ganz aus dem Häuschen. „Meine besten Glückwünsche, Miss Evans, kaum zu fassen, dass sie noch so jung sind!“, sagte er mit lauter Stimme. „So jung und doch so ein Naturtalent was Zaubertränke angeht! Minerva, habe ich Ihnen gesagt, dass Miss Evans bisher jeden Trank beim ersten Brauen perfekt hinbekommen hat? Ein Wunderkind, sag ich Ihnen, ein Wunderkind!“
Man hätte meinen können, es sei der perfekte Geburtstagsmorgen gewesen; Lily lachte mit ihren Freunden, hatte etliche Glückwünsche bekommen und, was sie noch nicht wusste, würde auch noch eine unglaubliche Überraschungsparty erleben. Es wäre der perfekte Morgen gewesen, wenn da nicht der Brief ihrer Eltern gewesen wäre, der kurz vor Beginn der ersten Unterrichtsstunde eintrudelte.
Während alle anderen noch lachten und redeten und sich – in Peters und Benjys Fällen – noch einen Muffin in die Mund steckten – war Lily sehr ruhig geworden, während sie die Zeilen auf dem schneeweißen Briefpapier las. Ihr Lächeln war erfroren und ihre Augen trüb.
„Alles klar, Evans?“, fragte James leise in der Hoffnung, es würde die anderen nicht alarmieren, aber hatte die Rechnung ohne Marys übermenschliches Gehör gemacht.
„Was ist los, Lily? Alles in Ordnung bei deinen Eltern?“
„Hm?“ Lily blickte hastig auf. „Oh, ja. Alles Bestens. Ich – sie haben mir nur gratuliert und gesagt, mein Geschenk kommt etwas später, weil sie noch eine zweite Eule organisieren müssen. Sie hoffen, ich habe einen schönen Tag, auch wenn ich nicht Zuhause sein kann.“
„Wo liegt dann das Problem?“
Lilys Finger drückten etwas fester zu, sodass das Briefpapier knisterte. Sie rieb sich mit der anderen Hand kurz die Augen, die danach rötlich schimmerten, dann sagte sie leise: „Kein Wort von Petunia.“
„Oh, diese blöde Ziege! Wer glaubt sie eigentlich, wer sie ist?“, fing Mary an zu zetern. „Du solltest dir keine Gedanken darum machen, was diese Kuh von dir denkt! Ist doch egal, meine ich. Du hast jetzt mich und Marls, du brauchst keine Schwester in deinem Leben, die dich nicht wertschätzt!“ Marys Ansatz war zwar richtig gewesen und sie hatte definitiv nur versucht, ihre Freundin aufzumuntern, aber kaum hatte sie aufgehört zu reden, brach Lily in Tränen aus.
Lily verließ den Tisch und die Große Halle schneller, als irgendjemand von ihnen hätte reagieren können und ihr dramatischer Abgang hatte für einiges an Gemurmel gesorgt.
„Ich wollte doch nicht –“, sagte Mary überrascht.
„Schon gut“, meinte Marlene, die sich auf die Lippe gebissen hatte. „Lily ist eben etwas empfindlich, was ihre Schwester angeht. Ich glaube, die kriegt sich schon ein, lassen wir ihr ein wenig Freiraum, ja?“
Sie alle stimmten zu, Lily in Ruhe zu lassen, auch wenn James nicht anders konnte, als zum Eingang der Halle zu starren, in der Hoffnung, seine rothaarige Mitschülerin würde wieder reinkommen. Er wusste nicht einmal, warum er sich darum kümmerte – eigentlich sollte es ihm gänzlich egal sein, was Lily Evans tat oder nicht tat, genau wie Sirius gesagt hatte. Sie waren ja nicht einmal wirklich Freunde. Die meiste Zeit war sich James nicht einmal sicher, ob sie sich überhaupt leiden konnten, weil jede Unterhaltung in einem Streit zwischen den beiden endete. Aber egal wie nervig und besserwisserisch Lily manchmal sein konnte, es verpasste ihm trotzdem einen Stich im Herzen, sie weinend zu sehen, weil ihre Muggel-Schwester gemein zu ihr war.
„Was habt ihr mit Lily gemacht?“, fragte eine nervtötende Stimme.
James stöhnte, als er Snape erkannte, der hinter ihnen aufgetaucht war. „Hau ab, Schniefelus. Geschlossene Gesellschaft, du bist nicht eingeladen.“
Snape überging ihn. „Wieso hat Lily geweint?“, fragte er an Marlene gewandt.
„Ihre Schwester hat ihr nicht zum Geburtstag gratuliert“, erklärte diese kurz angebunden. „Lass sie lieber allein, das braucht sie jetzt.“
„Du hast keine Ahnung, was sie braucht“, zischte Snape abwertend. „Ich bin ihr bester Freund und ich weiß, was am besten für Lily ist.“
„Ach ja?“, fragte Sirius lautstark. „Deswegen hat ihr bester Freund ihr auch noch nicht mal zum Geburtstag gratuliert, hm? Verzieh dich, Schniefelus, du verpestest die Gegend.“
Rote Flecken erschienen auf Snapes blassen Wangen. „Halt du dich da raus, Black. Hab gehört, in deiner Familie gab es ganz schönes Drama über die Ferien. Was meinst du, wann sie dich auch enterben, wie deine Blutsverräter-Cousine?“
Sirius war schneller aufgestanden, als James es mitbekommen hatte, aber als er bemerkte, wie sein bester Freund nach Snape greifen wollte, erhob er sich ebenfalls und zerrte Sirius am Ärmel zurück. „Willst du Schniefelus echt anfassen, Sirius?“, fragte er leise. „Wer weiß, was für Krankheiten er mit sich bringt.“
„Auch wahr“, grinste Sirius. Ein düsterer Blick war in seinen Augen aufgetaucht. „Hau lieber ab, Schniefelus, sonst kann ich nicht garantieren, dass mir der Beinklammerfluch nicht ausrutschen wird.“
„Soll das eine Drohung sein, Black?“, fragte Snape leise, sein Gesicht zur Grimasse verzerrt. Er war bereits einen Schritt zurückgesprungen, als Sirius aufgestanden war.
„Verzieh dich“, sagte jetzt auch Mary. „Oder ich erzähl Professor McGonagall, dass du versucht hast, Sirius einen Fluch aufzuhalsen.“ Sie zuckte mit dem Kinn in Richtung seiner Umhangstasche, die durch seine Hand darin deutlich verbeult aussah.
„Du –“, fing Snape an, aber unterbrach sich. Laut schnaubend wandte er sich um und stapfte mit viel zu großen Schuhen aus der Großen Halle.
„Woher wusstest du, dass er uns verfluchen wollte?“, fragte Sirius beeindruckt.
„Während ihr Paviane versucht, euch die Köpfe einzuschlagen, benutzt ich meinen ab und zu mal“, erklärte sie. „Er hatte seinen Stab schon in der Hand gehabt, bevor er überhaupt hier war.“
„Ich sag Lily ständig, dass der Typ unheimlich ist, aber sie hört nie auf mich“, fügte Marlene an.
„Schniefelus wird schon sehen, was er davon hat“, meinte James düster, während Sirius bestärkend nickte. „Wir müssen ihm wohl mal wieder die Ehre zuteil kommen lassen, ein Opfer unserer berühmten Streiche zu werden, oder?“
„Aber nicht heute!“ Mary deutete mit dem Finger anklagend auf sie. „Ich lass nicht zu, dass ihr Lilys Geburtstag heute noch mehr ruiniert! Ihr werdet zu dieser dämlichen Party kommen, kapiert? Kein Rachefeldzug, bevor Lily nicht ihre Party hatte!“
James durfte erst dann die Große Halle verlassen, als er schwor, dass er die nächsten vierundzwanzig Stunden ein artiger Erstklässler sein würde. Mit dem Vorwand, dass er sein Verwandlungsbuch vergessen hatte, eilte er die Stufen der Eingangshalle hinauf, blieb dann aber etwas erschlagen stehen. Sein Plan war es, Lily nachzulaufen und sicherzustellen, dass es ihr gut ging – eine nette Geste an ihrem Geburtstag, wie er fand. Aber jetzt, wo er tatsächlich auf der Suche nach ihr war, wusste er überhaupt nicht, wo er sie finden sollte. Wie sollte er überhaupt jemals jemanden in diesem verdammten Schloss finden, wenn er nie wusste, wo irgendwas war? Er war gerade einmal sicher genug, seine Klassenräume zu finden, ohne sich zu verlaufen, aber ansonsten? Eine Person, die sich versteckte, die würde er doch nie im Leben finden.
Er hatte nur wenig Zeit, bis der erste Unterricht beginnen würde, deswegen entschied er sich für die drei Optionen, die am naheliegendsten und wie ein Rückzugsort für Lily Evans wirkten. In der Bibliothek hatte er den Vorteil, dass er Madam Pince fragen konnte, die allerdings knapp und skeptisch sagte, dass sie Lily noch nicht gesehen hatte. Im Schlafsaal der Mädchen war sie auch nicht, zumindest laut der Drittklässlerin, die James gebeten hatte, nachzusehen, auch wenn er sich nicht sicher sein konnte, ob sie nicht gelogen hatte. Vielleicht war Lily dort oben, das Kopf ins Kissen gepresst und weinte sich die Seele aus dem Leib und die Schülerin dachte, sie würde ihr einen Gefallen tun.
Da James nicht selbst nachsehen konnte – eine seltsame Magie verwandelte die Treppen zu den Mädchenschlafsälen in Rutschbahnen, sobald jemand, der nicht darin lebte, versuchte sie zu betreten – verließ er den Gemeinschaftsraum wieder. Die Fette Dame schnalzte entrüstet mit der Zunge, sagte dieses Mal aber nichts. Wahrscheinlich hatte sie sich mittlerweile mit James‘ nervöser Energie abgefunden.
James wusste nicht, wie er auf die Idee kam, dass Lily dort sein könnte, wurde aber positiv überrascht, als er sie tatsächlich in der Eulerei vorfand, den Rücken zu ihm gedrückt und den Kopf auf den Armen gebettet, während sie aus einer der Nischen guckte.
„Genießt du die frische Luft?“, fragte er.
Lily zuckte zusammen. „Potter“, murmelte sie, als sie sich schreckhaft umgedreht hatte. „Schleich dich doch nicht so an, mein Gott.“
„‘tschuldige“, erwiderte er grinsend.
„Was machst du hier? Hast du nicht einen dummen Streich zu planen, mit dem du Gryffindor wieder Punkte verlieren kannst?“
„Heute nicht“, sagte James und verschränkte die Arme hinter dem Kopf. „Es gab was Wichtigeres zu tun. Eine“, er stockte kurz, schluckte einen schweren Kloß in seinem Hals runter, „eine Mitschülerin fühlt sich nicht gut. Ich dachte, ich seh nach ihr.“
Lily betrachtete ihn mit zusammengezogenen Augenbrauen und geröteten Augen. Ihm war klar, dass sie wusste, was er fast gesagt hätte, aber zu seinem Glück reagierte sie nicht drauf. „Ihr geht’s gut“, murmelte sie. „Sie ist nur aufgewühlt und will gerne allein sein.“
„Wenn sie aber weiterhin allein ist, dann verpasst sie noch den Verwandlungsunterricht und Professor McGonagall wäre alles andere als begeistert davon.“
„Professor McGonagall muss dann mit einer Schülerin weniger auskommen“, sagte Lily mit gedrückter Stimme. „Vielleicht tut es der Schülerin gut, wenn sie keine Magie verwenden muss, um ihr noch einmal deutlich zu machen, wie anders sie eigentlich ist.“ Lily biss sich auf die Lippe und wandte sich mit roten Wangen um, scheinbar denkend, sie hätte zu viel gesagt. „Lass mich einfach in Ruhe, Potter, ok? Ich bin nicht in der Stimmung, dich anzuschreien.“
„Scheint mein Glückstag zu sein“, erwiderte er lachend, wurde aber schnell wieder ernst. „Tut mir leid. Ich – Mary hat uns erzählt, was mit dir und deiner Schwester war.“
„Das hätte sie nicht tun sollen!“, rief Lily laut und vergrub das Gesicht erneut in den Händen.
„Sie wollte dir nicht wehtun“, erklärte James schnell. „Sie macht sich Sorgen um dich, Evans. Also – das machen sich alle.“ James wusste nicht, was ihn überkam, aber er fügte zähneknirschend hinzu: „Sogar Schnief- ich meine Snape kam zu uns, nachdem du weggelaufen bist und sah sehr besorgt über dich aus.“ Er ließ aus, dass er vorhatte, sie alle zu verfluchen, dachte er, dass Lily diese Information doch noch nicht wissen musste.
Lily sagte nichts, aber er konnte hören, dass ihr schluchzen und schniefen aufgehört hatte. Ob sie nun in Erwägung zog, ihn doch noch anzuschreien oder sich zu bedanken, dass er nach ihr gesucht hatte, wollte James nicht mehr wissen. Stattdessen zog er das Buch aus seiner Tasche, dass er ihr eigentlich erst bei ihrer Überraschungsparty geben wollte. Seine Mutter war so nett gewesen und hatte es direkt für ihn in ein schickes, glänzendes Geschenkpapier eingewickelt. James legte es neben Lily auf den Boden und schob es mit dem Fuß etwas näher zu ihr.
„Alles Gute, Evans“, sagte er und drehte sich um. „Ich sag McGonagall, du hättest Kopfschmerzen.“
Er war bereits aus der Tür und zurück in den Korridor getreten, als er ein leise, kaum hörbares, gemurmeltes: „Dankeschön“, von Lily vernahm. Lächelnd ging er weiter.
Chapter 10: 10. Jahr 1: Anfang und Ende
Chapter Text
Remus hatte das Gefühl, dass sich das gesamte Universum mittlerweile gegen ihn verschworen hatte. Sein eigentlicher Plan, keinen seiner Mitschüler allzu nah an sich heranzulassen, damit er sieben ruhige, undramatische Schuljahre erleben könnte, wurde von seinen Mitbewohnern in den Dreck getreten und wer war er, sich dem Aufdrängen von Sirius Black und James Potter zu entziehen, wenn die beiden schon entschlossen hatten, dass er jetzt Teil ihrer Freundesgruppe sein müsste? Keine Freunde, damit niemand herausfand, dass er ein Werwolf war, war, wenn Remus ganz genau darüber nachdachte, sowieso eine dämliche Idee. Immerhin war er auch nur ein Kind und er wusste jetzt, er hätte es keinen Monat an Hogwarts ausgehalten, ohne mit James, Sirius und Peter befreundet zu sein. Obwohl die Vollmonde ihm noch immer zu schaffen machten und er bemerkte, dass besonders Sirius sehr neugierig auf sein Verschwinden wurde, waren die Tage dazwischen umso besser. Seine Mutter war vollends begeistert davon gewesen, dass er bereits so gute Freunde gefunden hatte, auch wenn sie den Jungs wohl nie dafür verzeihen würde, dass sie ihren unschuldigen Remus so in die dunklen Machenschaften des Streiche Spielens gezogen hatten.
Selbst mit den anderen Erstklässlern aus Gryffindor hatte Remus eine freundschaftliche Beziehung aufgebaut. Er verstand sich sehr gut mit Lily, und auch mit Marlene und Mary kam er gut zurecht. Seine Bekanntschaften aus anderen Häusern beschränkten sich bisher stark auf Snape, den er nicht unbedingt als Bekanntschaft bezeichnen würde und die drei Ravenclaws, die überall als eine Gruppe zu gehen schienen.
Deswegen war Remus auch umso erschlagener, als die erste Verwandlung des neues Jahres genau auf Lilys Geburtstag fallen musste. Bereits die Tage davor hatte er den Sog des Mondes gespürt, hatte den inneren Wolf in sich knurren gehört und war mit Schmerzen aufgewacht und mit Fieber eingeschlafen. Es war unsinnig zu denken, seine Mitbewohner würden nicht mitbekommen, wenn es ihm nicht gut ging und einerseits war er dankbar für Peter, der ihm mit seiner Ausrede geholfen hatte, allerdings war er auch sauer auf sich selbst, dass er nicht daran gedacht hatte, seinen Freunden eine glaubwürdige Geschichte aufzutischen, weswegen er jeden Monat ein paar Nächte verschwand. Was ihn allerdings am meisten ängstigte, war Sirius und James‘ Intelligenz. Wenn er nicht bald etwas unternehmen und die Fährte verwischen würde, dann würden seine beiden Freunde schneller herausfinden, dass er ein Werwolf war, als er sich eine Notlüge einfallen lassen könnte. James und Sirius gehörten zu den Besten aus ihrem Jahrgang und laut einigen Lehrern übertrafen sie sogar ein paar der älteren Schüler. Es schien alles nur noch eine Frage der Zeit zu sein, bis sein sorgfältig aufgebautes Netz an Lügen und Vertuschungen in sich zusammenfiel und sein Geheimnis herauskommen würde.
Der Vollmond des Januars war schlimmer als alle zuvor. Es war eine Nacht voll Schmerz und Heulen und Verletzungen und frischen Wunden gewesen. Als Remus am Morgen das Bewusstsein wiedererlangt hatte, hatte er nur einen Blick auf seinen geschundenen Körper werfen können, ehe ihm wieder schwarz vor Augen geworden war. Das nächste Mal, als er aufgewacht war, war Madam Pomfrey bereits über ihn gebeugt und hatte die Verletzungen und Wunden mit ihrem Zauberstab behandelt. Sie war außer sich gewesen, hatte die ganze Zeit darüber gemurmelt, wie schrecklich er jeden Morgen aufwachen musste, wie viel Belastung sein junger Körper aushalten musste, all das. Remus war es leid. Seine Situation wurde nicht besser, nur weil Hogwarts‘ Heilerin darüber zeterte, noch wurde sie besser, wenn er sich selbst dafür die ganze Zeit bemitleidete.
Das war eins, was er in seiner kurzen Zeit auf Hogwarts gelernt hatte. Seine guten Zeiten, die die er mit seinen Freunden verbrachte, die er mit James Scherze machte oder mit Peter Hausaufgaben korrigierte oder mit Sirius Wettessen veranstaltete oder mit Lily in der Bibliothek lernte, die schönen Erinnerungen überragten bereits jetzt die schrecklichen Vollmondnächte und die kraftlosen Tage, die daraufhin folgten. Er könnte die Entscheidung treffen und alle Welt von sich wegdrücken, damit er wie ein buchstäblicher, einsamer Wolf leben könnte, aber was würde ihm das bringen? Remus genoss es sehr, dass er die Chance hatte, wie ein normaler Junge zu leben, auch wenn er tief in seinem Unterbewusstsein wusste, dass er keiner war. Solange er allerdings Freunde an dieser Schule haben würde, würde er nicht aufhören, den Wolf in sich zu unterdrücken, dessen Erinnerungen sich nach jedem Mond ein wenig mehr in seinen Kopf drückten.
Zuvor hatte Remus nur wenig aus seinen Verwandlungen gewusst. Es gab manchmal Bilder, die in ihm aufkamen, Tage später, Gerüche und Gedanken des Tiers, die sich mit den seinen vermischten, aber die Erinnerung an die Nacht war immer verschwommen, immer milchig hinter einer Wand aus Nebel verschleiert, die klar stellte, dass der Wolf nur ein kleiner Teil seiner Selbst war. Der Nebel schützte Remus davor, dass er sehen musste, wie der Wolf sich in den eingeengten Nächten in der Heulenden Hütte selbst biss und kratzte, schützte den Jungen vor den animalischen Trieben, die der heranwachsende Jäger in ihm ausbrütete, den Blutdurst, den der Wolf jede Vollmondnacht verspürte, wenn er den fernen Geruch der Menschen im Dorf ausmachte.
Aber der Nebel wurde langsam immer klarer. Es geschah kaum merklich, sodass Remus sich keine wirklichen Gedanken darum gemacht hatte, aber nach der letzten Nacht, war es ihm gedämmert. Er hatte sich bereits an Teile der Nacht erinnert, noch bevor mehrere Tage vergangen waren und sein Kopf Zeit gehabt hatte, sich an die verwirrenden Bilder, Gerüche und Gedanken darin zu gewöhnen, die regelmäßig auftauchten.
Es war beängstigend. Remus wusste, dass er als Wolf ein Monster war, dass sein einziger Lebenszweck darin bestand, zu reißen und zu töten und zu jagen, aber es war anders, die Gedanken in sich zu spüren. Es war anders, in einem weichen Krankenbett aufzuwachen und einen unersättlichen Hunger in sich zu spüren, den er sich nicht erklären konnte und der auch nicht durch das üppige Frühstück getilgt wurde, dass Madam Pomfrey ihm vorbeibrachte. Der einzige Lichtblick daran war, dass die Gedanken genausschnell wieder verschwanden, wie sie aufgetaucht waren. Es würde ein paar Stunden anhalten, Remus würde unruhig in seinem Bett sein, die Glieder herumwerfen und sich den Magen halten, weil er einen animalischen Instinkt in sich spürte und – dann würde es auch wieder aufhören. Sein Körper beruhigte sich, als wäre nie etwas gewesen und lediglich die verknotete Decke und die Schweißperlen auf seiner Stirn erzählten von einer unangenehmen Zeit.
In seinen wöchentlichen Berichten nach Hause konnte Remus selten alles erzählen, was er mit seinen Freunden so anstellte. Er wusste, seine Mutter war noch immer enttäuscht davon, dass er in so viel Ärger geraten war, aber Remus kümmerte es seltsamerweise überhaupt nicht. Nachsitzen bedeutete ihm nicht viel, auch wenn er gerne darauf verzichtet hätte, allerdings war es ein kleiner Preis, den er dafür zahlte, mit James, Sirius und Peter die Schule unsicher zu machen. Nach Lilys Überraschungsparty – die Remus aufgrund des Vollmondes natürlich verpasst hatte – war James mit der genialen Idee angekommen, dass sie die Party einfach nachholen sollten.
„Du hast den Sinn von Überraschungspartys überhaupt nicht verstanden, Potter“, sagte Sirius mit Augenrollen.
„Wie? Ist doch egal, ob man die Party wiederholt, oder? Hauptsache, wir haben alle Spaß zusammen!“
„Oh Gott, das muss dieser Fluch eines Einzelkinds sein“, murmelte Peter. „Sicher hat er von seiner Mum all die Partys bekommen, die er wollte.“
„Und wie ich das habe“, sagte James stolz. „Außerdem wette ich, dass unser junges Wunderkind hier auch genug Partys bekommen hat, um ein Leben lang davon satt zu sein.“
„Wen nennst du hier Wunderkind?“, fragte Sirius mit gespielt schockierter Miene.
„Bitte, wer kann denn fünf Instrumente spielen und kennt die gesamte jüngere Geschichte der magischen Welt auswendig? Wer wurde denn von Flitwick so sehr gelobt, weil deine Notizen so schön geschrieben sind?“ James´ Grinsen war ansteckend.
„Du kannst mich mal, Potter“, schoss der andere Junge zurück. „Du bist ja nur neidisch, weil Flitwick deine Zeichnung in Zauberkunst für einen Tintenfleck gehalten hat.“
James´ Wangen wurden dunkel. „Das nimmst du zurück!“
Wenn man mit James und Sirius zusammenlebte, merkte man schnell, wann sie in einem Argument gefangen waren, also war Remus dazwischengetreten und hatte ihnen versichert, dass er keine zweite Überraschungsparty brauchte, zumal er nicht einmal das Ziel für diese Partys gewesen wäre. Noch dazu war es immer eine gute Idee, James und Sirius aus ihren hirnsinnigen Ideen herauszuholen, ansonsten endete es nur wieder darin, dass sie Nachsitzen und Punktabzüge bekamen und das konnte Remus so kurz vor dem Ende nicht mehr gebrauchen.
In den folgenden Wochen wurde Remus sehr oft Zeuge davon, wie seine Freunde und Klassenkameraden sich weiteren Wettbewerben erbosten. Sei es, dass James und Sirius unbedingt herausfinden wollten, wer mit seinem Besen am höchsten fliegen konnte oder wer schneller damit war, die gesamte Marmortreppe hinauf und hinabzurennen. Remus, der einen der beiden schon mit gebrochenen Knochen vor sich gesehen hatte, war mehr als erleichtert gewesen, als endlich aufgehört hatten, sich in allem vergleichen zu wollen. Das Problem dabei bestand nur, dass sowohl James als auch Sirius schnell langweilig wurden und wenn einem von ihnen langweilig war, dann mussten es alle wissen.
Und dann machten sie es zu dem Problem von allen anderen.
Remus konnte gar nicht zählen, wie oft er in Streiche gezogen wurde, obwohl er lediglich an seinen Hausaufgaben sitzen wollte, weil seine Freunde nicht mehr stillsitzen konnten. Natürlich musste Slytherin darunter am meisten leiden, allen voran Severus, für den Remus zwar nicht die meisten guten Worte übrig hatte, der es aber trotz dessen nicht verdient hatte, dass James und Sirius ihn für jedes Problem verantwortlich machten.
Etwas dagegen sagen konnte er aber auch nicht. Remus war schon froh genug, dass sie ihn überhaupt als Freund akzeptierten und nicht zu viele Fragen stellten, wenn er mal wieder für ein paar Tage aufgrund des Mondes verschwinden musste, da konnte er es sich nicht leisten, ihnen Paroli zu bieten. Wer wusste denn schon, ob sie sich nicht gegen ihn wenden würden, wenn er ihnen sagen würde, dass sie Severus nicht so triezen sollten? Remus war vielleicht ein wenig feige, aber er war nicht blöd.
„Remus.“ Lily, die in Kräuterkunde neben ihm arbeitete, hatte sich zu ihm gebeugt, während sie einen um sich schlagenden Rosenbusch stutzen sollten. Die dicken Drachenlederhandschuhe ließen ihre Finger aussehen, als wären sie auf das fünffache angeschwollen. „Ich brauche deine Hilfe.“
„Ich tue schon mein Bestes“, brachte er hervor, eine Hand fest um einen zur Faust geballten Blätterstängel gewickelt, während er mit der anderen eine kleine Schaufel umklammerte, mit der er immer wieder gegen die dornigen Äste schlug, die nach ihm peitschten.
„Das meinte ich nicht“, erwiderte sie, wich einem schwingenden Rosenkopf aus und packte das fiese Ding an der Wurzel. „Ich meinte wegen Severus.“
„Oh.“ Manchmal, so glaubte Remus, spielte das Schicksal mit ihm. Immer dann, wenn er in Gedanken war und ein Thema zerkaute, wurde es neben ihm ausgesprochen und er wurde damit konfrontiert.
„Ja, ich weiß nicht, was ich machen soll. Seine Mutter hat in ein paar Tagen Geburtstag und wir haben beide keine Idee, was er ihr schenken kann.“
„Oh!“
Lily betrachtete ihn mit einer angezogenen Augenbraue. „Wieso, was hast du denn gedacht?“
„Gar nichts – ist nicht wichtig. Seine Mutter also, ja?“, versuchte er die Aufmerksam schnell wieder von sich zu lenken.
„Genau“, erwiderte Lily nickend. Der Rosenbusch schlug nach ihrem Kopf, verfing sich allerdings nur in ihrem Pferdeschwanz. „Aua. Danke, Remus“, murrte sie, als er die Dornen von ihren Haare zerrte. „Jedenfalls glaubt er, dass er ihr etwas ausgefallenes schenken sollte, weil es das erste Mal ist, dass er nicht zu ihrem Geburtstag zu Hause ist und außerdem hat sie ihm auch was zu seinem Geburtstag geschickt, obwohl … naja, obwohl seine Eltern nicht so viel Geld haben“, schloss Lily, die Wangen ein wenig dunkler als zuvor.
Durch die gläserne Decke des Gewächshauses strahlte gleißendes Sonnenlicht auf sie nieder und Remus musste ein wenig die Augen zusammenkneifen, damit er nicht allzu sehr geblendet wurde. „Und wie kommst du dann auf mich?“
Das Mädchen zuckte mit einer Braue. „Naja, du erzählst immer so viel von deiner Mutter, da dachte ich, dass du bestimmt eine gute Idee hast, was man einer Mutter so schenken kann.“
„Oh.“ Es war sein Zug, dunkle, warme Wangen zu bekommen. „Achso.“
Lily grinste. „Das muss dir nicht peinlich sein, Remus.“
„Ist es nicht“, sagte er nicht gerade überzeugend.
„Ist es, aber muss es nicht.“ Sie zuckte mit den Schultern, bevor sie mit einer eisernen Schere auf eine Faust aus dunkelgrünen Blättern und dicken Dornen schlug. „Lass das!“, zischte sie die Pflanze an, die tatsächlich ein wenig in sich zusammensackte. „Geht doch.“
„Schenkt ihr doch eine Rose“, sagte Remus trocken.
„Oh, haha.“
„Nur ein Vorschlag.“
„Wenn du willst, dass Sev nicht mehr nach Hause fahren kann, dann ist das ein sehr guter Vorschlag“, erwiderte Lily. „Komm schon, Remus, was schenkst du denn deiner Mutter immer so?“
Er spürte, wie sich die Wärme erneut in seine Wangen brannte. „Selbstgemachtes“, antwortete er leise, warf einen Blick zur Seite, wo James und Sirius in einiger Entfernung damit beschäftigt waren, sich mit ihrem Rosenbusch zu boxen. Peter und Monty waren am anderen Ende des Tisches und hatten ebenso wenig Glück, nicht von ihrem pflanzlichen Gegner verdroschen zu werden. „Karten oder Bilder“, fügte er an. „Letztes Jahr, bevor die Schule angefangen hat, hab ich einen Blumentopf gekauft und den bemalt, damit er etwas lebensfroher aussah.“
Man sah es Lily an, dass sie ein Lächeln unterdrückte. „Das ist süß.“
„Ist es nicht“, protestierte Remus. „Hör auf.“
„Ach komm schon, was ist denn dabei?“, fragte sie mit zuckenden Mundwinkeln. „Es ist nun mal süß, wenn du ein gutes Verhältnis zu deiner Mutter hast.“
„Es hilft aber nicht, wenn ich so tun will, als wäre ich ein gefährlicher, unnahbarer Eisklotz.“
Lily schnaubte. „Glaub mir, das ist das Letzte, was du dafür in den Angriff nehmen müsstest.“ Sie zupfte am Ärmel von seinem Pullover, der unter seinem Umhang hervorlugte, einem hellbraunen Stück, mit einem Waldmotiv auf der Brust und schwarzem Rautenmuster, dass sich um die Arme schlang. „Vielleicht solltest du mit denen anfangen.“
„Was hast du gegen meine Pullis?“, fragte er empört.
„Gar nichts“, lachte Lily mit roten Wangen. „Aber sie sind nun mal nicht sehr bedrohlich. Besonders nicht die mit dem Weihnachtsmotiv, die du letzte Woche anhattest.“
Remus presste die Lippen zusammen. „Kann nicht glauben, dass du mich so angreifst, obwohl du meine Hilfe willst.“
„Okay, okay, tut mir leid, natürlich bist du sehr bedrohlich und unnahbar, wenn du weiche Wollpullover trägst, auf denen ein großes Rentier zu sehen ist. Ich habe gesehen, wie sogar die Siebtklässler gezittert haben, als du in die Große Halle gekommen bist.“ Die Haut in Lilys Gesicht war vor lauter unterdrücktem Lachen ganz rot geworden. „Hilfst du uns jetzt?“
„Aber nur weil du es bist“, seufzte er und hoffte inständig, dass James und Sirius das nicht herausfinden würden. Sicherlich würden sie ihn sofort in einen anderen Schlafsaal – nein, ein anderes Haus! – verbannen, wenn sie herausfänden, dass er sich mit ihrem Erzfeind Verbündete und sei es nur für ein unsinniges Geburtstagsgeschenk. „Ich denk mir was aus“, fügte er an, damit Lily nicht auf die Idee kam, eine gemeinsame Denkrunde mit ihr, Severus und Remus zu veranstalten.
Lily strahlte ihn an, bevor der Rosenbusch ihr erneut eine verpasste.
Als nächstes hatten sie Verwandlung bei Professor McGonagall, die ihnen zu Beginn der Stunde verkündete, dass sie nun so weit waren, die ersten Zauber an lebendigen Tieren zu verwenden. Kaum hatte die Hexe diese Erklärung abgeliefert, war Marlenes Hand nach oben geschnellt.
„Ja, Miss McKinnon?“ Die strenge Professorin betrachtete die Erstklässlerin mit stoischem Blick.
„Professor, ich fühle mich nicht gerade wohl dabei, wenn wir lebendige Tiere in Objekte verwandeln“, sagte Marlene, die in einer Reihe vor Remus und den anderen saß.
Aus dem Augenwinkel bekam Remus mit, wie Sirius die Augen verdrehte.
Der stoische Blick verschwand von McGonagalls Gesicht und wurde stattdessen mit etwas ersetzt, das Remus fast als Lächeln bezeichnen würde. Kleine Fältchen zogen sich an den Lippen der Hexe entlang und ihre Augen verloren die Härte, die sonst in ihnen wohnte. „Das ist eine äußerst gute Bemerkung, Miss McKinnon“, fing die Professorin an. „Tatsächlich bietet sich das sehr gut für eine Erklärung der grundlegenden Zaubereigesetze an.“
„Oh, ja, vielen Dank, Marlene“, flüsterte Sirius kaum hörbar, was James ein belustigtes und Lily ein genervtes Schnauben entlockte.
Sie zischte ihn über die Schulter an, was Sirius mit einem Zucken seiner eigenen beantwortete.
„Lebewesen, die durch Verwandlungsmagie in ein lebloses Objekt verwandelt wurden, wird kein Leid angetan. Noch nie wurde ein Lebewesen durch Verwandlung geschädigt, sei es bei vollendeter oder misslungener Magie. Sobald Lebewesen ihre Form ändern oder in leblose Objekte verwandelt werden, fallen sie in einen tiefen, zeitlosen Schlaf. Es ist beinahe so, als würde ihr Bewusstsein eingefroren werden.“ Professor McGonagall hatte die Hände hinter dem Rücken verschränkt und warf einen mahnenden Blick in Remus´ Sitzreihe, als Sirius lauthals gähnte. „Tiere sowie Menschen, die in leblose Objekte verwandelt wurden, verlieren ihr Bewusstsein, erhalten dieses aber sofort zurück, sobald die Verwandlung aufgehoben wurde. Sie werden in dieser Zeit nichts mitbekommen haben und habe keine Erinnerung daran, verwandelt worden zu sein.“
Vor Remus schnellte Lilys Hand nach oben. „Professor, wie ist es denn mit Verwandlungen von Tieren in andere Tiere?“, fragte sie mit schneller, sich überschlagender Stimme.
„Eine sehr gute Frage, Miss Evans. Diese Art der Verwandlungsmagie ist zwar erst Material für Ihre späteren Jahre an Hogwarts, aber ich vermute, ein kleiner Grundkurs wird Ihnen nicht schaden.“ Die Verwandlungsexpertin ließ den Blick durch die Klasse schweifen, wie um sicherzugehen, dass auch jeder ihr zuhörte, dann führte sie fort: „Werden Tiere oder Menschen in andere Tiere verwandelt, so bleibt das Bewusstsein zwar erhalten, wird aber auf das Ziel angepasst. Um es mit einem Beispiel auszudrücken: Wenn ich Mr. Black nun in eine Taschenuhr verwandeln würde, damit er sich daran erinnern kann, rechtzeitig ins Bett zu gehen“, ihre Stimme war hart geworden und Sirius, der mitten in einem weiteren ausschweifenden Gähner war, wurde pink im Gesicht, „dann würde er sich nicht daran erinnern, was er in der Zeit seiner Verwandlung getan hätte. In seinem Bewusstsein würde es sich so anfühlen, als hätte er lediglich für einen Moment die Augen geschlossen. Sollte ich Mr. Black allerdings in einen Singvogel verwandeln, so würde ich dabei auch sein Bewusstsein verwandeln. Nach vollendeter Verwandlung würde Mr. Black den Drang verspüren, mit seinen Flügeln durch den Raum zu schwirren und eine Melodie zu singen, die er in seiner menschlichen Form sicherlich nicht beherrschen würde.“
„Sie unterschätzen meine samtig weiche Singstimme, Professor“, grinste Sirius als Antwort.
Die Professorin fuhr fort, als hätte er nichts gesagt. „Wenn ich die Verwandlung rückgängig machen oder sie ihr Limit erreicht hätte, dann würde auch der Drang zu fliegen und zu singen aus Mr. Blacks Bewusstsein verschwinden und er würde wieder seine menschlichen Gedanken zurückerhalten – so primitiv sie manchmal auch sein mögen. Er würde keine Erinnerung daran haben, jemals ein Singvogel gewesen zu sein.“
„Dabei würde ich doch so einen schönen Vogel abgeben“, sagte Sirius.
„Du hast eher ´nen Vogel“, sagte Mary MacDonald, die neben Marlene saß und der Verwandlungshexe an den Lippen gehangen hatte. „Und jetzt sei leise.“
„Beantwortet das Ihre Fragen, Miss McKinnon, Miss Evans?“, fragte McGonagall, die Sirius ein weiteres Mal übergangen hatte.
„Ja, vielen Dank, Professor“, erwiderte Lily.
„Ich denke schon“, sagte Marlene langsam. „Es ist trotzdem komisch, kleine Tiere in irgendwas anderes zu verwandeln.“
McGonagall schenkte ihr ein seltenes Lächeln. „Es ist verständlich, dass Sie das sagen, aber ich versichere Ihnen, dass den Tieren kein Leid angetan wird.“
„Okay. Dankeschön, Professor.“
„Jederzeit.“ McGonagall schwang ihren Zauberstab, woraufhin sich die Tafel neben ihrem Pult drehte und einige kompliziert aussehende Formeln präsentierte. „Notieren Sie sich bitte das Tafelbild, dann werden wir damit anfangen, Meerschweinchen in Schmuckdosen zu verwandeln.“ Sie schwang ein weiteres Mal ihren Stab und ein riesiger Käfige erschien zu ihren Füßen, in dem gut zwei Dutzend kleine Meerschweinchen herumtobten. Sie schienen sich nicht daran zu stören, dass sie gerade aus Luft erschaffen wurde.
Am Ende der Stunden hatten es alle geschafft, ihre Meerschweinchen in Schmuckdosen zu verwandeln, auch wenn sie bei manchen Schülern Quiekgeräusche verursachten, wenn man versuchte, die Deckel abzunehmen. Professor McGonagall hatte ihnen versichert, dass auch in dieser Form den Tieren kein Schaden zugefügt wurde, zumal diese Meerschweinchen, wie sie mit einem für ihre Verhältnisse verschmitzten Blick hinzugefügt hatte, keine echten Tiere waren. Sie waren magisch herauf beschwörte Wesen, eine leichte Übung für eine Hexe wie McGonagall, beeindruckend, wenn aber auch eine Magie, die nicht besonders viel Nutzen fand. Magische beschwörte Wesen hatten eine kurze Lebensspanne, kaum eigenen Antrieb, zu leben und wehrten sich nicht, wenn man sie in andere Dinge verwandeln wollte. Allerdings würden die verwandelten Dinge ebenfalls nicht lang überleben.
„Sie sollten es sich also lieber zweimal überlegen, ob sie die Dose behalten wollen, Mr. Black.“
„Oh.“ Sirius, der seine verwandelte Dose, ein schickes, silbernes Modell mit roten Symbolen darauf, in seine Umhangstasche stecken wollte. Er setzte einen unschuldigen Blick auf. „Ich dachte mir nur, dass es sicher ein schönes Geschenk für meine Mutter machen würde.“
McGonagalls Lippen kräuselten sich. „Das dachten Sie ganz bestimmt. Legen Sie die Dose wieder zurück, die Stunde ist vorbei.“
„Mist“, murmelte Sirius.
„Wozu willst du sowas haben?“, fragte James leise neben ihm.
Sirius zuckte mit den Schultern. „Keine Ahnung.“
„Er will es nur haben, weil er es nicht haben darf“, sagte Remus, ohne zu ihnen zu gucken, das Lächeln zerrte dabei an seinen Lippen.
Grinsend warf Sirius ihm einen mit den Augenbrauen zuckenden Blick zu. „Es würde sich einfach so gut auf meinem Nachttisch machen.“
Peter schnaubte. „Dein Nachttisch ist so vollgestopft, da passt sowieso nichts mehr drauf.“
„Das zeigt einfach nur“, erwiderte der Black-Erbe, „dass du kein Auge für Kunst hast.“
Aus der vorderen Reihe ertönte ein Zischen und einen Augenblick später drehte Lily ihnen den Kopf zu, die Augen zusammengekniffen. „Ruhe“, sagte sie.
„Verzeihung, eure Majestät“, antworte Sirius.
„Es wird nicht wieder vorkommen, meine Königin.“ James deutete eine Verbeugung an, was Lily dazu brachte, erneut laut zu zischen. „Bitte, seid nicht verärgert.“
„Seid einfach ruhig!“, sagte Lily erneut, bevor sie sich ruckartig wieder umdrehte, ihre roten Haare peitschten dabei um ihren Kopf.
Man hätte meinen können, dass die seltsame Friedensschließung nach Lilys Geburtstag endlich dazu geführt hatte, dass Lily und James sich verstehen würden, doch kaum hatte der Frieden zwischen den beiden angefangen, war er genauso schnell wieder durch einen unsinnigen Streit beendet worden, der so ausgeartet war, dass Vertrauensschüler Frank damit gedroht hatte, den beiden Hauspunkte abzuziehen und sie zum Nachsitzen zu verdonnern. Die Zeit, in denen die beiden sich nicht in den Haaren gelegen hatten, war zwar schön aber auch absehbar kurzweilig gewesen.
Da es allein die Friedensschließung mit Lily gewesen war, die James davon abgehalten hatte, sich an Snape zu rächen, war niemand sonderlich überrascht, als er kaum einen Tag später mit einem mehrphasigen Plan aus dem Schlafsaal gekommen war und feierlich angekündigt hatte, dass es Zeit wurde, Schniefelus wieder daran zu erinnern, wer die Besten waren. Remus hatte nicht wirklich Zweifel, was die Streiche anging. Nichts, was sie taten, hinterließ Langzeitschäden und sobald niemand verletzt wurde, konnte selbst Remus darüber lachen, wenn sie Dungbomben in Severus‘ Schultasche platzierten oder seine Schulumhänge knallpink färbten. Wahrscheinlich würde aber nichts so schnell übertrumpfen, wie der Streich, bei dem sie eine der Rüstungen verhext hatten, damit sie Snape den ganzen Tag über verfolgte und jedes Mal, wenn er den Mund öffnete, ein lautes Quietschen von sich gab – Remus‘ eigene, zugegeben sehr brillante Idee.
Nach dem Mittagessen hatten sie Zauberkunst, das bei weitem Remus´ bestes Fach war. Schwebezauber, Tanzverhexungen und Gefühlssprüche lagen ihm einfach wesentlich besser als komplizierte Verwandlungen oder Zaubertränke, bei denen er die genaue Grammanzahl abwiegen oder die perfekte Kante schneiden musste. Außerdem konnte Remus das kleine Silbermesser, das in Zaubertränke zur Standardausrüstung gehörte, nicht lange in der Hand halten, ohne dass seine Haut gereizt und rot wurde. Silber war nicht nur in Muggellegenden ein Mittel um Werwölfe in Schach zu halten.
Zaubertränke war aber nichts im Vergleich zu Verteidigung gegen die dunklen Künste. Er wäre beinahe in die Missgunst von James in Sirius gefallen, als er ihnen gesagt hatte, dass er mit dem Fach nicht allzu viel anfangen konnte. Beide hielten es für das beste Fach aller Zeiten.
Er konnte es sich nicht genau erklären, wieso er gerade in diesem zugegebenermaßen sehr spannendem Fach so schlecht war. Vielleicht waren es die ellenlangen Ausschweifungen ihres Professors, der laut eigenen angeben die ganze Welt bereist und von schwarzmagischen Kreaturen und Magiern befreit hatte, oder vielleicht waren es die teilweise grausamen Zauber und Flüche, die ihnen erklärt wurden, aber Remus konnte sich nicht mit Verteidigung anfreunden. Dazu kam, dass des Öfteren dunkle Kreaturen und Monster das Gesprächsthema des Professors waren und Remus, der sein eigenes Monster in sich trug, konnte sich beim besten Willen nicht konzentrieren, wenn darüber geredet wurde, wie man besten einen Yeti tötete oder mit welchen Brennzaubern man die tödlichen Sumpfhexen am ehesten verbrennen sollte. Zum Glück war bisher niemanden aufgefallen, dass ihm das ganze Monstergerede sehr auf den Magen schlug.
Remus war einfach nur froh, dass er sein erstes Schuljahr an Hogwarts nicht komplett allein verbringen musste. Es waren die gemeinsamen Abende mit Lily in der Bibliothek oder mit seinen Jungs im Schlafsaal, in denen er sich wirklich bewusst wurde, wie glücklich er sich schätzen konnte, so gute Freunde gefunden zu haben. Er musste sich keine Sorgen darüber machen, wie sie auf sein Geheimnis reagieren würden – so weit es ihn betraf, würden sie es nie erfahren. Seine Ausreden war beinahe bombensicher und es gab noch immer nur Sirius, der glaubte, er würde etwas vor ihnen verheimlichen. Natürlich stimmte das, aber das würde er ihm nicht unter die Nase reiben. Er würde schon irgendwann einen Weg finden, Sirius davon zu überzeugen, dass er sich keine Sorgen um ihn und seine monatlichen Verletzungen machen musste. Nach allem, was geschehen war, wollte Remus sich sein Glück, dass er an der Schule war, nicht dadurch kaputt machen, dass er seinen Freunden beichten musste, dass er ein Werwolf war und jeden Monat einmal die Nacht in der Heulenden Hütte sein Unwesen trieb.
Es war letztendlich ein Kinderspiel, ein Geschenk für Severus´ Mutter zu finden. Remus hatte sich genügend Notizen im Verwandlungsunterricht gemacht, dass er lediglich einen Stein vom Schulgelände sammeln und mit ein wenig geschickter Magie eine silbrig glänzende Schmuckschatulle daraus herstellen musste. Lily war begeistert von seiner Idee und seiner Verwandlung, und sogar Severus gab zu, dass es ein gutes Stück geworden war. Ohne Remus in die Augen zu sehen, hatte er sich bei ihm für die Schatulle bedankt, bevor er, das Geschenk tief in seiner Tasche vergraben, wieder davon geeilt war.
„Danke, Remus“, sagte Lily seufzend. „Ich glaube, ohne dich wären wir aufgeschmissen gewesen.“
„Ich bin mir fast sicher, dass du auch so eine Schatulle hinbekommen hättest“, erwiderte er irritiert.
Lily schüttelte den Kopf. „Das vielleicht, aber ich habe überhaupt nicht daran gedacht. Ich glaube“, sagte sie langsam, den Blick vorsichtig in eine Ecke der Bibliothek gerichtet, „ich glaube, ich habe mich immer noch nicht so wirklich daran gewöhnt, eine Hexe zu sein. Es kommt mir so unnatürlich vor, ein Geschenk mit Magie herzustellen, wenn ich doch meine gesamte Kindheit damit verbracht habe, Blumen im Feld zu pflücken oder ein Bild für meinen Vater zu malen.“ Sie schnalzte leise mit der Zunge. „Es wird wohl noch etwas dauern, bis ich ebenfalls auf solche Ideen komme.“
Schulterzuckend antwortete Remus: „Eigentlich ist es doch egal, oder? Ob du nun ein Geschenk mit Magie gefunden oder es selbst gemacht hast, ist egal, solange du es von Herzen schenkst. Zumindest sagt meine Mum das.“
„Meine Mutter würde sowas bestimmt auch sagen, wenn sie ein besseres Verständnis von Magie hätte.“
Remus lächelte. „Meine Mum hatte große Schwierigkeiten damit“, erklärte er seiner muggelgeborenen Freundin. „Sie hat immer gesagt, dass sie es anfangs so unnatürlich gefunden hatte, wenn mein Dad Magie um sie herum benutzt hat, dass sie sich immer selbst gekniffen hat, um sich sicher zu sein, dass sie nicht träumt. Ich glaube, sie hat heute noch eine winzige Narbe am Unterarm, weil sie zu fest zugekniffen hat.“
Lily lachte, ehe sie sich eine Hand auf den Mund schlug. „Tut mir leid, das ist eigentlich nicht witzig.“
Grinsend erwiderte Remus: „Oh, ist es auf jeden Fall. Meine Mum lacht ständig darüber, dass sie nach den versteckten Drähten und Mechanismen geschaut hat, die mein Dad für seine Magie nutzen müsste.“
„Wann hat sie aufgehört zu suchen?“, fragte Lily neugierig klingend.
Remus´ Wangen wurden heiß. „Sie“, fing er an, räusperte sich leise und schluckte. „Sie hat gesagt, sie hat aufgehört zu suchen, nachdem ich geboren wurde. Ein echtes Stück Magie, hat sie mir erzählt, hat sie mich genannt.“ Es war ihm nicht unangenehm, dass seine Mutter ihn so sehr liebte, aber er mochte es nicht, wenn die Aufmerksamkeit nur auf ihm lag, selbst wenn das Gespräch nur aus ihm und Lily bestand.
„Das hat sie schön gesagt“, entgegnete sie, ein schmales Lächeln auf ihrem Gesicht. „Ich glaube, mein Dad hat mich und meine Schwester auch mal so genannt, aber das war noch bevor er wusste, dass Magie echt ist. Natürlich nennt er uns jetzt nicht mehr so“, fügte sie mit einem etwas forcierten Lächeln hinzu. „Dafür rauben Tuni und ich ihm viel zu sehr die Nerven.“
Remus lachte. „Ich glaube, damit kann jedes Kind angeben.“
***
Es kam Remus so vor, als hätte er einmal geblinzelt und das Ende des Schuljahres wäre um weitere Wochen näher gerückt. Gerade noch war es Februar gewesen, mit wärmenden Sonnenstrahlen und kühler Frühlingsluft und einen Moment später war es Anfang Juni und nur noch einige Wochen trennten die Erstklässler vom Ende ihres ersten Schuljahres.
Je näher die Abschlussprüfungen kamen, desto eher redete James nur noch davon, dass er in den Sommerferien nichts anderes machen würde, als für das Quidditchteam zu trainieren. Es war sein eigener kleiner Traum, dass man ihn aufnehmen und direkt zum Kapitän ernennen würde, weil er so ein Naturtalent auf dem Besen war. Keiner von ihnen hatte es in sich, James zu sagen, dass er dafür zu jung war, nicht einmal Lily schien ihn aus seinem Luftschloss holen zu wollen, obwohl noch immer keine Woche verging, in denen sich die beiden nicht in den Haaren lagen.
Mittlerweile ließen es sich die Slytherins nicht mehr gefallen, dass einer von ihnen ständig das Ziel fieser Streiche wurde. Rachefeldzüge wurden in die Wege geleitet, die oftmals darin endeten, dass mehrere Schüler in den Krankenflügel mussten, weil ihnen Rettiche aus den Ohren wuchsen oder sie nur im Limerick reden konnten. Ein paar illegale Duelle mussten abgebrochen werden, als die Lehrer davon Wind bekamen und es verging kein Tag mehr, an dem ein Gryffindor mit einem Slytherin aneinandergeriet. Die ewige Hausrivalität hatte sich auf einen kleinen Krieg ausgeweitet und wurde erst dann beendet, als Dumbledore persönlich eine Ansprache hielt. Seine Rede über Gemeinsamkeit statt Zwietracht und gegenseitigem Helfen war vielleicht auf viele taube Ohren gestoßen (besonders Sirius schien nicht sehr angetan von der Idee gewesen zu sein, jemals einem Slytherin bei irgendetwas zu helfen), allerdings ließ die Drohung, die letzten Quidditchspiele der Saison ausfallen und den Quidditchpokal an Ravenclaw zu übergeben schließlich doch zu, dass die Schüler ihre Fehde in den Schulkorridoren beiseitelegten.
„Und das war alles nur wegen euch“, sagte Lily Evans aufgebracht, nachdem Dumbledore sich wieder gesetzt hatte. „Ihr und eure kindischen Streiche haben beinahe das ganze Haus in Schwierigkeiten gebracht!“
Sirius und James allerdings waren sehr stolz darauf, dass sie einen Krieg zwischen den Löwen und den Schlangen angezettelt hatten. „Nächstes Jahr gewinnen wir“, sagte James überzeugt. „Diese hinterlistigen Slytherins werden gar nicht wissen, was sie erwartet.“
Lily schnaubte lautstark und wandte sich an Marlene und Mary für Unterstützung. Marlene allerdings hatte andere Pläne. „Potter, falls du noch Inspiration für ein paar Streiche brauchst, dann hätte ich noch einige Ideen im Hinterkopf.“
„Marlene!“, sagte Lily empört.
„Was denn? Wäre doch schade, wenn meine Kreativität nicht genutzt wird, Lil. Es ist auch alles sehr jugendfrei und harmlos, ich schwöre.“
„Die Jungs hatten einen ganz schlechten Einfluss auf dich“, meinte Mary kopfschüttelnd, die aber ihr Grinsen nicht unterdrücken konnte. „Hoffentlich werdet ihr alle über die Ferien hinweg erwachsen.“
„Hoffentlich nicht“, sagte Peter. „Ich bin zu jung, um erwachsen zu sein.“
Die Abschlussprüfungen waren eine stressige Zeit für alle Schüler. Die Erstklässler mussten sich auf die ersten Prüfungen überhaupt vorbereiten, andere wiederrum mussten den Stoff von mehreren Jahren zusammenkratzen, Fünftklässler beschlagnahmten die Bibliothek und die guten Plätze im Gemeinschaftsraum für sich und Siebtklässler schienen überhaupt nicht mehr zu schlafen. Überall, wo man hinsah, konnte man Schüler am Lernen sehen, sei es beim Mittagessen mit einem offenen Buch an die Wasserkaraffe gelehnt, auf dem Weg zum Unterricht mit einem Zauberspruch auf den Lippen oder vor dem Schlafengehen in den Sesseln und auf dem Boden im Gemeinschaftsraum. Überall lagen Bücher und Lernzettel zusammen, das Schwarze Brett war voll mit verlorenen gegangen Pergamentrollen und Bibliotheksbüchern und es fand ein rigoroser Schwarzmarkthandel statt, von glücksbringenden Hasenpfoten, zu widerlich schmeckenden Leistungstränken, über Talismanen, die einen freien Kopf bringen sollten bis hin zu Ketten aus ekligen, nicht weiter identifizierbaren Materialen, auf die geschworen wurde, dass sie der einzige Grund waren, dass der Verkäufer das letzte Jahr die Prüfungen mit zwölf Ohnegleichen bestanden hatte.
Es war alles Humbug und Müll, das wusste Remus und trotzdem musste er eines Abends einem sehr aufgelösten Peter erklären, dass er gerade auf einen Trickbetrüger hereingefallen war, der sich mit seinen Galleonen wahrscheinlich Feuerwhisky oder Muggelzigaretten kaufen würde, die auf dem Hogwarts-Schwarzmarkt eine heißbegehrte Ware waren. „Pete, das ganze Zeug wirkt nicht“, erklärte er. „Die Leute verkaufen das nur an die Schüler, die Prüfungsangst haben, um ihre Nervosität auszunutzen. Außerdem brauchst du das alles nicht, um zu bestehen. Du hast doch super Noten.“
„Aber ich bin nicht so gut wie du oder James oder Sirius“, maulte Peter mit roten Flecken auf den Wangen.
„In Kräuterkunde bist du besser als wir alle“, erinnerte Remus ihn. „Und ich wette, du wirst in Verteidigung besser abschneiden als ich.“
Peter war allerdings nicht der einzige, den die Prüfungsangst plagte. Es gab keine freie Minute, in der man Lily Evans nicht in der Bibliothek fand und würde Madam Pince sie nicht zwingen, zurück in ihren Schlafsaal zu verschwinden, würde sie wahrscheinlich sogar zwischen den Regalen übernachten. Lily war die Tage vor den Prüfungen aggressiv und schnippisch geworden; sie meckerte jeden an, der ihrer Meinung nach zu viel Lärm machte, borgte sich einhundert Bücher gleichzeitig aus der Bibliothek aus, mit Themen, die nicht einmal in den ZAG-Prüfungen drankamen und war allgemein kein sehr angenehmer Zeitgenosse. Remus hatte einmal versucht, mit ihr zu lernen, aber hatte seinen Fehler schnell eingesehen, als sie ihn dafür gerügt hatte, dass er seine Feder zu laut in seine Tinte getunkt hätte.
Keiner der Lehrer war sehr hilfreich während dieser Phase. Entweder sie gaben ihnen die doppelte Menge an Hausaufgaben vor („Es dient zur Prüfungsvorbereitung, Mr. Black, und wenn Sie sie nicht abgeben, dann erhalten Sie ein T. Nein, Miss Evans, ich gebe Ihnen keine Extraaufgaben mehr“, hatte Professor McGonagall knapp und mit strenger Stimme erklärt.), ertränkten die Schüler in Wiederholungen von Themen und Zaubern oder verlangten, dass sie zwischendurch noch Extraaufgaben bewältigten. Hogwarts während der Prüfungszeit schien für niemanden ein schöner Ort zu sein.
Remus war sehr froh darüber, dass er sich bei all dem Prüfungsstress nicht auch noch über den nächsten Vollmond Gedanken machen musste, der Merlin sei Dank erst an der Reihe war, nachdem die gesamte Schule mit ihren Prüfungen durch war. Auch ohne den knurrenden Wolf in seinem Inneren, der ihn daran erinnerte, dass er bald wieder eine Nacht allein in der Hütte verbringen musste, fand Remus die Prüfungen anstrengend und auslaugend. Schüler wie James und Sirius und auch Emmeline Vance aus Ravenclaw schienen keine Probleme zu haben – sie kamen aus jedem schriftlichen Examen vollends entspannt, rissen Witze oder verglichen mit laxer Stimme ihre Ergebnisse miteinander, während andere nicht ganz so viel Glück hatten. Lily, Peter und auch Benjy Fenwick standen ganz oben auf der Liste von denjenigen, die sich vor jeder Prüfungen einen Beruhigungstrank von Madam Pomfrey geben lassen mussten, da sie sonst Panikattacken erleiden würden. Benjy erzählte Remus mit schweißgetränkter Haut nach der Verwandlungsprüfung, dass er noch nie so eine Angst vor etwas gehabt hatte.
Aber dann war es vorbei. Es war, als würde die ganze Schule nach Wochen der Tortur endlich wieder aufatmen können und der ganze Stress und die ganze Anspannung fiel gleichzeitig von allen Schultern. Gelächter nahm wieder die Korridore ein, es wurde sich lauthals beim Essen unterhalten und man konnte die Schüler wieder dabei beobachten, wie sich am Ufer des Schwarzen Sees entspannten, aus der Großen Halle mitgenommene Snacks verdrückten oder die Fangarme des Riesenkraken ärgerten, der immer wieder im seichten Wasser planschte und manchmal ein paar Brotreste mit sich in die Tiefe riss.
Vielleicht war es der ganze abgefallene Stress, vielleicht war es die Aussicht, endlich seine Eltern wiedersehen zu können, vielleicht war es auch die gesammelte Euphorie der Schule, aber der letzte Vollmond in Hogwarts fühlte sich weniger schlimm an. Freilich, Remus wachte noch immer mit schrecklichen Verletzungen auf, seine Knochen taten bei jeder Bewegung weh und seine Haut kribbelte noch Tage später, aber er war schneller auf dem Damm als üblich. Madam Pomfrey war das ebenfalls aufgefallen.
„Du bist so energiegeladen“, sagte sie ganz erstaunt am Morgen des zweiten Tages, der sonst für Remus ein Morgen voller dröhnender Schmerzen und pochendem Kopf war. „Interessant. Die äußeren Einwirkungen haben also doch Einfluss auf die Stimmung des Wolfes. Ich frage mich, ob er vielleicht spürt, dass das Jahr zu Ende geht.“ Kaum hatte sie das gesagt, war sie ganz rot um die Augen geworden. „Oh, es ist kaum zu glauben! Ein Jahr ist schon vorbei, Remus. Es fühlt sich noch an, als hätte ich dich erst gestern das erste Mal aus der Hütte geholt. Du bist so sehr gewachsen über die ganzen Monate, unglaublich.“
„So viel größer bin ich auch nicht geworden“, murmelte er peinlich berührt und musste weggucken, als Madam Pomfrey ihn mit Tränen in den Augen anblickte. Die Heilerin, so hatte er schnell gelernt, war zwar überaus resolut und hatte einen starken Magen, was seine Verletzungen und Wunden anging, war aber dennoch sehr nah am Wasser gebaut.
„Ich glaube, ich werde dich über den Sommer sehr vermissen, Remus. Mir hat unsere gemeinsame Zeit – wenn auch die Umstände, die dazu führen nicht angenehm sind – sehr gefallen und ich finde den Gedanken einfach schrecklich, dass du deine nächsten Verwandlungen nicht in der Hütte sein wirst. Du musst versprechen, dass du schreibst, sollte irgendetwas sein.“
Es war ihm sehr unangenehm, dass sie das sagte. „Versprochen“, log er. „Aber das wird nicht nötig sein. Meine Eltern sind auch sehr gut darin, sich um mich zu kümmern. Mein Vater hat extra Heilerstunden im St. Mungos für mich genommen, damit er meine schlimmsten Verletzungen behandeln kann.“
„Oh, das mag sein, aber mir wäre es trotzdem lieber, wenn eine ausgebildete Heilerin nach dir sehen würde… ich könnte ja –“
„Nein!“, unterbrach Remus sie etwas zu laut. „Nein, wirklich“, fügte er leiser und sanfter hinzu. „Ich weiß es wirklich zu schätzen, was Sie die letzten Monate für mich getan haben, Madam Pomfrey, aber Sie haben sich eine Auszeit verdient. Die Ferien sind für uns alle da, nicht wahr?“
„Das wird deine Verwandlung auch nicht aufhalten“, sagte sie, stimmte letztlich jedoch zu, dass sie nicht unangekündigt im Lupin-Haushalt auftauchen würde. Sie ließ sich damit zufrieden stimmen, dass Remus ihr hoch und heilig mit einem Merlinehrenwort versprach, dass er ihr nach jeder Verwandlung einen Brief schreiben und ihr berichten würde, was geschehen war. Der Heilern war zwar anzusehen, dass es ihr trotzdem lieber wäre, wenn sie selbst vor Ort sein würde, konnte sich damit aber zufriedenstellen. Sie gab Remus dennoch ein paar Phiolen mit Schlaftränken und anderen Heilungstinkturen mit. „Nur für den Fall“, sagte sie mit fester Stimme. „Du musst sie nicht nehmen, aber ich werde besser schlafen, wenn ich weiß, dass du sie bei dir hast.“
Remus konnte nicht anders, als zu lächeln.
***
Peter hätte es niemals für möglich gehalten, aber doch hielt er es in seinen Händen. Seine bestandenen Prüfungsergebnisse. Seine Finger waren ein wenig zittrig, als er die Noten betrachtete, hielt er es doch alles noch für einen Traum. Er hatte ein Ohnegleichen erreicht (Kräuterkunde), drei Erwartungen Übertroffen (Zauberkunst, Astronomie, Verteidigung,) und den Rest hatte er mit einem Annehmbar abgeschlossen, für ihn auf jeden Fall sehr annehmbare Ergebnisse. Klar, es waren nicht die beinahe perfekten Ergebnisse, die auf den Zeugnissen von Sirius oder James standen und es bei Weitem nicht so gut wie das von Remus, aber Peter hatte es geschafft, jedes Fach zu bestehen und wurde selbst von Professor McGonagall gelobt, die sehr stolz darauf war, dass er es bis zum Ende geschafft hatte, sich zu verbessern. Es war ein ganz andere Art von Glücksgefühl, wenn man von der strengsten Lehrerin der Schule für eine gute Leistung gelobt wurde und Peter fühlte sich, als könnte er auf Wolken laufen.
Obwohl er so glücklich war, war er auch irgendwie traurig. Sie hatten zwar ihre Prüfungen abgeschlossen und bestanden, aber das bedeutete auch, dass sich ihr erstes Schuljahr dem Ende entgegenneigte. Es gab nichts mehr, was sie tun mussten, ihre Koffer lagen gepackt neben ihren Betten und der Gemeinschaftsraum war von Habseligkeiten befreit. Beinahe wirkte es so, als würde niemand mehr im Gryffindorturm leben, so ordentlich war es plötzlich.
„Komm schon, Pete, ich hab doch gesagt, ihr sollt mich alle diesen Sommer besuchen kommen“, sagte James aufmunternd und legte einen Arm um seine Schulter. „Mit meinen Eltern ist das auch schon alles abgesprochen.“
„Und wir sind ja nicht aus der Welt“, fügte Remus lächelnd an, der zwar noch immer recht blass wirkte, aber einen beinahe ekstatischen Glanz im Gesicht mit sich trug. „Wir werden uns schreiben und Pläne schmieden, nicht wahr?“
„Und ich werde versuchen, meinen Bruder auf die dunkle Seite zu ziehen“, meinte Sirius mit den Armen hinterm Kopf verschränkt. „Es wäre erfrischend nicht mehr die einzige Enttäuschung der Familie zu sein, wenn er ebenfalls nach Gryffindor kommt.“
„Mach ihm das Leben nicht allzu schwer“, erwiderte Remus. „Nicht jeder ist so aufgedreht wie du.“
„Ich bin nicht aufgedreht! Madam Pomfrey sagt, da ich noch im Wachstum bin, habe ich nun mal mehr Energie im Körper.“
„Madam Pomfrey ist eine fantastische Lügnerin.“
„Du lügst“, sagte Sirius.
„Ich würde nie lügen. Ich kann gar nicht lügen. Es ist mir körperlich überhaupt nicht möglich, eine Lüge zu erzählen“, meinte Remus, ohne mit der Wimper zu zucken.
Es war ein oft gesehenes Schauspiel zwischen den beiden Erstklässlern – Remus und Sirius lagen sich ungefähr so oft in den Haaren, wie James und Lily, nur dass bei ersteren der Unterschied hinzukam, dass sie sich tatsächlich leiden konnten. Diese spielerischen Streitereien waren beinahe wie täglich Brot – kein Alltag war vollständig, ohne dass Sirius und Remus sich nicht wegen irgendeiner Nichtigkeit gestritten hatten, nur um dann so weiterzumachen, als wäre nie etwas gewesen. Es konnte teilweise sehr ermüdend sein, wenn man neben ihnen herlaufen musste, während sie sich wie ein altes Ehepaar zankten.
„Du bist Herr der Lügen, Lupin“, erwiderte Sirius nickend. „Ich glaube ja, du hast noch nie auch nur ein wahres Wort in deinem Leben gesagt.“
„Beweis es, Black.“
„Oh, das werde ich. Pass nur auf, ich werde dein ganzes Lügengerüst schon zum Einstürzen bringen.“
„Weh mir, ich zittere.“
„Ruhe jetzt“, mischte sich James augenverdrehend ein, als sie endlich die große Halle erreicht hatten. Zum Ende des Schuljahres war die Halle in den Farben des Hauses dekoriert, dass den Hauspokal gewonnen hatte – zu aller Überraschung Ravenclaw. Durch den kurzzeitigen Häuserkrieg zwischen Gryffindor und Slytherin hatte sich Ravenclaw heimlich an den beiden anderen vorbeigeschlichen, während diese sich gegenseitig bekriegt hatten. Es gab eine Menge Leute, die darüber sauer waren, allerdings war es die eine Sache, in der Gryffindors und Slytherins sich das erste Mal einig waren, solange der jeweils andere nicht den ersten Platz belegte, waren sie vollkommen einverstanden damit, den zweiten und dritten Platz zu belegen.
Peter hätte es nicht für möglich gehalten, dass er jemals miterleben würde, wie Gryffindor und Slytherin beinahe schon friedlich miteinander existierten. Es gab noch die ein oder anderen giftigen Blicke und ein paar Feindlichkeiten wurden auf den letzten Metern ausgetauscht, aber alles in allem war es ein sehr ruhiges Ende des Jahres. Die Jungs setzten sich an den Gryffindortisch und wurden freundlich und aufgeregt von Mary und Marlene begrüßt – Lily hatte nur einen kühlen Blick für sie übrig, gab sie ihnen doch die Schuld, dass sie nur den zweiten Platz erreicht hatten – bevor nach und nach Stille in der Halle einkehrte.
„Ein Jahr geht zu Ende“, sagte Dumbledore, der sich am Lehrertisch erhoben hatte, „und mit diesem Jahr verabschieden wir uns auch ein weiteres Mal von einer wunderbaren Jahrgangsstufe. Ich bitte um einen tosenden Applaus für die Absolventen der Hogwarts-Schule für Hexerei und Zauberei des Jahres 1971/72!“ Es gab begeisterten Beifall, als die übrigen Schüler ihre Siebtklässler verabschiedeten, die alle mit einem lachenden und einem weinenden Auge an ihren Haustischen saßen. „Und einen besonderen Applaus bitte für unsere Schulsprecher, Miranda Hakleworth und Arnon Masth!“
Zwei Schüler, von denen Peter ehrlich sagen musste, dass er sie noch nie zuvor gesehen hatte, standen auf und verbeugten sich, als man ihnen einen gesonderten Beifall spendierte. Der Schulsprecher sprach weiter über vergangene Hindernisse, die überwunden wurden und kommende Prüfungen, die es zu bestehen galt, er sprach von guten wie auch dunklen Zeiten, die alle gemeinsam überstehen würden und er sprach von einer stetig wechselnden Welt, in der ein jeder seinen Platz finden musste. Dumbledore gab die Gewinner des Hauspokals bekannt – der Ravenclawtisch explodierte mit Tumult, während die anderen Häuser ihre höfliche Unterstützung bekanntgaben – dann war es schließlich Zeit für das letzte Festessen des Schuljahres und bevor Peter sich versah, legte er sich ein letztes Mal in sein Himmelbett im Gryffindorturm. Das Essen und die leckeren Desserts lagen schwer in seinem Magen, Aufregung ließ seine Augen offen bleiben und die flüsternden Stimmen von James und Monty, die sich bereits darüber unterhielten, wie sie im nächsten Jahr das Quidditch-Team von Gryffindor bereichern würden, taten ihr übriges, damit Peter lange Zeit nicht einschlafen konnte.
Als er schließlich einschlief, hatte er sehr wirre Träume. Professor Sprout kam in einem davon vor und erzählte ganz stolz, dass sie es geschafft hatte, eine Kreuzung aus der Teufelsschlinge und einem Hauselfen zu erschaffen und sie nannte die Kreation Teufelself. In einem anderen Traum spielte Peter Quidditch – er wusste genau, wem er dafür die Schuld geben konnte – allerdings gab es keinen Quaffel, sondern die anderen Spieler warfen mit der Katze vom Hausmeister umher. In wieder einem anderem Traumszenario war Peter dem Froschchor der Schule beigetreten, vergaß aber bei einem wichtigen Konzert seinen Text und wurde daraufhin von einer wütenden Professor McGonagall selbst in einen Frosch verwandelt.
Peter war sehr froh, als ihn die lauten Stimmen seiner Mitbewohner am nächsten Morgen aus diesen absurden Träumen retteten.
Obwohl der Gemeinschaftsraum aussah, als hätte ihn seit Wochen niemand mehr betreten und jede Ecke des Schlafsaal geputzt und aufgeräumt war, gab es trotzdem noch Schüler, die panisch nach ihren Habseligkeiten suchten. Monty war ganz aufgeregt durch die ganze Schule gerannt, bis er endlich seine Ausgabe vom Zauberkunstlehrbuch gefunden hatte, dass sich – zur Überraschung aller – in der Bibliothek befunden hatte. Soweit Peter wusste, hatte Monty die Bibliothek das ganze Jahr über nicht einmal betreten. Wie er mit solch einer Einstellung die Prüfungen bestanden hatte, war für ihn ein Rätsel.
Das Frühstück war eine kurze Stunde voll aufgeregtem Herunterwürgen der Mahlzeit und lauten Stimmen, bis endlich angekündigt wurde, dass es Zeit wäre, zum Hogsmeade-Bahnhof zu reisen. Peter war erleichtert, dass sie den Weg dahin nicht wieder auf den kleinen, wackligen Booten absolvieren mussten. Stattdessen standen ungefähr einhundert komplett schwarze, pferdelose Kutschen im Innenhof, die sich, sobald sich die Türen hinter dem letzten Schüler geschlossen hatten, alle in Bewegung setzten und wie eine düstere Kolonne in der frühen Mittagssonne über den Feldweg hinab zum Dorf wackelten. Koffer, Taschen und auch Käfige mitsamt Haustieren waren auf magische Weise bereits zum Zug transportiert worden und als Peter hinter James in den Zug stieg, waren sie überrascht zu sehen, dass ihr Reisegepäck gemeinsam in einem Abteil untergebracht war.
„Meint ihr, der Zug erinnert sich daran, wie wir hergekommen sind?“, fragte James erstaunt, als er sich niederließ.
„Wohl eher nicht“, erwiderte Peter. „Auf der Fahrt hierher saß ich gar nicht bei euch.“
„Stimmt! Ist mir gar nicht aufgefallen. Trotzdem merkwürdig…“
Peter versuchte sich von dem Kommentar nicht weiter beeinflussen zu lassen – er wusste, dass James damit nicht meinte, dass man ihn leicht vergessen konnte. Und wenn doch, dann tat Peter so, als würde er nicht verstehen, was sein Freund damit meinte. Es war einfacher, wenn er weiterhin ignorant war.
„Ja aber warum denn nicht?“, fragte Sirius, der mit Remus im Gepäck das Abteil betrat.
„Weil ich es dir schon hundertmal gesagt habe, Sirius, es geht nicht“, erwiderte Remus genervt klingend. „Du kannst nicht einfach erwarten, dass alle Welt springt, wenn du etwas verlangst.“
„Ich verlange überhaupt nichts, ich –“
„Ach, also wolltest du nicht ganz unbedingt deine Ferien bei mir verbringen und gar nicht erst nach Hause fahren, in der Hoffnung, deine Eltern würden denken, du wärst unterwegs verschollen gegangen?“
„Wenn du es so sagst, klingt es ziemlich fies“, meinte Sirius.
„Ich sage es so, als weil du es so gesagt hast, Black.“
„Du kannst ganz schön schnippisch sein, Lupin.“
„Und du ziemlich arrogant. Meine Antwort bleibt die gleiche.“
„Schön! Dann fahr ich eben nach Hause und werde von meiner Mutter den ganzen Sommer über misshanelt!“ Eine unangenehme Stille fiel über das kleine Abteil, als Sirius realisierte, was er gesagt hatte. „Ich meinte – Merlin, vergiss das einfach. So ist das nicht.“
Remus war schrecklich blass geworden – was hieß, dass seine Haut fast komplett weiß wirkte. „Was soll das heißen?“, fragte er leise. „Ich dachte, du kommst mit ihnen klar? Du hast gesagt, du kommst mit ihnen klar!“
„Ich meinte nicht“, stammelte Sirius. „Nicht, wie du denkst zumindest, also schon ein bisschen – aber es wird bestimmt nicht so – ich meine, ich hab gute Noten, sicher beruhigt sie das – und Reggie –“
„Lass gut sein, Sirius“, sagte James leise. „Vielleicht solltest du ihnen einfach die Wahrheit sagen.“
„Ich kann nicht – ich meine, ich will nicht, dass sie denken - also“, seufzend brach Sirius ab und warf den Kopf in den Nacken. „Na schön.“
Es folgten ein paar sehr lange, sehr düstere Minuten, gefüllt mit Sirius‘ leisen Erzählungen von all den Bestrafungen seiner Eltern, Remus‘ entsetztem Keuchen und Peters panischem Atem. Er hatte seine Ahnungen gehabt, dass die Blacks nicht gerade die liebevollsten Eltern waren, nachdem Sirius so wenig von seinen Weihnachtsferien erzählt und durch ihre Briefe immer sehr launisch geworden war, aber er hätte nicht wirklich gedacht, dass seine Eltern so schlimm sind, dass sie tatsächlich Hand und Zauberstab an ihren eigenen Sohn anlegten. Peter war irgendwie froh, dass Sirius ihnen nicht seine Narben zeigte, die er von den Flüchen seiner Mutter bekommen hatte. Narben verpassten ihm eine Gänsehaut, wenn er nur daran dachte.
„Wieso hast du denn nie etwas gesagt?“, fragte Remus leise. „Wir sind deine Freunde, wir hätten –“
„Was, ihr hättet geholfen? Wie denn?“, erwiderte Sirius freudlos lachend. „Ist nicht so, als ob ihr einfach bei mir Zuhause auftauchen und meiner Mum den Zauberstab wegnehmen könntet.“
„Können wir nicht?“, fragte James, der so klang, als wäre das für ihn ein perfekter Plan für den Sommer gewesen.
„Natürlich nicht. Ihr könntet vor dem Fenster stehen und würdet das Haus nicht mal sehen. Es liegen ungefähr eintausend Schutzzauber auf der Fassade, niemand, der nicht weiß, wie man reinkommt, kann es sehen. Fühlt sich dadurch auch eher wie ein Gefängnis als ein Familienhaus aus, wenn ich ehrlich bin.“
„Dann renn weg“, schlug Peter vor.
„Oh, toller Plan, Pettigrew“, schnappte Sirius zurück. „Ja, ich renn einfach weg und – wohn dann auf der Straße, bis meine Eltern oder einer ihrer kranken Verwandten mich aufspürt.“
„Was ist mit deiner Cousine? Andromeda? Kannst du nicht bei ihr unterkommen?“, fragte Remus, der Peter einen entschuldigenden Blick zuwarf.
Peter nahm es Sirius nicht übel, dass er ihn angemeckert hatte – wenn er so eine Familie hätte, wäre er sicherlich auch etwas launisch und würde seine Freunde das ein oder andere Mal angehen.
„Geht nicht“, brummte Sirius miserabel klingend. „Keine Ahnung, wo sie ist.“
„Dann lebst du bei mir!“, sagte James. „Meine Eltern nehmen dich gerne auf. Das kümmert sie nicht.“
„Aber meine Eltern kümmert es. Die wissen doch sofort, ich würde zu dir rennen, wenn ich nicht nach Hause komme. Lass gut sein, Potter. Ich werd den Sommer schon überleben.“
„Daran zweifelt keiner“, sagte Remus.
„Ja, du bist hart im Nehmen“, fügte Peter an, was ihm tatsächlich ein Lächeln von Sirius erntete.
„Trotzdem hätten wir dich nächstes Jahr gerne in einem Stück zurück, Black. Ich verlange, dass du mich täglich auf den neusten Stand bringst, was in deinem Haus so vor sich geht und wenn ich drei Tage in Folge nicht von dir höre, dann hetz ich die Aurorenzentrale auf dein Haus.“
„Und wie willst du das machen, wenn keiner weiß, wie man in Sirius‘ Haus kommt?“, fragte Remus mit hochgezogenen Augenbrauen.
„Das sind Auroren, Remus“, erwiderte James, als würde das alles erklären. „Die können sowas. Die haben sicher einen – einen Aufspürzauber oder was auch immer und dann retten sie Sirius und er wohnt bei mir und seine blöden Eltern landen in Askaban.“
„Immer ruhig mit den Tagträumen, Potter, sonst nässt du dich noch ein“, lachte Sirius. „Aber ok, ich schwöre, ich werde versuchen, dich auf dem Laufenden zu halten. Kann aber nichts versprechen, klar? Es wird bestimmt auffallen, wenn ich ständig Eulen losschicke. Nachher wird Maman noch misstrauisch und liest meine Briefe.“
Der Rest der Fahrt war angenehmer und nicht mit Gerede über Sirius‘ Familie gefüllt. Sie spielten Zauberschach und Zauberschnippschnapp, kauften sich Süßkram bei der Hexe mit dem Wagen, als sie vorbeikam und redeten über ihre allgemeinen Sommerpläne. Peter konnte seinen Freunden ganz stolz erzählen, dass seine Mum für ihn und Phyllis einen Überraschungsurlaub angekündigt hatte und sie für zwei Wochen nach New York reisen würden, um Verwandte zu besuchen und die Stadt zu erkunden. Ein paar Stunden später kamen auch Mary und Marlene vorbei (Lily hatte sich geweigert und war stattdessen Snape suchen gegangen), wurden aber von den schlechten Verlierern aus dem Abteil geworfen, als sie jede Runde des Kartenspiels gegen James und Sirius gewannen.
Ein paar Mal liefen bekannte Gesichter an ihrem Abteil vorbei; Emmeline Vance und Dorcas Meadows blieben ein paar Minuten und unterhielten sich mit ihnen, Benjy Fenwick setzte sich zu ihnen und schlug Sirius im Zauberschach, Phyllis kam zwei Mal vorbei um sicherzustellen, dass Peter keinen Unfug anstellte („Aww, muss man auf den kleinen Petey aufpassen?“, neckte James ihn grinsend) und die Vertrauensschüler Frank Longbottom und Alice Fortescue stellten sicher, dass die Jungs nicht noch einen Ende-des-Jahres-Streich ausheckten und den Zug mit Dungbomben füllten.
„Ehrlich, kein Vertrauen in unsere Fähigkeiten“, meinte Sirius kopfschüttelnd, nachdem sie Frank und Alice überzeugt hatten, nichts geplant zu haben. „Wir würden uns doch nur selbst damit bestrafen, wenn wir den ganzen Zug vollstinken würden, also wirklich.“
„Frank ist eben kein meisterhaftes Streichegenie wie wir“, erwiderte James und klopfte Sirius auf die Schulter.
Als der Nachmittag langsam endete und die Abendsonne am Horizont auftauchte, verlangsamte sich auch der Zug. Die weiten Wiesen und Felder, die sie die ganze Zeit über passiert hatten, wurde von einem Moment auf den nächsten gegen Gleis 9 ¾ ausgetauscht und mit einem letzten, langgezogenen Quietschen der vielen Reifen kam der Hogwartsexpress zum Stehen. Viel Gedränge fand auf den Gängen statt, als alle Schüler ihre Koffer, Taschen und Rucksäcke auf dem Zug pressten, aber schließlich spülten auch Peter und seine Freunde auf den Bahnsteig, wo wie sie von einer massiven Front an erleichterten und teilweise glücklich weinenden Eltern begrüßt wurden, die ihre Kinder erwarteten.
Es gab einen sehr schrecklichen, sehr unangenehmen Moment, als sie ihre Eltern erblickten. Mrs. und Mr. Potter standen sehr nah am Ausgang und in ihrer Nähe stand auch Peters Mutter, die bereits Phyllis begrüßt hatte. Ein Elternpaar, dass sich als Mr. und Mrs. Lupin herausstellte, war ganz in ihrer Nähe, aber niemand war für Sirius gekommen.
James war bereits drauf und dran, Sirius mit zu seinen Eltern zu ziehen, die mit besorgten Gesichtern beobachteten, wie sich der Bahnsteig immer weiter leerte und kein Anzeichen von Walburga oder Orion Black zu sehen war, als eine krächzende Stimme in Kniehöhe ertönte.
„Master Sirius“, krächzte ein alter, gebrechlich wirkender Hauself und verbeugte sich, sodass seine krumme Nasenspitze den Boden berührte. „Die Herrin hat Kreacher geschickt, um Master Sirius nach Hause zu holen. Ist der Master Sirius bereit?“
„Wenigstens haben sie an mich gedacht“, scherzte Sirius grinsend, aber sie alle konnten den unterdrückten Schmerz in seinen Augen sehen.
„Mach‘s gut, Kumpel.“ James zog Sirius in eine knochenbrecherische Umarmung und musste praktisch von Peter und Remus von ihm weggezogen werden. „Wir sehen uns, ja?“
„Klar. Und heul nicht so viel, Potter. Das steht dir nicht.“ Mit einem letzten Grinsen ließ Sirius zu, dass der Hauself Kreacher den Ärmel seines Umhangs packte, dann apparierten sie samt Gepäck und waren verschwunden.
„Er kommt schon klar“, sagte Peter.
„Genau. Du weißt doch, wie störrisch Sirius ist“, fügte Remus hinzu.
„Das ist ja das Problem“, seufzte James miserabel klingend. „Das ist ja genau das Problem.“
Chapter 11: 11. Sommer 1972: Eifersucht und Güte
Chapter Text
Das unmissverständliche Läuten einer Türklingel durchbrach die sommerliche Stille im Evans-Haushalt. Nur Sekunden später wurde die Lautstärke des klobigen Fernsehers im blumigen Wohnzimmer aufgedreht und die Stimme eines jungen Mädchens schrie: „Jemand ist an der Tüü-hür!“ Das Mädchen hatte helles, blondes Haar, das sie in einer Frisur trug, die eindeutig zu erwachsen für jemanden ihres Alters war und hatte ein langes, beigefarbenes Kleid an, auf dem kleine Rosenblüten zu sehen waren. Sie war dünn und hatte ein längliches Gesicht, ihre hellen Augen auf die Mattscheibe gerichtet, auf der gerade eine spannende Gerichtsshow gezeigt wurde.
Niemand im Haus antwortete. Das Geräusch eines Ventilators, der sich im langsamen Takt im Halbkreis drehte, war die einzige Antwort, die Petunia Evans bekam. Wenige Momente später klingelte es erneut. Wütend griff sie nach der Fernbedienung und erhöhte die Lautstärke noch mal, bevor sie die Gerätschaft beiseite warf. Die Fernbedienung rutschte von der dunkelgrünen Couch und kam scheppernd auf dem Boden auf, wo das Batteriefach aufsprang und sein Inhalt unter die Sitzgelegenheit rollte. „Mama!“, schrie Petunia. „Jemand ist an der Tür!“ Ihre Stimme war nicht sehr angenehm, wenn sie so laut schrie, das wusste Petunia sehr wohl, aber es war ihr auch ziemlich egal. Sie wollte in Ruhe ihre Sendung genießen und dabei nicht von so banalen Pflichten wie dem Öffnen der Haustür gestört werden. Petunia schüttelte kurz ihren Kopf, damit ein paar rebellische Strähnen zurück an ihren Platz fielen. Sie konnte es kaum erwarten, bis die Jurorin im Fernseher endlich das Gerichtsurteil nennen würde. Ein schrecklich aussehender Mann mit wilden Haaren und einer hässlichen Lederjacke war verurteilt worden, seine Freundin umgebracht zu haben. Für Petunia gab es nichts Spannenderes an diesem heißen Sommertag, als eine Gerichtsshow zu gucken und vielleicht ein zuckerreduziertes Eis zu genießen, während ihr Vater den ganzen Tag bei der Arbeit war und ihre Mutter in Ruhe ein paar häusliche Pflichten erledigte.
Ein drittes Mal läutetes es an der Tür, dieses Mal gleich doppelt, gefolgt von einem Klopfen und einer gedämpften Stimme, die rief: „Ich weiß, jemand ist da.“
Petunia schnaubte. Sie kannte diese Stimme, gehörte sie doch zu diesem Snape-Jungen, mit dem ihre Schwester Lily ständig abhing. Snape war ein sehr seltsamer Junge, fand Petunia. Er sah immer ein wenig ungepflegt aus, aber das überraschte sie auch nicht wirklich. Er kam von der anderen Seite der Stadt und lebte in einer schmutzigen Straße in der Nähe der Fabrik. Petunia hasste es, wenn er es wagte, in ihren schönen, sauberen Teil der Stadt zu kommen und sich mit seinen zu großen Sachen und den schmutzigen Haaren auf ihre Veranda stellte und dann auch noch an ihrer Tür klopfte. Was sollten denn nur die Nachbarn denken, wenn sie den Snape-Jungen schon wieder bei ihnen sahen? Nachher würden sie noch denken, Petunia würde mit ihm verkehren! Es war ihr einfach nur schleierhaft, wie Lily mit einem Freak wie Snape zusammen sein konnte – aber dann wiederrum war ihre Schwester ja auch ein Freak.
Wie schön Petunias Leben gewesen wäre, wenn ihre kleine Schwester Lily genauso normal gewesen wäre wie sie. Dann hätten sie auf dieselbe Schule gehen können, Petunia hätte Lily jetzt beigebracht, wie man sich die Nägel lackierte und sie wäre mit ihr zum Einkaufen gegangen. Sie und Lily hätten sich noch immer ein Zimmer teilen können und sie hätten bis spät in die Nacht in den Magazinen geblättert, die Petunia beim Kiosk kaufte. Petunia hätte Lily ein Quiz vorlesen können, damit sie herausfinden würden, welche Art Junge zu ihr passte. Sie wären wie zwei ganz normale Schwestern gewesen, aber dann musste Lily ja einfach abhauen und auf diese Freak-Schule gehen und freakige Dinge lernen. Und am allerschlimmsten? Sie war auch noch stolz darauf! Lily war stolz, dass sie ein Freak war und sie war aufgeregt gewesen, auf diese schreckliche Schule zu gehen! Petunia würde es nie verstehen, wie Lily so anders sein könnte.
Es klingelte erneut und mit einem wütenden Aufschrei sprang Petunia Evans auf. „Verschwinde doch einfach“, schrie sie, marschierte aber dennoch auf die Tür zu, um sie mit viel zu viel Schwung aufzureißen, sodass sie kurz das Gleichgewicht verlor. Da stand er nun mit seinem erschrockenen Gesicht und den schmutzigen Haare, die Petunia nicht einmal mit Handschuhen anfassen wollte. Der Snape-Junge trug eine ausgebeulte Hose, die an beiden Knien zerrissen war und ein T-Shirt, dass ihm sicherlich fünf Nummern zu groß war; es hing wie ein großer Kartoffelsack an seinen schmalen Schultern herab, ebenfalls mit ein paar Rissen und Ölflecken verziert. Petunia rümpfte die Nase – sie würde ihr Kind niemals so herumlaufen lassen!
„Ist Lily da?“, fragte der Snape-Junge.
„Nein“, schnappte Petunia. „Ist sie nicht. Sie ist mit – mit Leuten aus ihrer Freakschule weg.“ Und dann, weil sie sich nicht beherrschen konnte, fügte sie mit einem hochnäsigen Grinsen hinzu: „Hat sie dich etwa nicht eingeladen? Schätze sogar auf der Schule für Freaks bist du ein Oberfreak.“
„Muggel“, spuckte Snape aus. „Du hast keine Ahnung, wovon du redest. Du bist nur neidisch auf Lily und –“
„Neidisch“, kreischte Petunia lauthals, sodass der Snape-Junge einen Schritt zurückwich. „Ich bin doch nicht neidisch auf meine freakige Schwester!“
„Das hat dein Brief an Dumbledore aber anderes gesagt. Oh, Professor, bitte lassen Sie mich auch an ihre Schule kommen, ich will auch Magie wie meine Schwester lernen, oh bitte, bitte!“, äffte Snape eine hohe Mädchenstimme nach. Ein hässlichen Grinsen schlich sich auf sein Gesicht. „Erbärmlich.“
Petunia wurde heiß im Gesicht und sie blies die Wangen auf. „Du widerlicher, ekliger, dreckiger, schmutziger – du – du Wicht! Du bist neidisch auf mich, ha! Du würdest auch gerne in einen schicken Haus wohnen und hättest gerne Eltern, die dich lieb haben, aber die hast du nicht, also feindest du – AH!“
Snape hatte einen dünnen Stock aus seiner Hose gezogen – ein Zauberstab, wie Petunia widerwillig erkannte – und ihn auf ihr Gesicht gerichtet. „Wag es nicht“, zischte er leise. „Wag es ja nicht!“
„Du – du darfst das nicht“, wimmerte Petunia, die langsam ihre Füße zurückschob und mit der Hand hinter ihrem Rücken nach der Türklinke suchte. „Lily hat es mir gesagt. Das darfst du nicht in den Ferien machen!“ Sie deutete panisch auf den Stab in Snapes Hand. „Dann schmeißen die dich raus, hat sie gesagt.“
„Einmal kann immer verziehen werden“, lächelte Snape mit einem düsteren Lächeln. „Ich hab schon die ganze Zeit nach einem Opfer gesucht, an dem ich meinen Zauberspruch anwenden kann und du –“
Petunia würde nie erfahren, was sie denn war, denn in dem Moment ertönte die entsetzte Stimme ihrer Schwester und – Petunia würde es niemals zugeben – aber sie war froh, Lily zu sehen.
„Sev! Was machst du denn da!? Nimm sofort den Zauberstab runter, was denn dich jemand sieht?“ Mit wehenden roten Haaren rannte Lily die Auffahrt zu ihrem Haus hinauf, zwei Mädchen im Schlepptau, deren Namen Petunia schon längst wieder vergessen hatte. Es waren hässlich gewöhnliche Namen gewesen, soviel wusste sie noch.
„Sie hat mich beleidigt“, zischte Snape leise, als Lily neben ihm auftauchte und sein Handgelenk herunterdrückte. Sein Blick fiel auf die beiden Mädchen, die Lily gefolgt waren und sein Gesichtsausdruck wurde noch ein wenig düsterer. „Was machen die hier?“
„Sie besuchen mich“, sagte Lily knapp. „Lenk nicht ab. Sev, du weißt doch, dass du nicht zaubern darfst. Und du“, sie wandte sich mit funkelnden Augen an Petunia, „hör auf meine Freunde zu beleidigen, Tuni.“
„Freunde“, höhnte Petunia. Ihre schlanken Finger hatten die Türklinke gefunden und mit der Fähigkeit, sich schnell wieder ins Haus zu verziehen, fühlte sie sich etwas mutiger in ihrer Haut. „Du meinst wohl Zirkusverein, den du um dich scharst. Ihr seid doch alles Freaks, das ist es. Freaks die zusammen auf einer Freakschule sind und dort freakige Dinge lernen!“
„Und ich dachte schon, du würdest in deinen Beschreibungen übertreiben, Lily. Die ist ja wirklich total garstig“, murmelte Mädchen Eins.
Petunia deutete mit dem Finger auf Lily. „Und rede nie wieder über mich mit deinen freakigen Freunden, Lily! Ich will nicht, dass die irgendwas über mich wissen!“
„Glaub mir, ich würde auch gerne darauf verzichten, dich zu kennen“, erwiderte Mädchen Zwei.
Aufgebracht wirbelte Petunia herum und ohne einen Blick zurück auf ihre Schwester und ihre Bande an Freaks zu werfen, knallte sie die Haustür hinter sich zu. Sie ließ einen wütenden Schrei von sich, bevor sie wieder ins Wohnzimmer stapfte und die Fernbedienung vom Boden aufsammelte. Ein paar Sekunden lang presste sie wie wild auf dem Lautstärkeknopf herum, bis sie realisierte, dass die Batterien herausgefallen waren und wütend schmiss die die Fernbedienung erneut von sich.
Es war alles Lilys Schuld, dachte sie aufgebracht. Es war alles nur wegen Lily und ihrer Freak-Fähigkeit. Lily, die perfekte kleine Lily, die ja unbedingt anfangen musste, Blumen in ihren Fingern blühen zu lassen und Lily, die von der Schaukel springen und ein paar Meter durch die Luft gleiten konnte und Lily, die von Zaubertränken und Zaubersprüchen redete, als wäre es vollkommen normal. Petunia stampfte mit dem Fuß auf. Alles wäre besser, wenn Lily doch einfach das ganze Jahr über auf dieser freakigen Schule bleiben könnte!
***
„Du darfst dich nicht so daneben benehmen, Sev“, schimpfte Lily mit gedämpfter Stimme, damit Mary und Marlene, die etwas abseits standen, nicht alles mitbekommen würden. Sie hatte sich die ganze Woche schon darauf gefreut, dass ihre Freundinnen sie besuchen würde und jetzt hatten Severus und Petunia alles kaputt gemacht. Von ihrer Schwester, die immer noch alles hasste, was mit Magie zu tun hatte, hatte sie sowas erwartet, aber doch nicht von Sev.
„Ich bin nur hergekommen, um zu sehen, ob du Zuhause bist“, murmelte er mit den Händen tief in den klobigen Hosentaschen vergraben. „Aber deine liebreizende Schwester hat gesagt, du hättest Besuch.“ Er warf einen giftigen Blick auf Mary und Marlene. „Wieso hast du nichts gesagt?“
Lily stemmte die Hände in die Hüften und machte sich größer. „Weil sie mich besuchen, nicht dich, Sev. Sie sind meine Freundinnen und ich wollte Zeit mit ihnen verbringen. Ich muss dich nicht darüber informieren, wo ich jede Minute meines Lebens verbringe.“
„Das hab ich auch gar nicht gemeint“, erwiderte er düster. „Aber dann hätte ich mir den Weg gespart.“
„Hör auf damit“, verlangte sie.
„Womit?“
„Na damit! Deinen feindseligen Blicken auf meine Freundinnen“, sagte Lily sauer. Ihre helle Haut hatte dunkle, rote Flecken bekommen und ihre Stirn lag in tiefen Falten. „Ich habe dir schon mehrmals gesagt, dass ich es hasse, wenn du so eifersüchtig bist. Ich kann mit dir und Mary und Marlene befreundet sein, okay?“
„Ich bin nicht eifersüchtig“, brummte Sev und mied ihren Blick.
Lily schnaubte. „Und ich bin nicht blöd, Sev!“
„Hab ich nie gesagt.“
„Dann tu auch nicht so, als könntest du mich für blöd verkaufen. Du sollst mein bester Freund sein und nicht mein – mein Wachhund! Wir können nächste Woche wieder was zusammen unternehmen, dann fahren Mary und Marlene wieder nach Hause, aber die nächsten Tage bleiben sie noch hier und solange du dich nicht zusammenreißen kannst, will ich nicht, dass du herkommst.“ Lily verschränkte die Arme. „Oder kannst du dich beherrschen und kannst wie ein normaler Mensch Zeit mit mir und meinen anderen Freunden verbringen?“ Lily wusste, dass das ein fieses Ultimatum war, aber es kümmerte sie nicht. Severus war schon die ganze Zeit so gewesen und hatte es nie unterlassen können, fiese Kommentare über ihre Freunde abzulassen, sei es Mary oder Marlene oder sogar Remus. Ständig sagte er etwas gemeines, egal wie oft Lily ihm sagte, dass sie das nicht mochte.
Severus zog eine Grimasse. „Dann seh ich dich nächste Woche“, sagte er leise. „Viel Spaß noch, Lily.“
Er wandte sich zum Gehen um, sein schlurfender Gang war langsam und berechnend und Lily wusste, dass er nur darauf wartete, dass sie ihn zurückrufen und ihre ganzen Pläne für ihn umschmeißen würde, aber Lily blieb standhaft. Sie wartete, bis er an der Straßenecke war, wo er sich wie erwartet noch einmal nach ihr umsah. Lily reckte das Kinn in die Höhe. „Bis nächste Woche, Sev“, sagte sie.
„Kriselt es im Paradis?“, fragte Marlene mit hochgezogenen Augenbrauen, kaum war er weit genug die Straße hinabgelaufen.
„Nein“, sagte Lily mit fester Stimme. „Er benimmt sich nur wie ein Idiot.“
„Also hat sich nichts geändert“, erwiderte Mary. „Wirklich, Lily, ich verstehe immer noch nicht, wieso du ständig mit ihm abhängst. Er ist total unheimlich und ist in der Schule die ganze Zeit mit diesen Idioten Mulciber und Avery zusammen. Die stehen total auf schwarze Magie und ich wette, die haben Snape auch schon den ein oder anderen Trick gezeigt.“
„Das ist doch Unsinn, Mary“, meinte Lily kopfschüttelnd. „Die sind gerade mal zwölf, was sollen die schon für Magie können?“
„Guck dir Potter und Black an. Die sind auch zwölf und –“
„Okay, aber die sind was anderes“, unterbrach Lily säuerlich. Das letzte, was sie wollte, war in ihren Ferien an die notorischen Streichespieler und Unruhestifter James Potter und Sirius Black erinnert zu werden. Die Ferien waren ihre einzige Chance, vor diesen Idioten zu fliehen und sie würde sich diese Zeit nicht nehmen lassen.
„Ach?“, fragte Mary herausfordernd. „Wie das?“
„Kommt schon, es reicht“, murmelte Marlene leise. „Lasst uns nicht streiten, ja?“
„Nein, ich will gerne hören, wieso Lily denkt, es wäre was anderes, wenn Potter mit zwölf Jahren höhere Magie beherrscht, als wenn es Mulciber tut.“
„Sie nutzen nun mal keine schwarze Magie, okay!?“, rief Lily sauer und klatschte sich dann die Hände auf den Mund. Panisch guckte sie sich um, ob einer ihrer Nachbarn aus den Fenstern guckte oder über die Hecken luscherte, um sie zu belauschen, konnte aber niemanden entdecken. „Ich weiß nicht, was Mulciber und Avery für Probleme haben, aber Sev ist kein schwarzer Magie, Mary. Er – ich weiß das einfach.“
Mary sah so aus, als würde sie nur liebend gerne ein Gegenargument bringen, aber einen Augenblick später wurde ihr Gesichtsausdruck ein wenig weicher. „Na schön. Okay, tut mir leid, Lily. Ich wollte nicht streiten, ich weiß ja, ihr seid befreundet. Ich werde mich in Zukunft zurückhalten.“
Lily lächelte erleichtert. „Mir tut es auch leid.“
„Aww, na los, umarmt euch!“, sagte Marlene lachend und stieß Lily gegen die Schulter.
„Lass das!“
„Bring mich doch dazu, Evans.“
„Ich sag meiner Mum, du bist laktoseintolerant und kannst deswegen kein Eis essen.“
„So tief würdest du nicht sinken!“, sagte Marlene empört. „Du kannst einem Mädchen nicht ihr Recht auf ein kühles Erdbeereis nehmen! Das ist barbarisch, Lily, barbarisch sage ich!“
„Finde doch heraus, auf welches Level ich sinken kann, McKinnon. Du vergisst, wer meine Schwester ist.“
„So etwas würde ich von Mary erwarten, aber von dir?“ Marlene schüttelte traurig den Kopf. „Noch nie habe ich mich so verraten gefühlt.“
„Was soll das denn heißen?“, verlangte Mary zu wissen. „Sowas würde ich nie sagen!“
Lachend, kichernd und mit roten Wangen betraten die Mädchen das Evans-Haus. Nein, dachte Lily. Sie würde sich ihre Ferien nicht mehr kaputt machen lassen. Weder von Sev und seiner doofen Eifersucht noch von Gedanken an die Idioten Potter und Black oder von ihrer viel zu gemeinen Schwester. Dieser Sommer war dafür gemacht, dass sie sich von den stressgefüllten Tagen des letzten Jahres erholten und neue Energie für das nächste Schuljahr tankten und genau das würde Lily auch tun.
„Also“, fragte sie, als sie an Petunia im Wohnzimmer vorbeigegangen waren, die in einer unmenschlichen Lautstärke eine langweilige Richtersendung schaute. „Wer will ein Eis?“
***
Sirius,
ich glaube, mich hat ein Hippogreif getreten und ich kann nicht mehr klar denken! Mein Dad hat Karten für das Internationale Quidditch Turnier bekommen und er sagt, ich soll dich fragen, ob du mitkommen willst – natürlich willst du das, du bist mein bester Freund! Wir werden Puddlemere United unterstützen, falls es dir nicht klar ist, aber ich werde kein böses Wort gegen die Chudley Cannons akzeptieren. Sie sind vielleicht ein Team voller Loser, aber sie sind mein Team voller Loser!
Letzte Woche hat mich Peter besucht, bevor er mit seiner Familie nach New York gereist ist. Hat er dir auch erzählt, dass sie mit einem dieser Muggel-Teile reisen, die in der Luft fliegen können? Ich glaube, er nannte es Flugzeug? Und die fliegen ganz ohne Magie! Manchmal überrascht es mich, wie gut die Muggel ohne Magie zurechtkommen. Jedenfalls sagt Peter, dass er uns Souvenirs aus New York mitbringen wird und er hat mich gefragt, was dir am meisten gefallen würde. Ich hab ihm gesagt, er soll dir mal einen besseren Sinn für Humor mitbringen, haha!
Okay, okay, bevor du mich jetzt von der Position deines besten Freundes feuerst – wie läuft es bei dir zuhause? Sind sie gut zu dir? Wie geht’s dir und deinem Bruder? Ich hoffe, du kannst antworten und mit zu den Spielen kommen, ansonsten sehen wir uns wahrscheinlich erst im September. Meine Mum hat schon all meine neuen Bücher bestellt, also kann ich euch nicht mal in der Winkelgasse treffen.
Pass auf dich auf, Kumpel, und sag mir Bescheid, ob du kommen kannst.
James
***
Lily,
danke für deinen Brief! Es hat mich sehr gefreut von dir zu hören. Es klingt so, als hätten du, Mary und Marlene eine Menge Spaß gehabt, stimmt das? Was habt ihr denn alles angestellt?
Meine Ferien sind sehr ruhig bisher. Mein Dad muss viel arbeiten und ist deswegen kaum Zuhause, aber Mum ist ein paar Mal mit mir an den Strand gefahren und wir haben uns dort einen schönen Tag gemacht, auch wenn ich jetzt einen schlimmen Sonnenbrand habe. Mein ganzes Gesicht sieht aus, als wäre ich in den Kochtopf gefallen!
Natürlich habe ich schon alle Hausaufgaben erledigt und mir die neuen Bücher gekauft, die mit dem Hogwartsbrief kamen. Das Lehrbuch Nummer Zwei für Verwandlung sieht wahnsinnig spannend aus, meinst du nicht auch? Ist es seltsam, dass ich mich schon darauf freue, wenn Professor McGonagall uns das beibringen wird? Jedenfalls würde ich ziemlich gerne lernen, wie man ein lebloses Objekt in ein Tier verwandelt und nicht nur andersherum. Wie meinst du, kollidiert das mit den Zauberergesetzen? Ich habe gelesen, dass man kein Leben mit Magie erschaffen darf. Ich glaube, ich werde mich da noch etwas schlaulesen, bevor wir wieder zur Schule fahren.
Wir sehen uns am ersten September! Hab noch schöne Ferien.
Liebe Grüße,
Remus.
***
Sirius,
Kumpel. Mies, dass du nicht dabei sein konntest, aber ich glaube, du hast auch nicht viel verpasst. Puddlemere hat super gespielt, wie immer, aber die Canons haben so hart verloren, es war schon irgendwie peinlich, zuzugucken. Null zu Vierhundertachtzig! Man kann kaum meinen, die seien ein professionelles Team, oder? Naja, es war trotzdem irgendwie cool, auch wenn ich immer noch glaube, dass ich besser fliegen könnte.
Mum und Dad sagen, ich soll mir keine Sorgen machen, weil du meine Briefe nicht beantwortet hast – und laut Remus hast du auch ihm nicht geantwortet – aber das geht gegen meine Natur. Behandelt deine Mutter dich wieder schlecht? Liest sie das hier auch? Hey, Mrs. Black, ziemlich uncool, dass Sirius mir nicht antwortet. Das zeugt von schlechter Erziehung.
Antworte, wenn du den Brief erhältst, okay? Ich mach mir Sorgen.
James.
***
Sirius,
James hat mir noch einmal geschrieben. Ich weiß nicht, ob du wirklich nicht antworten kannst, aber er macht sich wirklich sorgen. Es wäre vom Vorteil, wenn du dich zumindest kurz bei uns melden könntest. Tut mir leid, dass ich am Ende des Schuljahres so mit dir gestritten habe – ich fühle mich schlecht, weil ich nicht bemerkt habe, wie es dir ging. Ich wünschte, es wäre möglich gewesen, dass du die Ferien bei mir verbringen könntest. Mum sagt, sie hätte liebend gerne meine ganzen Freunde kennengelernt und herausgefunden, wer von euch davon verantwortlich ist, dass ihr lieber kleiner Remus plötzlich zu den Raufburschen gehört und Streiche spielt. Ha, du hättest mal ihr Gesicht sehen sollen, als ich ihr gesagt hätte, ich hätte meine Prüfungen nicht bestanden – wahrscheinlich war das als Willkommensgeschenk etwas gemein, aber es war trotzdem irgendwie lustig. Du hättest es lustig gefunden.
Mum bestellt schöne Grüße, auch wenn sie dich nicht kennt. Sie weiß nicht, was bei dir Zuhause abgeht, keine Sorge. Ich glaube, sie würde es sowieso nicht verstehen, weil sie ja ein Muggel ist und alles, du weißt schon.
Wenn du kannst, antworte bitte und lass uns wissen, dass es dir gut geht. Ich freue mich schon, euch alle am ersten September wiederzusehen.
In Liebe,
Remus.
***
Lily,
noch mal vielen Dank, dass wir die Woche bei dir bleiben durften! Meine Mum hat deiner Mum einen Früchtekuchen geschickt – ist der schon angekommen? Sie sagt, sie hofft die Post würde sich beeilen, sonst wird der so hart und als ich ihr gesagt habe, dass ihr Früchtekuchen immer hart sei, hat sie mich ausgeschimpft. Die Frau versteht aber auch keinen Spaß! Deine Mum ist so viel cooler als meine!
Hat sich zwischen dir und Snape wieder alles geklärt? Wahrscheinlich werde ich nie verstehen, warum genau ihr Freunde seid, aber solange er dich die meiste Zeit über gut behandelt, ist das gut genug für mich. Ich fand es schade, dass ihr euch gestritten hattet – gib ihm doch ein Stück von dem Früchtekuchen und dann vertragt ihr euch, ja?
Wie geht es dir, jetzt da Marls und ich weg sind? Behandelt deine Schwester dich besser? Sie war sehr gemein, als wir da waren, hat nicht ein Wort mit uns geredet! Bei meiner Mutter hätte sie Hausarrest für mindestens drei Wochen bekommen, aber wahrscheinlich kann ich da als Einzelkind nicht wirklich mitreden. Ich hoffe, ihr vertragt euch wieder. Es ist mies mitanzusehen, wie es dich mitnimmt, wenn Petunia dich schlecht behandelt. Das hast du nicht verdient, Lily.
Ich schicke dir anbei trotzdem ein paar von den zuckerfreien Snacks, von denen ich dir erzählt habe – mein Dad hat ungefähr dreihundert Tonnen davon gewonnen und wir wissen gar nicht, was wir damit anfangen sollen! Er hat gesagt, ich soll dir einfach alles schicken, damit wir es endlich los sind, aber ich will dir nicht unsere Snack-Bürde aufladen.
Hab noch einen schönen Sommer, Lily, genieß die Sonne und wir sehen uns dann in der Winkelgasse. Es bleibt beim 14. August, ja?
Liebe Grüße,
Mary.
***
Remus,
siehst du das Bild auf der Karte? Das Gebäude ist der MACUSA, das ist quasi das Zaubereiministerium von New York! Wir durften uns das von innen auch angucken und das ist richtig cool! Ich glaube, dir würde das total gut gefallen! Schade, dass du nicht dabei bist, wahrscheinlich wäre das genau dein Ding. Einer der Mitarbeiter hat uns freundlicherweise rumgeführt und uns die Sachen erklärt, die im Gegensatz zu unserem Ministerium anders sind. Ich muss auf jeden Fall noch mal nach New York kommen, wenn ich siebzehn bin, dann kann ich alles genauer erkunden!
Mum wollte nämlich eher Muggel-Sightseeing machen und sich die langweiligen, nicht-magischen Gebäude angucken. Phyllis und ich haben ihr versucht zu erklären, dass wir lieber die Gründungsstätte von Ilvermorny besuchen wollte, aber davon wollte sie nichts hören. Stattdessen hab ich jetzt einen hässlichen Schlüsselanhänger von einem Restaurant der Muggel.
Ich hab dir ein Souvenir mitgebracht, hoffentlich gefällt es dir und hoffentlich hast du es noch nicht. Man nennt es ein Spickoskop und es ist sowas wie eine Alarmanlage. Ich fand es ziemlich cool! Ich hab mir auch gleich eins gekauft, dann kann ich nächstes Mal direkt sehen, ob Sirius mir wieder Käferaugen in mein Müsli geworfen hat. Den Geschmack bekomm ich wahrscheinlich nie wieder von meiner Zunge.
Schöne Ferien noch,
Peter.
***
Peter,
vielen Dank für deine Karte. Ich hab gar nicht damit gerechnet, was von dir zu bekommen, das war echt nett. New York klingt spannend. Meine Ferien sind größtenteils ziemlich langweilig. Ich mach eigentlich immer nur was mit Vic und Stan, aber die sind eben keine Zauberer, deswegen ist es nicht so, als könnte ich mit denen richtig reden. Außerdem sind sie ‘n bisschen dumm und würden eh nicht kapieren, was ich die Hälfte der Zeit rede. Vic denkt immer noch, ich wäre die letzten Monate im Jugendknast gewesen. Er ist dumm, aber dafür weiß er, wo man Süßkram klauen kann.
Freu mich schon, euch alle wiederzusehen und mal wieder zaubern zu können. Hoffe, du genießt den Rest deiner Ferien und bestell deiner Schwester Grüße von mir.
Benjy.
***
James,
nein, ich habe noch immer nichts von Sirius gehört. Ich weiß, du machst dir Sorgen um ihn und ich mach mir das auch, aber wir können nichts tun. Du weißt nicht, wie schlimm seine Eltern wirklich sind. Das Beste, was wir hoffen können, ist eigentlich nur, dass sie ihn die meiste Zeit in Ruhe lassen, aber ihm verboten haben, uns zu schreiben. Ich kenne seine Eltern nicht, aber ich würde mir vorstellen, dass sie glauben, sie könnten ihn so besser erziehen, wenn er nichts von seinen Freunden hört. Bleib einfach ruhig und stell keine Dummheiten an, ja?
Remus.
PS: Hast du auch eine Karte von Pete bekommen? New York sieht cool aus. Da wär ich auch gerne.
***
Remus,
du hast ja Recht, aber es nervt trotzdem. Ich wünschte, ich könnte ihn einfach rausholen, damit er zumindest die letzten zwei Wochen bei mir verbringen kann. Mum hat gesagt, ich soll mich benehmen und nichts überstürztes tun. Ihr würdet euch echt gut verstehen.
James.
***
Sehr geehrte Walburga Black,
aufgrund unserer nur sehr flüchtigen Bekanntschaft möchte ich mich noch einmal förmlich bei Ihnen vorstellen. Ich bin Euphemia Potter, die Mutter von James Potter, dem Schulfreund Ihres Sohnes Sirius. Wenn ich mich recht entsinne, dann haben wir uns bereits ein paar Mal gesehen. Wie Sie vielleicht wissen, hat mein Sohn ihrem Sirius ein paar Briefe den Sommer über geschrieben und würde ihn gerne für die letzten zwei Wochen der Sommerferien zu uns auf unser Anwesen einladen.
Es wäre uns wirklich eine Freude, wenn wir Sirius für den Rest der Ferien aufnehmen könnten. Sie können versichert sein, die Jungs hätten eine Menge Spaß zusammen und selbstverständlich würden wir Sirius am ersten September mit James zusammen zum Bahnhof begleiten. Sie müssen sich keine Sorgen machen, dass er seine akademische Bildung nicht fortsetzen könnte, weil wir ihn bei uns behalten!
Ich hoffe, dieser Brief erreicht Sie in guter Verfassung, Mrs. Black, und wir können zu einer Übereinkunft kommen. Ihr Sohn scheint es bisher vermasselt zu haben, meinem James zu antworten. Ich erwarte freudigst eine Eule.
Mit freundlichen Grüßen,
Euphemia Potter.
***
„Sie wird nicht antworten, Mum“, maulte James Potter das dritte Mal in einer Stunde. Er saß am Küchentisch, den Kopf auf der Holzplatte abgelegt und einen Schmollmund ziehen. „Sirius hat keinen meiner Briefe beantwortet, wahrscheinlich hält sie ihn im Keller gefangen, bis die Schule wieder losgeht.“
„Sag sowas nicht, James“, rügte Euphemia ihren Sohn. „Es geziemt sich nicht, schlecht über die Erziehung anderer zu reden – auch wenn diese Erziehung mehr als fragwürdig ist.“ Euphemia räusperte sich vernehmlich und strich ihre Bluse glatt. „Wir wissen beide gut genug, dass Walburga eine äußerst gemeine Hexe ist, James. Deswegen war es mir wichtig, dass ich einen förmlichen und höflichen Brief an sie schreibe. Etikette ist für die Blacks sehr wichtig, musst du wissen.“
„Trotzdem. Dein Brief liegt bestimmt brutzelnd in deren Kamin.“
„James, jetzt sei nicht so.“ Seine Mutter zog die Augenbrauen zusammen. „Wenn ich mir nur vorstelle, wir der arme Junge die ganzen Ferien über leiden muss…“
„Also war es doch eine gute Idee von mir gewesen, mich mit Sirius anzufreunden!“ James grinste für einen Moment, dann fiel sein Gesicht wieder in sich zusammen. „Auch wenn du es verboten hast.“
„Zugegeben, da war ich voreilig. Sirius scheint ein sehr vernünftiger junger Mann zu sein.“
„Vernünftig würde ich ihn nicht nennen“, brummte James. „Aber er ist besser als seine Familie, Mum. Er ist kein schwarzer Magier.“
„Ich glaube dir ja, James, ich glaube dir ja.“ Euphemia nickte bedächtig. „Bei einer Familie wie den Blacks kann eine Mutter nie vorsichtig genug sein. Ich bin froh, dass Sirius nicht nach ihrem Vorbild stimmt, soviel kann ich dir sagen, auch wenn es für ihn kein einfaches Leben ist.“
„Ich wünschte, Dad könnte einfach zu ihnen gehen und Sirius abholen.“ James hob für einen Augenblick den Kopf, damit er seine Arme drunterschieben konnte. „Es ist nicht fair, dass er seine Ferien nicht richtig genießen kann. Erst Weihnachten und jetzt das. Ein Glück ist er über Ostern in Hogwarts geblieben.“ Er gab einen gequälten Laut von sich. „Wieso haben die Blacks überhaupt Kinder, wenn sie die eh nicht leiden können?“
Euphemia musste sich ein Lachen verkneifen. Sie setzte sich James gegenüber an den Küchentisch und schob die gläserne Obstschale beiseite, damit sie ihrem Sohn in die Augen sehen konnte. „Den Blacks geht es nicht um die Kinder, Schatz. Bei ihnen geht es allein darum, den Stammbaum weiterzuführen. Sie sind eine sehr alte und sehr mächtige Familie und wenn Menschen zu viel Macht ansammeln, dann wollen sie diese sehr ungern wieder loslassen. Solange die Blacks mit jeder Generation zumindest einen Erben produzieren, der den Stammbaum weiterführen kann, so sind sie glücklich. Sirius hat nun mal das Unglück, dass er als der älteste Sohn des Hauptzweiges der Familie geboren wurde, deswegen lastet eine Menge Verantwortung auf ihm, nach der er nie gefragt hat.“
„Was soll das denn heißen, Hauptzweig?“, fragte James.
„Heißt, dass Sirius der Sohn des Hauptzweiges der Familie ist, wodurch seine Aufgabe im Leben sein wird, einen Erben zu produzieren, damit die Linie der Blacks weiterleben wird. Es ist eine Tradition in der Familie Black, dass sie ihre eigenen Verwandten heiraten, damit ihr Blut rein bleibt und sie einhundertprozentig Black bleiben. Wenn ich mich nicht täusche“, sagte Euphemia mit dem Hauch von Abstoß in der Stimme, „dann wird auch Sirius irgendwann eine seiner entfernten Cousinen oder Nichten heiraten müssen.“
„Ihh, eklig!“, sagte James angewidert. „Er soll diese Schreckschraube Narzissa heiraten?“
„Höchstwahrscheinlich“, nickte Mrs. Potter. „Für uns ist es ein unverständlicher Brauch, aber die Blacks ehren diese Tradition seit vielen hundert Jahren. Sirius Eltern sind ebenfalls Cousin und Cousine, wusstest du das nicht?“
„Nein!“ James sah entsetzt und angeekelt aus. „Aber wenn Sirius Sohn vom Hauptzweig ist, dann heißt das, Narzissa wäre die Tochter des Nebenzweiges?“
Euphemia nickte. „Genau. Ein Stammbaum ist, wie der Name bereits vermuten lässt, wie ein Baum aufgebaut. Die Wurzeln bilden die Gründer der Familie, also die ersten Blacks. Und je weiter die Krone des Baumes reicht, desto mehr Mitglieder der Familie haben jemanden aus einer anderen Familie geheiratet und Kinder mit ihnen gezeugt und diese Kinder haben dann ebenfalls irgendwann Kinder bekommen und so weiter.“
„Haben wir auch einen Stammbaum?“
„Ich glaube schon, ja. Dein Vater muss irgendwo eine Aufzeichnung davon in seinem Arbeitszimmer haben, du kannst ihn ja mal danach fragen, wenn er wiederkommt.“ Euphemia warf einen beinahe ungeduldigen Blick auf die Uhr. „Ein halber Tag ist rum. Ich befürchte, du hast Recht, James. Sie wird wohl nicht mehr antworten.“
Es musste ein Zauberwort gewesen sein, denn just in diesem Moment flatterte ein winziger, nachtschwarzer Vogel durch das offene Küchenfenster, ließ einen Pergamentfetzen auf den Boden fallen und flog genauso schnell wieder heraus. James hatte das Stück Pergament als Erster erreicht. Er klaubte es vom Boden und las vor: „Danke für das Angebot, Mrs. Potter. Wir schicken Sirius mitsamt seinen Sachen über das Flohnetzwerk. Erwarten Sie ihn in Kürze. Gezeichnet, Walburga Black.“
„Na also“, sagte Euphemia über den Freudenschrei den James losgelassen hatte. Bevor sie noch etwas anderes sagen konnte, war er bereits aus der Küche gerannt.
James erreichte gerade rechtzeitig vor dem Kamin im Salon, als smaragdgrüne Flammen hinter dem schmiedeeisernen Zaun aufblühten. Zuerst fiel ein großer schwarz-silberner Schrankkoffer mit einem Slytherinwappen aus dem Kamin auf den teuren Teppich und verteilte Rußflecken, einen Augenblick später stolperte ein Junge hinterher. Der Junge hatte kaum die Möglichkeit, sich die zerstreuten Haare aus den grauen Augen zu wischen, als ihn eine halsbrecherische Umarmung beinahe zurück in den Kamin gestoßen hätte.
„Woah, ruhig, Potter“, sagte Sirius lachend.
„Du Bastard“, erwiderte James, „ich hab mir total Sorgen gemacht.“
„James!“, tadelte Euphemia lautstark, als sie hinter ihrem Sohn den Salon betrat. „Wie redest du denn vor unserem Gast? Hallo, Sirius, mein Lieber, es ist so schön, dass du kommen konntest.“
„Vielen Dank, dass ich eingeladen wurde, Mrs. Potter“, sagte Sirius, der James von sich drückte und dann mit weiten Schritten auf Euphemia zuging, um ihr höflich die Hand entgegenzustrecken. „Sie haben ein sehr schönes Haus.“
„Und du hast sehr gute Manieren, Sirius“, erwiderte sie lächelnd. „Fühl dich wie Zuhause.“
„Fühl dich am besten nicht wie Zuhause“, meinte James mit einem schiefen Lächeln. „Hier ist es nämlich besser.“
Sirius schnaubte. „Davon geh ich aus“, murmelte er. „Es war sehr nett von euch, mich einzuladen. Hätten Sie keinen so freundlichen Brief an meine Mum geschrieben, dann hätte sie mich nicht gehen lassen, Mrs. Potter, vielen Dank.“
„Oh, keine Ursache, mein Lieber. Und bitte, nenn mich Euphemia, oder Mia, wenn es dir lieber ist. Mrs. Potter lässt mich so alt klingen“, sagte sie mit einem breiten Lächeln, dass ihre Krähenfüße an Mundwinkeln und Augen deutlich hervorhob. Auch die grauen Strähnen in ihren Haaren waren kaum zu übersehen.
„Für mich sehen Sie keinen Tag älter als fünfunddreißig aus“, erwiderte Sirius.
Euphemia machte eine wegwerfenden Handbewegung, aber ein unmissverständlicher Rotschleier hatte sich über ihre Wangen gelegt. „Du Charmeur“, lachte sie. „James, geht doch hoch, dann kannst du Sirius das Gästezimmer zeigen. Ich werde es nach dem Essen herrichten.“
„Ok, Mum.“ James bedeutete Sirius, ihm zu folgen, blieb aber stehen, als Sirius nach seinem Koffer greifen wollte. „Was machst du da?“
„Mein Gepäck mitnehmen?“
„Wieso? Mum, kannst du –“
„Schon dabei“, flötete die Stimme von Euphemia als dem Flur, in welchen sie bereits verschwunden war. Einen Augenblick später verschwand Sirius‘ massiver Koffer, als wäre er nie dagewesen und mit ihm gleich die Rußflecken, die den Teppich beschmutzt hatten.
„Danke!“, rief James. „Na los.“
Sirius starrte beinahe schon begeistert auf die Stelle, an der sein Koffer noch eben gestanden hatte, dann rief er ebenfalls: „Vielen Dank, Mrs. Potter!“
„Euphemia oder Mia für dich, Sirius, Schatz!“
„Danke, Euphemia!“
„Keine Ursache, mein Lieber!“
„Deine Mum ist wirklich nett“, sagte Sirius etwas leise und folgte James durch eine andere Tür in einen anderen Flur. „Meine Mum hätte mich den Koffer bis auf den Dachboden schleppen lassen, damit ich nicht vergesse, wie einfach ich zu zerbrechen bin. Kranke alte Schachtel“, fügte er murmelnd hinzu.
Das Potter-Haus hatte vier Etagen, die alle vor Wohlstand und gutem Geschmack trotzten. Der Salon, aus dem James und Sirius gerade kamen, war eines der größten Zimmer des Hauses, mit riesigen Fenstern, die den Raum tagsüber mit Licht durchflutete. Ein marmorner Kamin, wunderschön gefertigte Holztische und eine ganze Handvoll mit karmesinroten Sesseln füllten das Zimmer. Ein Teppich mit Blumen- und Rankenmustern bedeckte einen auf Hochglanz polierten Parkettboden.
Portraits, Wandgemälde und Fotografien bedeckten die vielen Wände des Anwesens. Auf den meisten Fotos war James zu sehen, gemeinsam mit seinen Eltern, allein auf einem Besen in der Luft, am ersten Tag vor Hogwarts, kaum drei Jahre alt mit seinem ersten Milchzahn, ein schmutziger Junge, der im verregneten Garten spielte… es wurde mehr als deutlich, wie sehr Euphemia und Fleamont ihren Sohn liebten, wenn man sich nur das Haus ansah.
Eine Treppe hinauf, die Stufen mit dunkelblauem Samt bedeckt, kamen Sirius und James in die Schlafetage des Hauses. Das Schlafzimmer von James‘ Eltern befand sich am Ende des Flurs, direkt neben einem handgefertigten Wandteppich, der das Wappen der Gryffindors zeigte. Durch ein massives Erkerfenster strömte Tageslicht hinein und gab selbst dem Flur bereits eine sehr wohnliche Atmosphäre, der ebenfalls mit Portraits und Gemälden dekoriert war. Zwischen den Türen standen ab und an ein paar Kommoden oder Beistelltische, geschmückt mit schneeweißen Blumenvasen mit duftenden Rosen und Lilien oder kleineren Bilderrahmen, die schließlich die Gesichter von bereits verstorbenen Familienmitgliedern zeigten.
James‘ Kinderzimmer lag direkt am Fuß der Treppe. Es war ein großer, offener Raum mit einer Menge Platz. Das Bett war ungefähr doppelt so groß wie das in Hogwarts, mit nachtblauer Bettwäsche und einem Kuscheltier in Form eines Quaffels. An der Wand hingen Fotografien und Zeitungsartikel sowie einige angepinnte Pergamentstücke, die sich als die Briefe und Karten seiner Freunde herausstellten, die James den Sommer über erhalten hatte. Am anderen Ende des Raumes bedeckte ein massiver Holzschrank die Wand und direkt daneben hingen ein halbes Dutzend Besen in goldenen Halterungen. Darüber befand sich ein großes Quidditch-Banner von Puddlemere United, James‘ liebstem Team. Ein etwas kleineres Banner, dass beinahe im Schatten des Schrankes unterging, zeigte das Wappen der Chudley Canons, ein knallorangenes Bild mit der namensgebenden Kanone darauf.
„Das ist mein Zimmer“, erklärte James überflüssigerweise, dann trat er wieder hinaus in den Flur und ging eine Tür weiter. „Du kannst hier pennen.“ Das Gästezimmer war wesentlich weniger persönlich. Es war schlicht, sauber und hübsch, mit einem großen Bett mit hellgelbem Bezug, dazu ein schicker, schlanker Nachttisch, ein Schreibtisch und einige Bücherregale, die den Raum größer wirken ließen. Ein dunkler Holzschrank bot genug Platz, für Klamotten und Sirius‘ Schrankkoffer war bereits vor das Bett gezaubert worden, das Slytherinwappen ein beinahe offensichtliches Zeichen, wie anders das Haus der Potters wirklich war.
„Es ist so hell“, sagte Sirius erstaunt.
„Du kannst die Vorhänge auch zu machen.“
„Das meine ich überhaupt nicht, du Dungbirne. Ich meinte, es ist alles so hell und freundlich eingerichtet. Mein Zuhause sieht dagegen aus wie der perfekte Kandidat für ein Leichenschauhaus.“ Sirius zuckte mit den Schultern. „Ich glaube, hier gefällt es mir besser.“
„Und es wird dir noch besser gefallen“, versprach James, bevor ein breites Grinsen sein Gesicht erhellte. „Das werden die besten zwei Wochen überhaupt.“
Sirius ließ sich zu einem Lächeln anstecken, bevor er den Blick abwandte, mit der Hand an seinem Hinterkopf kratzte und murmelte: „Danke, dass du mich hergeholt hast, Kumpel. Du weißt gar nicht, wie viel mir das bedeutet.“
„Fang jetzt nicht an zu heulen, Black, sonst schick ich dich wieder zurück“, neckte James seinen besten Freund, bevor er einen Arm um dessen Schulter warf. „Komm schon, hör auf an deine doofe Familie zu denken. Jetzt zählt es nur noch, dass du hier bist und ich dich beim Quidditch spielen im Garten fertig machen kann.“
„Du bist ein toter Mann, Potter“, grinste Sirius mit roten Wangen. „Ich werde dich von deinem Besen stoßen.“
„Ha! Das werden wir ja sehen!“
***
Nachts war das Potter-Anwesen wie ein Gemälde. Dunkle Efeublätter rankten sich die schneeweiße Fassade hinauf, beleuchtet vom Mondlicht und getaucht in die Schatten der Nacht. Die Fenster waren dunkel, es brannte kein Licht, aber das Leben erlosch nie gänzlich im Inneren. Das lautlose Flügelschlagen einer Eule, die über dem großen Feld kreiste, das Ticken der Wanduhren, das Wälzen von energiegeladenen Kinderfüßen unter der Bettdecke, das Knistern des Kamins… und die leisen, tapsigen Schritte eines Jungen, der nicht einschlafen konnte.
Sirius klopfte an James‘ Tür, barfuß und in einen seidenen Pyjama gekleidet. „James“, flüsterte er in die Nacht. „James, wach auf.“ Sirius wollte nicht, dass Mrs. und Mr. Potter aufwachen würden – sie hatten ihm viel zu viel Güte gezeigt, in dem sie ihm trotz seines dunklen Namens aufgenommen hatten und das würde er ihnen nicht heimzahlen, indem er sie mitten in der Nacht wecken würde.
„James“, flüsterte Sirius erneut, seine Finger tanzten vorsichtig über das Holz der Schlafzimmertür, die nur wenige Momente später aufgestoßen wurde.
„Was’n los?“, murmelte der schlaftrunkene James und rieb sich die Augen. Er blinzelte mehrmals, damit er ohne seine Brille etwas erkennen konnte.
„Ich kann nicht – ich meine, ich wollte fragen, ob ich –“, stammelte Sirius peinlich berührt. Jetzt, wo er James tatsächlich geweckt hatte, fand er es selbst dämlich.
Aber James gähnte lediglich laut und sagte: „Komm schon rein“, als hätte er darauf gewartet, dass sowas passieren würde.
„Danke“, murmelte der andere Junge, bevor er James folgte und die Tür vorsichtig hinter sich schloss.
„Was machst du da?“, fragte James, der auf seiner Bettkante saß und sich die Brille vom Nachttisch aufgesetzt hatte. Er hatte die Augenbrauen zusammengezogen und betrachtete Sirius mit einem verwirrten Gesichtsausdruck, als dieser sich auf den Boden setzen sollte. „Komm schon her, du Spinner.“
„Oh. Ich wollte nicht –“
„Merlin, Black“, murmelte James, „ich hab ein ganzes Jahr ein Zimmer mit dir geteilt, es war doch nur eine Frage der Zeit, bis du in mein Bett kriechst.“ Er grinste schief. „Hier ist genug Platz für unseren ganzen Jahrgang, jetzt stell dich nicht so an.“
Sirius schluckte schwer. Er musste sich noch nie ein Bett mit jemandem teilen und er tat gerne so, als wäre die Nacht vor Weihnachten im letzten Jahr nicht gesehen, in der er Remus gebeten hatte, nach seinen Albträumen bei ihm zu bleiben. Im Black-Haushalt war es nie gern gesehen, wenn sich ein Bett geteilt wurde; unrein, nannte seine Mutter es. Das Bett war ein heiliger Ort der Ruhe und dieser Ort war für eine Person gedacht. Die wenigen Male, die Sirius im Schlafzimmer seiner Eltern war, hatten gereicht, dass er irgendwann gemerkt hatte, dass Walburga und Orion sich noch nie ein Bett geteilt hatten und dass sie es ihren Söhnen ebenfalls nicht erlauben würden, egal wie schrecklich die Albträume waren, egal wie viel Angst der vierjährige Regulus vor dem Gewitter hätte, das vor seinem Fenster gewütet hatte.
Ungeduldig seufzte James, stand auf und packte Sirius am Handgelenk. „Entweder du legst dich jetzt ins Bett oder ich lass dich im Garten schlafen, Sirius.“
„Okay, okay, tut mir leid. Ich bin nur –“, versuchte er sich zu erklären, brach aber ab. Wie sollte er sowas denn James erklären, dessen Bild einer Familie und von liebenden Eltern so gänzlich anders war als das von Sirius? Es wäre wohl besser, wenn er gar nichts sagen würde.
James setzte seine Brille wieder ab, als er sich neben Sirius unter die Decke gedrückt hatte, dann faltete er die Hände auf der Bettdecke und seufzte ein weiteres Mal. „Willst du darüber reden?“, fragte er leise.
„Worüber?“
„Lass das“, brummte James. „Du weißt, was ich meine.“
Sirius schwieg und lauschte dem langsamen Atem von James neben ihm, der nah genug war, damit er die Wärme seines Körpers spüren konnte, aber nicht nah genug, damit sie sich berühren würden. Sirius lauschte dem Wind, der draußen in den Blättern rauschte und dem Ticken der Uhr und dem rauschenden Geräusch, in seinen eigenen Ohren, bevor er schließlich den Mund öffnete: „Mum war stinksauer, als dein erster Brief kam. Sie wollte nicht, dass ich weiterhin Kontakt mit dir habe. Auch mit Peter und Remus nicht, nicht mal mit McKinnon. Sie hat jeden Brief sofort konfisziert und wahrscheinlich verbrannt. Ich hab nicht einen davon lesen können.“
„Dreck“, murmelte James schläfrig. „Wie kommts, dass deine Mum dich dann trotzdem hat herkommen lassen?“
„Ich hab ihr gesagt, es würde viel zu viel Aufmerksamkeit auf sie ziehen, wenn sie den Brief deiner Mum ignoriert hätte und mich die letzten zwei Wochen auch noch eingesperrt hätte. Sie wusste ja jetzt, dass deine Eltern Bescheid wussten und wollte wohl ein besseres, öffentliches Bild wahren. Oder sie hatte die Schnauze voll von mir, keine Ahnung.“ Er lächelte in die Dunkelheit. „Deine Eltern sind echt cool.“
„Ich weiß“, lachte James leise. „Mum war total in Sorge, als ich ihr gesagt habe, dass du nicht geantwortet hat. Ich wette, sie wäre liebend gern selbst hingefloht und hätte deiner Mutter ein paar gewählte Worte verpasst. Dad war auch echt sauer.“
Hitze kroch in Sirius‘ Wangen. „Warum?“, fragte er leise.
„Warum was?“
„Warum waren sie in Sorge? Sie kennen mich doch gar nicht.“
„Müssen sie nicht“, erwiderte James und Sirius konnte spüren, wie er mit den Schultern zuckte. „Ich hab ihnen genug erzählt, außerdem hat Mum ja gesehen, wie du nur von deinem Hauselfen abgeholt wurdest. Dazu kennt sie deine Mum irgendwie, glaub ich. Zumindest hat sie mir erzählt, ich solle mich von allen Blacks fernhalten.“ Er lachte. „Sie war dann doch froh, dass ich mir dich angelacht habe.“
„Ich kann’s ihr nicht mal verübeln“, brummte Sirius. „Meine Mutter hat mir auch gesagt, ich soll mich von den Potters fernhalten, aber aus anderen Gründen.“
„Weil wir Blutsverräter sind.“
„Sie hat es nicht ganz so nett gesagt.“
„Glaub kaum, dass deine Mum nette Wörter kennt“, erwiderte James.
„Wahrscheinlich nicht“, überlegte Sirius. „Obwohl sie den Hauselfen manchmal ganz gut behandelt.“
Es wurde still zwischen den beiden Jungs. Der langsame Atem von James wurde nach und nach immer gleichmäßiger und ruhiger. Sirius hatte die Augen immer noch nicht geschlossen, sondern starrte an die Decke von James‘ Zimmer. Es fühlte sich sehr unwirklich für ihn, dass er tatsächlich hier war, dass er tatsächlich so offen und liebevoll von den Potters empfangen wurde. Wen kümmerte es denn schon, dass die Potters keine Reinblutfanatisten waren? Sie waren gute Menschen, dachte Sirius. Viel zu gut, als dass er sich in ihre Mitte drängen sollte.
Sirius hätte beinahe aufgeschrien, als eine warme Hand an sein Gesicht schlug. „Aua, Potter, was soll das.“
„Ich kann hören, wie du dir deinen kleinen Kopf zerbrichst“, murmelte James halb schlaf, halb wach.
„Kannst du überhaupt nicht“, erwiderte Sirius mit heißen Wangen.
„Kann ich wohl. Und jetzt sag deinem Kopf, er soll die Klappe halten, damit wir schlafen können. Ich muss dich morgen vom Besen werfen und dafür will ich, dass du eine ebenbürtiger Gegner bist.“
Sirius lachte leise und entspannte seine Schultern gleichzeitig. Er nahm einen tiefen Atemzug, drückte James‘ Hand von seinem Gesicht und sagte dann, so leise, dass es fast wie das Wispern des Windes im Laub war: „Danke, James.“
Aber James war eingeschlafen.
***
Klackernd, wie die Zeiger der alten Uhr im Flur, hallten Walburgas Schritte im Büro ihres Mannes wider. Seit Stunden schien sie nun bereits auf und ab zu gehen, hatte sicherlich bald eine Spur in das dunkle Parkett gelaufen. Ihre Hacken schmerzten und ein unangenehmes Drücken breitete sich von ihren Fußsohlen aus, aber sie hielt nicht an. Aus der Ecke des Zimmer kam ein leises Wimmern.
„Die Herrin sieht verärgert aus“, sagte Kreacher mit leiser Stimme. „Kann Kreacher etwas tun, damit die Herrin sich besser fühlt?“ Der Hauself kauerte mit seinen Ohren über dem Gesicht an die Wand gedrückt, ein tiefer Schnitt auf seinem Brustkorb, der das schmutzige Tuch mit Blut getränkt hatte, dass er am Körper trug.
In einem Anflug an Wut hatte Walburga den Zauberstab gegen ihren Hauselfen erhoben und einen Schnittzauber gewirkt, der sonst für ihren nichtsnutzigen Sohn reserviert war. Sie hatte kaum mitbekommen, wie Kreacher vor Schmerzen geschrien hatte. „Sei ruhig“, keifte sie. „Sei einfach ruhig, Kreacher!“
„Verzeihung, Herrin“, brummte der Hauself. Selbst sein Atem wurde leiser und alsbald ertönten nur noch Walburgas Schritte im Raum.
Sie hätte nie klein beigeben sollen, das wusste sie. Sie hätte nicht zulassen sollen, dass Sirius sich mit diesem schrecklichen Potter-Jungen anfreundet. Die Briefe, die er und die anderen Blagen geschickt hatten, hatte sie alle gelesen und dann verbrannt. Sie hatte nicht fassen können, dass ihr eigener Sohn, ihr eigen Fleisch und Blut sie und Orion so hintergehen würde. Blutsverräter und Halbbrüter, Schlammblut-Pack und Muggelliebhaber waren Sirius‘ Umgang in Hogwarts! Und er tat nichts dagegen, um sich und seinen reinen Namen in Ehren zu halten! Walburga war noch nie in ihrem Leben so enttäuscht gewesen, als in dem Moment, als sie Narzissas ersten Brief erhalten hatte. Der Erbe der Black, ein Gryffindor – es hatte sich angefühlt, als hätte man ihr die gesamte Luft aus dem Körper gepresst.
Und dann hatte diese schreckliche, verräterische Potter-Frau auch noch die Dreistigkeit, ihr direkt zu schreiben! Walburga schnaubte und blutrote Funken stoben aus der Spitze ihres Zauberstabes, den sie mit den langen, dünnen Fingern umklammert hielt. Eine Blutsverräterin hatte sie angesprochen, sie! Walburga Black sprach man nicht einfach an und erwartete dann auch noch etwas im Gegenzug. Wie hatte diese Frau es nur wagen können, sie zu bitten – aber sie hatte nachgegeben, nicht wahr? Sie hatte zugestimmt und Sirius gehen lassen. Sirius hatte noch nie so glücklich gewirkt, wie in diesem Moment.
All die Jahre an Erziehung schienen hinfällig zu sein. Was hatte sie nur falsch gemacht? Manchmal fragte sie sich, ob sie nicht zu weit ging. Ob die Flüche und Verwünschungen und Bestrafungen nicht zu viel waren – aber sie hatte nicht den Luxus, lange in ihren Gedanken zu weilen. Sie und Orion wussten, dass es das Beste für Sirius und die Familie war, wenn sie hart mit ihm waren. Er musste bestraft werden, wenn er sich daneben benahm, er musste verflucht werden, wenn er seinen ehrwürdigen Namen in den Schmutz zog. Sie war so aufgezogen worden, Orion war so aufgezogen worden, ihre Eltern waren so aufgezogen worden – es lag in der Natur eines Blacks, dass er eine gute Erziehung erhielt. Walburga hatte keine Zeit, ihre Söhne fürsorglich zu behandeln. Wenn sie nicht dem perfekten Ebenbild eines Black-Erben entsprachen, dann würde man nicht nur Sirius und Regulus bestrafen, dann wären sie und Orion ebenfalls an der Reihe.
Sie konnte es sich nicht erlauben, zum Gespött der anderen Familienoberhäupter zu werden. Eine immense Last lag auf ihren Schultern. Sie war die mächtigste Frau der Heiligen Achtundzwanzig, von ihr wurde erwartet, dass sie perfekte Kinder hatte und Traditionen weiterführen würde. Wie würde man nur von ihr denken, wenn sich herausstellen würde, dass sie in der einfachsten Tätigkeit überhaupt versagt und keinen richtigen Erben erzogen hätte? Sirius schwankte oft genug auf der Grenze, dass selbst erbärmliche Stiefellecker wie die Fawleys und Averys sich erlaubten, an Walburgas Erziehungsmethoden zu zweifeln! Hatte sich Daralis Fawley nicht beim letzten Zusammenkommen der Achtundzwanzig herausgenommen zu sagen, sie würde glauben, die Blacks gingen ihrem Ende entgegen? Was bildete sich diese Frau eigentlich ein? Es war lediglich der Öffentlichkeit der Veranstaltung zu danken, dass Walburga Daralis nicht an Ort und Stelle in einen hässliche Maus verwandelt hatte.
Frustriert wirbelte Walburga herum und zündete die dunklen Vorhänge an. Lichterloh brannten sie, bis nichts weiter als Asche auf dem schwarzen Parkett über war. Der Gestank von Feuer und verbranntem Stoff drang an ihre Nase und Walburga keifte: „Kreacher! Bring das in Ordnung und bereite dann den Tee zu!“
„Jawohl, Herrin“, wimmerte der Hauself ängstlich, schnippte mit den grauen Fingern, sodass die Vorhänger wieder wie neu erschienen und apparierte dann aus dem Raum.
Sie war zu hart zu dem Elfen. Er konnte nichts dafür, dass Sirius so ein Dorn in ihrem Auge war. Sie würde es wieder gut machen, nahm sie sich vor. Ihr Blick fiel wieder auf Euphemia Potters Brief, der wie ein widerwärtiges Mahnmal auf dem Tisch lag. Sie krallte sich das Pergament und warf es in den erloschenen Kamin. Diese Frau! Sie hatte es gewagt und Walburga in eine Ecke gedrängt!
Es war ihr nichts anderes übrig geblieben, als Sirius gehen zu lassen. Wenn sie ihn weiterhin bei sich behalten und die Briefe des Potter-Jungen und der anderen Blagen verbrannt hätte, dann wäre bald kein gutes Wort über sie in die Öffentlichkeit gelangt. So sehr sie Euphemia Potter auch verabscheute – Walburga hatte sich geschlagen gegeben. Sie konnte es akzeptieren, wenn ihr Gegner einen geschickten Zug gespielt hatte und Euphemia hatte sie fair geschlagen. Sollte Sirius doch zwei Wochen bei den Blutsverrätern verbringen und denken, er könnte sich seiner Pflichten entziehen. Er würde sehen, was er davon hätte.
Glücklich, erleichtert – so musste sich Sirius sicher gefühlt haben, als Walburga ihm gesagt hatte, die Potters hätten ihn eingeladen. Glücklich und erleichtert – Walburga war sich sicher, dass sie ihren Sohn nie so gesehen hatte, wenn es um ihre Familie ging. Immer nur stierte er sie herausfordernd an, hatte ein freches Wort auf der Zunge, strapazierte die Regeln, bis sie unter seinen Füßen brachen und Walburga ihn bestrafen musste. Auch sie war es leid, ständig den Stab erheben zu müssen. Es wäre ihr doch auch lieber, wenn Sirius sich seinen Pflichten als Erbe beugen und tun würde, was von ihm verlangt wurde. Walburga und Orion waren keine Unmenschen, sie verlangten nicht die Unmöglichkeit von ihrem Sohn, aber Sirius hatte es sich in den Kopf gesetzt, dass sie schreckliche Eltern waren, die nur das schlechteste für seine Zukunft wollten.
Ihre Schritte wurden langsam und nach endlosen Stunden hielt Walburga endlich an. „Kreacher“, sagte sie laut.
Der Hauself erschien einen Moment später mit einem rauchlosen Knallen im Zimmer. „Herrin hat gerufen?“
„Bring Regulus her“, befahl sie mit kühler Stimme. „Bring mir Regulus und dann bereitest du weiter den Tee zu, verstanden?“
Kreacher verbeugte sich. Seine Nase streifte das schwarze Parkett. Getrocknetes Blut klebte ihm im Gesicht. „Jawohl, Herrin. Wie Ihr wünscht, Herrin.“
Bevor der Elf disapparieren konnte, sagte Walburga noch: „Und säubere dich, Kreacher. Heil deine Wunde. Nimm“, sie räusperte sich kurz, „nimm etwas zu Essen zu dir.“
„Die Herrin ist zu gütig“, heulte der alte Hauself, verbeugte sich ein weiteres Mal und verschwand schließlich.
Walburga ließ sich langsam auf Orions Stuhl nieder, bevor sie sich die Augen rieb. Sie war müde, so unendlich müde von all den Streitereien und Wutausbrüchen, die im Grimmauldplatz Nummer 12 immer wieder herrschten. Aber Sirius war jetzt nicht da und verpestete die Luft nicht. Sirius war fort, bei Blutsverrätern und war glücklich, glücklich, wie er es in seinem Zuhause nie gewesen war. Walburga seufzte. Sie würde töten, wenn ihr Sohn doch nur so glücklich sein könnte, wenn er ihr gegenüber stand.
Es klopfte an der Tür. „Mutter, ich bin es“, ertönte Regulus‘ Stimme gedämpft hinter dem Holz.
Walburga Black sah auf und erhaschte einen Blick auf ihre Reflektion in einem kleinen Spiegel im Regal. Tiefe Falten hatten sich in ihre Stirn gegraben und dunkle Schatten lagen unter ihren Augen. Sie hatte nie Mutter sein wollen, aber vielleicht, dachte sie, vielleicht würde zumindest ein Sohn glücklich sein, wenn er sie sehen würde. Vielleicht würde sie die Bestätigung in Regulus finden, dass ihre Erziehung nicht versagt hatte. Vielleicht würde Regulus ihr beweisen, dass ihre Strenge und ihre Härte nicht vergebens waren. „Komm herein“, rief sie und als hätte sie einen Zauber gewirkt, fiel jede Müdigkeit von ihr. Die eisige Maske der Blacks legte sich wie eine zweite Haut auf ihr Gesicht.
Sie würde nicht noch einmal gegen Euphemia Potter verlieren.
Chapter 12: 12. Jahr 2: Die Kluft der Brüder
Chapter Text
Zum wiederholten Male richtete Atlanta Pettigrew die hübsche, glänzende Brosche am Umhang ihrer Tochter. „Schulsprecherin“, sagte sie seufzend. „Ich bin ja so stolz auf dich, Phyllis.“
„Das sagtest du bereits, Mum“, erwiderte die rotwangige Phyllis. „Ungefähr eintausend Mal.“
„Na, es ist doch wahr! Kann eine Mutter sich denn nicht darüber freuen, dass ihrer Tochter so eine Ehre zuteilwird? Es wird mir wohl nur einmal passieren, dass mein Kind das Schulsprecherabzeichen erhält!“
„Petey ist auch noch da“, sagte Phyllis verteidigend und griff nach der Schulter ihres Bruders. „Nicht wahr, Peter? Mit deinen guten Noten würde es mich nicht überraschen, wenn du auch Vertrauensschüler werden würdest.“
Peter brummte zur Antwort.
Atlanta Pettigrew wischte einige Fussel von seiner Schulter. „Natürlich bin ich auch sehr stolz auf dich, Peter, Schatz“, sagte sie fahrig. „Schulsprecherin wird man aber nur, wenn man Top-Noten hat und eine Autoritätsperson ist! Phyllis, Schatz, ich wusste immer, dass aus dir etwas werden würde. Du kommst ganz nach deiner Mutter!“
Phyllis warf ihrem Bruder einen entschuldigenden Blick zu, doch dieser zuckte nur kaum merklich mit den Schultern. Es war ihm kein Neuland, dass seine Mutter ihn behandelte, als wäre er ein Nebendarsteller in der Hauptaufführung seiner Schwester. Natürlich war er stolz auf Phyllis und freute sich für sie, aber es hatte ihm auch einen Stich verpasst, als seine Mutter ausdrücklich nur über sie gesprochen hatte, wann immer sie in New York jemanden getroffen hatten. Am Ende der zwei Wochen war Peter sich sicher, dass kaum einer seiner Verwandten seinen Namen kannte, aber alle sehr wohl über jedes Erfolgserlebnis in Phyllis‘ Leben Bescheid wussten. Er redete sich ein, dass es ihm nicht wichtig war, aber es war trotzdem nicht schön. Peter konnte es kaum abwarten, wenn er endlich den Zug besteigen und den harschen Worten seiner Mutter für ein paar Monate entkommen würde.
„Ich muss jetzt wirklich los, Mum“, sagte Phyllis. Beinahe schon ungeduldig rückte sie ihre silberne Brille zurecht. „Ich muss mich mit dem anderen Schulsprecher treffen und – naja, Dinge tun, die ein Schulsprecher so tut.“ Sie ließ zu, dass ihre Mutter sie zum Abschied noch einmal drückte, dann legte sie Peter eine Hand auf die Schulter. „Wir sehen uns später, ok?“
„Alles klar.“
Atlanta und Peter beobachteten, wie Phyllis in der Menge der Schüler und Eltern unterging, dann wandte die Mutter sich an den Sohn. „Dieses Jahr würde ich gerne keinen Brief deiner Hauslehrerin bekommen, Peter. Ich will nicht schon wieder lesen müssen, dass du und deine Rabaukenbande etwas angestellt haben. Einen schlechten Umgang haben die auf dich, so ist das nämlich. Bevor du die kanntest, hättest du nie sowas angestellt!“
Peter tat sein Bestes, um seine Mutter zu ignorieren, während sie über all die schlimmen Dinge sprach, die er mit seinen Freunden anstellen würde – wo er gerade daran dachte. Aus der Menge schälte sich ein ihm allzu bekanntes Gesicht in Begleitung einer zierlichen, hellbraunen Frau, die mit aufgeregten Augen den Hogwarts-Express betrachtete. „Remus!“, rief Peter begeistert aus und unterbrach dabei die Tirade seiner Mutter. „Hier drüben!“
Remus Lupin war über den Sommer gewachsen. Er war gut einen halben Kopf größer, sein Gesicht war ein wenig schmaler geworden und seine Haut sah etwas gebräunter als zuvor aus, als hätte er einen Großteil des Sommers unter der sengenden Sonne verbracht. Er brach in ein Grinsen aus und in Begleitung seiner Mutter eilte er zu Peter und Mrs. Pettigrew.
„Pete, es ist so gut, dich zu sehen!“, sagte der Junge freudestrahlend. „Danke noch mal für deine Karte aus New York!“
„Kein Problem“, grinste Peter. „Mum, du erinnerst dich bestimmt an Remus und seine Mutter?“
„Aber ja“, sagte Atlanta und nickte Hope Lupin zu. „Sie sind die Frau von Lyall Lupin wenn ich mich nicht täusche.“
„Ganz genau“, erwiderte Hope glücklich. „Mein Mann ist nur leider so beschäftigt mit seiner Arbeit, deswegen hat er es wieder nicht geschafft, meinen kleinen Remus zum Zug zu begleiten. Aber ganz unter uns, ich beschwere mich nicht! Ich liebe es jedes Mal, wenn ich hier auf Gleis 9 ¾ sein darf! Alles ist so magisch.“ Hope kicherte wie ein kleines Schulmädchen und bekam dann dunkelrote Wangen.
„Selbstverständlich.“ Mrs. Pettigrew drehte sich zu Peter und der Blick in ihren Augen sagte alles aus, was er wissen musste. „Hab ein angenehmes Jahr, mein Liebling. Stell keinen Unfug an und konzentriere dich auf deine Schulaufgaben, ja? Ich will nicht –“
„Wieder einen Brief von McGonagall bekommen, ich weiß, ich weiß“, unterbrach Peter sie ungeduldig. Er umarmte seine Mutter kurz, dann wandte er sich an Remus. „Hast du James oder Sirius schon gesehen?“
„Noch nicht.“ Remus schüttelte den Kopf. „Aber sie kommen bestimmt jeden Moment.“
Peter und Atlanta gaben Remus und Hope ein wenig Abstand, damit diese sich sehr liebevoll und ausreichend verabschieden konnten. Als Peter und Remus schließlich an einer der Türen des Hogwarts-Expresses standen, hätten die Mienen ihrer Mütter nicht unterschiedlicher sein können. Mrs. Pettigrew hatte einen beinahe stoischen in den Augen, das Kinn gereckt und eine straffe Haltung, während Mrs. Lupin so aussah, als würde sie jeden Moment in Tränen ausbrechen. „Du musst ganz oft schreiben, Remus“, sagte sie. „Sonst bin ich doch so einsam ohne dich!“
„Keine Sorge, Mum“, murmelte Remus offensichtlich peinlich berührt. „Ich schick dir tonnenweise Eulen vorbei.“
„Ja, äh – ich schreib auch“, sagte Peter, woraufhin seine Mutter nickte.
„Darüber wäre ich sehr dankbar“, erwiderte Atlanta. „Und jetzt rein mit euch, sonst fährt der Zug noch ohne euch. Und erinnre dich daran, Peter, keinen Unfug anstellen!“
„Ja, ja.“ Peter brummte, dann wandte er sich in den Zug. „Unglaublich die Frau“, sagte er leise an Remus gewandt, als dieser die Tür hinter sich zugeschlagen hatte. „Meine Schwester ist ein perfekter kleiner Engel und mir sagt sie ständig, ich soll doch nicht ständig nur Unsinn anstellen. Ein Brief von McGonagall wegen der Sache an Halloween und schon denkt sie, ich würde einer Gang beitreten und mich tätowieren lassen.“
„Würdest du etwa nicht?“, fragte Remus geschockt. „Und ich dachte, ich bestell uns allen Lederjacken und kauf eine Harley.“
Peter lachte lauthals auf. „Bin ich froh, dass die Schule wieder losgeht. New York war großartig, aber es ist kein Vergleich zu Hogwarts. Schon gar nicht, wenn keiner meiner Freunde in New York ist.“
Grinsend fragte Remus: „Hat uns da etwa jemand vermisst, Petey? Hattest du ganz schlimme Heimweh nach deinen Freunden?“
„Oh, Klappe, Lupin, als ob du nicht liebend gern wieder in Hogwarts mit Lily Evans für fünf Stunden in der Bibliothek hängen würdest, um die Hausaufgaben der nächsten vier Jahre durchzuarbeiten.“
„Touché“, lachte Remus. „Na schön, lass uns die anderen beiden finden. Die werden sicher irgendwo rumlungern. Hat James dir auch geschrieben, dass Sirius die letzten zwei Wochen bei ihm verbracht hat?“
Peter nickte. „Ja, Merlin sei Dank, sonst hätte er sich noch weiter bei mir ausgeheult. So oft, wie er über Sirius redet, könnte man fast meinen, die beiden geben bald ihre Verlobung bekannt.“
„Ich kann es schon fast sehen. Mr. und Mr. Potter-Black. Sie würden jede freie Minute damit verbringen, Schniefelus fertig zu machen. James konnte kaum einen klaren Gedanken fassen, wann immer er mir von irgendwelchen Plänen erzählen wollte, die er und Sirius sich gemacht haben.“
Kopfschüttelnd ging Peter weiter den Gang entlang. Er wischte sich ein paar der blonden Strähnen aus dem Gesicht. „Da weiß man kaum, wer einem eher leidtun soll. Wir oder James‘ Eltern.“
„Oh, definitiv wir. Wir müssen das Zimmer mit ihnen teilen“, erwiderte Remus trocken.
„Remus? Peter? Ha, wusste ich doch, dass ihr das seid!“ Eine Mädchenstimme war aus einem Abteil hinter ihnen gekommen und als Peter sich umdrehte, erkannte er sofort die weiten, dunklen Afrolocken von Dorcas Meadows, die die beiden mit einem zähneblitzenden Lächeln entgegenkam. „Wie ungewöhnlich euch beide ohne Potter und Black zu sehen.“
„Wer weiß, wo die beiden sind“, sagte Remus lächelnd. „Hattest du einen schönen Sommer, Dorcas?“
„Oh, ganz ausgezeichnet, Danke! Meine Eltern haben mich mit in meine Heimat genommen, nach Marokko, ihr wisst schon, und dort lebten so viele von meinen Verwandten! Ich glaube, ich konnte mir gerade mal die Hälfte aller Namen merken.“ Sie lachte. „Aber was ist mit euch? Wollt ihr euch zu uns setzen? Em und Benjy sind auch da und Marlene wollte später noch vorbeikommen.“
Peter und Remus tauschten einen Blick, Peter zuckte mit den Schultern und sagte dann: „Warum nicht. James und Sirius werden schon nicht den Zug in die Luft jagen, wenn wir nicht da sind.“
„So sicher wäre ich mir da nicht“, murmelte Remus, folgte Peter aber in das Abteil.
Dorcas ließ sich neben ihrer Kindheitsfreundin Emmeline Vance nieder, die über die Ferien ebenfalls sehr gewachsen war. Die dünnen, braunen Haare trug sie jetzt in einer ziemlich frechen Kurzhaarfrisur und Peter musste unwillkürlich an das Bild einer Punkerin denken, die er in New York gesehen hatte. Dunkles Make-Up glänzte ebenfalls unter Emmelines Augen und sie hatte roten Lippenstift aufgetreten. „Hallo Peter“, sagte sie. „Remus, wie geht’s euch?“
„Hi, Em“, erwiderte Peter und setzte sich gemeinsam mit Remus auf die Bank, auf der auch Benjy Fenwick saß. Benjy schien in den Ferien, im Gegensatz zu allen anderen, kein Stück gewachsen zu sein. Er war immer noch der gleiche, schmächtige Junge mit den braunen Haaren und seiner drahtigen Brille, allerdings hatte er seine Haare so weit rauswachsen lassen, dass man jetzt den Ansatz von dicken Locken erkennen konnte. „Benjy, wie war der Rest eurer Ferien?“
Die neuzusammengefundene Gruppe tauschte sich über Ferienerlebnisse aus, Benjy teilte die Süßigkeiten mit ihnen, die er mit seinen Freunden von den älteren Jungs geklaut hatte („Die haben’s verdient“, meinte er, als Remus ihn etwas skeptisch betrachtete. „Sie behandeln uns Jüngere immer so, als wären wir ihre Sklaven und müssten alles für sie tun. Außerdem ist es nicht so, als ob sie es vermissen würden, die sind eh ständig nur damit beschäftigt, heimlich im Park zu rauchen und mit den Mädchen aus der anderen Stadthälfte zu fummeln.“), Emmeline erzählte wohl zum erneuten Mal, wie sie mit ihrem Vater drei Wochen lang in Spanien war, um sich dort die Sonne und den Strand gefallen zu lassen. Peter fühlte sich direkt viel besser, als er von seinen Tagen in New York erzählen konnte und die anderen praktisch an seinen Lippen hingen. Es war schön, wenn er zur Abwechslung mal derjenige war, dem man zuhörte.
Während Dorcas gerade auf und ab erzählte, was sie alles in Marokko gesehen und getan hatte und was für spannende, magische Geschichten ihre Familien hatten, fuhr die ältere Hexe mit dem Snackwagen vorbei. Alle deckten sich mit Essbarem und Kürbissaft für die Fahrt ein, alle bis auf Benjy, der mit der Hand vor dem Mund aus dem Fenster starrte, während die anderen das klimpernder Gold aus ihren Hosentaschen fischten. „Hast du Hunger, Benjy?“, fragte Peter, als er sich wieder hinsetzte.
„Hm? Oh, nein, ich – ich hab genug, wirklich.“
Aber der beinahe sehnsüchtige Blick Benjys, den er den vielen Köstlichkeiten auf dem Wagen zuwarf, war kaum zu übersehen. Peter erhob sich wieder, kaufte noch zwei Kürbispasteten, einen Kesselkuchen und ein paar Eismäuse, die er Benjy dann in den Schoß drückte. „Hier. Keiner soll mir auf der Fahrt verhungern.“
Benjy wurde knallrot im Gesicht. Stotternd wollte er Peter das Gekaufte wieder entgegenschieben, aber Peter verschränkte lediglich die Arme. „Du musst nicht – ich hätte es ausgehalten – ich meine, ich hab doch was mit – du hättest nicht –“
„Hol mal ganz tief Luft“, meinte Emmeline mit beruhigender Stimme. „Du verschluckst dich ja gleich an deiner eigenen Zunge, Benjy.“
„Außerdem war das wirklich sehr nett von dir, Peter“, bemerkte Dorcas, die nun etwas unbeholfen auf ihr eigenes Zeug schaute, dass sie sich geholt hatte. „Tut mir leid, Benjy, ich hätte dich fragen sollen!“
„Nicht doch“, murmelte der schmächtige Junge beschämt. „Das ist wirklich nicht nötig.“
„Wenn du es nicht isst, dann schmeiß ich es aus dem Fenster“, drohte Peter. „Außerdem hab ich das gerne gemacht. Wir sind doch Freunde, oder nicht?“
„Natürlich, aber – okay.“ Benjy biss sich fest auf die Lippen, sodass die Haut drumherum weiß wurde. „Danke, Peter.“
Peter lächelte, bevor er einem Schokofrosch den Kopf abbiss. „Gar keine Ursache.“
Auch wenn Peter Benjy nie darauf angesprochen hatte, hatte er es doch aus den kleinen Dingen selbst herausgefunden – der zu große, schon etwas ergraute Umhang, die schmächtige Statur, die Beule im Bügel seiner Brille, dass er nie von seinen Eltern oder seinem Zuhause redete, dass er in seinem Brief nur von zwei anderen Kindern gesprochen hatte, mit denen er Süßkram klaute – Benjy war augenscheinlich in keiner Lage, in der er es sich leisten könnte, einen Snack für zwischendurch zu kaufen, selbst wenn sein Magen vor Hunger grölen würde. Peter auf der anderen Seite konnte es sich sehr wohl leisten – seine Mutter, so sauer sie ihn manchmal machte, gab ihm ein sehr großzügiges Taschengeld und die meiste Zeit gab er es eh nicht aus, sondern sparte einen Großteil davon an. Wenn er Benjy damit eine kleine Freude machen konnte, wenn er ihm eine Zwischenmahlzeit kaufte, dann wäre das gut genug für ihn. Außerdem fühlte sich Peter ein wenig schuldig, weil er Benjy kein Souvenir aus New York mitgebracht hatte.
Die Stimmung im Abteil nahm wieder an Fahrt auf, nachdem alle gegessen und die restlichen Süßigkeiten in einen großen Haufen in die Mitte der Sitzreihe gelegt hatten, damit jeder sich bedienen konnte. Benjy war in eine Geschichte über ein wohl sehr spannendes Muggelsportspiel vertieft, dass er mit seinen Freunden angeschaut hatte, als die Abteiltür aufgerissen wurde.
„Merlins linke Sockenschublade, da seid ihr“, keuchte James Potter außer Atem. „Wir suchen den ganzen Zug nach euch ab und keiner hat euch gesehen, was glaubt ihr, was ich mir für Sorgen mache?“
„Oh, guten Tag, James“, sagte Dorcas lautstark. „Meine Ferien? Die waren sehr schön, danke der Nachfrage. Wie waren deine? Auch gut? Freut mich!“ Sie verdrehte die Augen.
„Ja, ja, hi“, brummte James abwesend und wischte mit der Hand durch die Luft. „Können wir euch jetzt wiederhaben? Sirius und ich haben große Pläne und dafür hätten wir gerne die ganze Gang zusammen.“
„Ach, sind wir jetzt doch eine Gang?“, fragte Peter.
„Ich wusste, ich hätte die Lederjacken bestellen sollen“, seufzte Remus beinahe theatralisch, bevor er und Peter über den Witz lachten.
James starrte sie mit offenem Mund an. „Was?“
„Nicht so wichtig. Sehen wir uns dann später?“, fragte Peter an die anderen gerichtet.
„Wenn Potter euch wieder gehen lässt, sicher“, antwortete Emmeline, die in einer Zeitschrift blätterte, die verdächtig nach der Hexenwoche aussah.
„Entschuldige mal, sie sind zufällig meine Freunde“, fing James defensiv klingend an, aber Remus schlug ihm eine Hand auf die Schulter.
„Schon gut, James, wir kommen. Brich nicht in Tränen aus, ja?“ Remus schob James aus dem Abteil.
„Bis später.“ Peter folgte den beiden und winkte seinen anderen Freunden noch einmal zu, fing Benjys Blick auf und verdrehte mit einem Grinsen die Augen. „Wir sehen uns bestimmt beim Festessen.“
„Wieso sitzt ihr nicht bei uns?“, verlangte James zu wissen, kaum hatte Peter die Tür zugeschlagen.
„Was soll das denn heißen?“, fragte Peter.
„Naja – wir sind Freunde und ich dachte, wir fahren zusammen zur Schule!“
„Emmeline, Dorcas und Benjy sind auch unsere Freunde, dürfen wir mit ihnen nicht fahren?“
„Natürlich dürft ihr, ich wollte nur –“, James suchte offensichtlich nach einem Grund und als er keinen triftigen fand, sackten seine Schultern zusammen. „Sorry“, fügte er murmelnd hinzu. „Ich wollte euch nicht so wegzerren. Falls ihr lieber –“
„Jetzt zeig uns schon unser Abteil, Potter“, lachte Peter. „Ich nehm dich doch nur auf den Arm.“
James‘ Gesicht hellte sich sofort auf, wodurch er Ähnlichkeit mit einem glücklichen Welpen hatte. Es hätte Peter nicht überrascht, wenn er angefangen hätte, mit seinem Hinterteil zu wackeln. „Alles klar! Tut mir leid, noch mal – nächstes Mal könnt ihr wieder bei den anderen sitzen, wenn ihr wollt.“
„Aber nur, wenn du es auch mental aushalten wirst, James“, erwiderte Remus besorgt klingend. „Wir wollen doch nicht schuld sein, dass du zusammenbrichst.“
„Oh, haha.“ James verdrehte die Augen. „Ich seh schon, ihr nehmt meine Freundschaft überhaupt nicht ernst.“
„Natürlich tun wir das.“
„Genau, wer sonst würde den ganzen Zug nach uns durchsuchen? Wir sind gerührt, James, wirklich.“
„Ihr könnt mich mal.“
„Jetzt geh weiter, Potter.“ Remus lachte, als James ihm die Zunge rausstreckte. „Was für wichtige Pläne haben du und Sirius denn, die ihr unbedingt mit uns besprechen müsst?“
Auf dem Weg zum Abteil, drehte James den Kopf zu Remus und Peter um. Er grinste schief, ein Glanz von Unheil erschien hinter seiner Brille in seinen Augen und er fuhr sich durch die chaotischen Haare, bevor er sagte: „Wir haben Großes vor, Gentleman, Großes. Dieses Jahr wird der Hammer!“
***
In den letzten zwei Wochen hatte Sirius so viel überschüssige Zuneigung und Aufmerksamkeit bekommen, dass er sich nicht sicher war, wie er sich jetzt verhalten sollte. Einerseits war er beinahe schon ekstatisch, wieder nach Hogwarts fahren zu können, andererseits würde er es vermissen, morgens von Mrs. Potter geweckt und begrüßt zu werden, als wäre er nicht nur ein Gast, nicht nur der beste Freund ihres Sohnes – als hätte sie nie etwas anderes getan, als Sirius am Morgen mit einem strahlenden Lächeln zu wecken, dass der Sonne konkurriert hatte. Sirius würde seine Zeit im Potter-Haushalt nicht vergessen, soviel stand fest. Mrs. Potter war so gut zu ihm gewesen und hatte ihn nicht einmal wie einen Black behandelt und… es war einfach erfrischend für ihn gewesen, für ein paar Tage wie ein ganz normaler Junge zu leben, der keinen mächtigen, angsteinflößenden Nachnamen hatte.
Aber jetzt fuhren er und James wieder nach Hogwarts und wenn es etwas gab, dass ihn von seinen Schulgefühlen ablenken konnte, dann die magische Schule. Weder James noch seinen Eltern hatte er richtig sagen können, wie dankbar er eigentlich war und dieses Gefühl der Versäumnis brannte jetzt in seiner Magengegend. Er wollte nicht, dass Euphemia und Fleamont Potter dachten, er hätte ihre Gastfreundschaft und ihre Liebe für selbstverständlich genommen, aber er wusste auch nicht, wie er es ihnen jemals heimzahlen konnte, dass sie ihn zumindest für kurze Zeit den Klauen seiner Mutter entrissen hatten. Das Schicksal hatte es sogar noch etwas besser mit ihm gemeint und er war seiner Mutter am Bahnsteig nicht in die Arme gelaufen – falls sie überhaupt dagewesen war.
Ein wenig schlecht fühlte er sich, weil er Regulus allein zurückgelassen hatte und sein kleiner Bruder geheult und ihn angebettelt hatte, nicht zu gehen. Sirius hatte sich eingeredet, dass es Regulus gut gehen würde, dass seine Mutter noch nie Hand an ihn gelegt hatte und dass Regulus keine Dummheiten anstellen würde, aber jetzt, wo sich ihm die Chance bot, nach seinem Bruder zu suchen und sicherzugehen, dass er die letzten zwei Wochen gut behandelt wurde, konnte er es nicht über sich bringen. Was, wenn Regulus keine gute Zeit gehabt hatte? Wenn er die Hand und den Gürtel und den Keller hatte spüren müssen? Sirius war sich nicht sicher, ob er ihm in die Augen sehen konnte, mit dem Wissen, dass er ihn zurückgelassen hatte und nicht da war, um ihn zu schützen, wie es ein großer Bruder tun sollte.
Es war trotz dessen eine angenehme Fahrt zur Schule. Sobald James mit Peter und Remus im Gepäck wieder kam, konnten die vier Jungs zu ihrer Planschmiederei umgehen, konnten von ihren Sommern berichten und gemeinsam den Berg an Süßigkeiten verdrücken, den James und Sirius von der Trolley-Hexe gekauft hatten. James, der besonders versessen darauf war, dieses Jahr mit einem noch größeren Streich als an Halloween einzuleiten, war tief in seine Gedanken vertieft und bemerkte gar nicht, dass Sirius ihm Bertie Botts Bohnen in allen Geschmacksrichtungen in den Kragen seines T-Shirts warf.
„Wir brauchen etwas Großes“, sagte er zum wiederholten Male. „Etwas, an das man sich erinnert.“
„Und etwas, dass dieses Mal am besten nicht explodiert“, erwiderte Peter. „Ich würde es liebend gern vermeiden, erneut die Große Halle putzen zu müssen.“
„Opfer müssen gebracht werden, Pete“, sagte Sirius und warf eine grüne Bohne auf James, die an seinen Brillengläsern abprallte. „Mann, Potter, beweg dich nicht so viel.“
„Spielst du immer so mit deinem Essen?“, fragte Remus mit hochgezogenen Augenbrauen.
„Ich spiele nicht, ich trainiere. Stell dir nur vor, wie witzig es wäre, wenn ich es schaffen würde, Slughorn eine Eismaus in den Umhang zu werfen. Was meinst du, wer würde lauter quieken?“
Remus kämpfte offensichtlich mit einem Lächeln und schüttelte den Kopf. „Dir steckt es echt im Blut, Unheil anzurichten.“
Sirius grinste. „Danke!“
„Ein Feuerwerk!“, rief James plötzlich aus. „Das wäre doch was? Ein riesiges Feuerwerk in der Großen Halle!“
„Genau“, sagte Peter trocken, „und nebenbei brennen wir die gesamte Schülerschaft ab.“
„Oder vergiften alle mit den Abgasen“, murmelte Remus.
„Dann nicht“, erwiderte James enttäuscht und rieb sich die Brust, gegen die eben eine weitere Bohne geflogen war. „Von euch höre ich aber auch keine Vorschläge. Erst verbrüdert ihr euch mit dem Feind und dann das!“
„Mit dem Feind verbrüdern?“, fragte Peter lachend.
„Ich bereue es immer mehr und mehr, dass wir keine Gang-Lederjacken haben“, seufzte Remus, woraufhin Peter grunzte.
„Ich weiß immer noch nicht, wovon ihr da redet, aber das ist nicht witzig, Leute. Wir sind beste Freunde, wir müssen zusammenhalten, Leute, wir – Sirius!“ James wirbelte zu Sirius herum und funkelte ihn hinter seiner Brille an. Eine Bertie Botts Bohne war soeben in seinen offenen Mund geflogen, während er gesprochen hatte.
„Keine Ahnung, warum du so einen Aufstand machst, Potter. Wir haben das ganze Jahr Zeit, um uns zu überlegen, wie wir die Schule reinlegen sollen – warum fangen wir nicht mit den kleineren Projekten an? Ein paar Dungbomben in den Kerkern, ein paar explodierende Kessel im Zaubertrankunterricht – saubere Unterwäsche für Schniefelus.“ Sirius grinste. „Wahrscheinlich eine traumatische Erfahrung für ihn.“
„Ich habe das Gefühl, du nimmst das hier alles überhaupt nicht ernst, Sirius.“
„Oh ich nehme es sehr ernst. So ernst wie meinen Namen, James. Das kannst du mir glauben. Ich war noch nie ernster.“
James schüttelte den Kopf. „Verraten vom besten Freund“, seufzte er. „Womit habe ich das verdient?“
„Ich kann dir eine Liste geben“, erwiderte Sirius. „Nummer Eins: Du schnarchst.“
„Nummer Zwei: Du lässt überall deine dreckigen Klamotten liegen“, fügte Remus an.
„Nummer Drei: Wenn du beim Essen aufgeregt bist, dann schmatzt du manchmal“, endete Peter.
James fasste sich ans Herz. „Dieser Schmerz“, sagte er leise. „Ich kann es nicht ertragen. So bin ich noch nie hintergangen worden. So fühlt sich der Verrat also an!“
„Oh, beruhige dich, Potter“, lachte Sirius und schlug ihm vom gegenüberliegenden Sitz aus aufs Knie. „Wir werden dieses Jahr schon unvergesslich machen, glaub mir.“
„Genau“, sagte Remus.
„Wir lassen uns einen Streich einfallen, über den die Schule noch Jahre reden wird.“
„Man wird Artikel über uns im Tagesproheten schreiben“, sagte Peter begeistert. „Wir werden Legenden!“
„Helden, würde ich fast schon sagen“, meinte Sirius. „Die Helden Hogwarts‘, die endlich die Plage, die sich Slytherin nennt aus dem Schloss vertrieben hat!“
Die Jungs lachten und selbst James stimmte mit ein. Er grinste seine Freunde breit an, dann fügte er an Sirius gewandt hinzu: „Was ist mit deinem Bruder?“
Als hätte man ihm einen Eisbeutel den Rücken hinuntergeworfen, schüttelte es ihm am ganzen Körper. „Was soll mit ihm sein?“, fragte er versucht lässig, während er spürte, wie jegliche Farbe sein Gesicht verlassen wollte.
„Was ist, wenn er nach Slytherin kommt?“
„Wird er nicht.“
„Aber was wenn?“
„Dann“, fing Sirius an, wusste aber nicht, wie er weiterreden sollte. „Keine Ahnung. Dann muss ich ihn wohl enterben.“
„Sirius.“
„James.“
„Ich meine es ernst. Was machst du, wenn Regulus nicht nach Gryffindor kommt, wie du es dir wünscht?“ James‘ Stimme war ungewöhnlich ernst und er hatte die Augenbrauen kaum merkbar verengt. Eine tiefe Falte grub sich in seine Stirn.
Sirius schluckte schwer. Gedanken wie diese hatten ihn schon den gesamten Sommer geplagt. Regulus war, im Gegensatz zu ihm, ein besserer Sohn. Er war so, wie es sich Walburga gewünscht hatte und obwohl er auch manchmal den Hang dazu hatte, sich in Schwierigkeiten zu bringen, so war er nicht wie Sirius. Die Brüder könnten sich eigentlich nicht unterschiedlicher sein, obwohl sie so gleich aussahen. Sirius wollte daran glauben, dass Regulus in seine Fußstapfen treten und die Familientradition ebenfalls mit ihm brechen würde, aber er wusste, die Chance, dass das auch wirklich eintrat, war mehr als gering. Regulus würde nie etwas tun, um seine Mutter zu enttäuschen. Wenn der Sprechende Hut auf Sirius‘ Wunsch gehört hatte, nicht nach Slytherin zu wollen, würde er dann auch auf Regulus hören?
„Er wird schon ins richtige Haus kommen“, sagte Sirius schließlich leise, auch wenn weder er noch seine Freunde wussten, welches das richtige Haus war. Nach allem, was Sirius wusste, würde Regulus in Slytherin groß herauskommen und genau das machte ihm Angst.
***
Hogwarts hatte sich kein Stück verändert. Das Schloss thronte über dem Schwarzen See auf einem Hügel die höchsten Türme kratzten die niedrighängenden Wolken und aus den eintausend kleinen Fenster strahlte gelbliches Licht, voller Wärme und flackerndem Flammenschein. Die raue, steinerne Fassade sah in der Nacht fast schwarz aus und der Verbotene Wald, der sich sanft im Septemberwind wiegte, strahlte eine ganze eigene, mysteriöse Aura aus. Die Baumspitzen schienen nach ihnen zu rufen.
„Dieses Jahr gehen wir in diesen Wald“, flüsterte Sirius inmitten der Schülerschaft Hogwarts‘, die gemeinsam den Innenhof überquerte, um zur Großen Halle zu gelangen. „Ich weiß es einfach.“
„Im Wald ist es aber ziemlich gefährlich“, erwiderte Peter zweifelhaft klingend. „Ich hab“, er schluckte kurz, „ich hab gehört, da soll es Werwölfe geben!“
„Was!?“ Remus war stehen geblieben und blickte Peter mit blassem, panischem Gesichtsausdruck an. Der Junge fing schwer und schnell an zu atmen. „Das – das kann doch gar nicht stimmen, o-oder?“
James schnalzte ungeduldig mit der Zunge. „Nein, das ist nur ein dummes Gerücht“, sagte er beruhigend. „Keine Sorge, Remus, im Wald leben keine Werwölfe, die sich nachts in unseren Gemeinschaftsraum schleichen, um deine Schokolade zu klauen.“
Sie alle wussten, es sollte ein dummer Witz sein, um die Stimmung zu lockern, aber in Remus löste es das genaue Gegenteil aus. Sein panischer Atem wurde nur noch schneller und der Rest Farbe verabschiedete sich aus seinem Gesicht. Er sah so aus, als würde er jeden Moment ohnmächtig werden. Sirius stellte sich rasch neben ihn und legte ihm einen Arm um die Schulter. „Das war nur ein Witz, Remus. Ein Witz und ein dummes Gerücht. Werwölfe gibt es nicht in Hogwarts.“ Er warf Peter über Remus‘ Kopf hinweg einen giftigen Blick zu, dann geleitete er den Jungen vorsichtig weiter nach vorne. „Komm schon, meinst du nicht, Dumbledore hätte uns davor gewarnt? Außerdem sind Werwölfe ja nur an Vollmond gefährlich und bisher ist noch nie irgendwas passiert. Das haben sich bestimmt ein paar Siebtklässler einfallen lassen, um die dummen Erstklässler zu erschrecken, die sowas auch noch glauben.“ Wieder ein vernichtender Blick in Peters Richtung, der schuldbewusst auf seiner Lippe kaute.
„Okay“, murmelte Remus. „Ich – danke. Tut mir leid.“ Sein farbloses Gesicht nahm im Bruchteil einer Sekunde einen sehr hellen Rotton an. „Das war echt dumm.“
„Schon gut. Kein Grund, sich zu schämen, Remus“, sagte James lächelnd. „Welches Kind wurde denn nicht mit Geschichten über blutrünstige Werwölfe großgezogen? Ich finde die auch echt gruselig.“
Das schien Remus nur mäßig zu beruhigen. Er spannte die Schultern an und wand sich dann aus Sirius‘ Arm. „Danke, geht wieder. Ich – schon gut. Danke.“ Remus presste die Lippen aufeinander und sah stur geradeaus.
Sirius fing James‘ Blick auf, aber andere Junge zuckte lediglich mit den Schultern – keiner von ihnen war sonderlich schlau aus Remus in den letzten Monaten geworden. Es gab Tage, an denen war er ein energiegeladener Junge, der mit Ideen für Streiche zu ihnen kam und seine Hausaufgaben in Windeseile erledigte, dann wiederrum gab es Tage, an denen er es kaum aus dem Bett schaffte und mit blassem Gesicht und tiefen Schatten unter den Augen durch den Tag wankte. Mindestens einmal im Monat wurde Remus krank und musste für ein paar Tage im Krankenflügel bleiben, wo niemand ihn besuchen durfte, oder musste seine Mutter besuchen, die sehr krank zuhause war. Remus Lupin war für niemanden ein offenes Buch. Er war ein Junge voller Geheimnisse und Ausflüchte und Sirius wusste, dass Remus oft genug lügte, wenn es darum ging, wo er war oder was er gemacht hatte.
Und dann waren da die Narben, die seinen gesamten Körper zu bedecken schienen. Die in seinem Gesicht waren am besten zu sehen, drei silbrige Schnitte, die tief von seiner Stirn über seine linke Wange bis hin zum Nacken reichten. Andere Narben lugten manchmal unter seinen Ärmeln hervor oder waren für ein paar Sekunden zu sehen, wenn Remus sich streckte und sein Hosenbein verrutschte. Er hatte ihnen noch nie gesagt, woher diese Narben kamen und es hatte auch noch keiner den ersten Schritt gewagt, zu fragen. Sirius wusste, dass es etwas damit zu tun hatte, dass Remus sehr oft krank wurde, aber er konnte einfach nicht den Finger drauf legen, was es genau war. Sirius schlimmste Vermutung? Remus wurde in seinem Elternhaus noch schlimmer behandelt, als Sirius selbst und deswegen tauchte er manchmal mit neuen Narben auf oder war schreckhaft, wenn man ihn ansprach.
Er wollte nicht glauben, dass das wahr sein könnte. Es war schon schlimm genug, dass Sirius kein Zuhause hatte, auf dass er sich in den Ferien freuen konnte, aber er wollte nicht, dass einer seiner besten Freunde ein ähnliches Schicksal litt. Wurde Remus vielleicht von seinem Vater misshandelt, wann immer er mitten im Schuljahr nach Hause fuhr, um seine Mutter zu besuchen? War sie deshalb so krank? Brachte sein Vater ihn deshalb nie zum Gleis? Remus würde nicht über seine Familie reden, wenn man ihn nicht fragte und wenn das Thema doch aufkam, dann erzählte er kurze Geschichten über seine Mutter und wechselte dann schnell die Frage. Sirius wusste nicht, was er schlimmer an der ganzen Sache fand: Dass er glaubte, sein bester Freund würde von seinem eigenen Vater geschlagen werden, oder dass es vielleicht sogar wahr sein könnte.
Sirius schüttelte den Kopf und damit die unschönen Gedanken davon. Heute Abend wollte er nicht daran denken, was alles falsch lief und was alles falsch sein könnte. Er drückte die Schultern durch und folgte seinen Freunden zum Gryffindortisch. Die Große Halle war gefüllt mit aufgeregtem Geschnatter, grummelnden Mägen und dem Schein von eintausend schwebenden Kerzen. Der Himmel über ihnen war in ein sanftes, nachtblaues Tuch gehüllt. Ein paar Sterne glitzerten zwischen den weiß-blauen Wolken hindurch.
„Ich verhungere“, murmelte Peter ihm gegenüber. „Ich hoffe, die beeilen sich.“
„Du hast grade erst den halben Süßigkeitenwagen leergefuttert, Pete“, sagte James. „Wie kannst du schon wieder Hunger haben?“
„Ich bin ein Junge, der im Wachstum ist, da ist das vollkommen normal“, erwiderte er.
„Na klar“, schnaubte Sirius. „Im Wachstum, wahrscheinlich erzählt dir das Mum, nicht? Du musst ganz viel essen, Peter, damit du groß und stark wirst“, imitierte er eine unausstehliche Frauenstimme.
Peter wurde knallrot im Gesicht und setzte zu einer Erwiderung an, aber wurde von Remus unterbrochen.
„Shh, sie kommen“, sagte der blasse Gryffindor, obwohl die Tore zur Große Halle noch geschlossen waren. Mit aufmerksamem Blick betrachtete er das Holz.
„Aber – oh.“ Kaum hatte James den Mund geöffnet, waren die Türen aufgegangen und Professor McGonagall kam mit den neuen Erstklässlern hereingelaufen.
Die strenge Hexe trug einen edel aussehenden, smaragdgründen Umhang und blieb vor dem Lehrertisch stehen, wo sie den kleinen Erstklässlern bedeutete, ebenfalls zu warten. Neben ihr eilte Professor Flitwick herbei, der den Sprechenden Hut und den dreibeinigen Hocker dabeihatte, auf dem Sirius erst ein Jahr zuvor selbst gesessen hatte. Professor McGonagall erklärte den neuen Schülern gerade, wie die Einteilung ablaufen würde, aber Sirius hörte ihr nicht zu. Seine Augen hatten endlich den schwarzhaarigen Hinterkopf seines Bruders ausgemacht.
Regulus hatte ihn nicht gesehen und schien sein intensives Starren auch nicht zu bemerken, jedenfalls drehte sich der jüngere der beiden Black-Brüder nicht um, um Sirius anzusehen.
„Beruhig dich mal, Kumpel“, murmelte James neben ihm und deutete mit einem Kopfnicken auf Sirius‘ Bein, dass er die ganze Zeit unbewusst auf und ab bewegt und dabei wohl James gestreift hatte. „Wird schon gut gehen, hm?“
„Schätze schon“, erwiderte Sirius. Er zwang sich zu einem tiefen, beruhigenden Atemzug, bevor er den Rücken wieder durchdrückte. Ein Black sollte immer mit erhobenem Kopf und einem geraden Rücken sitzen, hatte seine Mutter ihm beigebracht. Es zeugte von Würde, Klasse und Überlegenheit. Wenn seine Mutter eines verstand, dann wenigstens das.
Professor McGonagall las die ersten Namen vor und mit jedem wurde Sirius ein wenig nervöser. Es waren kaum fünf Schüler dran gewesen, da räusperte sich die Hexe und sagte: „Black, Regulus.“
Mit einem ebenso durchgedrückten Rücken wie Sirius, ging Regulus mit strammen, mutigen Schritten auf den Hut zu. Als er sich umdrehte, um den Sprechenden Hut aufzusetzen, war Sirius sich sicher, dass sich ihre Blicke für diesen Bruchteil einer Sekunde getroffen hatten, doch dann wurden Regulus‘ Augen von der Hutkrempe verdeckt.
Sirius presste die Hände in seinem Schoß zusammen und schloss die Augen. Er zählte die Sekunden, die wie langsame Sandkörner in einem Stundenglas davon rieselten. Mit jeder Sekunden, die verging, hörte Sirius das Blut in seinen Ohren immer deutlicher Raschen. Sein eigener Herzschlag pochte wie das Donnern einer Trommel in seinem Körper und er knotete und wand seine Finger ineinander, dass jemand außenstehendes Sorge haben musste, er würde sie sich selbst vor Aufregung brechen.
„Slytherin!“
Aufregung wurde im Bruchteil eines Momentes mit Enttäuschung getauscht. Während die Halle – allen voran der Slytherintisch – in Applaus ausbrach, fühlte Sirius sich wie mit einem schweren Gewicht beladen. Er beobachtete, wie sein Bruder den Hut absetzte und dann mit einer grazilen Eleganz, die ihrer Mutter sicher gefallen hätte, zu seinem neuen Haus lief. Regulus setzte sich neben Severus Snape und wurde mit einem Handschlag und einem Lächeln begrüßt. Eine blonde Schülerin, die Sirius als Narzissa erkannte, klopfte Regulus beinahe schon mütterlich auf die Schulter. Sein Bruder lächelte, offenbar sehr stolz mit sich selbst.
Sirius wollte sich übergeben.
„Alles gut?“, fragte James leise, aber Sirius konnte nicht antworten. Er schüttelte lediglich den Kopf und wurde mit einem bemitleidenswertem Blick belohnt. James tätschelte seinen Oberarm, aber wandte sich dann wieder nach vorne.
Über die Halle hinweg versuchte Sirius Regulus‘ Blick aufzufangen, aber es schien, als würde der jüngere Black-Bruder alles tun, nur nicht in seine Richtung gucken. Stattdessen trafen sich Sirius und Snapes Blicke in der Luft und der Slytherin-Schüler grinste ihn schief an, eine hässliche Grimasse auf dem Gesicht Snapes, die genug aussagte, damit Sirius die Hände zu Fäusten ballte. Er wollte aufspringen und die Große Halle durchqueren, wollte Snape vor allen Schülern und Lehrerin eine reinhauen, wollte seinen Bruder schütteln und ihn anschreien, wollte eine Neueinteilung verlangen –
„Sirius?“ Remus hatte sich über den Tisch gebeugt und eine Hand nach ihm ausgestreckt, die nun kurz vorm Kragen seines Umhangs in der Luft hing. „Geht’s dir nicht gut?“
Mit zusammengebissenen Zähnen schüttelte er den Kopf, sagte dann aber: „Alles bestens.“
„Hör auf zu lügen“, verlangte Remus leise. „Das ist wegen deinem Bruder, ja?“
„Natürlich ist es wegen Reggie“, knurrte Sirius mit etwas zu viel Wut in der Stimme. Er fühlte sich schlecht, dass er seine Freunde schlecht behandelte, aber sie würden nie verstehen können, was er gerade fühlte. Er verstand ja selbst nicht einmal, was er fühlte.
„Das ist nicht deine Schuld.“
„Wieso sollte es meine Schuld sein!?“, fragte Sirius etwas zu laut, sodass sich empörte Blicke zu ihm herumdrehten. McGonagall räusperte sich lauthals und schickte einen lautlosen, aber sehr bedrohlichen Blick zu ihm herüber. Sirius schnaubte. „Wenn Reggie – ich meine, wenn Regulus lieber ein Slytherin sein will, schön. Soll er doch. Mir vollkommen egal.“
„Es ist dir nicht egal“, sagte Remus.
„Können wir bitten nicht darüber reden?“, verlangte der andere Junge. „Ich – ich weiß noch nicht, was ich denken soll, ok?“
„Natürlich.“ Remus nickte und sah ihn viel zu verständnisvoll an, ein sanfter Schleier auf seinem vernarbten Gesicht. Er lächelte kaum merklich und im Kerzenschein sah er gesünder aus als zuvor. „Du kannst mit uns reden, wenn du es brauchst.“
Sirius erwiderte das Nicken, biss die Zähne zusammen und forcierte seinen Blick wieder nach vorn. Die letzten Erstklässler standen zitternd und nervös vor dem Lehrertisch und Professor McGonagall las einen nach dem anderen von ihrer Liste vor, bis schließlich alle neuen Schüler eingeteilt wurden. Flitwick und McGonagall eilten mit dem Hut und dem Hocker aus der Halle und erst, als sie sich an ihre Plätze begeben hatten und das Getuschel und Gemurmel in der Halle erstarb, erhob sich Professor Dumbledore von seinem goldenen Sitz. Er breitete die Arme aus, als wollte er jeden einzelnen Schüler in eine große Umarmung ziehen.
Von der Rede des Schulleiters bekam Sirius nicht viel mit. Er hörte lediglich mit halbem Ohr zu, wie Dumbledore von neuen Abenteuern und alten Gefahren und neuen Gefährten und alten Verbündeten sprach, als würde er die Zusammenfassung eines spannendes Abenteuerromans vorlesen. Sirius war kaum angetan davon, als der Schulleiter sich hinsetzte und das Festessen erschien, auch nicht, als James seinen Teller mit seinen Lieblingssachen füllte.
„Komm schon, Kumpel, du musst was essen“, sagte sein bester Freund. „Oder willst du jetzt eine große Szene veranstalten und rüber zum Slytherintisch rennen? Du kannst nach dem Essen mit deinem Bruder reden.“
„James hat Recht“, fügte Peter an, der seinen Teller bereits zur Hälfte geleert hatte. „Und wenn das, was du über Regulus erzählt hast, alles stimmt, dann wird euch das wohl kaum zu Fremden machen, nur weil ihr in unterschiedlichen Häusern seid. Sieh dir mich und meine Schwester an, wir verstehen uns immer noch prächtig.“
„Du hast keine Ahnung, wovon du redest, Pettigrew“, sagte Sirius säuerlich, stach mit seiner Gabel ein wenig zu fest auf seinen Teller und ließ damit ein lautes, quietschenden Geräusch ertönen. „Du kommst immerhin nicht aus einer blutfanatischen Familie, die dich dafür bestraft, mit den falschen Leuten zu reden, oder?“
„Nein“, antwortete Peter kleinlich, hielt aber seinen Blick stand. „Trotzdem ist er dein Bruder und ihr zwei habt trotz eurer Familie eine gute Bindung. Die wird nicht sofort zerbrechen. Sie wird allerdings zerbrechen“, fügte Peter an und deutete mit seiner Gabel auf Sirius, „wenn du dich ihm gegenüber genauso verhältst, wie du dich uns gerade gegenüber verhältst.“
„Wir wollen dir nur helfen, Sirius“, sagte James sanft und schenkte ihm ein aufmunterndes Lächeln. „Wenn du unsere Hilfe nicht willst, ist das okay, aber dann sag das und behandle uns nicht so, als würden wir versuchen, dich zu verhexen. Wir sind deine Freunde, nicht deine Feinde.“
„Der Feind sitzt da hinten und versucht deinen Bruder mit seinen öligen Haaren einzuschleimen“, brummte Remus. „Snape konnte es wohl kaum erwarten.“
Die anderen folgten Remus‘ Blick. Wenn Sirius zuvor schon sauer gewesen war, als er Snape nur neben Regulus hatte sitzen sehen, so war er jetzt vollkommen außer sich, als er beobachten musste, wie der schmierige Slytherin sich mit seinem Bruder unterhielt, als wären sie die dicksten Freunde, wie sie gemeinsam lachten. Das sollte Sirius an Regulus‘ Seite sein und nicht dieser schleimige Wicht Snape. „Ich werde Schniefelus umbringen“, murmelte er. „Wenn er nur eine Hand an meinen Bruder legt, dann werde ich ihn –“
„Sirius“, zischte James zwischen zusammengebissenen Zähnen hindurch. „Beruhige dich, Mann. Mach dir um Snape keine Gedanken. Wenn Regulus auch nur halb so schlau wie du ist, dann wird er schon wissen, dass er sich von Abschaum wie Schniefelus fernhalten muss. Außerdem haben wir doch unsere eigenen Methoden, wie wir mit ihm fertig werden, nicht wahr?“
„Darauf kannst du dich verlassen“, erwiderte Sirius. Seine Nägel bohrten sich tief in seine Handinnenflächen und er fügte an: „Snape wird den Tag bereuen, an dem er geboren wurde.“
„Ihr werdet ihm nicht wehtun, kapiert?“, sagte Remus mit einer strengen Imitation von McGonagall. „Ihr wisst, dass ihr dann in unglaubliche Schwierigkeiten geratet.“
„Keine Sorge, Lupin.“ Ein schiefes, beinahe düsteres Grinsen hatte sich auf Sirius‘ Lippen gelegt.
„Ich meine es ernst, Sirius. Wenn du etwas tust, dass Snape in Gefahr bringt, verletzt zu werden, dann werde ich nicht zögern, zu McGonagall zu gehen. Ich unterstütze euch gerne dabei, wenn ihr harmlose Streiche spielt, aber ich weigere mich zuzusehen, wir ihr plant, jemanden zu verletzen, nur weil ihr ihn nicht leiden könnt.“
Sirius starrte den blassen Jungen verblüfft an. Der harte Ausdruck in seinem Gesicht und das entschlossenen Glänzen in Remus‘ Augen ließ ganz klar verstehen, dass er keinen Witz machte. Sirius war bereits drauf und dran, ihm zu sagen, dass er sich aus diesen Sachen raushalten sollte, als James zuerst das Wort ergriff.
„Er hat Recht, Sirius“, meinte sein bester Freund langsam. „Jemandem etwas antun, weil du nicht mit ihm übereinstimmst, ihn in Gefahr bringen… kommt mir das nicht ein wenig zu vertraut vor?“
James hätte ihn genauso gut in den Schwarzen See stoßen können. Ein eiskalter Schwall ergoss sich über Sirius‘ Kopf und er riss die Augen auf, als die Realisation ihn traf. Scham wallte in ihm auf. Daran hatte er nicht gedacht.
„Du bist besser als das“, sagte James mit fast schon nebensächlicher Stimme. „Außerdem haben wir genügend Sprengstoff für das ganze Jahr, um Snape ein wenig leiden zu lassen, ohne dass ihm irgendwas passiert. Was meinst du?“
Sirius biss sich auf die Zunge und schmeckte Blut. Er nickte, dankbar, dass seine Freunde da waren, um ihn aus den düsteren Gedanken zu ziehen, in die er sich verfangen hatte. „Remus, ich –“
„Schon okay“, erwiderte dieser ruhig. „Ich will dir nur helfen. Ich meine, das wollen wir alle.“ Ein beinahe verschmitztes Grinsen erschien auf Remus‘ Lippen. „Aber wenn ihr Snape so richtig zeigen wollt, dass er sich beim falschen eingeschleimt hat, dann habe ich sogar schon eine nette Idee dafür.“
„Remus John Lupin!“, sagte James mit dem größten Grinsen auf den Lippen, dass irgendjemand jemals bei ihm gesehen hatte. „Du weißt gar nicht, wie stolz du mich machst! Mein kleiner Unheilstifter!“ Er wollte mit einer Hand über den Tisch fassen und Remus in die Wange kneifen, aber der andere Junge wich ihm lachend aus.
„Lass das, James.“
„Wie kommt es, dass keiner sich so über mich freut?“, fragte Peter mit der Gabel im Mund. „Ich finde, ich mache auch sehr gute Fortschritte, was Unheilstiften angeht.“
„Selbstverständlich, Peter, wir sind alle sehr stolz auf dich“, sagte James. „Aber du warst schon vorher ein bisschen verdorben und Remus war unser kleiner, goldener Junge, der nie auch nur eine Regel gebrochen hat. Und guck ihn dir an! Bald wird er fluchen wie die Piraten.“ James seufzte leise. „Sie werden so schnell erwachsen.“
„Sollen wir euch allein lassen?“, fragte Sirius bellend.
„Oh, sei du bloß ruhig, Black“, sagte James grinsend. „Du bist ja neidisch, weil Remus und ich so eine innige Beziehung führen.“
„Ganz klar, das wird es sein.“
„Bitte was führen wir?“
Die Jungs brachen in stummes Gelächter aus. Sirius wusste, dass James das nur getan hatte, damit es ihm besser ging und er sich nicht mehr mit der Regulus-Situation befassen musste und er war seinem besten Freund mehr als dankbar dafür. Die letzten Monate hatte er versucht, seinen Bruder auf seine Seite zu ziehen, hatte versucht ihm klarzumachen, dass es tatsächlich gut für die Zukunft der gesamten Familie Black wäre, wenn er ebenfalls in Gryffindor landen würde, aber wie es schien, war all seine Überzeugungskunst auf taube Ohren gestoßen.
Ein düsterer Gedanke erschien ihm – vielleicht wollte Regulus nach Slytherin! Vielleicht hatte die Gehirnwäsche ihrer Eltern bereits vollen Erfolg gehabt und Regulus war der Überzeugung, dass er alles für die Black-Familie tun müsste. Nach Slytherin gehen wäre nur der erste Schritt und Sirius war sich sicher, dass Reggie nur allzu bereit wäre, all die Pflichten zu übernehmen, die eigentlich zu Sirius gehörten, sobald seine Mutter sich dazu entschied, dass sie lieber ihren jüngsten Sohn als Erben hatte.
Aber dann – ging das überhaupt? Sirius wusste nicht, ob seine Eltern sich einfach dazu entscheiden konnten, wer ihr Erbe war und wer nicht. War es nicht altes Zauberergesetz, dass das erstgeborene Kind die Pflichten eines Erben tragen musste? Bellatrix war es für Zweigfamilie, Sirius für den Hauptzweig. Walburga und Orion waren sicherlich genauso wenig erfreut darüber, dass Sirius die Familie weiterführen musste, wie Sirius selbst es war.
Er schüttelte den Kopf. Von all den Gedanken über Erbschaft und Gesetzen innerhalb der Reinblutfamilien wurde ihm ganz schlecht. Er verstand nur die Hälfte von dem, was hinter den Kulissen vor sich ging und er war sich sicher, dass er die andere Hälfte überhaupt nicht wissen wollte. Er hatte eine Mission, auf die er sich fokussieren musste und alles andere zählte jetzt nicht.
Das Festessen konnte für Sirius‘ Geschmack nicht schnell genug vorbeigehen. Er schaufelte sich lediglich eine Portion seiner Lieblingsspeisen in den Rachen und verbrachte auch nicht viel Zeit mit den Desserts, für die die Hauselfen sich mal wieder selbst übertroffen hatten. Peter war bei seiner zweiten Portion einer fantastisch aussehenden Schokoladen-Karamell-Torte, während James sich eher an die Berge an Eiscreme gemacht hatte, die in einhundert und mehr Geschmacksrichtungen auf den Tischen verteilt standen. Sirius knabberte etwas lustlos an einem Muffin mit Blaubeeren herum.
Endlich, endlich war es so weit, dass der Schulleiter sich erhob. „Ein jeder von euch ist gefüttert und gewässert und will jetzt nur noch in die weichen Federn eines noch weicheren Bettes fallen. Ich werde euch diesen Wunsch nicht verwehren. Gute Nacht und schlaft gut!“
Vertrauensschüler an allen Tischen sprangen auf und sammelten die Erstklässler um sich. Sirius murmelte: „Geht schon vor“, zu seinen Freunden, dann drängte er sich die Menge, die alle gleichzeitig die Halle verlassen wollte. Er quetschte und schubste und drängelte sich durch die Masse an Schülern, wurde von Fünftklässlern böse angeguckt und guckte daraufhin Drittklässler säuerlich an, als sie ihm den Weg versperrten. Von den Massen getragen, geriet Sirius in der Eingangshalle in einen Strudel an Schülern, die sich trennten, um in ihre jeweiligen Gemeinschaftsräume aufzusuchen und er musste sich flach an eine Wand drücken, damit er nicht von einer Bande Hufflepuffs mit in die Kerker gezerrt wurde.
Sirius sammelte seine Kraft zusammen, als er endlich den weißblonden Schopf seiner Cousine Narzissa erkannte, die eine ganze Schar an Slytherin-Erstklässlern hinter sich hatte. „Zissy!“, rief er laut. „Narzissa!“
Die Vertrauensschülerin stockte. „Sirius?“, fragte sie mit einer gewissen Kälte in der Stimme, als würde sie mit jemandem reden, mit dem sie in der Öffentlichkeit nicht gesehen werden wollte. „Was willst du?“
„Mit Regulus reden.“
„Wieso glaubst du, Regulus würde mit dir reden wollen?“, stellte sie die Gegenfrage mit einem fiesen Lächeln auf den roten Lippen.
„Klappe zu, Zissy. Jetzt lass mich zu ihm.“
Narzissa presste die Lippen aufeinander, schüttelt kurz den Kopf, dann wandte sie sich an ihren Vertrauensschülerkollegen. „Bring den Rest schon runter, ich komm mit Regulus gleich nach.“ Sie griff in die Menge und zog eine kleinere Version von Sirius heraus, der alles dafür tat, seinem Bruder nicht in die Augen sehen zu müssen.
„Sirius“, sagte Regulus distanziert und höflich, als würde er mit einem der Lehrer sprechen. „Wie kann ich dir helfen?“
„Was soll das, Reggie? Kannst du deinem eigenen Bruder nicht mal mehr in die Augen gucken?“
Regulus wartete, bis seine Mitschüler all in der Kerkertür verschwunden waren, dann sagte er: „Narzissa, kannst du uns kurz allein lassen?“
Narzissa schürzte die Lippen. „Das würde ich lieber nicht. Du weißt ja, wie Sirius sein kann.“
„Was soll das denn heißen?“, fragte Sirius laut und ging einen Schritt auf Narzissa an.
Diese zuckte nur mit den Schultern. „Du hast es gerade mal wieder für mich bestätigt. Schreckliches Temperament, Sirius, wirklich, daran musst du arbeiten.“
„Ich kann gerne daran arbeiten, dir dein hübsches Gesicht zu zertrümmern“, presste er zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor.
„Ah“, meinte Narzissa lächelnd. „Du willst doch einer Vertrauensschülerin nicht drohen, oder doch? Ich könnte deinem Haus jetzt schon fünfzig Punkte für dein freches Verhalten abziehen und noch mal zwanzig, weil du bald außerhalb der Speerstunde im Schloss herumläufst. Oder ich schreibe Tante Walburga einfach, wie sich ihr ältester Sohn mal wieder benimmt“, fügte sie gurrend hinzu.
Sirius ging einen Schritt nach hinten, ballte die Hände zu Fäusten und sagte dann, mit der ruhigsten Stimme, die er aufbringen konnte: „Dürfte ich vielleicht allein mit meinem Bruder reden, Narzissa?“
„Na schön. Reg, ich warte unten auf dich.“ Narzissa drückte Regulus eine Hand an die Schulter, dann verschwand sie mit wehendem Haar ebenfalls in der Kerkertür.
Zurück blieben die beiden Black-Brüder in einer leeren Eingangshalle. Das entfernte Geräusch von Stimmen und einhundert Paaren von Füßen, die die Treppen hinaufkletterten, echote zu ihnen, ansonsten war es still. „Ich“, fing Sirius an, „ich meine – wie gefällt es dir auf Hogwarts?“
Regulus zuckte kaum sichtlich mit den Schultern. „Habe noch nicht viel gesehen, oder?“
„Natürlich, das war – tut mir leid.“ Seufzend fuhr er sich durch die langen, schwarzen Haare. „Reggie, ich –“
„Es tut mir leid“, rief Regulus aus und unterbrach damit seine Bruder.
„Es tut dir leid?“
„Es tut mir leid, dass ich nicht wie du bin“, sagte Regulus schnell. „Ich habe es versucht, aber das bin ich nicht. Und der Hut hat gesagt, ich würde sehr gut nach Slytherin passen und würde dort Freunde fürs Leben finden. Der Hut sagt, ich hätte all die guten Qualitäten, die man in Slytherin so schätzt, aber er hätte mich auch nach Ravenclaw gesteckt, wenn ich gewollt hätte, aber – aber ich wollte nach Slytherin.“ Er atmete schwer und traute sich noch immer nicht, Sirius ins Gesicht zu sehen. Stattdessen starrte er mit seinen grauen Augen die Schulter seines Bruders.
Diese fielen in sich zusammen. Sirius nahm eine tiefen Atemzug. „Du musst dich nicht entschuldigen“, sagte er leise.
„Aber du –“
„Ich kann dir nichts vorschreiben, Reggie. Hätte ich es schön gefunden, wenn ich nicht allein in Gryffindor gewesen wäre? Klar. Bin ich ein bisschen enttäuscht, weil du nach Slytherin eingeteilt wurdest? Darauf kannst du Gift nehmen.“ Sirius seufzte fahrig. „Glaub aber bloß nicht, ich wär dwe Mum und Dad und würde versuchen, dich dazu zu zwingen, etwas zu tun, was du nicht willst.“
„Sie sind nicht so schlecht“, sagte Regulus. „Mum und Dad, meine ich. Sie – ich meine, sie haben uns trotzdem lieb und du musst zugeben, du machst es ihnen nicht gerade leicht.“
Ärger wuchs in Sirius. „Ich mache es ihnen nicht leicht?“
„Sie wollen nur das Beste für uns!“
„Das Beste für sich, meinst du wohl“, schnaubte Sirius wütend. „Wann haben Mum und Dad denn je gefragt, was wir wollen? Es geht nicht um uns, Reggie, es geht darum, was wir tun sollen, damit wir in ihr Bild passen. Du hast sicherlich mitbekommen, wie enttäuscht sie waren, als ich nicht nach Slytherin gekommen bin.“
„Du – naja.“ Regulus blickte endlich auf, in seinen Augen schwamm Ungewissheit mit. „Ich glaube, du wärst gut in Slytherin gewesen. Mum und Dad hätte es glücklich gemacht. Sie wären stolz auf dich gewesen.“
„Ha!“ Sirius lachte kurz und laut auf. „Den Stolz können sie sich sonst wohin stecken. Ich brauch ihren Stolz nicht, Reggie. Wenn sie nicht sehen können, dass ich nicht ihre Marionette bin, dann haben sie Pech.“
„Und was ist mir?“, fragte der jüngere der Brüder. „Was soll ich machen? Einfach zusehen, wie du alles tust, um unsere Eltern als die Bösewichte darzustellen? Kannst du nicht einmal normal sein, Sirius?“
Sirius‘ Finger schlossen sich wie ein Schraubstock um Regulus‘ Oberarm, sodass der Jüngere kurz zischte. „Hör zu, Reggie“, sagte er und lockerte seinen Griff, „ich vergesse nicht so leicht, wie Mum mir die Stimme für ein paar Wochen geklaut hat, oder wie Dad mich mit seinem Gürtel geschlagen hat, oder wie sie mich in den Teich mit den Grindelohs geworfen haben, auch wenn du wohl gerne ignorierst, dass unsere Eltern keine Heiligen sind.“
„Wenn du dich einfach so verhalten hättest, wie sie es verlangt hätten, dann wäre das alles nicht passiert!“, rief Regulus wütend aus und kratzte an Sirius‘ Hand. „Lass mich los!“
„Schiebst du jetzt mir die Schuld zu, dass ich –“
„Lass mich los!“
„Flipendo!“ Die Tür zu den Kerkern knallte lautstark gegen die Wand und Sirius wurde ein paar Meter durch die Halle geworfen, bevor er mit einem Krach auf dem Boden aufkam. Die Luft wurde ihm aus den Lungen gepresst und für einen Augenblick sah er Sterne. Sein Hinterkopf brannte wie Feuer. „Zwanzig Punkte Abzug für Gryffindor, Sirius und jetzt verschwinde in deinen Gemeinschaftsraum!“ Narzissas Stimme wehte wie ein höhnischer Albtraum zu ihm herüber. „Sollte ich noch einmal sehen, dass du deinen Bruder so behandelst, dann werde ich dich nicht so sanft sein. Komm, Regulus.“
„Reggie“, krächzte Sirius auf dem Boden und drückte sich auf, aber Narzissa hatte Regulus bereits mit in die Kerker entführt. „Scheiße.“
Scham wallte über ihn, als ihm Tränen die Wangen hinabflossen und Sirius wischte sich wütend übers Gesicht. Er starrte seine Hände für einen Moment an und ballte sie zu Fäusten. Wie konnte er nur so dumm sein und seine Beherrschung verlieren? Fluchend stand er auf, Schmerzen brannten sich gegen seinen Hinterkopf und er war sich sicher, dass er Blut in seinen Haaren spürte. Er blickte noch einmal zurück zur Kerkertür, dann stopfte er die Hände tief in seine Tasche und stapfte die sieben Stockwerke zu seinem Gemeinschaftsraum hinauf.
Chapter 13: 13. Jahr 2: Ein enthülltes Geheimnis
Chapter Text
Wenn es am Anfang noch so gewirkt hätte, als wäre Sirius froh darüber, dass er seinen Bruder endlich bei sich an Hogwarts haben konnte, so wurde mehr als schnell klar, dass es eine gut gespielte Lüge war. Was auch immer mit den beiden geschehen war, Sirius verlor kein Wort mehr über Regulus und machte nicht den geringsten Ansatz, mit seinem Bruder zu reden, geschweige denn zu akzeptieren, dass er neben ihm existierte. Es schien, als wäre eine gesamte brüderliche Beziehung mit einem Mal komplett verschwunden.
James wusste nicht, wie er seinen Freund aufmuntern sollte. Es traf Sirius deutlich geringer als die Heuler, die seine Eltern im ersten Jahr geschickt hatten, aber es zeigte sich trotzdem, dass ihn der Verlust seines Bruders mitnahm. Wann immer sie Regulus in der Großen Halle oder in einem der Korridore begegneten, tat Sirius so, als würde er niemanden sehen, der ihn interessierte und Regulus würde im Gegenteil nicht einen Blick in die Richtung seines Bruders werfen. Es herrschte eine eiskalte Rivalität zwischen den Black-Brüdern, von der James nicht gewusst hatte, dass sie überhaupt existieren könnte. Nur Wochen zuvor hatte Sirius ganz aufgeregt gewirkt, als er darüber geredet hatte, dass sein Bruder endlich auch sein erstes Jahr an Hogwarts beginnen würde und jetzt schien der Erbe der Blacks sehr darauf erpicht zu sein, so zu tun, als wäre er ein Einzelkind.
Großartig Zeit, die Kluft zwischen den Brüdern zu beheben, hatte James allerdings nicht. Das zweite Schuljahr hatte dort angefangen, wo das erste geendet hatte; mit einer Menge Arbeit, dutzenden Wiederholungen all der Magie, die sie gelernt und über den Sommer wieder vergessen hatten und anstrengenden Unterrichtsstunden mit neuen Themen. Professor McGonagall begann ihren Unterricht damit, ihre Schüler mit Fragen über all die verschiedenen Verwandlungen zu quälen, die sie gelernt hatten und am Ende der ersten Stunde, waren lediglich James, Sirius und Lily Evans dazu in der Lage, ihre Teetassen in Porzellanvasen zu verwandeln. Dafür ernteten sie zwar jeder fünf Punkte für Gryffindor, allerdings war McGonagall nicht sehr glücklich damit, dass fast ihre gesamte Klasse vergessen hatte, wie die einfachsten Verwandlungen funktionierten. Die ersten Unterrichtsstunden donnerte sie ihnen Wiederholungen und Aufsätze über bereits erlernte Magie auf, während sie mit dem Stoff weiterging.
Auch andere Lehrer nutzten die Zeit damit, die Schüler an alles zu erinnern, was im ersten Schuljahr geschehen war. Professor Flitwick ließ sich in der ersten Stunde von allen Schülern vorführen, dass sie noch immer wussten, wie sie eine Ananas dazu bringen konnte, zur Tanzart ihrer Wahl durch den Raum zu hüpfen und machte danach sofort mit dem nächsten Thema weiter. Professor Sprout, die Hexe die Kräuterkunde unterrichtete, machte sich gar nichts aus Wiederholungen. Sie führte die Zweitklässler lediglich in Gewächshaus Nummer Drei und ließ sie vorsichtig die giftigen Knollen einer importierten armenischen Pflanze ernten, während sie darauf achtete, dass niemand zu lange die gefährliche Dämpfe einatmete, die von den Blättern ausgingen. Im Zaubertrankunterricht ging Professor Slughorn die ersten sechzig Minuten in eine lange und ausschweifende Erzählung darüber, wie er die Ferien über mit den wichtigen Bekannten und Verwandten von Schülern geredet und Informationen ausgetauscht hatte, während er sich eine kandierte Ananas nach der anderen in den Mund steckte. Am Ende war nicht einmal mehr Zeit, dass sie mit ihrer Schwelllösung anfangen konnten, also ließ Slughorn die Klasse früher gehen, auch wenn er ein paar Schüler mit wichtigen und bekannten Namen zu sich bat. James konnte sich gerade so davor retten, eine weitere Stunde von Slughorn zugequasselt zu werden.
Wenn James nicht gerade damit beschäftigt war, die Tonnen an Hausaufgaben zu erledigen, die alle Lehrer ihnen aufdrückten („Die denken auch, Schüler hätten auf magische Weise mehr Stunden im Tag, oder?“, beschwerte sich Sirius lautstark.), so verbrachte er einen Großteil seiner Zeit damit, Bücher zu wälzen. Mehrmals wurde er deswegen bereits gefragt, ob man nicht vielleicht den falschen James Potter zurückgeschickt hätte.
„Ich recherchiere“, sagte er und schob die Brille weiter nach oben. „Dafür muss ich in Büchern lesen. Das gehört sich nun mal so, Macdonald.“
„Genau und ich bin eigentlich eine reinblütige Erbin mit Millionen an Galleonen in meinem Besitz“, schnaubte Mary, die ihn eines Abends angesprochen hatte. „Ich weiß, dass du und deine Freunde wieder irgendwas vorhaben.“
James lächelte schief. „Ist das so? Wie kannst du dir da so sicher sein?“
„Ich kenne dich“, sagte sie mit verschränkten Armen. „Du und deine kleine Bande habt immer was vor. Wahrscheinlich brecht ihr wieder irgendwelche Regeln und dann müssen wir darunter leiden, weil ihr unsere ganzen Hauspunkte verliert.“
„Oh, Mary“, meinte James mit einem Kopfschütteln. „Mary, Mary, Mary. Du hast noch so viel zu lernen.“
Mary schnaubte lediglich und ließ ihn wieder allein, womit James mehr als einverstanden war. Es gab eintausend und mehr Sachen, die er herausfinden musste. Zauber, Flüche, Verwünschungen, Tränke… es war an ihm, den perfekten Streich zu finden, der dazu führen würde, dass es Sirius besser ging und dass sie es diesem schmierigen Schleimbeutel Snape heimzahlen konnten, sich überhaupt an Sirius‘ Bruder angeschleimt zu haben. Ob sie nun Punkte verlieren würden oder nicht, es ging um die Nachricht, die sie damit vermitteln würden. Snape sollte nicht glauben, er könnte einfach so damit wegkommen. Beinahe lebhaft erinnerte James sich an die letzte Zaubertrankstunde zurück, in der er und Snape sich an die Gurgel gegangen waren.
Es war so gewesen:
Die Kessel brannten und blumig-duftender Dampf sammelte sich in einer großen Wolke über den Schülern an der Decke. Slughorn schlenderte durch die Reihen, kommentierte hier und dort, was verbessert werden sollte, als er bei Severus Snapes Kessel stehenblieb. „Ah“, sagte der Zaubertrankmeister. „Eine perfekte Mischung, Mr. Snape. Genauso muss ein Aufpäppel-Trank aussehen! Hervorragende Arbeit, nehmen Sie zehn Punkte für Slytherin.“
„Vielen Dank, Sir“, erwiderte Snape mit einem fahrigen Lächeln. „Ich weiß, dass andere Schwierigkeiten damit haben, den Trank richtig zu brauen, weil sie einfach nicht in der Lage sind, richtig zu lesen.“ Er warf einen fiesen Seitenblick auf Peter, dessen Kessel bedrohlich brodelte. Sein Trank hatte eine widerliche Gelbfärbung angenommen, statt dem sanften Orange, dass er eigentlich sein sollte.
„Na, Na, Snape“, meinte Slughorn mit einem breiten Lächeln, das seinen Schnurrbart erzittern ließ. „Jeder hat seine Talente, genau, und Ihres scheint eher im Brauen zu liegen.“ Slughorn ging weiter, um den Trank von Lily zu untersuchen („Mal wieder zur Perfektion gebraucht, Miss Evans!“, frohlockte er) und bekam deshalb nicht mit, wie James sich über seinen Kessel beugte.
„Hey, Schniefelus, wie viel Fett aus deinen Haaren ist wohl dieses Mal in deinen Trank getropft? Meinst du, die Wirkung wird dadurch verfälscht?“
Sirius neben ihm lachte leise und bellend auf, während Snape hässliche rote Flecken im Gesicht bekam. „Als ob jemand das noch trinken würde“, kommentierte der Black-Junge. „Nachher verwandelt man sich noch in ihn.“
„Alles wäre besser, als so wie du zu sein, Black“, zischte Snape boshaft. „Selbst dein eigener Bruder redet nicht mit dir, hab ich Recht? Hat wohl auch schon gesehen, dass er sich mit so einer Niete wie dir nicht abgeben muss und hat sich lieber an die richtigen Leute gewandt.“
„Mit richtige Leute kannst du unmöglich dich selbst meinen, Schniefelus“, sagte James. „Niemand, der noch alle Niffler im Garten hat, würde freiwillig mit dir Zeit verbringen.“
„Das denkst du, Potter? Dann weißt du ja gut Bescheid darüber, worüber Regulus und ich uns so unterhalten. Er erzählt mir ziemlich interessante Geschichten der Familie Black.“
Sirius, der ebenfalls rot im Gesicht geworden war, presste zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor: „Halt dich von meinem Bruder fern, Snape, sonst –“
„Sonst was, Black?“, fragte Snape mit einem triumphalen Blick in den Augen. „Willst du zu Mami rennen? Wohl kaum, oder? Sie sperrt dich zur Strafe wahrscheinlich wieder in den Keller ein, wo der Irrwicht haust…“
„Du –!“
James musste Sirius am Kragen festhalten, damit dieser nicht über seinen Tisch springen und Snape eine reinhauen würde, so gerne er das ebenfalls machen wollte. „Lass Regulus in Ruhe, Snape. Er braucht keinen schleimigen kleinen Versagen in seiner Nähe.“
„Dann trifft es sich ja gut, dass er seinen Bruder nicht in seine Nähe lässt“, äffte Snape. „Oh, ich weiß so einiges über dich, Black. Über dich und deine Eltern. Regulus weiß wirklich, wie man Geschichten erzählt.“
„Du dreckiger Bastard, lass die Finger von meinem Bruder oder ich bring dich um!“
Snape schenkte Sirius lediglich ein hässlich fieses Lächeln. „Ich wusste, du kannst nicht so anders sein, Black. Du bist genauso wie der Rest deiner Familie.“
Es war lediglich dem Klingeln der Schulglocke zu verdanken, dass niemand es in Frage gestellt hatte, als sowohl James als auch Sirius in diesem Moment wutentbrannt aufgesprungen waren. „Du wirst den Tag bereuen, an dem du dein schmutziges Mundwerk das erste Mal geöffnet hast“, sagte James leise. „Wirst schon sehen, Schniefelus.“
James konnte nicht anders, als sich ständig Sirius‘ Gesicht zurückzuerinnern, als er erkannt hatte, dass Snape wusste, wie seine Eltern ihn behandelten. Eine unbändige Wut hatte sich in ihm zusammengeballt, hatte sich nahe seines Magens zusammengerollt und versprühte nun kontinuierlich Flammen, wann immer er daran dachte. James würde nicht zulassen, dass Snape dieses Wissen gegen Sirius verwenden würde. Er würde verhindern, dass Snape überhaupt jemals daran denken würde, wieder an Sirius und seine Familie zu denken, geschweige denn ein Wort über sie zu verlieren. Frustriert fuhr er sich mit Händen durch die Haaren. Es musste einen Weg geben, wie er Snape ruhig stellte, ohne ihn – wie Remus besorgt ausgedrückt hatte – langwierig zu schaden. James‘ erste Idee, ein einfacher Gedächtniszauber, war noch schneller von Remus niedergeschmettert worden, bevor er überhaupt fertig gesprochen hatte.
„Was, wenn du etwas falsch machst und sein ganzes Gedächtnis löschst?“, hatte Remus gesagt. „Du bist erst zwölf, James, und egal wie gut du im Zaubern bist, Gedächtniszauber sind wahnsinnig kompliziert. Nein, finde etwas anderes, oder mach gar nichts.“
Es lag nicht in James‘ Interesse, dass er Remus gegen sich aufbringen würde. Obwohl Remus zumeist das gute Gewissen ihrer Freundesgruppe spielte und von allen sicherlich der sanftmütigste war, wusste James, dass das alles auch nur eine gute Fassade war. Remus nahm kein Blatt vor den Mund, wenn es darum ging, ihn und Sirius in ihre Schranken zu weisen. Manchmal konnte er sogar ziemlich unheimlich sein.
Frustriert klappte James das Buch in seinem Schoß wieder zu und warf es beiseite. In Magische Tinkturen und Allerleiheilmittel hatte er nichts gefunden, was ihm helfen würde – nicht, dass er es erwartet hätte, hatte er in das Buch doch nur hineingelesen, weil er geglaubt hatte, etwas über Gedächtnistränke zu finden, wurde letztlich aber nur enttäuscht. Die einzigen Tränke, die er dahingehend gefunden hatte, waren Veritaserum, ein Wahrheitstrank, und eine Erinnerungstinktur, die verlorene Erinnerungen wiederherstellen konnte. Veritaserum wäre sicherlich für andere Streiche und Späße interessant, aber die Herstellung des Tranks war immens kompliziert und er bezweifelte, dass er einfach Slughorn fragen könnte, ob er ihm dabei helfen würde.
James griff nach dem nächsten Schmöker – ein massives, in Leder gebundenes Buch mit dunkelrotem Buchumschlag, das auf den Titel Die dunklen Kreaturen Großbritanniens – Erkennungsmerkmale, Lebensräume und Artenvielfalt hörte. Zugegeben, er war etwas lang und James war sich nicht sicher, ob er unbedingt eine dunkle Kreatur nach Hogwarts schmuggeln und Snape auf den Hals hetzen wollte, aber da magische Geschöpfe und Monster noch nie sein Interessengebiet waren, dachte er sich, dass es nicht schaden könnte, wenn er sich zumindest ein wenig schlaulesen würde. Bevor er das Buch öffnete, blickte er auf. Peter lag zu seinen Füßen auf dem Boden und hielt ein Verwandlungslehrbuch über sein Gesicht, auch wenn James die starke Vermutung hatte, dass der andere Junge längst eingenickt war. Sirius hingegen hatte sich längs über einen Sessel geworfen, Füße baumelten über eine Lehne, sein Kopf über die andere und er warf geistesabwesend ein zusammengeknülltes Blatt Pergament in die Luft, fing es auf und warf es dann erneut. Ein nachdenklicher Schatten lag auf seinem Gesicht, was bedeutete, dass er tief in Gedanken gefangen war.
Seine Suche nach einer Ablenkung war misslungen – Remus war nicht da, hatte er sich mit Lily für den Nachmittag in die Bibliothek verzogen, Mary und Marlene waren außerhalb des Gemeinschaftsraums und stellten irgendwas an und selbst Monty war nicht da. Da die Quidditchauswahlspiele am nächsten Wochenende stattfinden würden, trainierte James‘ Mitschüler beinahe Tag und Nacht. James lobte sich das sehr, hatte er doch ebenfalls vor, an den Auswahlspielen teilzunehmen und sich als neuer Jäger für das Team zu bewerben. Wenn er nicht mit der Nase im Buch hängen würde, dann wäre er mit Monty jetzt auf dem Feld und sie würden sich den Quaffel gegenseitig zuwerfen. Es war eine Schande, dass James nicht einfach alles stehen und liegen lassen konnte, aber es half nichts. Er würde den nächsten Morgen einfach etwas früher aufstehen und dann seinen Besen mit zum Feld nehmen.
Dunkle Kreaturen schien es in Großbritannien in Hülle und Fülle zu geben. Grindelohs in den Gewässern, Kappas in den Sümpfen, Trolle in den Bergen oder Wäldern und natürlich die riesige Seeschlange, die im Loch Ness lebte. James‘ Vater hatte ihm erzählt, dass es rund um das Loch mehrere Stationen mit Vergissmich gab, Spezialisten in Gedächtniszaubern aus dem Ministerium, die die Erinnerungen der Muggel modifizierten, Fotografien veränderten und Videoaufnahmen sabotierten, damit keine weiteren Informationen über die Seeschlange an die Muggelwelt gelangten.
James blätterte um. Ghule, las er. Ungefährliche Insektenfresser, die lediglich die Form von tödlichen, menschenfressenden Bestien annehmen, um ihr Revier zu verteidigen. Ghule werden von vielen Haushalten als eine Art Haustier gehalten, halten sie zumeist Dachböden oder Kellergewölbe von ungewünschtem Getier fern und sorgen immer wieder für lustige Zwischenfälle, sollte ein unwissender Besucher in ihr Revier stolpern. Ob es die sagenumwobenen Chamäleon-Ghule wirklich gibt, die sich ihrer Umgebung perfekt anpassen können, ist nicht nachgewiesen.
Ein Ghul wäre nur dann hilfreich, wenn James wissen würde, ob Snape wusste, was sie waren. Denn nur wenn Snape keine Ahnung davon hatte, dass Ghule ungefährlich für Menschen waren, würde es ihnen etwas bringen. Seufzend blätterte er weiter.
Werwölfe – Tödliche Räuber und Bestien der höchsten Gefahrenstufe. Werwölfe sind gefürchtete Menschenfresser. Sie sind größer, schneller und stärker als normale Wölfe und reißen mit großer Vorliebe Menschen. Diese dunkelsten aller Monster leben für die meiste Zeit ihres Lebens direkt inmitten von Menschen, getarnt in der Gestalt eines Menschen selbst. Sie verwandeln sich unter Einfluss des Vollmondes in diese blutrünstigen Kreaturen und töten alles und jeden in ihrer Umgebung. Es ist unklar, ob Werwölfe die Kontrolle darüber haben, was sie tun, wenn sie verwandelt sind, oder ob sie lediglich unter dem Bann der Verwandlung stehen, die meisten Magizoologen sind sich jedoch einig, dass man sich einem Werwolf unter keinen Umständen nähern sollte, sollte man nicht den Wunsch verspüren, höchst schmerzhaft und blutig zu sterben. Über Werwölfe ist wenig bekannt, da die wenigen, bekannten Exemplare, die je gefangen wurden, in der Obhut des Ministeriums starben. Lykanthropie ist höchst ansteckend. Sollte der Angriff eines Werwolfs überlebt werden, so ist es sehr wahrscheinlich, dass das Opfer ebenfalls zum Werwolf wird. Hinweis: Sollte Ihnen oder jemandem in Ihrer Nähe die folgenden Merkmale bei einer Person in ihrem Umfeld auffallen, so wenden Sie sich bitte sofort an die Abteilung zur Führung und Aufsicht Magischer Geschöpfe.
Es folgte eine Liste mit Symptomen und Attributen, die alle auf einen Menschen schließen sollten, der unter Lykanthropie litt. James überflog die Liste, stockte und las sie dann erneut durch, dieses Mal genauer und aufmerksamer. Aggressionen, sobald der Vollmond näher rückt, Schlafschwierigkeiten, wenn der Mond fast voll ist, unbändiger Hunger, blasse oder kränklich wirkende Haut, seltsames und unerklärliches Verhalten rund um den Vollmond, das Verschwinden in der Vollmondnacht und schließlich Narben aller Art (Werwölfe verteidigen ihr Revier bis auf den Tod und sind sich nicht zu schade, blutige Kämpfe auszutragen, die in Narben auf dem menschlichen Körper enden). Bitte seien Sie vorsichtig, sollten Sie jemanden ansprechen, von dem Sie denken, dass er unter Lykanthropie leidet. Wenden Sie sich lieber an eine Person aus der Abteilung zur Führung und Aufsicht Magischer Geschöpfe.
James‘ wurde heiß, dann kalt und dann wieder heiß. Er las sich die Liste der Symptome erneut und erneut durch und jedes Mal schien ein klareres Bild vor seinem geistigen Auge zu erscheinen. „Sirius“, sagte er plötzlich. „Sirius, wann war letztes Jahr dein Geburtstag?“
„Hä?“ Der aus seinen Gedanken gerissene Sirius blickte verwirrt zu James. „Am dritten November, wie immer?“
„Nein, ich meine, welcher – egal. Warte.“ James warf das Buch zur Seite und sprang auf. Sein Herz raste und Blut pumpte in immer schnelleren Schüben durch seinen ganzen Körper. Sein Mund war trocken und er konnte seine Finger kaum still halten, während er durch den Gemeinschaftsraum lief, den Schlafsaal betrat und dann in seiner Tasche nach der Mondtabelle suchte, die sie für den Astronomieunterricht nutzten. Mit schnellem, hektischem Atem suchte er das Datum, das Jahr und den Tag heraus und blätterte. Vollmond. Der Tag nach Sirius‘ Geburtstag im ersten Jahr war an einem Vollmond gewesen.
James schluckte, dann schüttelte er den Kopf. „Das muss ein Zufall sein“, murmelte er. Er presste die Augen zusammen und überlegte, bis es ihm einfiel – die Überraschungsparty für Evans. James suchte in seiner Mondtabelle nach dem dreißigsten Januar 1972 und wieder stockte er. Vollmond.
Er sprang zurück an den Anfang des letzten Schuljahres und es fühlte sich an, als wäre er mitten in die Magengrube geschlagen worden. Vollmond, der erste Sonntag des Schuljahres im letzten Jahr war ein Vollmond gewesen. Hatte Remus nicht die nächsten drei Tage im Krankenflügel verbracht? Hatte er nicht sogar Marlene McKinnon angeschnauzt, weil sie ihm eine harmlose Frage gestellt hatte. Ein Puzzlestück nach dem nächsten schien aus James‘ Kopf zu fallen. Remus hatte Sirius‘ Geburtstag und die Überraschungsparty von Evans verpasst und bei beiden Malen hatte er die Ausrede benutzt, dass seine Mutter krank gewesen wäre. Wieso hatte James es nicht vorher bemerkt? All diese Tage fielen auf einen Vollmond und an all diesen Tagen war Remus plötzlich krank gewesen, hatte jemanden besuchen müssen und war mehr als nur aggressiv und unnahbar gewesen. Er hatte Marlene zum Weinen gebracht, hatte seine Freunde angemeckert und war schrecklich schwach auf den Beinen gewesen. Und dann diese Narben… Sirius waren sie zuerst aufgefallen, aber ständig war Remus mit Narben zurückgekommen, für die eine Erklärung fehlte.
James starrte auf seine Hände. War das die Erklärung? Hatte Remus sich diese Narben selbst zugefügt, weil er ein Werwolf war? Beinahe hätte er laut aufgelacht. Was dachte er denn da? Remus konnte kein Werwolf sein. Remus war sein Freund, ein lieber Junge, der gerne lernte und der für jeden Spaß zu haben war. Er war kein blutrünstiges Monster und er –
Schlagartig fiel es ihm an. Am Tag ihrer Ankunft, hatte Peter nicht einen Kommentar gemacht, dass es Werwölfe im Verbotenen Wald geben sollte und hatte Remus daraufhin nicht sehr seltsam reagiert? James hatte gedacht, der Junge hätte lediglich Angst vor den Kreaturen, aber – diese Reaktion… James war sich nicht mehr sicher, ob es wirklich Angst war.
Die Schlafsaaltür ging hinter ihm auf, Sirius und Peter traten ein und Sirius fragte ein wenig besorgt klingend: „Alles gut bei dir, Potter?“
James drehte sich um, öffnete den Mund und schloss ihn wieder, als aus seiner Kehle lediglich ein kratzendes Geräusch entkam.
„Hat dir jemand die Zunge an den Gaumen gehext?“
Kopfschüttelnd ließ James die Hände in den Schoß fallen. Er nahm einen tiefen Atemzug. „Ist euch“, fing er, seine Stimme immer noch unsicher, „bei Remus je etwas seltsames aufgefallen?“
„Seltsam?“, fragte Peter. „Du meinst, noch seltsamer als er die meiste Zeit sowieso ist?“
„Was soll die Frage?“ Sirius stellte sich mit verschränkten Armen in den Türrahmen und zog die Augenbrauen zusammen.
„Ich – ich glaube, Remus ist ein –“, aber er brach ab, konnte es nicht über sich zu bringen, es auszusprechen, es eine Form außerhalb seiner Gedanken zu geben. James schämte sich, dass er überhaupt soetwas dachte, auch wenn alles darauf hindeutete. James glaubte nicht an Zufälle und selbst wenn er es getan hätte… drei Vollmonde, an Nächten, in denen Remus verschwand, die Stimmungsschwankungen, die wackligen Beine, die blasse Haut, die Narben. Es schien sich alles in seinem Kopf zu einem viel zu passenden Bild zusammenzusetzen. Er schüttelte den Kopf.
„Du bist hier derjenige, der sich gerade seltsam benimmt, Kumpel. Spuck‘s schon aus“, sagte Sirius, als James nicht weitersprach. „Was soll das, Potter? Willst du uns einfach nur einen Schrecken einjagen, oder hast du eine tolle, neue Entdeckung gemacht, die du nicht teilen willst? Du rennst wie von der Acromantula gestochen aus dem Gemeinschaftsraum, stellst komische Fragen über meinen Geburtstag und dann – oooh. Warte. Ich weiß es.“ Ein breites Grinsen erschien auf Sirius‘ Lippen und seine weißen Zähne blitzten im Schlafsaal auf. „Du willst mir ein besonders cooles Geschenk dieses Jahr besorgen, aber willst nicht, dass ich es mitbekomme.“
„Merlin, nein, hier geht es nicht um dich, Sirius“, seufzte James, fuhr sich durch die Haare und wischte dann mit der Hand übers Gesicht, wodurch er seine Brille schief zurückließ. „Okay, ich werd’s euch sagen, aber ihr müsst mir versprechen, nicht auszurasten, okay?“
„Jetzt machst du mir Angst“, murmelte Peter mit einem seltsamen Blick.
„Versprecht es einfach“, verlangte James scharf.
„Okay, okay! Merlin, beruhige dich mal.“ Sirius schüttelte den Kopf. „Welcher Niffler ist dir denn durch den Garten gelaufen?“
James wartete einen Moment, dann sagte er es einfach heraus: „Ich glaube, Remus ist ein Werwolf.“
Der Schlafsaal fiel in Stille. Das einzige Geräusch schien James‘ eigener, schneller Atem und sein pochendes Herz zu sein. Er konnte jeden Tropfen Blut in seinen Ohren rauschen hören, hörte jede Bewegung im Inneren seines Körpers, das Knacken seiner Gelenke, das Knistern seiner Nackenhaare, als sie sich aufstellten. Sirius und Peter starrten ihn mit weitaufgerissenen Augen an. Ihre Blicke wechselten von überrascht, geschockt, belustigt, zu besorgt.
„Du meinst das ernst?“, fragte Peter nach einer viel zu langen stillen Ewigkeit. „Du denkst – du denkst echt, unser Mitbewohner Remus Lupin ist ein Werwolf? Der Remus, der jeden Morgen zwei Tassen Tee trinkt, weil er sonst nicht richtig wach wird und der Remus, der mehr als einmal vor dem Feuer im Kamin eindöst?“
„Okay, du hattest deinen Spaß, Potter“, murmelte Sirius. Der Junge fuhr sich mit der Hand übers Gesicht. „Meine Fresse, für eine Sekunde dachte ich echt, du würdest das glauben. Darüber macht man keine Witze, James, okay?“
„Ich – was?“ James starrte ihn erschlagen an. „Das sollte kein Witz sein!“
„James, komm schon“, fing Sirius an. „Das kannst du einfach nicht ernst meinen. Hast du dir Remus schon mal angesehen? Der kann nie im Leben ein Werwolf sein.“
„Genau“, stimmte Peter nickend zu. „Was auch immer das sollte, witzig war es nicht.“
James ließ einen genervten Laut von sich. „Meint ihr, ich finde sowas witzig? Es jagt mir ‘ne Menge Angst an, überhaupt darüber nachzudenken! Ich meine – Remus ist mein Freund und ich glaube, er könnte ein Werwolf sein! Bin ich – bin ich hier das Arschloch? Bin ich einfach nur ein Idiot, der keine Ahnung hat?“ Er stand auf und fing an im Kreis durch den Schlafsaal zu gehen, sich der Blicke seiner beiden Freunde schmerzhaft bewusst. „Ich will doch auch nicht denken, dass Remus ein Werwolf ist, aber ich habe in diesem Buch über dunkle Kreaturen gelesen und die ganzen Symptome stimmen überein und dann hab ich die Mondtabelle überprüft und die Tage, an denen Remus verschwunden ist, stimmen mit der Vollmondnacht überein und – Merlin, ich will das nicht denken!“
„Dann hör auf!“, sagte Peter laut. „Das ist dein Freund, über den du so denkst. Hör auf.“
„Das will ich doch, aber was ist denn, wenn es wahr ist? Wenn ich richtig liege und Remus wirklich ein Werwolf ist?“
Peter schüttelte rasch den Kopf. „Das kannst du doch einfach nicht ernst meinen, James. Es gibt für alles sicher eine Erklärung und die hat nichts mit Werwölfen zu tun. Komm – komm schon, wir helfen dir, damit klarzukommen, nicht wahr?“ Peter warf einen Blick zur Seite. „Sirius?“
„Was für Symptome?“, fragte Sirius langsam.
„Was? Oh.“ James versuchte sich an die ganze Liste zu erinnern. „Stimmungsschwankungen, wenn der Vollmond nah ist – erinnert ihr euch daran, dass er Marlene zum Weinen gebracht hat? Er war den ganzen Tag schon mies drauf und dann hat er sie richtig angemeckert.“
„Er hatte einen schlechten Tag“, erwiderte Sirius. „Weiter.“
„An Tagen vor dem Vollmond ist er besonders hungrig, wird aber schnell schwach und kann das Essen kaum drin behalten.“
„Er ist mitten in der Pubertät, das geht jedem so. Weiter.“ Aber Sirius klang nicht so, als würde er seine eigene Erklärung glauben.
„Vorm Vollmond wird er blass und schwach und kränklich, schläft die ganze Zeit ein und hat nachts dann Schlafstörungen. Ist dir das nie aufgefallen?“, fragte James. „Ich – ich dachte immer nur, er würde einfach allgemein schlecht schlafen, aber wenn ich genauer darüber nachdenke, dann –“, er ließ den Rest unbeendet in der Luft stehen.
„Kommt schon“, sagte Peter leise. „Das könnt ihr nicht ernst meinen. Remus kann doch kein – Remus ist kein Werwolf. Das ist unmöglich.“
„Weiter“, verlangte Sirius mit scharfer Stimme. Er hatte keine Erklärung genannt.
„Ständig verschwindet er für ein paar Nächte. Er windet sich aus den Fragen, wo er war, mit Antworten, dass er krank war oder seine Mutter besuchen musste. Aber“, James schluckte schwer, „wir haben seine Mutter getroffen. Sonderlich krank wirkte sie nicht auf mich.“
„Vielleicht geht es ihr jetzt besser“, versuchte es Peter mit einer nervösen Erklärung.
„Und dann die Narben“, sagte James. Er traf Sirius‘ Blick und er wusste, sie dachten beiden dasselbe.
„Die hat er sicherlich nicht von Zuhause“, murmelte Sirius leise. Er presste die Lippen zusammen, sodass die Haut rundum seinen Mund schrecklich weiß wurde. „Merlin.“ Sirius ließ sich an der Wand zu Boden fallen. „Die ganze Zeit über dachte ich, er wäre einfach ein wenig kränklich und würde deshalb so oft im Krankenflügel sein, aber… für diese Narben gibt es keine Erklärung, die sich richtig anfühlt, oder?“
„Ich weiß, du hast geglaubt, er hätte sie als Strafe bekommen, aber dann –“
„Dann hätte Dumbledore niemals zugelassen, dass er jeden Monat zurückfährt“, endete Sirius James‘ Satz. „Ich“, er brach ab. „Scheiße.“
„Leute!“, rief Peter laut aus. „Das könnt ihr doch nicht ernst meinen! Das ist Remus, über den wir hier reden. Unser guter Freund Remus, der kann kein Werwolf sein.“
„Wirklich nicht, Pettigrew? Wer hat dich zum Werwolfspezialisten gemacht?“, zischte Sirius säuerlich vom Boden aus. „Du kannst seine Stimmungsschwankungen und seine Fressattacken vielleicht erklären, meinetwegen auch seine Schlaflosigkeit, aber sein Verschwinden? Die Narben? Das seltsame Verhalten, wann immer man ihn darauf anspricht. Komm schon, Pettigrew, nicht einmal du bist so blöd.“
„Sirius“, sagte James erschöpft. „Hör auf Peter zu beleidigen, er – Merlin, ich versteh es doch auch nicht, Pete.“ Er warf dem anderen Jungen einen müden Blick zu. „Ich bin nicht gerade erpicht darauf, dass alle Symptome mit Remus übereinstimmen und ich jetzt denke, dass Remus ein Werwolf ist. Meinst du, ich finde es toll, meinen Freunden vorzuwerfen, dass sie irgendwelche Kreaturen sind?“
„Keine Ahnung“, erwiderte Peter mit höherer Stimme als sonst. „Aber Remus? Wirklich, warum er?“
„Mal angenommen, es stimmt“, überlegte Sirius lautstark, wodurch er Peters nervöse Stimme übertönte, „dann muss Dumbledore es wissen, oder? Und wahrscheinlich Pomfrey auch. Jemand muss dafür verantwortlich sein, dass Remus einmal im Monat – verschwinden kann“, presste er zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor, „und jemand muss da sein, damit er ihn wieder zusammenflicken kann.“
„Schätze schon“, erwiderte James.
Es wurde wieder still zwischen den Jungs, bevor Peter vorsichtig fragte: „Und wenn wir Remus einfach fragen?“
Sirius lachte boshaft auf. „Fantastische Idee, Pettigrew. Das wird eine ganz tolle Unterhaltung. Hey, Remus“, fing er an, eine hohe Stimme nachzuäffen, „hast du die Notizen für Verwandlung? Ich hab meine verloren. Achso und bist du zufällig ein Werwolf und rennst jeden Monat im Verbotenen Wald Amok?“
„Hast du eine bessere Idee, Black?“, blaffte Peter. „Du kannst dich gut beschweren, aber mehr machst du auch nicht.“
„Haltet beide die Klappe“, brummte James und rieb sich die Stelle zwischen seinen Augenbrauen. „Welcher Tag ist heute?“
„Samstag, warum?“
Statt zu antworten holte James seine Mondtabelle wieder hervor und verglich rasch Datum, Jahr und Monat miteinander. „Es ist heute“, meinte er dann leise. „Heute Nacht ist wieder Vollmond.“
„Remus müsste in der Bibliothek mit Evans sein“, meinte Sirius achselzuckend. „Wenn du ihn wirklich selbst fragen willst, dann guck da. Glaub aber nicht, dass er sonderlich erfreut sein wird.“
„Wir müssen ihn ja nicht fragen“, erwiderte James, der die Tabelle wieder weggesteckt und sich erhoben hatte. „Wir gehen zu ihm und weichen ihm einfach die ganze Zeit nicht mehr von der Seite.“
„Weil das auch überhaupt nicht auffällig ist“, brummte Sirius.
„Wir sind seine Freunde, es wird schon nicht auffällig sein, wenn wir Zeit mit unserem Freund verbringen wollen. Du musst ja nicht mitkommen“, fügte James hinzu, als er an Sirius‘ ausgestreckten Beinen vorbeiging.
„Okay, nein, ich komme mit“, murmelte der andere Junge. „Ich sage nur, dass es eine dämliche Idee ist.“
„Du hast aber keine bessere, also beschwer dich nicht.“ Für James war das Thema damit gegessen. Er ging mit Sirius und Peter im Schlepptau an den fleißigen Schülern im Gemeinschaftsraum vorbei, vorbei an der Fetten Dame, die kaum mehr murmelte, als sie gestört wurde und vorbei an den dutzenden Portraits und Gemälden, die im Treppenhaus hingen, bis sie den ersten Stock erreichten. Kaum hatte sie allerdings den Korridor betreten, der in die Bibliothek führte, wurden James‘ Schritte schwerer, langsamer. Er wollte nicht daran denken, wie er reagieren würde, wenn ihm jemand unterstellen würde, ein Werwolf zu sein. Er musste daran zurückdenken, wie Remus damals reagiert hatte, als er, James, beschlossen hatte, dass sie jetzt alle Freunde wären. Es war, als hätte der blässliche Junge niemals im Leben auch nur daran gedacht, dass er jemand Freunde haben würde und so dankte James es ihm… indem er glaubte, Remus wäre ein Werwolf.
„Wir können jederzeit umdrehen und vergessen, dass du dieses Thema jemals angesprochen hast“, murmelte Sirius hinter ihm.
James drückte die Schultern durch. „Nein. Ich brauche die Gewissheit.“ Es war egoistisch, ja, das war ihm mehr als bewusst, aber James könnte nicht einfach weitermachen, als wäre nie etwas gewesen, wenn doch immer der Gedanken in seinem Hinterkopf klopfen würde. In den dunklen Stunden zwischen Wach und Schlaf, wenn James in seinem Bett liegen würde, dann würde dieser Gedanke ein jedes Mal wieder hervorkriechen und er würde sich jedes Mal wieder fragen, ob es wahr sein könnte oder nicht. Und James beschloss, dass es besser war, jetzt zu handeln. „Los.“
Sie betraten die Bibliothek, die zum späten Nachmittag immer gut mit Schülern besucht war. Der Himmel vor den Fenster war in ein sanftes orange getaucht, ein Hinweis auf die bald anstehende Dämmerung. James verstärkte seine Schritte und hielt Ausschau nach dem roten Haarschopf von Lily Evans oder dem blassen, vernarbten Gesicht von Remus Lupin.
„Da“, flüsterte Sirius hinter ihm. Seine ausgestreckte Hand deutete auf einen großen Tisch, an dem ein rothaariges Mädchen in ihrem Alter saß und in aller Ruhe an ihren Aufgaben arbeitete, rund ein halbes Dutzend Bücher neben sich gestapelt.
James nahm einen tiefen Atemzug, dann ging er auf Lily zu. „Hey, Evans“, begrüßte er sie und seine Hand fand automatisch den Weg in seine Haare. „Wo ist Remus?“
„Er ist in den Krankenflügel gegangen“, erwiderte Lily, ohne von ihrer Pergamentrolle aufzublicken.
Sirius sog scharf die Luft ein. „Wieso das?“
Lily sah auf, die Augenbrauen irritiert zusammengezogen. „Weil es ihm nicht gut ging. Er war blasser als sonst und es sah aus, als würde er jeden Moment umkippen. Ich wollte ihn begleiten, aber er hat mich zurückgewiesen“, fügte sie etwas verletzt klingend hinzu.
„Mist“, murmelte James. „Danke, Evans. Wir sehen uns.“ Er wandte sich um, bedeutete Sirius und Peter mit einem Nicken ihm zu folgen und eilte aus der Bibliothek, aber nicht ohne von Madam Pince ein ungeduldiges Schnalzen zu hören. „Das ist sicher nur ein Zufall“, sagte James im Korridor zum Krankenflügel, obwohl er nicht daran glaubte. „Ein dummer Zufall, mehr nicht.“
„Remus wird immer wieder krank“, sagte Peter leise. „Sicher ist es nur das und nicht mehr.“
Sirius blieb ruhig.
Die Tür zum Krankenflügel war geschlossen und James fand, dass das kein gutes Zeichen war. „Vielleicht ist Madam Pomfrey kurz auf Klo“, überlegte er, als er vor der Tür stehen blieb.
„Lasst uns einfach zurückgehen“, sagte Sirius leise. „Was ist, wenn er wirklich dahinter ist und er wirklich ein – ein –“
„Wenn Remus wirklich ein Werwolf ist“, sagte James, „dann schuldest du ihm eine Entschuldigung, dafür, dass du geglaubt hast, er würde Zuhause misshandelt werden.“
„Das meinte ich nicht!“
„Wenn er wirklich ein Werwolf ist“, sagte Peter leise, „dann ändert das alles, oder?“
„Was soll es ändern?“, erwiderte James scharf und drehte sich so schnell um, dass Peter einen Schritt zurückwich. „Du hast dich doch dazu entschieden, sein Freund zu sein oder etwa nicht? Und das, bevor du überhaupt an sowas gedacht hast. Willst du ihn jetzt fallen lassen, sollte es sich als wahr entpuppen? Wenn Remus wirklich ein Werwolf ist, willst du ihn dann dem Ministerium melden, damit die ihn umbringen können?“
„Ich –“, fing Peter perplex an. „Nein, natürlich nicht! Bist du übergeschnappt?”
„Dann ändert es auch nichts.“ Bevor Peter rebellieren konnte, öffnete James die Tür zum Krankenflügel und trat mit einem großen Schritt ein. Der Raum sah aus wie sonst, nur ein Bett war von schneeweißen Vorhängen abgeschirmt. Kaum war James eingetreten, kam die Krankenschwester Madam Pomfrey um den Vorhang herumgelaufen.
„Mr. Potter“, sagte sie fahrig, „wie kann ich Ihnen helfen?“
„Wir wollen zu Remus“, sagte James.
„Zu – zu Mr. Lupin?“, fragte die Heilerin und für den Bruchteil einer Sekunde fiel ihre resolute Maske in sich zusammen. „Ich fürchte, dass ist nicht möglich. Er leidet unter hohem Fieber und braucht absolute Ruhe.“
„Okay.“ James verschränkte die Arme. „Dann bleiben wir hier, bis er wieder aufwacht.“
„Das hier ist kein Warteraum, Mr. Potter“, brüstete die Heilerin mit anklagender Stimme. „Sie können nicht einfach hierbleiben. Ich muss Sie bitten zu gehen, wenn Sie keinen Grund haben, in meinem Domizil zu verweilen.“
James biss sich heftig auf die Lippe. Er suchte Sirius‘ Blick, der mit den Achseln zuckte, dann Peter, der ihn erwartungsvoll ansah. Er musste alles auf eine Karte setzen, das wusste er. Jetzt oder gar nicht. „Wir wissen, dass Remus ein Werwolf ist.“
Es hatte den gewünschten Effekt. Madam Pomfrey stolperte einen Schritt zurück, ganz klar von James überrumpelt, fasste sich aber schnell wieder. Sie richtete ihren Umhang und straffte die Schultern. „Das ist eine sehr direkte Anschuldigung, Mr. Potter“, sagte sie. „Haben Sie auch die nötigen Beweise?“
„Ich – Beweise?“
„Beweise“, wiederholte Madam Pomfrey. „Haben Sie explizite Hinweise darauf, wodurch Ihre These unterstützt werden würde, dass ihr Freund Mr. Lupin tatsächlich ein Werwolf ist?“
„Was soll das denn?“, sagte Sirius plötzlich laut. „Sie wissen es, wir wissen es, reicht das nicht? Können wir ihn einfach sehen, damit wir die ganze Sache klären können? Vielleicht will Remus ja selbst was dazu sagen und sich nicht nur hinter dem Vorhang verstecken. Ich weiß, dass du mich hören kannst, Lupin!“, fügte Sirius unnötigerweise hinzu.
„Mr. Black“, empörte sich die Heilerin. „Wenn Sie weiterhin vorhaben, die Stimme zu erheben, dann muss ich Sie aus dem Krankenflügel entfernen. Es gibt hier gewisse Regeln, die auch Sie einhalten sollten.“
„Ist Remus dahinter?“, fragte Peter mit etwas ruhiger, immer noch nervöser Stimme. „Kann er uns hören? Ist er böse auf uns?“
„Ich“, Madam Pomfrey räusperte sich. „Mr. Lupin befindet sich in einem schwachen Zustand. Es wäre am besten, wenn Sie drei einfach gehen würden. Sie können ihn besuchen, sobald er sich besser fühlt.“
„Aber wenn wir es Ihnen doch sagen“, meinte James ungeduldig. „Wir wissen, dass Remus ein Werwolf ist und wir würden gerne mit ihm reden!“
„Mr. Potter!“ Die Stimme der Heilerin war plötzlich nicht mehr so freundlich und bestimmend. Sie blickte James mit einer Mischung aus Ungeduld, Ärger und Genervtheit an. „Sie werden keinem meiner Patienten solche Dinge unterstellen, wenn Sie nicht einmal den geringsten Beweis haben. Ich werde Sie nun bitten, den Krankenflügel schnellstmöglich zu verlassen, ansonsten werde ich den Kopf ihres Hauses und den Schulleiter informieren!“
James wich einen Schritt zurück. Sein Kopf raste und hinter seinen Schläfen pochte es unangenehm. Er suchte fanatisch nach etwas, mit dem er die Heilerin beruhigen könnte, wurde aber nur wenige Augenblicke später von einer neuen Stimme überrascht.
„Das wird nicht mehr nötig sein, Poppy.“ Albus Dumbledore ragte über den Köpfen der Gryffindor-Zweitklässler. Ohne ein Geräusch zu machen, hatte er sich hinter sie gestellt, die Arme hinter dem Rücken verschränkt und ein sanfter, interessierter Blick hinter seinen Halbmondbrillengläsern. Kaum hatte der Schulleiter James‘ Blick erwidertet, fühlte sich der Junge seltsam durchschaut, als würde der ältere Zauberer plötzlich all seine Gedanken und Geheimnisse kennen. „Mr. Potter, Mr. Black und Mr. Pettigrew. Wenn ich richtig in der Annahme liege, sind Sie drei Freunde von Mr. Lupin, dem Sie ebenfalls gerade einen Fall der Lykanthropie vorgeworfen haben. Ist das korrekt?“
„Ähm – j-ja, Sir“, stammelte James. Er fühlte sich plötzlich sehr klein und unbedeutend und ein rascher Blick zu Sirius und Peter zeigte ihm, dass es ihnen nicht anders ging. „Tut uns leid, Sir, wir wollten nicht –“
„Oh, aber es ist mir vollkommen klar, was Sie wollten, Mr. Potter“, sagte Dumbledore lächelnd. „Sorge und Zuneigung zu ihrem Freund Mr. Lupin haben Sie die Dinge sehen lassen, von denen wir gehofft hatten, dass es niemand sehen würde. Sie haben das Geheimnis eines jungen Mannes herausgefunden, der nichts lieber in seinem Leben wollte, als ein normaler Junge zu sein. Ist das nicht so, Mr. Lupin?“
Während Dumbledore gesprochen hatte, hatte der schwächlich aussehende Remus die Vorhänge vor seinem Bett zur Seite gezogen, sodass er sie aus seiner Position im Krankenbett aus sehen konnte. Er war noch blasser als sonst, Tränen klebten auf seinen Wangen und er hatte tiefe, dunkle Schatten unter den Augen. Mit einer Hand krallte er sich fest in die weißen Laken. Er nickte schwach. „Wie habt ihr es herausgefunden?“, fragte er leise, seine Stimme kaum noch zu hören.
„Es war alles James!“, sagte Peter schnell, bevor James ihm einen giftigen Blick zuwarf. „Tut mir leid, Remus.“
„Du willst es nicht abstreiten?“, fragte James überrascht.
„Wozu? Ich bin mir sicher, dass ihr nicht einfach nur zufällig herumrennt und mir vorwerft, ein Monster zu sein.“
„Niemand hat etwas von Monster gesagt“, sagte Sirius. „Du bist – naja, immer noch Remus, schätze ich. Mit einem –“
„Mit einem pelzigen Problem“, fügte James an.
Professor Dumbledore ließ ein leises Glucksen von sich. „So kann man es natürlich auch umschreiben. Mr. Potter, Mr. Black, Mr. Pettigrew, ich muss Ihnen wohl nicht sagen, dass Mr. Lupins Geheimnis auch das bleiben soll – ein Geheimnis. Das negative Stigmata, das Werwölfe noch immer anhaftet, würde sich mit großer Wahrscheinlich nicht nur auf sein Leben auswirken, sollte die Schülerschaft davon Wind bekommen.“
„Ist schon gut, Professor Dumbledore. Es war eh nur eine Frage der Zeit, bis es jemand herausfindet“, murmelte Remus trüb. „Ich werde morgen früh meine Koffer packen und dann –“
„Bist du übergeschnappt?“, unterbrach Sirius ihn mit aufwallender Wut in der Stimme. „Glaubst du etwa, wir rennen jetzt gleich in die Große Halle und verkünden es allen? Du bist immerhin unser Freund, Remus!“
„Genau! Dein Geheimnis ist sicher mit uns!“, fügte Peter aufgeregt hinzu. Es unterstützte lediglich die Ernsthaftigkeit der Situation, dass Sirius ihm dieses Mal keinen feindseligen Blick zuwarf. „Du kannst uns doch vertrauen.“
„Professor“, fing James vorsichtig an, womit er die funkelnden, blauen Augen des Schulleiters auf sich zog. „Vielleicht wäre es besser, wenn Sie unsere Gedächtnisse modifizieren.“
„Oh?“ Dumbledore sah ihn erstaunt an.
„Was? James, nein, du musst nicht –“, sagte Remus panisch klingend, aber James unterbrach ihn.
„Remus ist offensichtlich nicht bereit dafür, sein Geheimnis zu teilen. Ich hätte es nicht herausfinden sollen, es tut mir leid. Wenn Sie die Erinnerungen daran löschen würden, dann müsste er nichts befürchten. So wäre es doch besser für uns alle, oder nicht?“
Dumbledore strich sich langsam durch den langen, weißen Bart. „Wie sehen Sie das, Mr. Lupin? Es ist immerhin ihr Geheimnis, nehme ich an, deswegen wäre es doch nur fair, wenn Sie entscheiden dürften, nicht wahr?“
Alle Augen landeten auf den kränklich aussehenden Jungen im Bett. Remus lehnte sich langsam in seinem Kissen zurück. „Wenn ihr es wissen würdest, dann müsste ich mir immerhin keine dummen Ausreden einfallen lassen“, murmelte er kaum zu hören. „Aber wahrscheinlich werdet ihr eh nicht mehr den Schlafsaal mit mir teilen wollen, wenn –“
„Remus, ich schwöre bei Merlins Unterhose, wenn du nicht – tut mir leid, Professor“, Sirius unterbrach sich selbst, als er realisierte, dass er beinahe vor dem Schulleiter geflucht hatte. Sirius mochte vieles sein, aber er war nicht so dumm, dass er dachte, er könnte mit allem durchkommen.
„Ich bin mir sicher, ich habe gerade nichts gehört“, meinte Dumbledore beinahe vergnügt klingend. „Reden Sie nur weiter, Mr. Black, ich glaube die nächsten Sekunden werde ich seltsamerweise taub sein.“
„O-okay.“ Sirius räusperte sich, dann blickte er wieder zu Remus, der ihn aus dem Bett heraus überrascht anstarrte. „Oh, tu nicht so doof, Lupin, wir sind deine Freunde. Meinst du, wir werden dich jetzt aus dem Schlafsaal werfen und dann nichts mehr mit dir zu tun haben wollen, nur weil wir jetzt wissen, was los ist? Ich dachte eigentlich, dass du uns mittlerweile gut genug kennen würdest, damit du das nicht glaubst. Wir sind deine Freunde, kapiert? So schnell wirst du uns nicht los.“
James und Peter nickten zustimmend und James schenkte Remus ein aufmunterndes Lächeln, bevor er hinzufügte: „Es ist trotzdem deine Entscheidung. Sicherlich ist Professor Dumbledore geschickt genug, damit er uns die Erinnerungen daran entfernen kann.“
„Vielen Dank für das Kompliment, Mr. Potter“, erwiderte der Schulleiter glucksend.
„Ihr würdet wirklich so weit gehen?“, fragte Remus vorsichtig.
„Natürlich“, antwortete James binnen eines Herzschlages und blickte dann zu den anderen beiden. Peter biss sich zwar zuerst auf die Lippen, nickte dann aber und Sirius hielt grimmig Remus‘ Blick, bevor er ebenfalls zustimmend nickte.
„Wir sind deine Freunde, Remus“, wiederholte der Black-Junge.
Ein kleiner Damm wurde gebrochen und Remus fing an zu schluchzen. Er vergrub das Gesicht in den Händen, als Madam Pomfrey an seine Seite eilte und leise, beruhigenden Worte murmelte.
„Sie beweisen großen Mut“, sagte Dumbledore leise. „Nicht viele Zauberer würden zulassen, dass man ihr Gedächtnis modifiziert, noch würden viel weniger Zauberer im Angesicht mit einem Menschen, der unter Lykanthropie leidet, eine solch innige Freundschaft zur Schau stellen. Sie vier scheinen ein unkaputtbares Band in Ihrer kurzen Zeit an Hogwarts erschaffen zu haben, ein Band, welches hoffentlich eine Lebzeit anhalten wird.“ Der Schulleiter lächelte. „Ich bin mir sicher, Sie werden große Dinge schaffen, meine Herren.“
James war sich nicht ganz sicher, was der Schulleiter damit sagen wollte, aber er konnte heraushören, dass es sich wohl um ein ziemliches Kompliment handelte. „Dankeschön, Sir.“
„Wir wollen nur, dass es Remus gut geht“, sagte Sirius langsam. „Er ist – ich meine, Werwölfe sind gefährlich, oder?“
„Seien Sie versichert, Mr. Black, weder Mr. Lupin noch irgendein anderer Schüler ist während seiner unglücklichen Transformation in Gefahr“, sagte Dumbledore. „Für die Sicherheit aller ist immer gesorgt, darüber müssen Sie sich keine Sorgen machen.“
„Oh. Okay. Gut, denke ich. Ich würde nicht wollen, dass Remus – dass er sich verletzt.“
„Leider ist es nicht ausgeschlossen, dass Mr. Lupin sich während seiner Verwandlung zum Vollmond nicht verletzt. Ich bin mir sicher, Sie haben sich ausgehend darüber informiert, wie die Verwandlungen von Werwölfen beschrieben werden. Sie sind schmerzhaft und keineswegs eine leichte Last auf den Schultern eines so jungen Zauberers. Da Mr. Lupin während seiner gesamten Transformation nicht in der Lage sein wird, einem anderen Menschen Schaden zuzufügen, noch mit anderen Wölfen zu jagen oder raufen, wird er immer wieder dazu übergehen, sich selbst zu attackieren. Es ist die unveränderliche, destruktive Natur der Werwölfe, befürchte ich.“
„Aber Madam Pomfrey bekommt das doch immer wieder hin, oder?“, fragte Peter ängstlich klingend.
„Madam Pomfrey tut, was in Ihrer Macht steht“, erwiderte Dumbledore mit einem traurigen Blick. „Aber selbst alle Heiler der Welt könnten Mr. Lupin nicht die Last nehmen, die sich Lykanthropie nennt, befürchte ich.“ Dumbledore zog eine kleine, goldene Uhr aus seinem Umhang. Nach einem Blick auf diese, sagte er: „Es wird Zeit, Poppy.“
Die Heilerin blickte überrascht auf, warf einen raschen Blick zum Fenster und nickte. „Natürlich, Schulleiter. Komm, Remus, wir müssen los. Ich helfe dir auf, hier, nimm meinen Arm.“
James beobachtete mit einem schrecklich dicken Kloß in seiner Magengegend, wie Remus kaum in der Lage war, selbst aufzustehen, als Madam Pomfrey ihm aus dem Bett half. Mit wackligen Beinen ließ er sich bis zu der kleinen Gruppe führen. Er war unfassbar blass im Gesicht, sodass seine Narben deutlich hervorstachen und man selbst die bläulichen Adern erkennen konnte. „Wo bringen Sie ihn hin?“, fragte James leise.
„Das muss nicht in Ihrer Sorge liegen, Mr. Potter“, erwiderte Madam Pomfrey.
„Remus wird an einen sicheren Ort gebracht“, versicherte Professor Dumbledore ruhig. „Es wäre wohl am besten, wenn sie jetzt in die Große Halle gehen würden. Das Abendessen wartet nicht ewig auf Sie.“
„Aber – können wir nicht hierbleiben?“, fragte Sirius, was ihm einen überraschten Blick von Remus erntete. „Wir wollen auf Remus warten.“
„Mr. Lupin wird vor der Morgendämmerung nicht zurück sein, Mr. Black. Sollte sich Mr. Lupin allerdings in der Lage fühlen, Besucher zu empfangen, so können Sie morgen früh zurückkehren. Mr. Lupin, sind Sie damit einverstanden?“
Remus nickte schwach. „Wenn ihr mich immer noch wollt“, murmelte er leise. „Ich geh so schnell nirgendswo anders hin.“ Der schwächliche Versuch eines Lächelns bildete sich auf Remus‘ Lippen.
James‘ Augenwinkel fingen an zu brennen. „Natürlich wollen wir. Wir kommen morgen früh wieder, Remus, versprochen. Geh einfach nicht weg, okay?“
Chapter 14: 14. Jahr 2: Narben
Summary:
das ist ein fröhliches kapitel, ich schwöre
Chapter Text
Remus konnte sich an keine Verwandlung erinnern, die schlimmer war. Seine Gedanken waren ein einziges Chaos, er fühlte sich schwach und ausgelaugt, sein Körper war geschunden und übersäht mit neuen Wunden und Verletzungen. War es der Wolf, der seine menschlichen Gedanken gespürt hatte, oder war es der Mensch in ihm gewesen, der den Wolf dazu gebracht, so zerstörerisch zu sein?
Madam Pomfrey brauchte an diesem Morgen länger als üblich, um seine vielen Verletzungen zu heilen. Sie tat ihr Bestes, damit Remus halbwegs gesund aussah, aber auch ihre Kräfte hatten ihre Grenzen. Eine neue, feingliedrige, rote Narbe zog sich über seinen Hals bis zur seiner Brust, ein Mark des Wolfs. Die Klaue hatte seine Haut tief eingerissen. Blut klebte am Boden und an den Wänden. Die Heilerin hatte mehrere Zauber anwenden müssen, damit der widerlich metallische Geruch aus der Luft verschwunden war, bevor sie Remus einen Blutbildungstrank eingeflößt und seine Wunden behandelt hatte. „Nichts, was ich nicht schon gesehen hätte“, hatte sie gemurmelt, als Remus die Verletzung bedecke wollte.
Reden war zu anstrengend. Er hatte lediglich gegrunzt oder genickt, wenn sie Fragen gestellt hatte. War es auch der Wolf, der seine Gedanken übernahm, oder war Remus nur zu schwach? Er fühlte sich wie ein Besucher in seinem eigenem Körper. Vor der Verwandlung hatte Remus es akzeptiert, dass nichts mehr so sein würde, wie er es gewohnt hat und als sie endlich wieder im Krankenflügel waren und er sich in eines der Betten legen konnte, war er der festen Überzeugung, dass es das letzte Mal sein würde, dass er dazu die Chance hatte.
„Du musst dir keine Sorgen machen“, hatte Madam Pomfrey gesagt. „Der Schulleiter hätte deine Freunde nicht gehen lassen, wenn er nicht glauben würde, dass sie ein Geheimnis für sich bewahren können.“ Sie hatte ihm einen Schlaftrank gereicht und Remus hatte nicht die Kraft gehabt, ihr zu sagen, dass das nicht der Grund für seine Sorge war.
Ein paar ruhige, traumlose Stunden später fühlte sich der Junge zwar besser und hatte endlich wieder genug Kraft zum Sprechen, aber seine Gedanken waren noch immer dieselben. Wie sollte er seinen Freunden jemals wieder in die Augen sehen können, jetzt wo er wusste, dass sie wussten, was er war? Remus war ein Monster, eine Bestie in Menschengestalt. Er würde jeden von ihnen reißen und töten und fressen, wenn sie ihm in seiner wahren Form begegnen würden. Er wusste, es war eine schlechte Idee gewesen, Hogwarts zu besuchen. Sein Vater hatte nicht umsonst gesagt, es würde nicht sicher genug sein.
Remus hatte lang genug versucht, mit der Lüge zu leben, dass er so war, wie alle anderen, aber nichts konnte ihn davon überzeugen, dass das tatsächlich stimmte. Ein Monster wie er war nicht dazu geschaffen, inmitten von hundert anderen Kindern zu leben und zu lernen. Die kurze Zeit, die er Freunde gehabt hatte, drei wunderbare Freunde, die ihn als einen der ihren akzeptiert hatten, war wunderbar gewesen, wie ein wahrgewordener Traum. Remus hätte sich nicht einmal träumen lassen können, jemals solch wunderbare Freunde zu haben, aber jeder Traum musste irgendwann ein Ende finden. Wenn dieser doch nur etwas länger hätte anhalten können.
„Remus, Schatz, bist du schon wach?“, flog die sanfte Stimme Madam Pomfreys durch den Saal. Ihre leisen Schritte näherten sich seinem Bett, welches noch immer hinter den Vorhängen verdeckt war.
Er hätte die Zeit, sich wieder schlafen zu legen, könnte der Heilerin vorspielen, dass er nicht wach war und sie würde wieder gehen. Ein paar Mal würde er damit durchkommen, dann würde selbst die sanftmütige Madam Pomfrey einen Schlussstrich ziehen. Remus seufzte lautlos und bereitete sich darauf vor, von der Heilerin untersucht zu werden.
„Ah, gut“, sagte sie lächelnd, kaum hatte sie seinen Vorhang beiseitegezogen. „Du hast Besuch, Remus. Der Schulleiter und deine Freunde.“
Es war unausweichlich gewesen, dachte er. Nach einer Nacht voll Bedenkzeit waren James, Sirius und Peter sicherlich zu der Entscheidung gekommen, dass es besser wäre, wenn Remus verschwinden würde und der Schulleiter war endlich auch zu dieser Erkenntnis gekommen. Es war töricht gewesen, einen Werwolf nach Hogwarts zu holen, egal wie sehr dieser Werwolf es sich gewünscht hatte.
„Du musst nur etwas sagen, dann schicke ich sie wieder weg“, meinte die Heilerin vorsichtig. Sie legte eine Hand auf seine Stirn, ihre weiche Haut brannte wie Feuer. Schnalzend fügte sie an: „Immer noch Fieber. Ich sollte sie wegschicken und du ruhst dich aus.“
„Nein“, krächzte Remus und räusperte sich. Dankend nahm er den Wasserkrug an, den Madam Pomfrey ihm reichte und nach einem ausgiebigen Schluck, der seinen Hals befeuchtete, sagte er: „Ich will es hinter mich bringen.“
„Hinter dich – Remus, du musst nicht gehen“, erwiderte sie mit fester Stimme. „Niemand wird dich wegschicken.“ Sie hätte genauso gut mit dem Wasserkrug reden können. Kopfschüttelnd zog sie den Vorhang ein wenig weiter auf, dann sagte sie etwas lauter: „Er kann jetzt Besucher empfangen, Professor Dumbledore, aber nicht für lange. Eine halbe Stunde, mehr nicht, dann muss er sich weiter erholen.“
„Selbstverständlich, Poppy“, sagte Albus Dumbledore. Er sah wie am Vorabend aus; langer, weißer Bart, ein Funkeln in den Augen, ein bunter Umhang. Neben ihm standen drei recht verloren wirkende Gryffindor-Zweitklässler.
James zuckte die ganze Zeit über nervös mit seinen Händen hin und her, zog am Stoff seines T-Shirts oder fuhr sich durch die ohnehin chaotischen Haare, Sirius sah blasser als sonst aus und schien die ganze Nacht nicht geschlafen zu haben und Peters Augen wollten die von Remus‘ nicht ganz treffen.
„Wie geht es Ihnen, Mr. Lupin?“, fragte Dumbledore, als er neben seinem Bett angekommen war. „Ich hoffe, Ihre Nacht war erträglich.“
„Sie war okay, Sir“, erwiderte Remus und tat sein Bestes, niemanden in die Augen zu sehen.
„Verdammte Scheiße, Lupin“, sagte Sirius atemlos klingend. „Du siehst schrecklich aus.“
„Du sahst auch schon besser aus“, murmelte Remus trüb, was Sirius tatsächlich zum Lachen brachte.
„Ja, naja, mein Schönheitsschlaf musste ausfallen, weil ich mir Sorgen um meinen Mitbewohner gemacht habe, der sich irgendwo in einen Werwolf verwandelt hat. Wie geht’s dir?“, fügte Sirius leise an.
„Blendend“, sagte Remus zwischen zusammengebissenen Zähnen.
„Kannst du uns angucken?“, fragte James so plötzlich, dass Remus aufblickte. Seine braunen Augen waren voller Sorge verzogen und es fehlte das allgegenwärtige Glänzen in ihnen. „Kannst du ehrlich sein?“
„Ehrlich, James?“ Remus fühlte sich, als wäre ihm die Luft aus dem Körper gepresst worden. „Okay, ich werde ehrlich sein. Ich hasse euch dafür, dass ihr mein Geheimnis herausgefunden habt“, sagte er lauter als beabsichtigt. „Aber ich kann euch nicht hassen, weil ihr – weil ihr meine Freunde seid. Und ihr“, er schluckte schwer, guckte jeden von ihnen an, sah die zusammengezogenen Brauen in Sirius‘ Gesicht und die nervös hüpfenden Pupillen von Peter, „und ihr seid trotzdem hier, obwohl ich ein Monster bin.“
„Remus“, murmelte James etwas erschlagen.
„Spiel hier jetzt nicht das Opfer“, sagte Sirius laut, womit er Remus unerwartet erwischte. „Wir haben vielleicht keine Ahnung, wie es ist, wenn man ein Werwolf ist und wie man darunter leidet, aber wenn du jetzt denkst, wir würden dich armes kleines Würstchen allein lassen, weil du uns plötzlich zu viel bist oder weil du nicht mehr der unschuldige Bücherwurm bist, den wir kennen, dann hast du dich aber gewaltig geschnitten. Wir sind hier, weil wir weiterhin deine Freunde sein wollen und wir wollen dir helfen. Wir sind gestern Abend nicht einfach nur ins Bett gegangen und haben so getan, als wäre das alles nicht passiert, okay? Wir haben darüber geredet und –“
„Oh, toll, ihr habt sofort über mich geredet“, unterbrach Remus. „Kaum war ich weg, habt ihr darüber geredet, was für ein Monster ich doch bin!“
„Mr. Lupin!“ Keiner von ihnen hatte bisher gehört, wie Dumbledore die Stimme erhoben hatte und für einen Moment hatte Remus sogar vergessen, dass Schulleiter noch immer dagewesen war. „Ihre Freunde sind vertrauenswürdiger, als Sie denken und ich bin mir mehr als sicher, dass Sie nicht hinter Ihrem Rücken über Sie reden. Die Enthüllung eines solchen Geheimnisses betrifft leider nicht nur Ihr Leben, Mr. Lupin. Sie sind vielleicht der Leidtragende in dieser ganzen Geschichte, aber Ihre Freunde stecken nun mittendrin. Und ich wage mich daran zu erinnern, was Mr. Black mich auf dem Weg hierher gefragt hat. Ich zitiere: Gibt es denn nichts, womit wir Remus helfen können?“ Dumbledores hellblaue Augen brannten sich tief in Remus‘ Blick. „Wir alle verstehen, dass Ihnen diese Situation unwohl ist, aber Ihre Freunde sind nicht die richtige Zielscheibe für Ihre Wut, Mr. Lupin.“
Remus starrte den Schulleiter an, als hätte er ihn noch nie zuvor gesehen, dann wandte er beschämt den Blick ab. „Tut mir leid, Sir.“
„Ich verdiene keine Entschuldigung, Mr. Lupin.“
„Tut mir leid, Sirius“, murmelte Remus.
„Wir wollen dir helfen, Lupin“, erwiderte Sirius ein wenig säuerlich klingend, aber ein schiefes Lächeln hatte sich auf seine Lippen gelegt. „Ich hab vorgeschlagen, dass wir Montys Bett einfach in einen Kauknochen verwandeln, den du mitnehmen kannst.“
Dumbledore gluckste belustigt. „Ich bin mir sicher, Mr. Fortescue wäre nicht gerade glücklich damit, wenn er sein Bett dafür opfern müsste.“
„Madam Pomfrey“, meldete sich Peter endlich zu Wort, „gibt es denn gar nichts, womit man Remus dauerhaft helfen kann? Kann man seine Verwandlung nicht stoppen?“
„Ich befürchte nicht, Mr. Pettigrew“, erwiderte die Heilerin mit einem traurigen Blick.
„Oh.“
„Ist schon okay, Pete“, sagte Remus. „Ich hab mich dran gewöhnt.“
„Aber es tut weh, oder? Die Verwandlung? James hat uns gestern was aus dem Buch vorgelesen und da stand, dass die Verwandlung echt weh tut.“ Peter kaute nervös auf seiner Lippe herum. „Kann man da denn gar nichts machen? Gibt es keinen Zaubertrank oder so dagegen?“
„Es gibt kein Heilmittel“, meinte Remus müde. Es brach ihm das Herz, dass er Peter enttäuschen musste, obwohl er sich damit eher selbst enttäuschte. „Ich muss damit klar kommen.“
„Das ist doch sch- das ist doch blöd“, verbesserte sich Peter schnell mit einem Seitenblick auf den Schulleiter. Er war nicht mutig genug, wie Sirius, dass er vor Dumbledore tatsächlich fluchen würde – oder vielleicht war er schlau genug, Remus wusste es nicht ganz.
„Dann können wir gar nichts tun?“, sagte James vorsichtig. „Wir können ihm gar nicht helfen?“
Remus schämte sich, als seine Augenwinkel anfingen zu brennen. Er wischte sich mit einem Räuspern über die Augen, in der Hoffnung, dass es niemand bemerkt hätte.
„Ich befürchte, was seine Verwandlungen angeht, nicht“, erwiderte Professor Dumbledore mit einem traurigen Lächeln. „Aber sicherlich würde Mr. Lupin es gutheißen, wenn seine Freunde ihm dabei helfen würden, verpassten Schulstoff nachzuholen oder eine helfende Hand bei Hausaufgaben zu sein. Auch höre ich, dass Mr. Lupin sich manchmal weigert, nach seinen Verwandlungen richtig zu essen“, fügte der Schulleiter mit einem Nicken in Richtung Madam Pomfrey hinzu.
„Ich habe einfach keinen Appetit“, murmelte der junge Werwolf.
„Unsinn“, sagte Madam Pomfrey. „Du musst essen, Remus.“ Sie strich über seine Bettdecke, um ein paar Falten wegzuwischen, dann klopfte sie vorsichtig gegen sein Kopfkissen. „Die Vollmondnächte sind kräftezehrend, das sehe ich. Du kannst mir nicht vorspielen, dass du keinen Hunger hättest.“
„Damit helfen wir“, sagte Sirius mit schneller Stimme, sodass er sich beinahe verhaspelt hätte. „Wir helfen Remus mit all den Sachen. Wir können – wir können Notizen für ihn im Unterricht machen und dann hierher kommen und die Hausaufgaben machen und – und ihn zum Essen zwingen.“ Sirius‘ graue Augen bohrten sich beinahe aufgeregt in Remus. „Solange es Remus hilft.“
„Ich bin sicher, es ist bereits Hilfe genug, dass Ihr weiterhin seine Freunde seid“, sagte Dumbledore, „aber niemand hat etwas dagegen, wenn Ihr Mr. Lupin auch in anderen Dingen aushelft.“
„Ich komme gut mit meinen Schulsachen zurecht“, konterte Remus beinahe trotzig. Er wollte nicht, dass alle um ihn herumwuseln würden, als wäre er ein krankes, kleines Kind. Er konnte sehr wohl allein verpassten Stoff nachholen und bisher hatte er jede Hausaufgabe pünktlich abgegeben, egal ob Vollmond war oder nicht. Remus musste sich zusammenreißen, damit er nicht schmollte.
„Oh, stell dich nicht so an, Lupin“, erwiderte James. „Ein bisschen Hilfe tötet dich schon nicht. Außerdem würdest du das gleiche für einen von uns tun.“ Er lächelte schief, das berühmte Potter-Lächeln, von dem James so gerne Gebrauch machte. Mit den Fingern fuhr er sich die Haare, eine Geste, die Remus bisher mehr als nur bekannt war. „Wir wollen das nicht machen, weil wir nicht glauben, dass du es nicht allein kannst, weißt du?“
„Genau“, ergänzte Sirius. „Freunde helfen einander, ob sie es wollen oder nicht.“ Der Black-Junge zuckte kurz mit den Schultern. „Damit musst du wohl klar kommen.“
„Sieht nicht so aus, als hätten Sie eine großartige Wahl, Mr. Lupin“, sagte Professor Dumbledore belustigt. „Aber es ist wirklich beruhigend, dass Sie solch gute Freunde gefunden haben, meinen Sie nicht auch, Madam Pomfrey?“
„Oh, ich bin ganz Ihrer Meinung, Schulleiter. Es lässt mich nachts besser schlafen, wenn ich weiß, dass Remus nicht allein ist.“
Remus wurde rot im Gesicht – die brennende Hitze nahm zuerst seine Wangen ein, dann breitete sie sich in seinem ganzen Körper aus. Er wollte das Gesicht in seiner Decke vergraben und am besten erst wieder hervorkommen, wenn er wieder allein war. Der Traum existierte weiter. Die drei Traumgestalten an seinem Bett würden nicht weggehen und er hatte das zu akzeptieren. Ob Remus nun wollte oder nicht, er hatte drei wundervolle, unglaublich perfekte Freunde, die ihn so mochten, wie er war. Es war genug, um einen erwachsenen Mann weinen zu lassen und es war definitiv genug, damit der zwölfjährige Remus sich erneut über die Augen wischen musste. Womit hatte er James, Sirius und Peter nur verdient? Seine Mutter hatte nach wie vor Recht behalten – Hogwarts würde die beste Zeit seines Lebens werden und er würde Freunde finden, die ihn liebten.
„Aww, nicht weinen, Lupin“, neckte Sirius ihn. „Sonst werde ich auch ganz emotional.“
„Und wenn Sirius anfängt zu heulen, dann muss ich auch“, sagte James lachend. „Komm schon, Remus, sei nicht so. Wir haben dich doch lieb.“
„Ihr seid echt der Hammer“, schniefte Remus. Dankbar nahm er das von Professor Dumbledore herbeigezauberte Taschentuch entgegen. Er schämte sich nicht, dass er vor dem Schulleiter, seinen Freunden und Madam Pomfrey weinte – er war sich sicher, dass er auch ein paar glitzernde Tropfen in den Augen seiner Freunde entdecken konnte und als Professor Dumbledore sich höflich abwandte, war er sich mehr als sicher, dass der Schulleiter sich selbst mit einem zweiten Tuch kurz die Augen trocknete. „Ich weiß nicht, wie ich euch jemals danken soll.“
„Du könntest mir den Aufsatz für Geschichte schreiben – nur ein Witz!“, sagte Sirius und hob die Hände in einer abwehrenden Geste, als Madam Pomfrey ihm einen zweifelhaften Blick zuwarf. „Mein Geburtstag steht bald an. Dir fällt schon was ein, Lupin“, fügte Sirius zwinkernd hinzu.
Remus konnte nicht anders, als zu lachen und gleichzeitig weiter zu weinen. „Abgemacht.“
***
Zwei Tage später konnte Remus wieder in den Gemeinschaftsraum zurückkehren. Seine Freunde hatten ihr Wort gehalten; am Montagnachmittag waren sie allesamt mit angesammelten Notizen aus den Unterrichtsfächern in den Krankenflügel gekommen und hatten sie ihm stolz überreicht, bevor Sirius sich lautstark bei Madam Pomfrey danach erkundigt hatte, ob Remus denn auch brav gegessen hätte. Es hatte Remus alle Willenskraft gekostet, nicht sein Kissen nach Sirius zu werfen.
Er würde es nicht zugeben, aber mit den Notizen seiner Freunde und der ungefragten Hilfestellung bei all seinen Hausaufgaben, war er wesentlich schneller mit all seiner Arbeit fertig als üblich. Madam Pomfrey war zwar für alle Fragen zu haben, aber sie wusste auch nicht alles, was in seinen Büchern stand und deswegen hatte Remus oftmals seine Hausaufgaben am Morgen vor dem Unterricht erledigen müssen. Er war sich sicher, seine Lehrer würden es gutheißen, dass er endlich nicht mehr schnell hingekritzelte Aufsätze abgab, so korrekt sie vom Inhalt auch waren.
Die Jungs waren außerdem mit einem Codewort zusammengekommen, damit sie in der Öffentlich über Remus‘ Krankheit reden konnten. „Es ist dein pelziges, kleines Problem“, sagte James etwas zu stolz über seinen Einfall. „Und wenn irgendjemand fragt, dann sagen wir, es handelt sich um ein sehr aggressives Kaninchen. Damit könnte man sicher auch deine Verletzungen erklären.“ Remus hatte gelernt, dass es nicht viel Sinn ergab, gegen James (oder Sirius) zu argumentieren, wenn sie einen solchen Einfall hatte, der ihrer Meinung nach einfach nur perfekt war. Außerdem – so musste er lachend zugeben – war es erfrischend, wenn er über sein Werwolfproblem reden konnte, ohne dass seine Gesprächspartner seine Eltern oder Madam Pomfrey waren. James, Sirius und Peter nahmen ihn mehr als ernst und doch fühlte es sich für Remus besser, unschuldiger an, wenn er mit ihnen darüber redete und es sein kleines, pelziges Problem nannte – es gab ihm das gute Gefühl, dass seine Krankheit nicht alles war, was ihn ausmachte.
An diesem Abend saßen die vier Jungs in einem Kreis auf dem Boden. Sirius hatte sich seine Krawatte in einem Schwall an rebellischem Einfallsreichtum um den Kopf gebunden und hatte zusammen mit James die Küche um ein paar Süßigkeiten erleichtert. „Die Hauselfen werfen es dir praktisch hinterher“, sagte er und biss den Kopf eines Schokofrosches ab. „Es ist wirklich fast unmöglich, ohne Beute zu gehen.“
„Eigentlich wollten wir auch nur was Essbares besorgen, damit wir dich zum Essen zwingen können“, erklärte James daraufhin.
Remus verdrehte die Augen. „Ich esse genug, Mum.“
„Haha“, erwiderte James trocken. „Wir wollen nur sicher gehen, dass du vor lauter Kraftlosigkeit nicht zusammenbrichst, kleiner Remus.“
„Okay, das war ein persönlicher Angriff“, sagte Remus. „Ich bin überhaupt nicht mehr klein. Ich bin mindestens so groß wie du!“
„Aww, siehst du das, Sirius? Der kleine Remus glaubt, er wäre schon einer der großen Jungs.“
„Sie können es nie erwarten, erwachsen zu werden“, seufzte Sirius, den Mund voller Schokolade.
„Ich weiß gar nicht, wieso ich mit euch abhänge. Ihr seid echt die schlimmsten Menschen, die ich je getroffen habe.“
„Sag sowas nicht, Remus“, meinte Peter, der einen Kesselkuchen verspeiste und immer wieder Krümel auf den Boden fallen ließ. „Eigentlich hast du uns richtig gern.“
„Überhaupt nicht“, sagte Remus. „Ich toleriere eure Existenz nur, bis ich bessere Freunde finde.“
„Ah“, meinte Sirius nickend. „Du willst nämlich gerne mit Schniefelus befreundet sein. Ich sehe doch, wie du ihm immer ganz sehnsüchtige Blicke zuwirfst.“
„Wow.“ James schüttelte sich kurz. „Da haben sich die Linien zwischen Spaß und Realität gerade ein wenig zu sehr vermischt. Bin dafür, dass wir sowas nie wieder anbringen.“
„Apropos Schniefelus“, Peter warf sich eine Bertie Botts Bohne in den Mund, „wann ist denn unser großer Rachefeldzug endlich dran?“
„Das ist ein sehr guter Punkt, Pete“, meinte James anerkennend. „Ich bin der Meinung, wir sollten uns langsam mal an die Details setzen. Ich weiß, wir haben eine grobe Idee – wie immer, eine wahnsinnig gute Idee, Remus“, fügte er mit einem Grinsen in Remus‘ Richtung hinzu, „aber wir haben noch keinen Plan, wie wir das Ganze durchziehen, nicht wahr?“
Es fühlte sich beinahe wie eine andere Realität an. Sie redeten und lachten und verspeisten Süßigkeiten, als wäre die Unterhaltung im Krankenflügen nie geschehen, als hätten die Jungs nie herausgefunden, dass Remus ein Werwolf war, als wäre nie ein düsteres, gefährliches Geheimnis zwischen ihnen gewesen, dass sich jetzt endlich gelichtet hatte. Zusammen mit seinen Freunden auf dem Schlafsaalboden zu sitzen war für Remus solch ein Privileg, nachdem sie die Wahrheit herausgefunden hatten. Er wusste, nicht jeder hätte so reagiert wie seine Freunde und er wusste außerdem, dass er das nicht als ein allzu gutes Zeichen nehmen sollte. Remus durfte jetzt nicht nachlassen. Seine Freunde waren gute Menschen, die ihn akzeptierten, aber nicht jeder war so. Es gab dort draußen genug Menschen, die ihn dafür umbringen würden, für das, was er war.
Die Nacht zog ein. Dunkle Schatten füllten den Schlafsaal, schwarze Wolken flogen am Fenster vorbei und der abnehmende Mond war kaum hinterm dunklen Rahmen zu sehen, aber Remus spürte den nachlassenden Sog. Der Mond ließ ihn langsam gehen und sein innerer Wolf legte sich für den Rest des Monats schlafen. Remus konnte endlich einatmen, ohne dass er das Gefühl hatte, jeden Moment im Inneren zu bersten. Nach und nach überfiel die Müdigkeit die vier Jungs. Augenlider wurden schwerer, Gähner wurden unterdrückt und die Gespräche wurden langsamer, schwerer, bis schließlich James mit beiden Händen auf seine Oberschenkel schlug. „Zeit fürs Bett, Männer.“
Es gab keine Beschwerden und kaum hatte er das gesagt, nahm ein kollektives Gähnen die kleine Gruppe ein, was sie alle grinsen ließ. Während Remus im Badezimmer gewesen war, war Monty hereingekommen und hatte sich ebenfalls ins Bett gelegt. Remus fand den Weg durch die Dunkelheit zu seinem eigenen Bett, legte sich unter die Decke und schloss die Vorhänge. Langsam füllte der gemächliche Atem seiner Freunde den Raum und er konnte die Augen schließen, nur um wenige Momente später von einer flüsternden Stimme aufgeschreckt zu werden.
„Remus, bist du noch wach?“ Ein Kopf erschien zwischen seinen Vorhängen. „Oh, gut.“ Sirius kletterte mit leisen Bewegung in Remus‘ Bett und schloss die Vorhänge. Er richtete seinen Zauberstab auf sie und murmelte etwas, dass Remus nicht verstand. Mit einem Lächeln fügte er an: „Stummzauber. Hält jedes Geräusch hier drin.“
„Muss ich mir Sorgen machen?“, fragte Remus mit hochgezogenen Augenbrauen.
„Nah.“ Sirius machte eine wegwerfende Handbewegung. „Hör zu, ich“, er fokussierte sich auf einen Punkt über Remus‘ Schulter, sodass er ihn nicht direkt ansehen musste, „ich wollte mich entschuldigen.“
„Entschuldigen? Hey, ich meinte das nicht ernst, dass ich euch hassen würde –“
„Das meine ich nicht, du Arsch“, murmelte Sirius, woraufhin Remus sich am Kopf kratzte. „Ich meinte – naja, ich hab gedacht, du würdest von deinen Eltern misshandelt werden.“
„Was?!“
„Hey, du kannst es mir nicht wirklich vorwerfen!“, sagte Sirius und wich einen halben Schritt auf dem Bett zurück.
Remus versuchte seinen Atem zu beruhigen. „Wie kommst du denn bitte darauf?“, fragte er. „Warum sollte ich Zuhause misshandelt werden?“
„Wegen den Narben“, erklärte Sirius.
Dämmerung erschien in Remus‘ Kopf. „Oh.“ Dann, als es ihm noch klarer wurde: „Oh!“
„Ja, wie gesagt, du kannst es mir nicht wirklich vorwerfen. Du warst so geheimnisvoll deswegen und hast nie über dein Zuhause geredet und da hab ich“, Sirius stockte und presste die Lippen zusammen.
„Eins und Eins zusammengezählt?“, fragte Remus leise.
„So ungefähr“, erwidert der andere Junge. Im Schatten von Remus‘ Bett sah sein schmales Gesicht plötzlich viel älter aus, viel geschädigter, als es sein sollte. Die Dunkelheit, die normalerweise seine Augen füllte, war in der nächtliche Schwärze noch besser zu erkennen. Remus hatte das unbändige Verlangen, Sirius fernab seiner Familie irgendwo hinzubringen, wo er endlich eine gute Kindheit haben würde. „Sie – deine Eltern, meine ich, sie misshandeln dich doch nicht, oder?“
Es sollte Remus nicht überraschen, dass ein Sirius Black diese Frage stellte, aber es drückte ihm dennoch für einen Augenblick die Luft aus den Lungen. „Nein“, erwiderte er kopfschüttelnd. „Nein, sie behandeln mich sehr gut. Sirius –“
„Okay!“, unterbrach er schnell. „Okay, das ist gut. Ich wollte nur sichergehen, weißt du, damit es keine Missverständnisse mehr gibt.“
Remus betrachtete den anderen Jungen, seine scharfen, ein wenig zu niedrig hängenden Augenbrauen, der glatte Schnitt seines Kieferknochens, die gerade Nase, der entfernte Blick in seinen Augen, dann fragte er langsam: „Willst du sie sehen? Die Narben?“
Sirius riss seinen Kopf so schnell hoch, dass er fast vornübergefallen wäre. „W-Was?“
„Ich weiß, dass du immer wieder versuchst, sie zu sehen“, sagte Remus. „Wenn ich sie dir zeige, lässt du es dann bleiben?“
„Ich kann nichts versprechen“, erwiderte Sirius leise. „Außerdem musst du nicht –“
„Ich zeig dir meine, du zeigst mir deine.“ Remus‘ Worte hingen wie ein leeres Versprechen in der Luft, baumelten wie der Mistelzweig zu Weihnachten von der Decke und pressten ihnen den Atem aus den Lungen. Sie waren nur zwei Jungen, gezeichnet mit den Narben eines Erwachsenen.
Sirius nickte, dann entzündete er die Spitze seines Zauberstabes. Fahles Licht beleuchtete sein Gesicht und Remus war sich sicher, dass er nicht besser aussah.
Sein Herz fing an zu rasen. Noch nie hatte er jemandem seine Narben gezeigt. Seine Eltern waren die einzigen, die sie kannte, und natürlich Madam Pomfrey. Wenn er jetzt seinen Pullover hochziehen würde, dann gäbe es keinen Weg zurück mehr. Er nahm einen tiefen Atemzug und riss am Stoff, bevor er es sich anders überlegen konnte.
„Heiliger Merlin“, hauchte Sirius. „Die hast du dir alle selbst zugefügt?“
Gut zwei Dutzend Narben unterschiedlicher Länge und Dicke bedeckten Remus‘ Haut, zogen sich wie Schlangen an seinen Armen entlang, glänzten silbrig entgegen seinem Torso oder bildeten schreckliche Muster auf seinem Rücken. Er schüttelte den Kopf und deutete auf zwei besonders tiefe Narben an seiner Seite: „Dort wurde ich gebissen. Der Rest ist von mir.“ Er konnte sehen, wie Sirius‘ Augen versuchten jede einzelne Narbe zu betrachten, als wären sie kleine Kunstwerke und Reue überkam Remus. Es war ein Fehler gewesen.
„Weißt du“, fing Sirius vorsichtig an und suchte seinen Blick, „manche Leute sagen, Narben würden einen viel cooler aussehen lassen.“ Ein kaum sichtbares Lächeln erschien auf seinem Gesicht, eine schimmernde Grimasse im fahlen Licht seines Zauberstabs. „Ich finde, sie haben Recht.“
Hitze stieg in Remus‘ Gesicht auf und er ließ den Stoff seines Pullovers wieder über seinen Körper fallen. „Hör auf“, murmelte er. „Du musst nicht versuchen mich aufzumuntern.“
„Wer sagt das denn?“, fragte Sirius. „Ich bin nur ehrlich.“ Dann, mit einer flüssigen Bewegung, zog Sirius sich sein T-Shirt vom Kopf und ließ es wie einen zerknüllten Ball neben sich fallen. Sein Oberkörper war wesentlich glatter als der von Remus, blasse Haut, kaum durchdrungen von den Zeichen einer Verwandlung. Über Sirius‘ linker Brust zogen sich drei gerade, weiße Striche durch die Haut, ein Brandmal klebte an seiner rechten Seite und ein silbriger Schein bedeckte seinen Oberarm, als er den Stab davorhielt. „Die sind von Weihnachten“, erklärte er und deutete auf die drei gerade Narben auf seinem Oberkörper. „Mum war nicht begeistert, als Andromeda sich dazu entschieden hat, der Familie den Rücken zu kehren und sie wusste, ich hatte was damit zu tun, also…“
„Deine eigene Mutter?“ Remus konnte nicht anders, als ungläubig klingen. Es war ihm nach wie vor nicht klar, wie eine Mutter ihrem eigenen Kind sowas antun konnte.
„Sie war noch nie Fan von pädagogisch wertvollen Strafen“, erwiderte Sirius belustigt, bevor sein Lachen in sich zusammenfiel. Er deutete auf das Brandmal. „Mein Dad, vor vier Jahren. Ich bin in seine Bibliothek eingebrochen, weil mir langweilig war, obwohl es verboten war. Er wollte etwas tun, damit ich nicht wieder auf die Idee kommen würde. Ein Brandzauber schien ihm angemessen.“ Seine Finger wanderten zu seinem Arm. „Schnittzauber“, sagte er. „Ich weiß nicht mal mehr, warum. Es ist schon ewig her.“
Remus schluckte, aber ein dicker Kloß bedeckte seinen Hals. Sein Atem war brüchig, als er sagte: „Narben sind nicht cool.“
„Nicht alle“, erwiderte Sirius achselzuckend. „Meine sind Erinnerungen an meine Familie.“
„Und meine sind Erinnerungen an den Wolf.“
„Vielleicht sind deine Narben doch nicht cool.“
„Nicht unbedingt.“
„Tut mir leid“, murmelte Sirius. „Ich wollte nicht –“
„Hast du nicht. Ich“, Remus stockte, „ich bin es nicht gewohnt, dass Leute meine Narben sehen, geschweige denn sie nicht abstoßend finden. „
„Ich wäre ziemlich heuchlerisch, wenn ich das denken würde“, meinte der Black-Junge. „Vielleicht sollten wir uns eine andere Geschichte für unsere Narben ausdenken. Dann sind sie nicht mehr so unangenehm.“ Er griff nach seinem T-Shirt, aber zog es noch nicht an. „Du könntest allen sagen, du hättest einen Kampf mit einem Drachen gewonnen und der Drache wäre nicht so glimpflich wie du davon gekommen.“
Remus musste tatsächlich lachen. „Und du hast ein paar Waisenkinder aus einem brennenden Haus gerettet. Ein richtiger Held.“
„Also sind wir jetzt der Drachentöter Remus Lupin und Retter der Waisenkinder Sirius Black?“, fragte Sirius grinsend.
„Finde ich besser als Opfer seines inneren Wolfes Remus Lupin“, murmelte der andere Junge.
„Und ich finde es besser, als Opfer meiner Familie zu sein“, sagte Sirius. Er streckte eine Hand aus. „Ab heute sind wir keine Opfer mehr sondern Helden, okay?“
Remus nahm seine Hand, ein warmes Gefühl durchzog seinen ganzen Körper und das Lächeln auf seinen Lippen fühlte sich nach so langer Zeit endlich wieder komplett echt an. „Abgemacht.“
Sirius zog sich das T-Shirt an, löschte das Licht in seinem Zauberstab und blieb mit dem Gesicht zu Remus gewandt sitzen. Seine Augenbrauen stellten eine Frage, die der Junge nicht verstand, aber sein Mund war zu einer dünnen Linie gezogen, ein Anblick, den Remus mittlerweile gewohnt war. In der Dunkelheit schien sein ganzes Gesicht zu glühen.
Mit trockenem Mund räusperte Remus sich langsam. „Du – du kannst hierbleiben, wenn du willst.“
Erleichterung legte sich wie eine Federmaske auf Sirius‘ Gesicht. Er lächelte schief. „Klar! Ich meine – ich meine, wenn es dir dann besser geht.“ Er täuschte ein Husten vor.
Kopfschüttelnd legte sich Remus hin und spürte dann, wie Sirius ebenfalls unter die Decke schlüpfte. Dem hölzernen Geräusch zufolge hatte Sirius seinen Zauberstab auf dem Nachttisch abgelegt. Ein paar Momente vergingen in der Dunkelheit, kein weiteres Geräusch eilte zu ihnen, dann drehte Sirius sich mit dem Gesicht zu Remus. „Du darfst das nicht James erzählen, weil er dann Minderwertigkeitskomplexe bekommt“, fing er leise an, sein Atem streifte Remus‘ Gesicht wie ein warmer Sommerwind, „aber ich glaube, ich mag dich von allen am liebsten.“
Remus war dankbar, dass es dunkel war und Sirius nicht sehen konnte, wie rot sein Gesicht wurde. „Ich dachte man sollte keinen Favoriten haben?“, fragte er in die Nacht.
„Deswegen werde ich abstreiten, dass jemals gesagt zu haben“, erwidert Sirius lachend. „Gute Nacht, Remus.“
„Gute Nacht, Sirius.“
Unter der Decke fanden ihre Finger zueignender.
***
Remus hatte ein Geheimnis gegen ein anderes getauscht. Am Morgen war Sirius bereits aus seinem Bett verschwunden und keiner von ihnen verlor ein Wort darüber, aber der Black-Junge suchte seinen Blick beim Frühstück und lächelte ein wenig breiter, sodass Remus sich nicht ganz sicher war, was er denken sollte. Einerseits war er froh darüber, dass er einen so engen Freund wie Sirius hatte, allerdings verwirrte ihn diese ganze Sache ungemein. Großartig Zeit darüber nachzudenken hatte er sowieso nicht. Es gab große Dinge zu planen und da passte es nicht, wenn Remus zurück an die Dunkelheit dachte, in der er sich ein wenig sicherer fühlte, wenn er Sirius‘ Finger drückte.
Mit Remus‘ erfolgreicher Rückkehr aus dem Krankenflügel und einem engeren Bündnis zwischen den Jungs als je zuvor, war es mehr als so weit, dass sie endlich ihren Racheplan Snape gegenüber in die Tat umsetzten. James hatte alles genau geplant und am kommenden Wochenende würden sie alles ausführen. Bis dahin mussten sie allerdings die letzten Vorbereitungen treffen.
„Remus, du bist dir sicher, dass du den Zauber im Schlaf aufsagen kannst? Es darf keinen Fehler geben.“ James‘ Stimme überschlug sich fast vor Aufregung. „Ich will, dass alles absolut perfekt ist.“
„Man könnte meinen, es wäre dein Hochzeitstag“, murmelte Peter.
„Wie kannst du sowas Unsinniges sagen, Pete?“, erwiderte James. „Bei meinem Hochzeitstag werde ich Fehler viel eher akzeptieren.“
„Na, das wird die zukünftige Mrs. Potter aber sehr freuen. Weiß sie schon, dass sie immer nur auf dem zweiten Platz stehen wird?“, fragte Sirius grinsend.
„Sehr witzig“, brummte James. „Ich hab keine Ahnung, wer die zukünftige Mrs. Potter sein soll, falls du das denken solltest. Und können wir uns jetzt bitte auf das wesentlich wichtigere konzentrieren? Remus, dein Zauber?“
„Den beherrsche ich im Tiefschlaf“, erwiderte der Junge. „Ich könnte ihn nicht verhauen, wenn Snape mir persönlich in den Nacken atmen würde.“
„Genau das will ich hören.“ James wandte sich an Sirius. „Du hast deinen Teil geübt, nehme ich an?“
„Geübt würde ich es nicht nennen“, sagte Sirius mit einem Achselzucken. „Aber ich bin mir fast sicher, dass ich alles kann.“
„Fast sicher reicht mir nicht, Sirius. Entweder du beherrscht den Zauber so perfekt, dass selbst McGonagall einen Freudensprung machen würde, oder ich suche mir jemanden anderen für die Mission.“
„Du würdest mich rauswerfen?“, fragte Sirius mit der Hand auf dem Herzen. „Und dass, obwohl du die ganze Sache nur geplant hast, damit es mir besser geht? Ich bin zutiefst verletzt, James.“
„Dann sei verletzt und üb deinen Zauber“, brummte der bebrillte Junge kopfschüttelnd.
Sirius murmelte etwas als Antwort, was Remus nicht verstand, aber James ging auch nicht weiter drauf ein. Er wandte sich an Peter. „Sag mir, dass du alles hast, was wir brauchen?“
„Du kannst auf mich zählen, James. Es liegt alles sicher in meinem Koffer. Zweihundert Dung-“, Peter wurde unterbrochen, als James ihm eine Hand auf den Mund presste.
„Schrei es doch gleich in der Großen Halle herum“, zischte der Potter-Junge. „Das ist eine geheime Mission, Pete, wir müssen sicherstellen, dass niemand davon Wind bekommt.“
„Dass niemand wovon Wind bekommt?“, ertönte die belustigte Stimme von Marlene McKinnon hinter ihnen. „Also wirklich James“, sagte sie, als er sich erschrocken umwandte, „wenn du wirklich nicht willst, dass irgendjemand mitbekommt, was ihr so plant, dann solltet ihr das vielleicht nicht mitten im Korridor besprechen. McGonagall hätte sich anschleichen können und dann wärt ihr alle jetzt schön auf dem Weg zum Nachsitzen.“
„Ach, zieh Leine, McKinnon“, brummte Sirius, doch Marlene sich davon gar nicht beeindrucken.
Sie presste sich an James vorbei, sodass sie nun vor den Jungs stand. „Wisst ihr, ich habe zufällig mitbekommen, wie ihr darüber geredet habt, es dem guten Severus heimzuzahlen.“
„Was, wenn das so wäre? Willst du uns anschwärzen?“, fragte Peter und klang dabei wesentlich mutiger, als er sich wahrscheinlich fühlte.
„Wie kommst du darauf? Nein, ich will euch helfen. Merlin, ich hasse diesen schleimigen Freak“, fügte sie murmelnd hinzu, sodass sie die Köpfe zusammenstecken musste. „Er behandelt Lily so schrecklich, ich weiß nicht, wie sie noch immer mit ihm befreundet sein kann.“
„Wir sollen dir also glauben, dass du hinter Evans´ Rücken ihren besten Freund verhexen willst?“, fragte James mit verschränkten Armen. „Sorry, McKinnon, aber darauf fall ich nicht herein. Außerdem sind wir ein reiner Jungsclub.“
„Du Sexist“, empörte Marlene sich. „Schön, dann nicht. Aber komm am Ende nicht heulend an, wenn dein blöder Plan schief gelaufen ist, Potter. Nochmal biete ich dir meine Hilfe nicht an.“ Marlene stürmte mit wehenden, blonden Haaren davon.
Kaum war sie außer Hörweite, schnalzte James mit der Zunge. „Könnt ihr das glauben?“ Er schüttelte mit dem Kopf. „Was denkt sie eigentlich, wer sie ist?“
„Vielleicht hätte sie ja wirklich helfen können“, meinte Remus überlegend. „Sie hätte uns Insider-Informationen bringen können.“
„Was? Wieso das?“, fragte Sirius verwirrt.
„Sie ist doch mit Lily befreundet“, erklärte Remus geduldig. „Was heißt, dass sie wahrscheinlich ab und an auch was mit Snape zu tun hat. Meint ihr nicht, sie hätte da das ein oder andere aufgeschnappt, was nützlich hätte sein können?“
Für den Moment sah James so aus, als würde es bereuen, dass er Marlene weggeschickt hätte, dann kaute er kurz auf seiner Lippe und reckte das Kinn in die Höhe. „Selbst wenn. Wir brauchen sie nicht“, sagte er selbstsicher. „Wäre doch gelacht, wenn wir unbedingt die Hilfe von einem Mädchen bräuchten.“
Remus hob lediglich die Augenbrauen in die Höhe.
„Du weißt, was ich meine, Lupin“, meinte James. „Ich kann McKinnon doch auch gut leiden, aber das hier ist unser Ding. Wir sind nun mal die zukünftigen Streichekönige dieser Schule. Ein Mädchen würde da nicht mit ins Konzept passen.“
„Na gut“, erwiderte Remus mit einer abwehrenden Handhaltung. „Wie du meinst, James.“
Sie folgten dem Korridor für ein paar Schritte, dann blieb James stehen. „Glaub jetzt ja nicht, ich hätte was gegen Mädchen! Ich – ich find Mädchen toll, denk ich! Mädchen sind der Knaller!“
„Okay, Romeo, beruhige dich“, lachte Remus und klopfte ihm auf die Schulter. „Mach dir nicht gleich ins Hemd. Ich werde schon nicht weitererzählen, dass du Angst vor einer starken Frau hast.“
„Die hab ich nicht!“, beschwerte sich James lautstark.
„Oh, doch, warte, das könnte eine Menge erklären“, meinte Sirius nachdenklich, ein breites, schiefes Grinsen auf seinen Lippen. Seine Augen funkelten. „Deswegen traust du dich nicht, bei Gonnie irgendwelchen Unsinn anzustellen!“
James wurde knallrot im Gesicht. „Ihr spinnt doch! K-Können wir uns jetzt bitte wieder auf das eigentliche Thema konzentrieren?“
„Wie du meinst, Potter“, sagte Sirius. „Aber ich behalte dich im Auge.“
„Tu dir keinen Zwang an, Black“, murmelte James und räusperte sich leise.
Obwohl die Vorbereitung auf den Streich gegen Snape reibungslos verlief, war Remus noch immer der Überzeugung, dass Marlene eine gute Hilfe gewesen wäre und er behielt Recht, als es zu der Frage kam, wie sie ihr Ziel denn an den Ort lotsen sollten, an dem ihr Plan stattfinden sollte. Da James (und in dieser Angelegenheit auch Peter) sich weiterhin weigerte, Marlene in ihren Plan einzuweisen oder sich einzugestehen, dass sie die Hilfe gebrauchen könnten, lag es an Remus und Sirius, sich eine Alternative einfallen zu lassen.
„Wir könnten Evans fragen“, schlug Sirius vor.
„Und wo ist da der Unterschied? Dann könnten wir auch gleich Marlene bitten.“
„Naja, James will nur nicht, dass wir McKinnon um Hilfe beten…“, fing Sirius langsam an.
Remus schüttelte den Kopf. „Du weißt genauso gut wie ich, dass er damit alle Mädchen meint, er ist nur zu stolz, um es zuzugeben. Eitler Idiot, der er ist, hält er es nicht für möglich, dass ihm andere eine Hilfe sein könnten.“
Sirius lachte bellend auf. „Ganz ruhig, Lupin, der Kerl ist dein Freund. Sei mal ein bisschen netter.“
Remus grinste. „Das war noch nett.“
„Ich bin beeindruckt. Ich entdecke hier ganz neue Seiten an dir, Lupin. Wo kommt der plötzliche Biss her?“
„Oh, weißt du, einmal im Monat, da hab ich diese Zeit…“
„Du weißt genau, was ich meine!“ Sirius lachte erneut und Remus schloss sich ihm an.
„Aber weißt du, ich glaube, wir können Lily tatsächlich um Hilfe bitten. Nicht direkt, natürlich“, fügte er schnell hinzu, als Sirius den Mund öffnete. „Wenn ich ihr sage, dass ich sie im ersten Stock treffen will, dann kommt sie bestimmt hin… ich könnte ihr sagen, wir verabreden uns zum Lernen und sie kann Snape gerne mitbringen!“
„Klasse Idee! Aber was, wenn er nicht mitkommt?“, fragte Sirius. „Dann geht nämlich der ganze Plan flöten.“
„Er wird schon mitgehen. Snape folgt Lily wie ein treuer Hund durch die Gegend.“
„Okay“, erwiderte Sirius noch immer nicht gänzlich überzeugt. „Ich finde, wir bräuchten trotzdem eine andere Absicherung.“
„Dann lass dir eine einfallen.“
„Schon wieder so schnippisch, Lupin. Du verletzt bald meine Gefühle.“
Remus grinste schief. „Vielleicht ist das ja von Anfang an mein Plan.“
***
Überraschenderweise funktionierte Remus‘ Plan reibungslos. Im Zaubertrankunterricht erwischte er Snape in einer sehr gütigen Stimmung, denn als er Lily zum gemeinsamen Lernen am nächsten Tag einlud und Snape fragte, ob er ebenfalls kommen wollte, sagte dieser direkt zu. Lily strahlte Remus an und bedankte sich bei ihm, wahrscheinlich denkend, er hätte Interesse daran, mit Snape befreundet zu sein. Ein wenig schuldig fühlte er sich deswegen schon, aber er erinnerte sich daran, dass er es für Sirius tat. Snape brauchte diese Strafe, damit er sich von Regulus fernhalten und den Namen Black nie wieder in den Mund nehmen würde. Sicherlich würde Lily ihm irgendwann verzeihen, sollte sie die Hinweise zusammenzählen.
Snape in den richtigen Korridor zu locken war nach wie vor der einfachste Teil ihres Plans. Bevor Remus zu seinem angeblichen Lerntreffen mit Lily und Snape aufbrach, überprüften sie noch ein letztes Mal, ob alles bereit war und jeder mit den Einzelheiten vertraut war. Reibungslosigkeit war bisher nicht etwas, dass Remus mit seinen Freunden in Verbindung gebracht hatte, aber dieses Mal funktionierte alles perfekt. Jeder wusste seinen Teil, jeder stand bereit. Es würde sicherlich perfekt werden.
Wie abgemacht, traf sich Remus mit Lily und Snape im Korridor, der in die Bibliothek führte. Remus bemerkte, wie glücklich Lily wirkte und biss sich schuldbewusst auf die Lippen. Trotzdem, ein paar Schritte weiter, tat er so, als müsse er sich die Schnürsenkel binden und bat die beiden zu warten. Zufälligerweise standen sie vor einem Badezimmer und während Lily und Snape sich über ein Unterrichtsthema unterhielten, zückte Remus halb auf dem Boden kniend seinen Zauberstab hervor. Phase Eins ihres Plans erfüllte sich, als aus dem Inneren von Snape Schultasche eine schmale Rauchfahne stieg, bevor das Tintenfass darin explodierte. In einer einzigen Bewegung sprang Remus erschrocken auf und presste seinen Zauberstab zurück in seinen Hosenbund, wo er unter dem Saum seines Pullovers verborgen blieb.
„Oh mein Gott“, rief Lily aus. „Sev, geht’s dir gut? Was war denn das nur?“
Severus war rot im Gesicht und blaue Tintenspritzer bedeckten seine Haut, Klamotten und Tasche. Das explodierte Tintenfass hatte ein kleines Loch in seine Tasche gebrannt. „Keine Ahnung“, spuckte der Slytherin wütend. „Muss die Tinte gewesen sein.“ Er wischte sich mit den blassen Fingern über die Augen und ließ dunkelblaue Tropfen zu Boden fallen.
„Da ist gleich ein Badezimmer“, sagte Remus und versuchte hilfreich zu klingen. „Dann kannst du dich sauber machen.“
„Gute Idee“, sagte Lily. „Hier, ich nehme deine Tasche.“
Snape ließ zu, dass Lily seine tintenbefleckte Tasche an sich nahm, bevor er sich wutentbrannt schnaubend zum Badezimmer umdrehte. Er verschwand hinter der Tür und Remus betete, dass Phase Zwei ebenso reibungslos funktionieren würde.
„Das ist ja seltsam“, meinte Lily, die das Brandloch in der Tasche bemerkt hatte. „Wie kann denn sowas passieren?“
„Äh – vielleicht hat sein Stab dagegen gedrückt?“, fragte Remus unschuldig klingend, während er die Sekunden zählte.
„Nein, den hatte er – AH!“ Ein Knall aus dem Badezimmer ließ Lily schreckhaft aufspringen. „Oh Gott!“
Remus musste all seine Willenskraft aufbringen, damit er nicht grinste, aber dem Aufschrei von Snape und dem dunstigen Nebel, der unter der Tür sickerte, war gerade die erste Hälfte von Peters Dungbomben hochgegangen. Sich bereit haltend, wich Remus einen Schritt von der Tür zurück – damit fiel er nicht weiter auf, denn Lily war ebenfalls zurückgewichen und die anderen Schüler, die sich im Korridor befanden, hatten es ihnen gleichgetan – und wartete. Als die Tür aufschwang und Snape von einer riesigen Dampfschwade begleitet herausstolperte, keuchend, nach Luft schnappend, hustend, murmelte Remus seinen Zauber und sah mit Genugtuung dabei zu, wie sich eine Luftblase um Snape Körper bildete.
Die Luftblase schloss den miefigen Gestank der einhundert Dungbomben an Snapes Körper ein, wobei sie allerdings sein Gesicht freiließ. James hatte vorgeschlagen, dass sie den Jungen komplett einschließen würden, aber Remus hatte angegeben, dass Snape wohl irgendwann keine Luft mehr bekommen würde und sie ihn nicht umbringen wollten, auch wenn Sirius daraufhin ein recht undefiniertes Geräusch von sich gegeben hatte.
„Oh Gott“, wiederholte Lily mit den Händen vor dem Mund. „Sev, alles gut bei dir?“
„S-Sieh-Sieht es s-so au-aus?“, fragte Snape kochend rot im Gesicht. Tränen liefen seine Wangen hinab, aber der Rest seines Kopfes war wutentbrannt. Tintenflecken bedeckten noch immer seine Haut und Kleidung, er hatte eine Hand vor der Nase, damit er besser atmen konnte und hatte die Luftblase um seinen Körper noch nicht mitbekommen.
„Was für ein fieser Streich das ist!“, sagte Lily mit säuerlich zitternder Stimme. Unachtsam ließ sie Snapes Tasche fallen und wollte zu Snape eilen, als ein weiterer Knall sie wieder zurückschrecken ließ.
Snape hatte kaum Zeit, nach oben zu gucken, da platzten zwei Dutzend Ballons gefüllt mit Farbe und weiteren Dungbomben über seinem Kopf. Geistesgegenwärtig hatte der Junge sein Gesicht geschützt, sodass dieser Teil seines Körpers verschont von dem Farbangriff war.
Remus hatte Lily an der Schulter nach hinten gezogen, als die Ballons gefallen waren. „Was bei Merlins –“, fing er an, wurde jedoch von einem dritten und letzten Knall unterbrochen. Nicht, dass er überrascht war. Die Jahre an Schauspielerei machten sich endlich bezahlt und er konnte sehr überzeugend den geschockten, erstaunten Zuschauer spielen.
Lily klatschte sich die Hände vor die Nase, als der Gestank der zusätzlichen Dungbomben – und von Snape – sie erreichte, aber selbst das konnte nicht von dem Geysir an Wasser ablenken, der Snape gerade mitten ins Gesicht getroffen hatte, wodurch der Junge strauchelnd zu Boden ging. Platschend, Farbe und Tinte spritzend, schrie Snape frustriert und wütend auf. „Oh, der arme Sev“, murmelte Lily. Sie eilte zu ihrem besten Freund.
„Klasse Arbeit, Remus“, drang die leise flüsternde Stimme von James zu ihm, bevor der Junge wieder in der Menge untertauchte. Gekicher schwamm durch den Korridor.
„Das waren Potter und Black“, schrie Snape, einen Mund voll Wasser ausspuckend. Er schlug Lilys Hand weg und drückte sich selbst auf, rutschte jedoch auf dem nassen, farbverschmierten Boden aus und fiel erneut vornüber. Lachen begleitete ihn. „Wo sind sie? Lupin!“
„Was?“, tat Remus sehr überrascht. „James und Sirius sind auf dem Quidditchfeld“, sagte er. „Sie wollten für die Auswahlspiele morgen trainieren.“
„Ich weiß, dass die dafür verantwortlich sind“, kreischte Snape mit rotem Gesicht.
Lily blickte erschlagen zwischen Snape und Remus hin und her, ihre Augenbrauen zogen sich nachdenklich zusammen und sie wollte gerade den Mund öffnen, als eine scharfe Stimme den Korridor durch schnitt.
„Was geht hier vor sich? Was soll der Aufstand?“ Professor McGonagall drängte sich zwischen den Schülern hindurch. Sie stockte, als sie Snape auf dem Boden erkannte. „Mr. Snape, was ist hier passiert?“
„Keine Ahnung“, spuckte der Slytherin aus, nach wie vor in eine Wolke aus Dunggas gehüllt, die dafür sorgte, dass er nicht nur eine Dusche brauchen würde, damit der Geruch verschwand. „Meine Tinte ist ausgelaufen und im Bad sind tausend Dungbomben losgegangen, als ich den Wasserhahn aufgedreht habe und dann sind hier – hier Farbballons gefallen.“
Professor McGonagall straffte ihre Schultern und wenn Remus sich nicht verguckt hatte, dann hatten ihre Mundwinkel für den winzigsten Moment gezuckt, als würde sie die ganze Situation insgeheim lustig finden. Sie schwang ihren Zauberstab und die Farbe, sowie das Wasser und die Tintenflecken verschwanden von Snape und dem Boden. Die Luftblase allerdings blieb bestehen. „Was ist das?“, verlangte sie zu wissen.
„Das müssen Potter und Black gewesen sein“, kreischte er, wodurch eine erneute Welle an Getuschel und Gekicher durch die Schülermenge glitt, die sich mittlerweile angesammelt hatte. „Ich weiß, dass sie das waren!“
„Das ist eine ernste Anschuldigung, Mr. Snape. Haben Sie einen Beweis dafür, dass Mr. Potter und Mr. Black in diesen Vorfall verwickelt sind?“
„Einen Beweis?“, erwiderte er eiskalt. „Ich brauche keinen Beweis. Ich weiß, dass sie das waren. Das ist ihre Art der Rache.“
McGonagall zog eine Augenbraue in die Höhe. „Rache? Sie glauben also, Mr. Potter und Mr. Black hätten sich an Ihnen für etwas gerächt? Was haben Sie denn verbrochen, damit Sie das verdient haben, Mr. Snape?“
Snape verstumme. Plötzlich sah er auf dem Boden sehr klein und unbedeutend aus. „Ich weiß es nicht, Professor“, brachte er schließlich hervor. „Vielleicht – vielleicht war es auch jemand anderes.“
Professor McGonagall schürzte die Lippen. „Wir werden sehen. Kommen Sie in mein Büro, Mr. Snape. Ich werde sehen, dass ich diesen Zauber von Ihnen löse.“
Grummelnd richtete Snape sich auf, schnappte sich seine Tasche und folgte Professor McGonagall den Gang entlang, aber nicht, ohne Remus noch einen giftigen Blick zuzuwerfen.
Die Menge löste sich langsam auf, nachdem das Objekt der allgegenwärtigen Belustigung nicht mehr da war. Lily stand immer noch dort, wo Snape eben gelegen hatte. Als Remus sich ihr näherte, blickte sie mit harten Augen auf. „Hat Sev Recht?“, fragte sie knapp. „Ist das Potters und Blacks Schuld?“
„Warum glaubst du, weiß ich das? Ich hab doch gesagt, sie sind auf dem Quidditchfeld“, erwiderte Remus möglichst unschuldig klingend.
Lily zog ihre Augenbrauen fest zusammen. „Ich hoffe sehr, du lügst mich nicht an, Remus.“ Sie straffte die Schultern. „Wir sehen uns später. Ich will sicherstellen, dass es Sev gut geht.“ Sie ließ Remus stehen und ging mit schnellen, festen Schritten Snape und McGonagall hinterher.
Remus fühlte sich schrecklich, dass er Lily angelogen hatte, aber die Belustigung und Erleichterung darüber, dass der Streich perfekt funktioniert hatte, übertrumpfte dieses Gefühl mit Leichtigkeit. Grinsend wandte er sich zurück und trat den Weg zum Quidditchfeld an. Des Alibi wegen würde er sich dort mit den anderen treffen und selbst wenn McGonagall sie befragen würde, war alles abgeklärt – für einen Zwei-Wochen-Vorrat an Bertie Botts Bohnen hatte Monty zugestimmt, ihnen zu helfen und für sie zu lügen, falls jemand fragen würde. Laut Monty wären James und Sirius den ganzen Morgen und Vormittag mit ihm zusammen gewesen, während Peter auf den Tribünen zugeguckt hätte. Es war ein narrensicherer Plan.
Das Quidditchfeld war gefüllt mit Gelächter und den lauten Stimmen seiner Freunde und Remus wurde wie ein Held begrüßt. „Lupin! Der Mann der Stunde!“, rief James glücklich aus, der ein verschmutztes Quidditch-Trikot trug. „Ich kann nicht glauben, wie gut das geklappt hat!“
„Lily zweifelt zwar an meiner Geschichte, aber ich glaube, es sollte feststehen, dass wir damit durchkommen“, grinste Remus.
James klopfte ihm auf die Schulter. „Das ist der beste Tag meines Lebens. Habt ihr Snapes Gesicht gesehen?“
„Oh, glaub mir, Potter“, erwiderte Sirius, der mit dem Rücken auf einer Bank lag und in den Himmel lachte. „Dieses Gesicht werde ich nie wieder vergessen.“
Chapter 15: 15. Jahr 2: Tränen eines Gryffindors
Notes:
in this house we love and stan peter pettigrew and benjy fenwick
Chapter Text
Peter wünschte sich wirklich, sie hätten bereits die Wärmzauber bei Professor Flitwick gelernt. Eingewickelt in seinen Winterumhang, saß er mit den Händen im Schoß auf der Tribüne und beobachtete gemeinsam mit Remus und Sirius die kleinen, roten Schemen auf dem Boden. Es war später September, dachte er zitternd. Es gab keinen Grund dafür, dass es schon so kalt war. Zumal er nicht ganz verstand, wieso James ihn und die anderen dazu genötigt hatte, schon zu ihrem Training mitzukommen, wenn die Auswahlspiele doch erst in ein paar Stunden waren.
„Was wir nicht alles für ihn tun“, grummelte Sirius müde neben ihm. Er gähnte. „Potter kann sich glücklich schätzen, dass er solche Freunde hat.“
„Nächstes Mal lerne ich diesen Doppelgängerzauber“, sagte Remus, der die Hände in dicken Wollhandschuhen versteckt hatte. Ein Schütteln ging durch seinen Körper. „Er merkt den Unterschied doch eh nicht.“
„Wenn wir wenigstens vorher zum Frühstück gehen könnten“, erwiderte Peter und versuchte das Grummeln seines Magens zu unterdrücken. „Wozu genau müssen wir hier eigentlich warten, frieren und hungern? Damit James ein paar Zuschauer hat?“
„Ganz genau“, sagte Sirius zähneklappernd. Im Gegensatz zu Peter und Remus trug er keine wärmenden Klamotten oder Hilfsmittel; selbst den Schal hatte er im Schlafsaal gelassen. Peter war sich fast sicher, dass Sirius zu eitel dafür war. „Wir müssen sein Ego streicheln, sonst kann er nicht richtig fliegen.“
„Klingt nach ‘ner fiesen Ausrede, damit James nicht allein in der Kälte sein muss“, erwiderte Remus, sein Blick mehr als feindselig. Selbst ohne das Wissen, dass Remus ein Werwolf war, war der Junge manchmal sehr angsteinflößend. „Außerdem fliegt er nicht mal. Die beiden stehen da seit ‘ner halben Stunde.“
„Du kennst James und Monty doch. Haben sie sich einmal in eine Quidditchstrategie verquatscht, hören sie so schnell nicht wieder auf.“
„Meint ihr, ich könnte die beiden von hier oben mit einem Kitzelfluch treffen?“, fragte Remus. „Vielleicht bringt sie das dazu, endlich anzufangen.“
„Wenn du das schaffst, dann musst du mir nichts mehr zum Geburtstag schenken – dass wäre mir Geschenk genug“, erwiderte Sirius lachend. „Wie schön es nur wäre, wenn James sich da auf dem Boden winden würde.“
„Okay, beruhige dich mal, du Sadist“, meinte Remus mit hochgezogener Augenbraue. „Das war ein Witz.“
„Und wieder zerstörst du meine Hoffnungen und Träume, Lupin.“
„Mittlerweile solltest du ja dran gewöhnt sein.“
„Es schmerzt mich trotzdem.“
„Ja, ja.“
Peter fragte sich, wann genau diese Beziehung der beiden angefangen hatte. Remus und Sirius hatten schon immer ihre Argumente gehabt, hatten sich in Kleinigkeiten zerstritten und mussten dann von James oder ihm auseinandergezogen werden, aber Peter hatte die beiden erst seit Kurzem so… vertraut miteinander gesehen. Es fühlte sich seltsam an, wenn er es vertraut nannte, waren die beiden doch immerhin auch beste Freunde, aber es war, als wäre etwas passiert, das nur die beiden wussten und Peter war als einsamer Zuschauer zurückgeblieben. Es störte ihn nicht, dass die beiden so eng waren. Es störte ihn eher, dass sie dadurch manchmal vergaßen, dass er auch noch da war.
„Endlich!“, stöhnte Peter, als die beiden roten Schemen sich auf dem Boden auf ihre Besen schwangen.
Sirius und Remus folgten seinem Blick und schlossen sich mit ebenso glückliche Geräuschen an. „Wenigstens gibt es etwas, was wir jetzt beobachten können“, sagte der Black-Junge. „Auch wenn es nur zwei viel zu energiegeladene Quidditch-Fanatiker sind.“
„Wenn sie einen Ball durch die Gegend werfen, dann können sie uns immerhin nicht nerven“, brummte Remus.
„Quaffel“, verbesserte Sirius.
„Wie auch immer.“
„Also wirklich“, sagte Peter. „Wenn du schon Cheerleader für James spielst, dann musst du dir wenigstens die richtigen Namen merken.“
„James kann froh sein, dass ich ihm nicht die Ganzkörperklammer aufgehalst habe, als er mich halb Sechs aus dem Bett geworfen hat“, erwiderte Remus brummend. „Er sollte eigentlich wissen, dass ich nicht ich bin, wenn ich hungrig und müde bin.“
„Werden wir dein wahres Ich dann jemals kennenlernen? So wie ich das sehe, bist du immer hungrig und müde“, grinste Sirius.
„Oh, halt bloß die Klappe, Black“, grummelte der andere Junge. „Das liegt nur daran, weil ich mit euch befreundet bin. Ich habe keine einzige ruhige Minute in meinem Leben mehr, seit ich euch kenne. Ihr raubt mir meinen Frieden.“
„Red dir das ruhig ein, Lupin“, meinte Sirius nickend. „Irgendwann glaubst du es vielleicht sogar. Ich weiß, dass du uns liebst und gegen nichts in der Welt umtauschen würdest.“
„Ich würde dich schneller gegen eine Tasse Tee und einen Teller voll Würstchen mit Rührei tauschen, als du Verräter sagen könntest.“
Sirius fasste sich theatralisch ans Herz. „Und da dachte ich, wir hätten etwas Besonderes.“
„Zweckgemeinschaft, mehr nicht“, sagte Remus, aber das Lächeln, dass auf seinen Lippen zuckte, strafte seinen Worten mehr als genug Lügen.
Peter war sich sicher, dass Remus nur deshalb so schlecht drauf war, weil er glaubte, McGonagall könnte ihn jeden Moment als den Verursacher des Snape-Vorfalls anklagen. Mit Snapes Anschuldigungen Sirius und James gegenüber und Lilys Vermutung, dass Remus etwas damit zu tun hatte, war Peter zwar eigentlich fein raus aus der ganzen Geschichte (obwohl er derjenige war, der das Badezimmer mit den Dungbomben präpariert hatte), aber da allgemein bekannt war, dass es ihre Truppe nur als Viererpack gab, würde man ihn sicherlich auch mitanklagen. Es konnte eben doch Nachteile haben, wenn man mit den Streichekönigen Hogwarts‘ befreundet war, dachte er seufzend.
Die Zeit, bis die Auswahlspiele endlich begannen, ging nur sehr schleppend voran. Mehrmals wäre Peter fast weggenickt und wurde lediglich von Sirius‘ plötzlichem Lachen oder einem eisigen Wind in seinem Nacken davor gerettet, mit dem Gesicht voran die Tribüne hinunterzufallen. Als es dann schließlich so weit war und der Rest der Gryffindor-Quidditch-Mannschaft sowie die anderen Anwärter ankamen, waren James und Monty noch immer energiegeladen und bereit, ums ganze Schloss zu laufen, obwohl sie gerade mehrere Stunden Training hinter sich hatten. Wahrscheinlich würde die ganze Schule nur dann eine ruhige Minute vor James und seiner niemals endenden Energie haben, wenn man ihm einen Schlaftrank unterjubeln würde. Es war erstaunlich, wie dieser Junge nicht müde werden konnte.
Der Kapitän der Quidditch-Mannschaft, ein stämmiger Sechstklässler mit kurz geschorenen Haaren namens Patrick, trommelte alle Anwärter zusammen. Es wurde schnell klar, dass James und Monty die jüngsten Teilnehmer waren; sie waren mindestens einen Kopf kleiner als der Rest und während die meisten der Spieler so aussahen, als hätten sie schon viele Jahre Besenerfahrung, wirkte es bei James und Monty eher so, als wären sie zwei Kinder, die sich die Flugutensilien ihrer Väter geklaut hätten.
„Hoffentlich kratzt es Potters Ego nicht zu sehr an“, ertönte plötzlich die Stimme von Marlene McKinnon hinter ihnen, „wenn ein Mädchen statt ihm aufgenommen wird.“ Das Gryffindor-Mädchen hatte sich ihren dicken Schal um den Kopf gewickelt und trug über dem Winterumhang noch eine knallgelbe Jacke, in dessen Ärmel sie ihre Hände zurückgezogen. „Wir wollen ja nicht, dass er am Ende noch erkennt, dass Mädchen genauso gut sind wie Jungs.“
„Ich glaube, James weiß das“, murmelte Sirius. „Er ist nur ein ziemlicher Idiot.“
„Damit ist er sicher nicht allein“, erwiderte Marlene.
„Was machst du hier überhaupt?“, fragte Remus und stierte aufs Feld, als würde er jemanden erkennen wollen. „Spielen Lily und Mary vor?“
Marlene lachte. „Oh bitte, die beiden würden lieber sterben, als nochmal freiwillig auf einen Besen zu steigen. Ne, ich bin tatsächlich auch wegen den beiden hier“, fügte sie mit einem Nicken hin zu. „Auch wenn Potter ein Arsch ist.“
„Na, das wird ihn freuen zu hören“, brummte Sirius. Kaum hatte er das gesagt, schwangen sich die Anwärter für die Quidditch-Mannschaft auf ihre Besen. Sie alle setzten sich etwas gerade hin, aber anstatt es gleich spannend zur Sache ging, fingen die Spieler unten lediglich damit an, das Feld mit ihren Besen zu überqueren.
„Ein Flugtest“, kommentierte Remus. „Gar nicht so doof, so scheiden direkt die Leute aus, die keine Ahnung haben, wie man richtig fliegt.“
Und tatsächlich wurden direkt drei mehr als tollpatschige Flieger aus dem Rennen geschickt, als diese bereits in der ersten Runde zurückfielen, dann überrundet wurden und schließlich kaum landen konnten, ohne in den Sand zu fallen. Danach teilte Kapitän Patrick die Anwärter in Gruppen ein; James ging zu der größten Gruppe, Monty zur kleinsten. Auch ohne das Zusatzwissen, auf welche Positionen sich die beiden Zweitklässler bewerben wollten, wurde schnell klar, worum es sich bei dieser Einteilung handelte, als die Hilfsmittel ausgeteilt wurden. Ein paar der Flieger bekamen kleine Holzknüppel in die Hand gedrückt, der Rest wurde leer in die Luft geschickt. Kapitän Patrick klemmte sich den rostroten Quaffel unter den Arm und sauste ebenfalls mühelos in den Himmel. Er testete zuerst die Hüter, wobei er selbst versuchen würde, den Quaffel durch einen der Ringe zu befördern.
Die meisten stellten sich so an, wie Peter es erwartet hatte; wenn sie einen Punkt verhindern konnten, dann durch schieres Glück und es wurde schnell klar, dass die meisten nicht wirklich aus waren, um besonders gut zu sein oder Spiele zu gewinnen, sondern weil ihnen das Fliegen Spaß machte. Sicherlich war daran nichts verkehrt, allerdings waren sie damit überhaupt nicht geeignet, der Mannschaft beizutreten. Aus der kleinen Gruppe wurde ein Großteil wieder vom Feld geschickt, bis es schließlich Montys Auftritt war.
Peter hatte nie sonderlich viel mit dem kräftigen Typen zu tun gehabt. Er war ihr fünfter Zimmergenosse und allgemein ein netter Junge, aber er war für Peters Geschmack ein wenig zu versessen darauf, dass alles in seinem Leben mit Quidditch zu tun hatte. Peter war froh, dass er mit James die wesentlich handzahmere Variante abbekommen hatte, auch wenn der schwarzhaarige Potter auch gerne in seine stundenlangen Diskussionen über den Sport übergehen konnte. Monty war der kleinste von all den Hütern, die bisher versucht hatten, den Platz zu gewinnen, aber das musste nichts heißen.
Kaum hatte Monty sich vor den Ringen positioniert, begann Kapitän Patrick damit, ihn mit dem Quaffel zu bombardieren. Es schien, als hätten sich die ewiglangen Trainingssessions bezahlt gemacht; Monty konnte so gut wie jeden Versuch halten und die, die er durchließ, waren so knapp, dass es nur um Haaresbreite nicht gereicht hatte. Kapitän Patrick zeigte sich ebenso begeistert, wie Montys Zuschauer auf der Tribüne; er flog zu dem Zweitklässler herüber und gratulierte ihm händeschüttelnd. Ob das hieß, dass Monty direkt im Team war? Peter wusste nicht viel über Auswahlspiele und er konnte nicht hören, was dort in der Luft besprochen wurde, konnte leidglich sehen, wie ein breitgrinsender Monty zu Boden flog und von James auf die Schulter geklopft wurde. Wenn Kapitän Patrick bereits jetzt schon seinen neuen Hüter gefunden hatte, dann ließ er sich das nicht anmerken und schickte lediglich den nächster Teilnehmer in die Luft.
Es dauerte nicht mehr lang, dann waren endlich die Jäger dran. Der kleine James Potter wirkte wie ein aufgeregter, jüngerer Bruder, der beim Spiel der Älteren dabei sein durfte. Peter hatte nicht gewusst, dass James gleichzeitig so nervös und freudig erregt wirken konnte. Als James seinen Besen bestieg und in die Luft flog, kreuzte Peter seine Finger für seinen Freund.
„Und da dachte ich, Potter hätte übertrieben“, murmelte Marlene leise. „Der kann ja echt richtig fliegen.“
„Quidditch ist das Einzige, was James ernst nimmt“, erwiderte Remus trocken. „Würde er Zaubertränke auf dem Besen brauen können, dann wäre er wahrscheinlich besser als Lily.“
Marlene lachte. „Ich kann immerhin sehen, dass er dieses Mal nicht nur den großen Mann gespielt hat. Man muss es ihm ja lassen, aber spielen kann er.“
„Shh!“, zischte Sirius und wedelte abwehrend mit der Hand in ihre Richtung.
„Oh, tut mir leid, kannst du nicht so gut sehen, wenn ich rede, Black?“
„Klappe, McKinnon“, brummte er. „Du störst die ganze Show.“
„Welche Show bitte? Soll ich jetzt applaudieren, weil dir der Sabber aus dem Mund läuft?“ Sie grinste, als Sirius sich hastig übers Kinn wischte, nur um ihr dann einen giftigen Blick zuzuwerfen.
„Sei jetzt ruhig, da unten fliegt mein bester Freund, klar? Ich will mich nur darauf konzentrieren.“
„Du bist so süß, Sirius, wie du deinen Freund unterstützt.“
Sirius antwortete nicht mehr, sondern schnalzte lediglich mit der Zunge, bevor er seinen Blick wieder aufs Feld richtete. Marlene hatte Recht; James flog wirklich wie ein Profi. Er wich Klatschern links und rechts aus, rollte sich mit seinem Besen um, flog Spiralen und knappe Wendungen, ohne zu straucheln und verlor nicht ein einziges Mal den Quaffel. Sein Licht strahlte so hell, dass die anderen Spieler, die es mit ihm versuchten, gar nicht dazu kamen, Dinge vorzuführen. James stahl ihnen mit einem Mal die Show und es sah nicht so aus, als würde er irgendwann damit aufhören.
Nach gut einem Dutzend Tore, pfiff Kapitän Patrick die drei Testspieler wieder herunter. Sie konnten natürlich nicht hören, was geredet wurde, aber dem Gesichtsausdruck von James‘ zu schließen, war es nichts Negatives. Es dauerte nicht lange, dann schüttelten Kapitän und Zweitklässler Hände und mit einem Mal schwang sich James wieder auf seinen Besen und war in Windeseile an der Tribüne angekommen, das breiteste Grinsen auf seinem Gesicht, dass irgendjemand jemals von ihm gesehen hatte.
„Ich bin aufgenommen!“, schrie er begeistert. „Patrick sagt, ich würde besser fliegen als manche Leute, die er schon im Team hatte.“ James‘ wäre beinahe die dreißig Fuß in den Abgrund getrudelt, als er von seinem Besen auf die Tribüne springen wollte und bei der Landung gestrauchelt war, aber selbst eine Nahtoderfahrung konnte den Zweitklässler nicht davon abbringen, wie ein aufgeregter Welpe auf und ab zu hüpfen. „Könnt ihr das glauben, Leute? Oh, hey, McKinnon.“
„Potter“, erwiderte sie kälter als sonst. „Nett geflogen. Glückwunsch.“
„Danke“, sagte er. Er tauschte einen Blick mit Sirius, dann fügte er hinzu: „Bist du immer noch sauer?“
„Wie kommst du darauf? „
„Du benimmst dich so.“
„Ich benehme mich ganz normal, vielen herzlichen Dank. Entschuldige mich bitte, ich gehe runter und werde mit Monty reden.“ Und ohne ein weiteres Wort an die anderen Jungs verschwand Marlene die Treppe hinunter.
„Was ist denn mit ihr?“, fragte James und kratzte sich am Kopf.
Peter fand, dass James, dafür, dass er so intelligent war, manchmal echt dämlich sein konnte. Für ihn war die Sache mehr als klar. Marlene hatte offensichtlich Interesse an James, aber würde es nicht zugeben, wenn er sich weiterhin wie der Egomane benahm, der er war. Nicht, dass er James das jemals sagen würde. Erstens würde er es sowieso abstreiten und zweitens war es nicht an Peter, die Gefühle anderer auszuplaudern, zumal er sich eben nicht gänzlich sicher sein konnte. Vielleicht interpretierte er auch zu viel in die Sache. Deswegen sagte er lediglich: „Weiß nicht, aber ist ja auch egal. Glückwunsch, James.“
„Danke, Pete“, grinste der Potter-Junge. Es war ein anstrengendes Grinsen, eines der schiefen, die er sonst nur übrig hatte, wenn er kurz davor war, Unsinn anzustellen. Das berühmte Potter-Grinsen hatte Sirius es getauft und es war auf jeden Fall treffend. Man würde James einhundert Meilen im Voraus erkennen, wenn er nur so grinsen würde. „Ich glaube, das sollt gefeiert werden, oder? Gemeinschaftsraumparty, was meint ihr?“
„Sollen wir nicht auf Marlene und Monty warten?“, fragte Remus mit seiner ruhigen Art, während sie alle aufstanden und sich ebenfalls zur Treppe begaben.
„Monty muss noch bleiben“, erklärte James von hinten. „Patrick sagt, er würde gerne noch einen Hüter-Testlauf machen, um wirklich entscheiden zu können, wer der Beste war. Ich finde ja, da übertreibt er. Monty war eindeutig der Beste, oder?“
Die anderen stimmten ihm zu und ließen James in einen Schwall an Quidditch-Erklärungen übergehen. Mit James Potter befreundet zu sein, bedeutete, dass man ihn manchmal einfach reden lassen musste. Es war James selbst nicht einmal wichtig, dass man ihm dabei zuhörte. Peter glaubte, dass James sich einfach nur gerne selbst reden hörte und manchmal Dinge laut aussprechen musste, damit sie besseren Sinn ergaben. Zumindest hatte Peter mitbekommen, dass James manchmal beim Hausaufgaben bearbeiten mit sich selbst redete, wenn er glaubte, keiner würde es mitbekommen. Aber Peter bekam sowas mit. Peter bekam zumeist immer die Kleinigkeiten mit, von denen niemand glaubte, jemand würde sie bemerken. Mit der Zeit hatte er all die kleinen Ticks und Besonderheiten mitbekommen und er war sich sicher, dass seine Freude nicht einmal wussten, dass er sie so gut kannte.
Peter wusste, dass Remus seine Federn zerkaute, wenn er nachdachte, Sirius trommelte mit den Fingern auf seinen Knien, wenn der Unterricht sich zog, James kritzelte gerne auf seinen Notizen herum, wenn er sich langweilte. Es hatte seine Vorteile, wenn er der ruhigere Junge der Gruppe war, wenn er der kleinste seiner Freunde war und wenn er derjenige war, den die anderen gerne vergaßen. Als Peter sich einmal lautstark darüber beschwert hatte, dass er in ihrer Gruppe immer unterging, hatte James ihm aufmunternd auf die Schulter geklopft und gesagt: „Du wirst schon sehen, in einer Menge untertauchen zu können, ist ein wahnsinnig nützliches Talent. Denk doch an all die Möglichkeiten, die sich dir bieten, weil man kein Auge auf dich hält? Du könntest Slughorns kandierte Ananas vor seiner Nase klauen und der alte Schwätzer würde es nicht mal mitbekommen. Du hast ein Talent, Pete, und du solltest es für das Chaos nutzen!“ Peter hatte sich entschlossen, James‘ Rat zu befolgen.
***
Auch mehrere Tage später konnte niemand nachweisen, dass James, Peter, Remus und Sirius Schuld am Snape-Vorfall hatten. Die Göttin des Glücks hatte auf die vier Jungs gelächelt, als sie sie aus den Fängen einer weiteren Woche Nachsitzen entfliehen lassen hatte. Zwar wurden sie von Professor McGonagall befragt, aber ihre Alibis wirkten Wunder – da Remus die ganze Zeit mit Lily zusammen war und Monty für die anderen gelogen hatte, gab es nichts, was sie jetzt noch anklagen könnte. Snape selbst war natürlich weiterhin fest davon überzeugt, dass die Gryffindor-Zweitklässler ihn so lächerlich gemacht hatten, auch wenn James der Meinung war, dass sie nicht unbedingt eingreifen müssten, damit Snape sich lächerlich machte.
Das Problem war vielmehr, dass Lily ebenfalls der festen Überzeugung war, dass die Jungs etwas mit dem Streich an ihrem besten Freund zu tun hatten. Aus Remus konnte sie nichts herausholen, sie glaubte kein Wort, was James und Sirius sagten, also hatte sie sich an den Unruhestifter gewandt, von dem sie überzeugt war, etwas aus ihm herauskitzeln zu können.
„Ich weiß, dass ihr das wart“, murmelte sie leise, als sie sich neben Peter auf dem Sofa im Gemeinschaftsraum niederließ.
Der Junge war gerade in ein Schachspiel mit Mary vertieft und bekam deswegen gar nicht richtig mit, wie Lily ihn mit ihren Blicken durchbohrte. Erst, als sie ihm in die Seite stach, schreckte er auf. „Merlin, Evans“, sagte er überrascht. Peter griff sich an die Brust. „Willst du mir Herzversagen bereiten?“
„Ich weiß, dass ihr Sev verhext habt“, sagte sie erneut, ihr Ton hart und anklagend. Es brannte ein regelrechtes Feuer in ihren Augen. „Ich weiß es und ich werde es beweisen.“
„Wie willst du etwas beweisen, dass wir nicht waren?“, fragte Peter und wandte sich wieder zum Schachbrett. Er schob einen seiner Bauern vor. „James, Sirius und ich waren die ganze Zeit auf dem Quidditchfeld, als es passiert ist. Und Remus stand neben dir, meinst du, er hätte irgendwas getan, während du dabei bist?“
„Woher willst du wissen, dass Remus neben mir stand, Pettigrew?“, spuckte sie aus. „Es sei denn, du warst dabei und hast selbst die Zauber gewirkt!“
Peter warf ihr lediglich einen unbeeindruckten Blick zu. „Bitte, Evans, meinst du nicht, Remus würde mit seinen Freunden reden und uns erzählen, was passiert ist?“
Lilys Wangen nahmen ein hässliches Rot an, das sich scheußlich mit ihren Haaren biss. „Ihr denkt, ihr wärt so cool, wenn ihr Sev verhext, nicht wahr?“
„Normalerweise würde ich jetzt ja sagen“, meinte Peter achselzuckend, „aber da wir es dieses Mal nicht waren, kann ich diese Ehre leider nicht annehmen. Außerdem ist es nicht unsere Schuld, dass Snape sich überall Feinde macht. Du müsstest eigentlich am besten wissen, dass er nicht gerade umgänglich ist.“
„Das gibt niemandem das Recht, ihn einfach zu verhexen!“, rief Lily erbost aus, nicht einmal versuchend, die allgemeine Meinung über ihren besten Freund anzuheben. „Die Sachen, die er an dem Tag anhatte, musste er wegschmeißen, weil er Geruch nicht mehr rausging. Madam Pomfrey musste mehrere Wasch-Toniken verwenden, damit seine Haut nicht mehr nach Dungbomben roch!“
„Lily“, sagte Mary leise, beinahe warnend, aber Lily ignorierte sie.
Sie zeigte mit dem Finger auf Peter, der tatsächlich etwas zurückwich. „Alle auf dieser Schule reden immer darüber, wie schwer es doch ist, in der Zaubererwelt von allen akzeptiert zu werden, aber kaum seht ihr jemanden, der euch nicht passt, hänselt und piesackt ihr ihn die ganze Zeit!“ Erbost wischte sie sich ein paar abtrünnige Strähnen aus den Augen.
„Ist dir schon mal in den Sinn gekommen“, fing Peter langsam an, obwohl er innerlich ebenfalls sehr versucht war, laut zu werden, „dass dein lieber Sev nicht das unschuldige Lämmchen in dieser ganzen Sache ist? Du bekommst das hinter deiner rosaroten Brille wahrscheinlich nicht mit, aber Schniefelus ist ein ziemlich unheimlicher Typ. Er kriecht ständig im Schatten von den Reinblütern in seinem Haus herum und beleidigt jeden Muggelgeborenen, den er sieht. Außer dich, natürlich. Du bist ja etwas Besonderes, Evans. Man, wach auf.“
Mary presste ihnen gegenüber die Lippen zusammen und drückte den Kopf nach unten, aber Peter konnte sehen, dass sie kurz davor gewesen war, zu lächeln. Vielleicht war sie sogar froh, dass Peter sie damit indirekt verteidigte, hatte Severus doch ebenfalls schon ein paar sehr hässliche Worte in Marys Richtung geworfen.
Lily hingegen lief noch dunkler an. „Sev ist kein schlechter Mensch“, sagte sie verteidigend. „Er hat es nicht immer leicht und es hilft nicht, wenn ihr ihn die ganze Zeit hänselt. Außerdem hat er nichts gegen Muggelgeborene, vielen Dank!“
„Red dir das ruhig ein, Evans“, murmelte Peter, der die Unterhaltung für abgeschlossen empfand. Er drehte sich zum Schachbrett, überflog die Figuren, lächelte und setzte Mary dann im nächsten Zug Schach Matt. Seine Gegnerin starrte überrascht aufs Feld, dann zuckte sie mit den Schultern. Peter stand auf und wollte sich schon in seinen Schlafsaal begeben, als Lilys erneut den Mund öffnete.
„Red du dir ruhig ein, dass Potter und Black mit dir befreundet sind“, sagte sie mit Gift in der Stimme. „Du bist doch nichts weiter als ein feiger Mitläufer, der sich an die Hacken der beiden Idioten hängt. Als ob Potter und Black wirklich etwas in dir sehen, Pettigrew.“
Ein Stich durchfuhr ihn und der Atem blieb in seiner Kehle stecken. Gift floss wie flüssiges Eis durch seine Venen und ließ sein Blut erstarren. Er wollte etwas erwidern, aber seine Stimme versagte. Lily funkelte ihn herausfordernd an, aber Peter war vielmehr nach Verstecken. Er wollte die brennenden Tränen in seinen Augenwinkeln nicht wahrhaben und anstatt in seinen Schlafsaal zurückzukehren, wirbelte er herum und lief aufs Portraitloch zu.
„Peter!“, rief Mary aus, kaum war er losgelaufen. „Peter, komm zurück! Toll, Lily“, konnte Peter sie noch zischen hören, „hoffentlich bist du jetzt zufrieden.“
Das Bild der Fetten Dame fiel hinter ihm wieder in ihren Platz. „Alles okay bei dir?“, fragte die Frau im Bild mit einer versteckten Sorge in der Stimme.
Peter wischte sich über die Augen und nickte. Lügen war noch nie seine Spezialität gewesen, aber seit er mit James und Sirius und Remus befreundet war, war er ziemlich gut darin geworden. Immerhin musste er jetzt Remus‘ Geheimnis für sich behalten und dafür musste auch die ein oder andere Notlüge herhalten. Peter wusste immer, dass Leute ihn für das schwächste Glied der Gruppe sahen, aber er hätte nie gedacht, dass man so schlecht von ihm dachte. Oder dass man es ihm sagen würde. Neue Tränen brannten in seinen Augen. Scham machte sich in ihm breit, als er ein Schluchzen hörte und realisierte, dass es sein eigenes war.
Es war falsch, sagte er sich. Lily lag falsch und es stimmte nicht, was sie sagte. Peter war kein Mitläufer und James und Sirius waren wirklich seine Freunde. Sie hatte keine Ahnung, dachte er. Und trotzdem wollte das Stechen in seiner Brust nicht aufhören. Ziellos lief Peter los, um sich einen Ort zu suchen, an dem er traurig und verletzt sein konnte. Er würde nicht in den Gemeinschaftsraum zurückkehren, solange diese Hexe dort wartete, um weiter Gift auf ihn zu werfen. Peter hatte sich genug Würde dafür aufgebaut, dass er sich nicht von Lily sofort niedertrampeln ließ, auch wenn sich ihre Worte irgendwo in der hintersten Ecke seines Gehirns sehr echt anfühlten.
Die Eulerei war ausgestorben, als seine Füße ihn dorthin trugen. Peter fühlte sich schrecklich, als er stehenblieb. Tränenschlieren bedeckten seine Wangen und er wusste nicht einmal, wieso er so sehr heulte. Lily hatte keine Ahnung von seiner Freundschaft zu James und Sirius. Sie wusste nicht, wie es war, mit den beiden besten Schülern der Schule, mit den coolsten Jungs der ganzen Welt befreundet zu sein. James und Sirius hatten ihn als Freund gewählt und das nicht, weil er sie vergötterte oder weil Peter ein Fußabtreter war, der nicht Nein sagen konnte. Peter war ein guter Freund, er war ein Unterstützer und er war ein Denker, aber er war kein Mitläufer. Eiskalt waren seine Tränen, als er sich über die Augen wischte.
Du bist doch nichts weiter als ein feiger Mitläufer, hallte es in seinem Kopf wider wie ein schrecklich fieses Echo. Ein feiger Mitläufer. War er das? War Peter wirklich nur ein Mitläufer, der nichts allein tun würde?
„Peter?“
„Merlin“, schreckte Peter zum zweite Mal in kurzer Zeit auf. Er wirbelte herum und blickte ins ebenso überraschte Gesicht von Benjy Fenwick, der einen dicken Briefumschlag in den Händen hielt.
Benjy zog die Augenbrauen zusammen. „Hast du geweint?“
„Was? N-Nein.“ Peter wischte sich schnell mit dem Ärmel übers Gesicht. „Was machst du hier?“
„Oh, keine Ahnung, ob du es wusstest, aber in der Eulerei kann man ganz toll Briefe abschicken. Dafür sind nämlich die rund eintausend Eulen da, die es hier so gibt.“ Benjy runzelte die Stirn und sein Lächeln fiel in sich zusammen. „Was ist los? Wieso hast du geweint? Heimweh?“ Er schob sich die drahtige Brille zurecht und erinnerte Peter damit sehr an James.
„Es ist nichts“, murmelte er. „An wen schreibst du?“
„Hey, versuch nicht abzulenken. Ich weiß, es interessiert dich nicht, an wen ich schreibe, du willst nur nicht, dass ich weiter frage was los ist.“
Ertappt blickte Peter zu Boden. „Es interessiert mich schon“, erwiderte er schnell, auch wenn er Benjy dabei nicht in die Augen sehen konnte. „Schreibst du deinen Eltern?“
Benjy lachte kurz auf, dann schnaubte er. „Klar, meinen Eltern. Ich bezweifle, dass ich ihnen schreiben könnte, selbst wenn ich wollte.“
Das ließ Peter wieder aufblicken. Seine Augenwinkel waren noch immer feucht und das unangenehme Stechen in seiner Brust wollte nicht ganz verschwinden, aber es fühlte sich in diesem Moment nicht mehr ganz so schlimm an. „Was soll das heißen?“
„Was, weißt du das nicht?“, fragte Benjy mit hochgezogenen Augenbrauen. Er sah tatsächlich überrascht aus. „Und hier dachte ich, Em würde sofort allen davon erzählen, damit sie mich bemitleiden können…“ Benjy zuckte kurz mit den Schultern, bevor er sagte: „Ich bin in einem Waisenhaus großgeworden. Ich kenn meine Eltern nicht.“ Es war seltsam, fand Peter, wie er es sagte. Als würde er gerade lediglich die Lösung für eine relativ einfache Verwandlungsfrage geben und nicht über seine unnormale Familiensituation reden.
„Oh.“
„Sag jetzt bitte nicht, dass es dir leid tut“, fügte Benjy mit einer Grimasse hinzu. „Das hasse ich. Warum sollte es dir denn leid tun? Es ist weder deine Schuld noch kannst du was dran ändern.“
„Das wollte ich nicht sagen!“, log Peter. „Ich wollte eher sagen, dass ich mich schlecht fühle, weil ich es nicht gewusst habe.“
„Ach, muss nich‘„, erwiderte der andere Junge. Mit einer Hand wischte er sich durch die dicken Locken – wieder eine Geste, die Peter an James erinnerte – bevor er sagte: „Ich bind’s auch nicht unbedingt jedem auf die Nase, eh? Die meisten Leute werden vorsichtiger, wenn sie wissen, dass ich aus’m Waisenhaus komme, wahrscheinlich weil sie denken, ich würde denen die Wertsachen klauen oder so.“ Er zuckte mit den Schultern. „Nicht alle aus’m Waisenhaus klauen, auch wenn’s die meisten schon tun.“
Peter wusste nicht ganz, was er darauf antworten sollte. „Also sind Vic und Stan auch Kinder aus dem Waisenhaus?“, fragte er.
„Sie sind meine Zimmernachbarn“, erklärte Benjy und ging an Peter vorbei. Während er nach einer Eule für seinen Briefumschlag suchte, sagte er: „Wenn ich im Heim bin dann hängen wir immer ab. Ich würd‘ sie nicht unbedingt meine Freunde nennen, aber ich glaub, ich vermisse sie schon ‘n bisschen. Deswegen schreib ich ihnen jetzt einfach, damit sie nicht denken, ich würd sie vergessen.“
„Denken sie immer noch, du wärst im Jugendknast?“, fragte Peter, der sich an Benjys Karte aus dem Sommer erinnerte.
„Glaub nicht“, erwiderte Benjy, der es geschafft hate, eine schicke, dunkelbraune Eule aus ihrer Nische zu locken und ihr den Brief in den Schnabel gesteckt hatte. „Ich hab ihnen erklärt, dass ich auf ein schickes Internat gehe, dass mir ein reicher Verwandter bezahlt, der sich genug um mich sorgt, dass ich auf ‘ne gute Schule geh, aber nicht genug, damit ich bei ihm leben könnt‘. Damit wär ich immerhin nicht der einzige dort, also glauben sie’s immerhin.“ Benjy geleitete den Vogel zu einem der vielen Fenster und schleuderte die Briefeule in den Himmel. Erst dann drehte er sich wieder zu Peter um. „Ich hoffe doch sehr, du fängst jetzt nicht an, mich zu bemitleiden“, sagte er beinahe düster klingend. „Ich will keine Almosen oder sowas haben, nur weil ich ‘n Waise bin, okay? Und ich will auch nicht anders behandelt werden, nur weil ich keine Eltern hab. Wenn ich mich damit abfinden konnte, dann kannst du das bestimmt auch.“
„Oh, k-klar“, stammelte Peter schnell. „Wolltest du deswegen nicht, dass ich dir was zu Essen im Zug ausgebe?“
Benjy wurde rot im Gesicht. „Unter anderem“, gab er zu. „Ich – naja, ich mag es allgemein nicht, Sachen von anderen anzunehmen. Ich fühl mich dann schlecht, weil – naja, weißt du, weil ich es nicht zurückzahlen könnte.“
Peter öffnete den Mund, um etwas zu erwidern, aber ihm fiel beim besten Willen nicht ein, was das sein könnte. So hatte er das noch nie gesehen. Im Zug hatte er nicht wirklich darüber nachgedacht – er hatte gesehene, dass Benjy hungrig aussah und hatte ihm einfach etwas gekauft. Geld war nie ein Problem für ihn gewesen. Seine Familie hatte immer genug gehabt, damit es ihm und Phyllis nie an etwas gemangelt hatte (außer vielleicht an einem Vater, fügte er mürrisch hinzu), deswegen war es Peter auch nie in den Sinn gekommen, dass es Kinder treffen würde, die nicht so viel Glück hatten. Und Benjy, schien es, hatte überhaupt nichts. Schließlich entschied Peter sich dazu, dass er ehrlich mit Benjy sein könnte: „Lily hat mich schlimm beleidigt. Deswegen hab ich geweint.“
„Lily? Du meinst das Evans-Mädchen“, fragte Benjy überrascht. „Mensch und ich dacht‘ echt, die wär voll nett. Muss ich sie jetzt hassen? So aus Solidarität? Ich mach das.“
„Ich glaub nicht“, sagte Peter, der sich sehr geehrt fühlte. „Wir haben ihrem Freund einen Streich gespielt und sie denkt natürlich, wir wären das gewesen, hat aber keine Beweise, also hat sie versucht, die Wahrheit aus mir rauszuquetschen.“
„Ja und dann?“, presste Benjy. „Was hat sie gesagt, dass dich so beleidigt hat?“ Es schien Benjy nicht in den Sinn zu kommen, dass Peter das nicht wiederholen wollte.
„Sie“, fing Peter an und biss sich auf die Zunge. „Sie meint, ich wäre nur ein feiger Mitläufer, der sich an James und Sirius‘ Hacken klammert.“
„Mann“, sagte Benjy etwas atemlos klingend. „Das ist hart. Vielleicht hättet ihr lieber ihr den Streich spielen sollen.“
„Wahrscheinlich meint sie es nicht mal wirklich so“, überlegte Peter lautstark. „Lily ist eigentlich ziemlich nett und sie war sauer, weil wir Snape so lächerlich gemacht haben.“
„Hey, du sollst sie nicht verteidigen“, meinte Benjy und deutete mit einem Kopfnicken auf den Ausgang.
Peter wischte sich ein letztes Mal über die Augen und folgte ihm. „Mach ich nicht.“
„Machst du wohl. Sie hat deine Gefühle verletzt und war echt fies. Bei uns im Waisenhaus wird derjenige einmal ordentlich verprügelt, der gemein zu jemand anderem war und dann sind wieder alle Freunde.“
Geschockt starrte Peter ihn an. „Ich will sie nicht verprügeln“, sagte er schnell, damit Benjy nicht auf dumme Ideen kommen würde. Seine Stimme hallte etwas lauter, jetzt da sie wieder im Korridor waren. „Außerdem gehört sich das nicht, sagt meine Mutter immer. Ein Mädchen zu verprügeln, mein ich.“
„Wenn sie gemein ist, dann wird sie bei uns verprügelt“, zuckte Benjy achtlos mit den Schultern. „Da gibt’s keinen großen Unterschied. Außerdem passiert denen ja nicht wirklich war. Paar blaue Flecke und vielleicht ‘ne gebrochene Nase, das war’s.“
„Das ist trotzdem schrecklich!“
„So ist das nun mal bei uns“, sagte Benjy. „Muss dir nicht gefallen, aber ändern kannst es auch nich‘. Was willst du denn jetzt deswegen machen?“
„Was meinst du?“
„Naja, willst du einfach bisschen drüber heulen und dann vergessen, was passiert ist oder willst du dich rächen?“
„Ich – keine Ahnung, nein, ich will mich nicht rächen!“ Peter schüttelte vehement den Kopf. Lilys Kommentar hatte ihn zwar echt verletzt und er fühlte sich noch immer miserabel deswegen, weil sie so eine schlechte Meinung von ihm hatte, aber er hatte nicht vor, ihr etwas anzutun oder sowas. Beinahe entsetzt darüber, dass Benjy überhaupt sowas vorschlagen würde, fügte er schnell hinzu: „Das wird sich schon klären.“
Benjy starrte ihn für einen Augenblick an, dann hob er abwehrend die Hände. „Na, wenn du meinst. Aber falls du deine Meinung änderst, dann lass es mich wissen. Aus Solidarität werd ich dann trotzdem anfangen, sie zu hassen.“
Peter konnte nicht anders, als zu lachen, auch wenn ihm die ganze Vorstellung eine Gänsehaut verpasste. „Abgemacht.“
***
Benjys Art der Aufmunterung – so prekär sie auch sein mochte – hatte Peter wirklich geholfen. Der Ravenclaw-Zweitklässler hatte ihn eingeladen, den Rest des Tages mit ihm, Dorcas und Emmeline zu verbringen, die für den Schachclub der Schule üben wollten.
„Ich wusste gar nicht, dass wir einen Schachclub haben“, hatte Peter überrascht gesagt.
„Quidditch ist nicht das einzige, in dem man gut sein kann“, hatte Benjy erwidert, der noch nie viel von Besen gehalten hatte. „Em und Dorcas wollen zwar auch dem Quidditch-Team beitreten, aber da sie dieses Jahr nicht aufgenommen wurden, haben sie nach einem anderen Club gesucht. Schach scheint ihnen beiden gut zu liegen.“
Zaubererschach war genau wie normales Schach, bis auf die sich von selbst bewegenden Figuren und ihren manchmal eingeworfenen Kommentaren. Meist spielte Peter mit Muggel-Figuren, die er selbst bewegen musste. Er fand es einfacher, einen Spielstein zu opfern, wenn er ihn nicht anflehte, lieber jemand anderen in den sicheren Tod zu schicken. Als Kind hatte er immer Albträume bekommen, dass die verlorenen Spielsteine sich irgendwann an ihm rächen würden, also hatte er sich ein Muggel-Set von seiner Mutter schenken lassen. Zwar wurden ihm deswegen oft seltsame Blicke zugeworfen, wenn er jemanden herausforderte, der mit verzauberten Steinen spielte, aber Peter ließ sich davon nicht wirklich beirren. Zumal er kaum ein Spiel verlor, egal ob sprechende oder stille Steine.
„Wahnsinn“, meinte Dorcas, nachdem er sie in gerade einmal fünf Zügen Schachmatt gesetzt hatte. „Ich sollte beleidigt sein, so schnell verloren zu haben, aber ich bin eigentlich nur beeindruckt. Wie kommts, dass du so gut bist?“
„Oh“, erwiderte Peter mit roten Wangen. Komplimente waren nicht etwas, das er sehr regelmäßig erhielt; jedes Mal vergaß er für einen Moment, wie man atmete, wenn ihn jemand lobte. „Ich habe früher immer gegen ein paar Muggel im Park gespielt“, erklärte er. „Da hab ich mir ein paar Tricks abgeschaut, mehr nicht.“
„Ach komm“, sagte auch Emmeline sichtlich beeindruckt. „Keine falsche Scheu, du bist echt gut. Du solltest unbedingt auch dem Club beitreten.“
„Ich weiß nicht“, murmelte er und stellte seine Spielsteine wieder auf. „Ein Schachclub ist nicht so cool wie das Quidditch-Team…“
„Na und?“, fragte Benjy mit hochgezogenen Augenbrauen. Der andere Junge war ein ziemlich guter Schachspieler, aber schaute seinen Freunden meist nur zu, wenn sie spielten. „Wenn du Angst davor hast, dass deine Kumpel dich auslachen, dann solltest du umso eher beitreten.“
„Umso mehr“, korrigierte Emmeline. „Aber Benjy hat Recht. Du bist offensichtlich ziemlich gut in Schach.“
Peter biss sich auf die Lippen. „Vielleicht versuch ich’s“, meinte er. „Aber versprechen werde ich gar nichts. So ein Club frisst viel Zeit.“
„Das hält deinen Kumpel nicht davon ab, dem Quidditch-Team beizutreten“, sagte Dorcas mit einer Spur Bitterkeit in der Stimme. „Wenn er im Quidditch-Team sein kann und trotzdem genug Zeit für seine Freunde und Schule hat, dann kannst du das genauso gut.“
Peter nickte nachdenklich. „Schätze, da ist was dran…“
„Also“, sagte Emmeline und klatschte laut in die Hände, „dann wäre das ja geklärt. Du trittst mit mir und Dorcas dem Schachclub bei und ich werde kein Nein akzeptieren. Und wenn ich Potter und Black duellieren muss, du machst mit!“
„Genau“, grinste Benjy. „Ich komm auch zu jedem eurer Spiele und feuere euch leise, aber enthusiastisch an.“
„Und wenn einer auch nur wagen sollte, darüber zu lächeln, dass du dem Schachclub beitrittst, dann werde ich diesen Flederwichtfluch lernen, von dem Flitwick gesprochen hat“, fügte Dorcas an. „Wir werden ja sehen, wie cool Potter und Black sich noch halten, wenn ihnen Fledermäuse aus ihren eigenen Popeln um die Ohren fliegen.“
Die kleine, ungleiche Truppe brach bei der Vorstellung in Gelächter aus. Peter erinnerte sich schon gar nicht mehr an das schlechte Gefühl, dass Lilys Kommentar, in ihm ausgelöst hatte. Gerade war er viel zu glücklich darüber, dass er Freunde hatte, die ihn nicht dafür aufzogen, gerne Schach zu spielen oder nicht so gut in allen Fächern zu sein.
„Da das ja jetzt beschlossen wäre“, sagte Benjy, „können wir dann runter zum Abendessen? Ich verhungere hier gleich.“
„Du hast gerade zwei Kesselkuchen gegessen?“
„Vorspeise“, meinte der Junge mit einer wegwerfenden Handbewegung. „Jetzt bin ich bereit für das richtige Essen. Komm schon, Pete, du sitzt dieses Mal auch bei uns.“ Benjy warf einen Arm um Peters Schulter – was sich als etwas schwierig herausstellte, war Benjy doch immernoch einen Kopf kleiner als der Gryffindor – und grinste ihn von der Seite her an. „Wetten, du kannst nicht so viele Portionen Nusstorte essen wie ich?“
„Oh“, sagte Peter lachend, der nie genug von Nusstorte bekommen konnte, „die Wette wirst du sowas von verlieren, Fenwick. Bereite dich auf dein Ende vor!"
Chapter 16: 16. Jahr 2: Rache wird mit Tee serviert
Chapter Text
Lily war sich sehr wohl bewusst, dass sie sich unsinnig benahm. Es gab keinen Grund für sie, unfair gegenüber Remus und Peter zu sein, nur weil sie sauer auf Potter und Black war, die sich noch immer nicht dazu erkannt hatten, diejenigen hinter dem Streich an Sev zu sein. Aber sie konnte weder Remus verzeihen, der nach der dritten eher kühlen Absage zum gemeinsamen Lernen aufgegeben hatte, sie zu fragen, noch sich bei Peter für ihr Verhalten entschuldigen, der sie seitdem keines Blickes gewürdigt hatte. Lily wusste genau, dass James Potter und Sirius Black dafür verantwortlich waren, dass ihr bester Freund ein weiteres Mal zur Lachnummer der gesamten Schule geworden war und sie würde weder ihnen noch ihren Freunden, die sie deckten und wahrscheinlich dabei unterstützt hatten, vergeben.
Obwohl Lily für Sev vor einen Fluch springen würde, konnte sie nicht umhin, als zumindest den fiesen Worten Peters Recht zu geben: Es stimmte nun einmal, dass Severus nicht der umgänglichste Junge war, er hatte sich viele Feinde mit seinen Einstellungen gemacht und die meiste Zeit gab er sich nicht sehr viel Mühe, neue Freunde zu finden. Manchmal war sich Lily sicher, dass Sev damit zufrieden war, wenn sie sein einziger Freund auf der ganzen Schule war. Aber daran konnte sie für ihn nichts ändern. Sie konnte ihn nicht zwingen, mit anderen Schülern Dinge zu unternehmen oder sich beim Essen mit ihnen zu unterhalten. Lily wusste, dass Sev es nicht sehr einfach hatte, neue Leute kennenzulernen und lieber bei denen blieb, die er bereits kannte. Da sie in diesem Fall die einzige war, hieß das eben auch, dass Sev ansonsten recht einsam an dieser Schule war.
Wobei – sagte sie sich hoffnungsvoll – wobei er angefangen hatte, mit anderen Jungs aus seinem Jahrgang zu reden. Mulciber und Avery waren in Lilys Buch nicht die nettesten oder allgemein symphytischsten Jungs, mit denen Sev befreundet sein könnte, aber Lily war gewillt, darüber hinwegzusehen, wenn das hieß, dass ihr bester Freund endlich einen weiteren Sozialkreis baute. Es war ermüdend, dass sie immerzu gezwungen war, sich zwischen ihren Freunden zu unterscheiden, da keiner mit dem jeweils anderen etwas zu tun haben wollte – Sev weigerte sich mit Lily zu lernen oder essen oder nur Zeit zu verbringen, wenn Mary oder Marlene dabei waren und andersherum war es nicht anders. Es gab ein seltsames Einverständnis der drei, dass sie sich nicht ausstehen konnten und so einfach es für sie war, nebeneinander zu existieren, ohne je miteinander interagieren zu müssen, so schwieriger war es doch für Lily, die sich immer zwischen zwei Seiten hin und hergerissen sah. Wenn sie etwas mit Mary und Marlene unternehmen wollte, dann würde sie Severus zurücklassen, wenn sie etwas mit Sev machen wollte, dann fühlten sich ihre Mitbewohnerinnen auf die Füße getreten. Deswegen war es für sie nur eine gute Entwicklung, wenn Sev endlich neue Freunde fand, allein schon, um damit den fiesen Worten von Potter und seinen Freunden entgegenzuwirken, die immer wieder betonten, wie freundeslos Sev war.
Lily war natürlich zu Professor McGonagall gegangen und hatte Severus‘ Anklage gegen Potter und seine Bande unterstützt. Sie wusste, die vier hatten etwas damit zu tun gehabt, selbst wenn sie keine Beweise hatte. Diese anhaltende, kindische Fehde ging schon lang genug so, dass Lily Potters Handschrift erkannte, wann immer er sein Zeichen hinterließ. Öffentliche Demütigung und fortgeschrittene Magie? Das schrie alles nur nach James Potter, der es mal wieder nicht lassen konnte, und sein Talent für Magie für solch demütigende Zwecke zu missbrauchen. Von James und Sirius hatte sie nichts anderes erwartet, ehrlich, aber zumindest von Remus hätte sie gedacht, dass er sich gegen die Streiche seiner Mitbewohner auflehnen würde. Sie hatte gedacht, sie und Remus wären Freunde gewesen, aber sicherlich war das nur der letzte Nagel im Sarg gewesen. Remus war um keinen Deut besser als Potter und Black und von Pettigrew wollte sie nicht anfangen. Auch wenn Mary sie aufgrund ihrer verletzenden Worte gegen den vierten Gryffindor ziemlich zur Schnecke gemacht hatte, so war Lily standhaft geblieben. Sie war der Ansicht, dass er nichts weiter als ein feiger Mitläufer war. Er würde nie etwas gegen James, Sirius oder Remus sagen, dafür kroch er viel zu gerne in deren Schatten, so wie er es Sev vorwarf zu tun.
In dem Moment, in dem Peter weinend aus dem Gemeinschaftsraum gerannt war, hatte sie sich zwar ein wenig schlecht gefühlt, aber es hatte nicht genügend in ihr ausgelöst, dass sie sich bei ihm entschuldigen würde. Er war ein Teil von Potters Bande und Potters Bande hatte Sev einmal mehr zum Gespött der Schule gemacht. Es gab keinen Grund, wieso sie ihnen vergeben, noch sich bei Peter entschuldigen sollte, bis die vier nicht zur Rechenschaft gezogen wurden.
Professor McGonagall hatte ihnen nicht geglaubt. Die offensichtlichen Alibis der Jungs – gegeben vom fünften Gryffindor-Jungen, Montana Fortescue – hatten der Verwandlungsprofessorin genügt, damit sie sie von ihrer Verdächtigenliste streichen konnte, auch wenn sie gesagt hatte, dass sie Lilys Unmut verstehen konnte. „Die vergangenen Taten von Mr. Potter und seinen Freunden sind zweifellos nicht unbemerkt an mir vorbeigegangen, Miss Evans. Ich weiß sehr wohl um die Feindschaft, die zwischen Mr. Snape und Mr. Potter liegt, aber das heißt nicht, dass ich einen vermeintlich unschuldigen Schüler zur Strafe ziehe. Sie können nicht jedes kleine Missgeschick und jeden Streich auf Mr. Potter schieben, Miss Evans, so sehr sie ihn auch nicht mögen. Es würde sich für mich nicht geziemen, Mr. Potter und seinen Freunden Strafarbeiten und Nachsitzen aufzubrummen, wenn sie doch ein Alibi aufzuweisen haben. Solange Sie nicht beweisen können, dass das Alibi gefälscht und Mr. Fortescue für Mr. Potter gelogen hat, kann ich nichts tun, Miss Evans. Und ich sage es Ihnen nur noch einmal zur Warnung – Wahrheitsserum und Gedächtniszauber sind illegal, sollten Sie nicht die Erlaubnis des Ministeriums oder des Schulleiters bekommen und ich bezweifle sehr, dass Sie diese für einen einfachen Streich erhalten, der keinen bleibenden Schaden verursacht hat“, hatte die Professorin Lily mit auf den Weg gegeben und sie damit nur noch frustrierter zurückgelassen.
Für sie war es klar wie Kloßbrühe – Potter und Black hatten Montana irgendwie dazu überzeugt, für sie zu lügen, damit sie ein Alibi für die Zeit des Streiches hatten, Remus und Peter hatten sich irgendwie in diesen Streich involviert, ohne dass Lily es mitbekommen hatte und sie vier saßen jetzt zusammen und klopften sich gegenseitig für das perfekte Gelingen auf die Schultern. Lily war stinksauer, dass es an dieser Schule keine Gerechtigkeit für Leute wie sie und Sev gab, dafür aber Halunken wie Potter und seine Freunde mit ihren Streichen und Scherzen davonkamen, die, wenn Lily ganz ehrlich war, nie auch nur ein bisschen lustig waren. Sie waren entweder störend – wie dieses elende Fiasko letztes Jahr Halloween – oder demütigend, wie die kürzliche Attacke auf Sev.
„Lily, du rührst zu schnell“, zischte Sev neben ihr über dem dampfenden Kessel. „Pass auf!“
„Hm?“ Gerade rechtzeitig ließ Lily ihren hölzernen Löffel los, mit dem sie in ihrem Zaubertrank gerührt hatte und die giftgrüne Färbung innerhalb ihres Kessels verschwamm wieder langsam in die violette, die sie eigentlich haben wollte. „Oh, danke.“
„Was ist mit dir?“, fragte Severus leise. Sein Trank war einen ganzen Ton dunkler und sah vielmehr aus, wie im Lehrbuch beschrieben. „Du bist doch sonst nicht so neben dir.“
„Oh, es ist nichts“, sagte sie. „Ich muss nur ständig daran denken, wie unfair es ist, dass Potter und seine Freunde nicht bestraft wurden, für was sie dir angetan haben.“
Sevs Gesicht wurde ein wenig dunkler und ein düsterer Glanz trat in seine Augen. „Mach dir darüber keine Gedanken, Lily“, sagte er. „Die bekommen schon, was sie verdienen.“
„Trotzdem!“, presste Lily. Sie warf ein paar Lavendelblüten in ihren Kessel und schneeweißer Dampf schoss an die Decke. „Es ist einfach ungerecht, wie sie dich behandelt haben. Ich verstehe nicht, was sie überhaupt gegen dich haben.“
„Wahrscheinlich sind sie einfach eifersüchtig“, brummte Severus leise, sein Gesicht fast gänzlich hinter der Wolke aus weißem Rauch verdeckt. „Immerhin sind wir die besten in Zaubertränke. Es geht sicher nicht in ihre Erbsenhirne, dass sie nicht in allem die Besten sind.“
Lily biss sich auf die Lippen. „Glaubst du echt?“, fragte sie leise. „Das ist alles?“
„Was soll das heißen?“, erwiderte er mit scharfer Stimme.
„Gar nichts“, sagte Lily schnell. „Ich dachte nur – nicht wichtig.“
„Was? Dachtest du, ich hätte ihnen einen Grund gegeben? Es wäre damit annehmbar gewesen, dass sie mich blamiert hätten?“, zischte Sev giftig. Dunkler Dampf quoll aus seinem Kessel, als er versehentlich mit seinem Zauberstab gegen die Kesselwand drückte. „Mist.“
„Ah, da waren Sie etwas voreilig, Mr. Snape!“, donnerte die laute Stimme Professor Slughorns durch die Kerker. „Aber nicht schlimm, nicht schlimm. Fügen Sie etwas Erdbeerwurzel hinzu, das sollte helfen.“
„Danke, Sir“, presste Sev zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor.
Selbst durch den dichten Dampf, der im gesamten Kerker herrschte, konnte Lily noch die feixenden Gesichter von Potter und Black erkennen, die sich wissentlich angrinsten. Sie warf den beiden einen mehr als giftigen Blick zu, ehe sie sich wieder ihrem Trank widmete. „Irgendjemand muss es ihnen heimzahlen“, murmelte sie.
„Ganz deiner Meinung“, sagte Sev dunkel klingend. „Mach dir keine Sorgen, Lily. Karma wird sie schon irgendwann einholen.“
„Solange will ich nicht warten. Es kann nicht sein, dass Potter weiterhin durch die Hallen stolziert, als würde ihm die Schule gehören! Er ist einfach nur ein arroganter Schnösel, der denkt, er wäre besser als alle anderen, weil sein Vater irgendein Haargel erfunden hat. Er ist ein – ein –“
„Ekelpaket? Widerling? Blutsverräter?“, versuchte Severus auszuhelfen, stockte aber schnell.
Lily zog die Augenbrauen zusammen. „Blutsverräter?“, fragte sie. „Sev, ich dachte –“
„Ist mir nur rausgetuscht. Ich hab gehört, wie andere ihn so genannt haben, aber du – du weißt ja, dass mich das nicht interessiert.“
„Okay“, erwiderte sie langsam. „Mich interessiert sein Blutstatus nämlich auch nicht. Er ist ein Widerling, egal ob Reinblut oder nicht. Ich kann ihn nicht ausstehen!“
Dieser Kommentar schien Severus sehr zu gefallen. Seine Mundwinkel zuckten für einen Moment und etwas Farbe kehrte in sein Gesicht zurück. „Wenigstens hast du immernoch den gleichen, guten Geschmack, Lily.“
Lily schnaubte belustigt. „Ich habe Augen im Kopf, Sev. Ich lass mich nur nicht davon einlullen, dass er toll auf dem Besen ist oder der Beste in den meisten Schulfächern. Das lenkt mich nicht davon ab, dass er ein arroganter Widerling ist, der lernen muss, andere nicht ständig runterzumachen.“ Und wenn sie es ihm selbst beibringen müsste, fügte sie in Gedanken an.
Professor Slughorn beendete mit lautem Versprechen, dass sie in der nächsten Woche endlich die komplizierteren Tränke anfangen würden, die Stunde und schickte sie zum wohlverdienten Mittagsessen. Lily und Severus ließen sich extra Zeit beim Verlassen des Klassenzimmers, damit sie weit nach Potter und Black die Halle betreten würden – Lily hasste es, wenn sie nach dem Ende einer Stunde gezwungen war, mit ihren unausstehlichen Gryffindor-Mitschülern zu laufen. Ihre langsamen Schritte hallten laut im verzwickten Tunnelsystem der Kerker wider, die Lily mittlerweile lieben gelernt hatte. Sie seufzte. „Alles wäre so viel einfacher, wenn ich einfach auch nach Slytherin gekommen wäre“, sagte sie neben Severus. „Wir hätten dann immer zusammen Unterricht und ich müsste mich nicht ständig mit diesen Idioten rumschlagen. Auch wenn mir wohl Mary und Marlene fehlen würden…“
Severus war blass im Gesicht geworden. „Du würdest gerne in Slytherin sein?“, fragte er.
„Na klar! Es ist doch total nervig, dass wir auf dieselbe Schule gehen, aber kaum Zeit miteinander verbringen können.“ Lily umklammerte ihr Zaubertrankbuch vor der Brust etwas fester. „Aber wahrscheinlich wäre ich keine gute Slytherin gewesen.“
„Was? Natürlich wärst du das!“, sagte Sev schnell und aufgeregt, sodass er sich beinahe verhaspelte. „In Slytherin wärst du ganz groß rausgekommen!“
Lily lächelte schmal. „Das sagst du, aber die meisten deiner Mitschüler finden das nicht. Ich kann ja hören, was über Leute wie mich gesagt wird. Schlamm- „
„Sag das nicht!“, unterbrach Severus sie eilig, seine Augen weit aufgerissen. „Du weißt doch, dass mich das nicht kümmert. Du bist die tollste Hexe, die ich kenne und es ist egal, was die anderen denken. Auch als – auch als Muggelstämmige bist du um Längen besser als ein Großteil der Reinblüter hier, lass sie dir das nicht nehmen.“
Dankbar lachte Lily leise. „Du bist so lieb, Sev, vielen Dank!“
Im schummrigen Kerkerlicht sahen seine dunklen Wangen etwas fahl aus. Er murmelte etwas Unverständliches, dann drückte Sev den Rücken durch. „Ist nur die Wahrheit. Selbst in Zaubertränke bist du fast so gut wie ich“, fügte er grinsend hinzu.
Lily verdrehte lachend die Augen. „Natürlich nur fast, Sev. Niemand ist so gut in Zaubertränke wie du, ich weiß!“ Kichernd verließen sie die Kerker und betraten die Eingangshalle, die wie immer gefüllt mit Schülern aller Häuser und Altersklassen war. Alle wollten zum Mittagessen in der Großen Halle und Lily konnte es niemandem verübeln – ihr Magen knurrte ganz fürchterlich und bei den ganzen köstlichen Düften, die aus den offenen Pforten waberten, lief ihr bereits das Wasser im Mund zusammen. Am meisten freute Lily sich bereits jetzt aufs Dessert, ein leckerer Waldmeisterpudding mit Vanillesauce und vielleicht etwas Sahne zur Dekoration. Sie konnte es fast schon schmecken.
Der Appetit auf einen guten Pudding verging Lily allerdings, als sie sich gemeinsam mit Sev an den Slytherin-Tisch setzte; die ganze Halle schien in Geflüster und Gemurmel unterzugehen, verstecktes Geraune und entsetztes Aufatmen ging durch die Decke und es dauerte nicht lange, bis Lily ebenfalls erkannte, warum das so war. Die neuste Ausgabe des Tagespropheten war im wahrsten Sinne des Wortes hereingeflattert – ein ganzes Parlament an Eulen hatte die Zauberer-Zeitung in die Große Halle gebracht und überall saßen Schüler und auch Lehrer nebeneinander, steckten die Köpfe zusammen und lasen die Schlagzeile.
Lily klaubte sich eine Ausgabe vom Tisch, schlug die Zeitung auf und fühlte einen ganzen Eimer Eis in ihren Magen rutschen.
MUGGELFAMILIE IN YORK TOT AUFGEFUNDEN – AUROREN HABEN SCHWARZE MAGIER IM VERDACHT
Der Abend des 27. Septembers wird den Leuten in York nicht gut im Gedächtnis bleiben. Familie Campell wurde in den frühen Abendstunden von ihrer Nachbarin tot in ihrem Haus aufgefunden. Es gab weder Einbruchsspuren noch Anzeichen von Gewalteinwirkungen, lediglich der Ausdruck von Terror auf den Gesichtern der vier Toten, darunter die Eltern sowie die beiden Kinder, vierzehn und sieben Jahre alt. Muggel-Gesetzesmänner (sie nennen sich Polizisten) untersuchten den Tatort, konnten aber keine Spuren finden – Auroren, die einige Minuten später dazustießen, fanden allerdings sofort die Hinweise, die sie gefürchtet hatten. Spuren von dunkler Magie und die Nutzung des Unverzeihlichen Todeszaubers. Bisher ist nicht bekannt, wieso die Muggelfamilie sterben musste, aber die Auroren gehen keinesfalls von Einzeltätern aus. Sie verbinden diesen Fall mit den überall im Land vorgefallenen Angriffen auf Muggel und Muggelstämmige sowie das Verschwinden der muggelgeborenen Ministeriumshexe Alana Morg, die im Mai diesen Jahres aus ihrer Wohnung in London verschwand.
Die Aurorenzentrale möchte zu Vorsicht aufrufen. Bisher ist nicht bekannt, wer hinter diesen Taten steckt oder was die Motive der Täter sind, es ist lediglich klar, dass sie keinem Schema folgen. Die Angriffe auf Muggelfamilien sowie muggelgeborene Hexen und Zauberer lässt eindeutig auf die Tat von schwarzen Magiern schließen. Sollte Ihnen etwas auffallen oder sollten Sie jemanden kennen, der sich verdächtig benimmt, dann zögern Sie bitte nicht, sich bei der zuständigen Aurorenzentrale zu melden. Das Ministerium ist auf die Mithilfe der Hexen und Zauberer angewiesen, damit diese Angriffe endlich stoppen.
Lily war schlecht, als sie die Zeitung beiseitelegte. Ihre Finger zitterten. Noch ein Angriff auf eine Muggelfamilie. Sie betrachtete das Bild der Familie, dass dem Artikel beigefügt war. Es war eine sehr ordinär aussehende Familie gewesen, ein Vater, eine Mutter, zwei Töchter. Lily wurde noch schlechter, als sie daran dachte, dass das genauso gut hätte ihre Familie sein können.
„Das ist grausam“, flüsterte sie mit fahler Stimme. „Wie kann man sowas nur tun?“
Severus, der den Artikel nur überflogen hatte, blickte von seinem Hackbraten auf. „Es gibt immer so Leute“, sagte er achselzuckend. „Keine Sorge, Lily, die werden die Zuständigen schon schnappen und dann musst du dir keine Sorgen mehr machen.“
„Dann muss ich – hast du überhaupt gelesen, was da stand?“, fragte sie aufgebracht. „Das sind keine Einzelfälle. Jemand geht mit einem direkten Hass auf Muggel und Muggelgeborene vor und tötet diese! Da draußen ist irgendein machtbesessener Zauberer, der seine Magie ausnutzt, um Menschen zu töten! Was würdest du tun, wenn ich das nächste Opfer bin? Auch einfach gemütlich weiteressen?“
Sev legte erschlagen die Gabel beiseite. „Lily, wie kannst du – natürlich nicht!“, sagte er schnell. „Ich meinte nur, dass du hier sicher bist. Hier, in Hogwarts. Niemand wird dir hier etwas antun können. Wer sagt denn überhaupt, dass es gezielte Angriffe auf Muggel und Muggelgeborene ist? Das könnten auch Zufälle sein.“
„Ich fass es nicht“, sagte Lily mit schriller Stimme, die ihr einige neugierige Blicke kassierte. Sie nicht beachtend, fuhr sie fort: „Hast du denn in Geschichte der Zauberei überhaupt nicht aufgepasst? Muggel und Muggelgeborene sind schon seit Jahrhunderten die Sündenböcke der Zauberer und Hexen, die an die Überlegenheit des Blutes glauben. Gellert Grindelwald gesamter Krieg gegen die Welt –“
„Du hast keine Ahnung, wovon du da redest“, unterbrach Sev sie mit scharfer Stimme. „Das sind alles Gerüchte und vergangene Zeiten. Niemand denkt heute noch so. Außerdem ist das doch Unsinn. Überlegenheit des Blutes, also wirklich“, murmelte er säuerlich und nahm seine Gabel wieder auf. „Guck dich doch mal an. Du bist muggelgeboren und die beste Hexe in unserem Jahrgang.“ Ein roter Schleier schlich sich auf Sevs Wangen. „Wer auch immer daran glaubt, dass das Blut die magischen Fähigkeiten ausmacht, der hat dich noch nie dabei beobachtet, wie du einen Schwamm in ein Meerschweinchen verwandelt hast.“
Lily wusste nicht, was sie denken sollte. Versuchte Sev sie aufzumuntern, indem er ihr sagte, wie toll sie war – etwas, dass auch bei ihr heiße Wangen verursachte – oder wollte er nur von der schrecklichen Zeitung ablenken, die noch immer zwischen ihnen lag. Diese Todesfälle und das Verschwinden der muggelgeborenen Ministeriumshexe – Lily glaubte nicht an Zufälle. Es konnten keine Zufälle sein, dass diese Taten so kurz nacheinander passierten und selbst die Auroren vor schwarzen Magiern warnten. Sie wusste nicht, was Sev vorhatte, hatte aber auch keine Gelegenheit mehr, ihn darauf anzusprechen. Als hätten sie geahnt, was in ihrem Kopf vor sich ging, setzten sich Ennis Mulciber und Nestor Avery auf die Plätze neben Severus.
„Hiya, Snape“, sagte Avery. „Wie ich sehe, hast du mal wieder Evans an unseren Tisch gebracht.“
„Eine muggelgeborene Gryffindor am Slytherintisch“, fügte Mulciber mit seiner langsamen Art hinzu. Er lächelte Lily an, aber es half keineswegs, dass sie sich besser fühlte. Die Art, wie er beim Lächeln die Zähne zeigte, verpasste Lily eine Gänsehaut. „Ihr habt auch schon die Schlagzeile gelesen, nehme ich an?“ Er deutete mit einem Kopfnicken auf den Tagesproheten.
„Haben wir“, presste Sev hervor, hielt seinen Blick aber auf seinem Hackbraten.
„Es ist schrecklich“, sagte Lily. „Einfach unmenschlich und widerwärtig.“
„Ah, Evans“, erwiderte Avery. „Sag das nicht allzu laut, es könnten dich die falschen Leute hören. Du willst doch nicht, dass man dein Bild als nächstes in den Schlagzeilen sieht, oder?“
„Soll das eine Drohung sein?“, fragte Lily mit zusammengebissenen Zähnen.
„Eine Drohung? Aber keineswegs.“
„Nenn es eine Warnung“, fügte Mulciber sanft an. „Wir wollen doch nicht, dass dir etwas zustößt, Evans. Du bist doch Snapes kleine Freundin und er hängt so sehr an dir.“
Schamesröte kroch in Severus‘ Wangen und er presste die Lippen zu einer blassen Linie zusammen.
„Lasst uns in Ruhe“, sagte Lily laut. „Geht einfach wieder weg.“
„Aber, aber“, entgegnete Mulciber. „Wir haben ein sehr gutes Recht, hier zu sitzen, Evans.“
„Immerhin sind wir tatsächlich in Slytherin“, sagte Avery.
Lily schnaubte. „Es gibt keine Regel, die besagt, dass man nicht an anderen Haustischen sitzen kann. Im Gegenteil – es wird sogar befürwortet und ermutigt.“
„Eher fresse ich eine Venemosa Tentacula, als dass ich mich zu den Schlammbl-“, fing Avery giftig an.
„Avery“, zischte Severus lautstark. „Lass das.“
„Sag du mir nicht, was ich tun soll, Snape“, spuckte Avery zurück. „Das ist ein freies Land, nicht wahr?“
„Und doch tätest du gut darin, deinen Mund manchmal ein wenig zu zügeln“, sagte Mulciber leise. „Oder willst du etwa, dass Leute den falschen Eindruck von dir bekommen?“
Avery legte seinen kleinen Augen auf Lily und grinste dann schief. „Selbstverständlich nicht. Absolut nichts wäre mir lieber, als mit Evans und ihren kleinen Muggelfreunden zu essen.“
„Dazu wird es sicherlich nie kommen“, sagte Lily und sprang gleichzeitig auf, wodurch ein Glas voll Kürbissaft umkippte. Hellorange verfärbte sich die weiße Tischdecke, aber sie kümmerte sich nicht darum. „Ihr seid nur zwei Widerlinge, die sich hinter einem ansehnlichen Namen verstecken. Keine Sorge, ich werde euch nicht weiter mit meiner Anwesenheit belästigen.“ Lily blickte zu Sev, der ihre Augen mied. „Wir sehen uns dann später, Snape.“
„Lily, warte!“
Lily hielt in ihrer Bewegung inne. Sie war drauf und dran gewesen, sich umzudrehen und mit wehendem Umhang aus der Halle zu laufen, aber Sev hatte sich letztlich doch erhoben.
„Ich komme mit dir. Mit denen will ich mich nicht abgeben, wenn sie dich so behandeln.“ Sev warf Mulciber und Avery einen giftigen Blick zu, der Lilys Herz erwärmte.
„Oh, Sev!“, sagte sie glücklich seufzend, dass ihr bester Freund sie dieses Mal doch verteidigte. Sie erinnerte sich lebhaft an die letzte Situation zurück, in der sie allein gegen die beiden Slytherin-Grobiane stand und Sev nicht zu ihrer Verteidigung gekommen war. Er hatte die beiden schlecht über sie und Mary reden lassen und lediglich zugehört. „Komm schon!“
Mulciber und Avery konnten ihr dümmliches Kichern nicht zurückhalten, aber Lily kümmerte sich nicht darum. Sie griff Sev an der Hand und zog ihn mit sich zum Gryffindor-Tisch. Ohne viel Federlesen drückte sie ihren besten Freund auf die Bank und setzte sich dann neben ihn. „Diese beiden“, murmelte sie säuerlich. „Die reden immer so ein blödes Zeug.“
„Beachte sie einfach nicht“, sagte Severus, der zwar sichtlich unwohl am Tisch der Löwen war, aber trotzdem ein Lächeln für Lily übrig hatte. „Sie wollen dich nur ärgern.“
„Sie machen mehr als das“, entgegnete Lily. „Du hast doch gehört, was sie sagen. Sie denken, Muggelgeborene wie ich sind weniger wert. Außerdem wollten sie das S-Wort gegen mich verwenden.“
Ein seltsamer Ausdruck fiel auf Sevs Gesicht, aber er schüttelte lediglich mit dem Kopf und sagte: „Du solltest einfach nicht auf sie eingehen. Irgendwann lassen sie dich dann in Ruhe.“ Er schnaubte düster. „Zumindest mach ich immer das.“
„Machen sie immer noch Witze über dich?“, fragte Lily mit besorgter Stimme. „Du hast doch erzählt, sie haben aufgehört!“
Sev murmelte: „Ich wollte nicht, dass du dich aufregst.“
Mit verschränkten Armen schnaubte Lily. „Das ist doof“, sagte sie. „Ich will doch nur nicht, dass die beiden dich ärgern.“
„Du musst mich nicht bemuttern“, sagte Sev mit einem zerknirschten Ausdruck. „Ich kann gut auf mich allein aufpassen. Ich habe mir ein paar Zauber ausgedacht…“
„Wirklich?“ Lily richtete sich auf. „Oh, wie aufregend! Hast du mit einem Professor schon darüber gesprochen?“
„Nein!“, rief Sev aus. „Nein“, sagte er etwas leiser. „Ich will nicht, dass sich da jemand einmischt. Keine Sorge, Lily, ich kann das schon gut allein. Ich pass auf mich auf, versprochen“, fügte er hinzu, als Lily bereits den Mund öffnete.
Sie drückte die Lippen zusammen. „Na schön. Aber sei weiterhin vorsichtig, ja?“
„Versprochen.“
***
Lily konnte sich die nächsten Tage nicht damit abfinden, dass Remus in der Bibliothek saß und ganz normal an seinen Hausaufgaben und Aufsätzen arbeitete, als wäre nichts geschehen. Wie konnte er es wagen, in ihrer Bibliothek zu sitzen, wenn er noch Tage zuvor Severus gemeinsam mit seinen Freunden vor der halben Schule blamiert hatte? Lily sollte ihm hier und jetzt die Beine zusammenhexen und dann in die Große Halle rollen, damit alle über ihn lachen könnten, aber sie konnte es nicht über sich bringen. Remus war noch immer sowas wie ein Freund für sie. Außerdem sah er wirklich kränklich aus… eine unnatürliche Blässe zog sich erneut über sein Gesicht, sodass Lily die bläulichen Adern erkennen konnte, die unter seiner Haut lagen.
Lily hatte natürlich mitbekommen, dass ihr Klassenkamerad und (fast ehemaliger) Lernkumpane sehr oft krank war. Mal lag er mit einem Fieber für ein paar Tage auf der Krankenstation, dann wieder hatte er so schlimme Grippe, dass Madam Pomfrey niemanden in den Krankenflügel und seine Nähe lassen würde. Lilys Versuche, dem kranken Gryffindor ein paar Schokofrösche und die Hausaufgaben zur Aufmunterung zu bringen, wurden jedes Mal resolut von der Heilerin abgewehrt. Es waren jedes Mal dieselben, vagen Entschuldigungen gewesen. „Mr. Lupin ist nicht in der Verfassung, Besuch zu empfangen, Miss Evans“, oder auch: „Wenn Sie nicht sofort verschwinden und darauf bestehen, die Ruhe meiner Patienten zu stören, dann werde ich Ihrer Hauslehrerin Bescheid geben, Miss Evans, wahre mir Merlin!“
Es war nur allzu verständlich gewesen, dass Lily nicht die einzige gewesen war, die versucht hatte, Remus im Krankenflügel zu besuchen. Lily hatte seine schrecklichen, lauten Freunde in Verdacht, die ihr die ganze Tour mal wieder vermasselt hatten. Wahrscheinlich hatten James Potter und Sirius Black die arme Heilerin so lange genervt und getriezt, bis dieser die Geduld ausgegangen war und nur deswegen hatte sie auch Lily so sehr angefahren. Eine andere Erklärung wollte Lily nicht einfallen, die nicht viel zu unsinnig war, um sie zu glauben – von Drachenpocken bis hin zur unheilbaren Schüttelkrankheit, über die Lily viel gelesen hatte. Lily musste sich einfach eingestehen, dass Remus ein zu geheimniswahrender Mensch war, um herauszufinden, was ihn wirklich plagte.
Nicht, dass es sie im Moment sonderlich interessierte. Sie würde kein Wort an den anderen Gryffindor verschwenden, selbst wenn er so aussah, als würde ihn allein das Lesen seines Buches viel zu viel Kraft fordern. Sie beendete ihre eigenen Aufgaben an einem anderen Tisch, abseits von Remus und verließ dann allein die Bibliothek. So zu lernen machte ihr zwar weniger Spaß, als wenn sie es mit ihren Freunden zusammenmachen konnte, aber es musste so sein. Sie würde nicht zulassen, dass sie Remus für sein schlechtes Verhalten belohnen würde. Niemals!
Ein eiskalter Oktoberwind zog durch die Hallen Hogwarts‘. Der Herbst hatte sich das Land in wenigen Tagen angeeignet und bereits jetzt verloren die Bäume auf den Ländereien ihr Blätterkleid und Regentropfen fielen wie kleine Pistolenkugeln vom Himmel. Ein grauer Schleier lag über dem See und Lily war froh um den dicken Winterumhang, den sie an diesem Morgen angezogen hatte. Trotz der überall brennenden Fackeln war es eisig im Schloss. Überall quetschte sich der Wind durch undichte Fenster oder Risse in der Fassade und ließ die Haare an ihrem Nacken aufstehen. Sie beneidete die Slytherins überhaupt nicht – bei so einer Kälte würde sie nicht gerne in einen Gemeinschaftsraum unter dem See zurückkehren. Sev hatte ihr alles darüber erzählt und auch die unangenehmen Temperaturen nicht ausgelassen, gegen die nicht einmal die lodernden Kaminfeuer etwas ausrichten konnten.
Lily war gerade erst die Hälfte der Treppen zum Gryffindorturm hinaufgestiegen, da kamen ihr vier sehr bekannte Schülerinnen entgegen. Marys Gesicht hellte sich sofort auf, als sie Lily entdeckte und auch Marlene grinste sie breit an. Emmeline Vance und Dorcas Meadows hingegen waren nicht übermäßig erfreut, Lily zu sehen. Dafür kannten sie sich nicht gut genug, vermutete Lily, die zuließ, dass Mary sie kurz umarmte.
„Willst du nicht mitkommen, Lily? Wir wollten uns einen warmen Tee holen und dann ein paar Runden Schach in der Großen Halle spielen.“ Mit einem Kopfnicken deutete sie auf das Brett, dass Emmeline sich unter den Arm geklemmt hatte.
„Oh, ich bin nicht sonderlich gut im Schach“, meinte Lily schnell. „Ich will euch auch gar nicht stören –“
„Quatsch“, sagte Dorcas. „Du störst doch nicht.“ Sie schenkte ihr ein freundliches Lächeln. „Je mehr, desto besser, nicht wahr?“
„Genau“, fügte Marlene aufgeregt an. „Außerdem bin ich ebenso grausig im Schach. Aber Dorcas und Emmeline müssen üben – weißt du, die beiden sind dem Schachclub beigetreten!“
Emmeline machte eine wegwerfende Handbewegung. „Das hört sich aufregender an als es ist. Es gab nicht einmal ein Probespiel. Der Club hat so wenig Mitglieder, man hat uns praktisch auf erhobenen Händen eingeladen.“
„Bin mir sicher, sie hätten uns Geld geboten, hätten wir ein wenig auf stur gestellt“, murmelte Dorcas und Emmeline lachte.
„Ach – na gut, aber nur, wenn ich nicht störe“, sagte Lily, ehe sie sich den anderen Schülerinnen anschloss. In Schach mochte Lily zwar eine Niete sein, aber dafür konnte sie wirklich eine heiße Tasse köstlichen Früchtetee vertragen. Ihre klammen Finger würden es ihr sowieso danken.
Trotz der unpassenden Zeit – das Mittagessen war bereits vorbei und bis zum Abendessen dauerte es noch ein paar Stunden – waren die vier Haustische in der Großen Halle ordentlich gefüllt. Schalen voller Obst, Krüge voll mit Wasser, Säften und sprudelnden Brausen sowie Tabletts mit kleinen Küchlein bedeckten die Tische und überall standen die sehnsüchtig erwarteten dampfenden Tee- und Kaffeekannen. Um das bittere Starkgetränk machten die Mädchen vorerst einen großen Bogen und widmeten sich lediglich den köstlich duftenden Teekannen. Während Emmeline das Schachbrett aufstellte, gossen Lily und Mary allen eine Tasse mit der dampfenden Flüssigkeit ein. Marlene und Dorcas hatten ein besonders großes Tablett mit Naschereien zu ihrem ausgesuchten Platz geschoben und prompt ließ sich die kleine Gruppe am hergerichteten Festmahl nieder.
Emmeline und Dorcas stürzten sich sofort in ihre Partie. Marlene und Lily waren zufrieden damit, den sich konzentrierenden Mädchen einfach nur zuzugucken, während Mary ihre beste Impression eines Quidditch-Kommentators von sich gab und jeden Zug der beiden Kontrahenten kommentierte, als würden sie gerade um den Titel der Weltmeisterschaft kämpfen.
„Wieso bist du überhaupt nicht in der Bibliothek?“, fragte Marlene. „Sonst kommst du doch auch vor dem Abendessen nicht mehr raus.“
„Ich war schon fertig“, erwiderte Lily, ehe sie einen seichten Schluck Tee nahm, der ihr sofort eine wohlige Wärme in den Körper sandte.
Marlene zog eine Augenbraue nach oben. „Aber das hält dich normalerweise nicht davon ab, Madam Pince mit deiner Anwesenheit zu beehren.“
Etwas zerknirscht antwortete Lily: „Ich wollte nicht allein weiterlernen und Sev war bereits mit seinen Freunden verabredet.“
„Bitte“, meinte Marlene. „Du kannst mich nicht mit so einer schlechten Lüge abspeisen, klar? Wir wissen beide, dass Snape keine andere Freunde außer dich hat.“
Lily überging den fiesen Kommentar auf ihren besten Freund und verschränkte die Arme. „Schön, ich wollte einfach nicht mehr allein sein.“
„Was ist mit Remus? War er nicht da?“
„Doch.“
„Wieso hast du dann nicht –“
„Weil ich immer noch sauer auf ihn bin.“
„Oh? Was hören meine tratschliebenden Ohren denn da?“, sagte Dorcas, die plötzlich aufgeblickt hatte. „Streit im Gryffindor-Paradies? Was ist los?“
„Ach“, meinte Marlene mit einer wegwerfenden Handbewegung, „Lily denkt, sie würde Remus genug damit bestrafen, wenn sie nicht mit ihm redet.“
„Für den Streich, den er und seine Kumpels Snape gespielt hatten?“, fragte Dorcas. „Witzig wie die Vorstellung auch ist, aber ich glaube auch, damit sind sie echt zu weit gegangen. Ich hab gehört, der Arme musste seine gesamten Klamotten wegschmeißen, stimmt das?“
Lily nickte grimmig. „Ja, weil Potter und Black nicht wissen, wann man aufhört. Und ich weiß einfach, dass sie das waren, auch wenn McGonagall mir nicht glauben will.“
„Sobald Potter und Black etwas aushecken, stecken Remus und Peter sowieso mit drin“, fügte Mary an.
„Aber keiner von ihnen will es zugeben“, fuhr Lily fort. „Und ich werde sicherlich nicht weiterhin mit Remus befreundet sein – oder zumindest weiterhin nett zu ihm sein, wenn er und seine Freunde nicht zur Rechenschaft gezogen werden.“
„Und was hält dich davon ab?“, fragte Emmeline, die endlich auch vom Brett aufblickte. Sie hatte beide Augenbrauen angewinkelt und tiefe Falten belegten ihre Stirn.
„Wie bitte?“
„Naja, warum wartest du denn darauf, dass jemand anderes etwas dagegen unternimmt? Mach es doch selbst.“
„Ich – oh.“
„Sag mir nicht, daran hast du noch nicht gedacht“, meinte Dorcas lachend. „Also echt.“
Hitze wallte in Lilys Wangen. „Ich – also ich wollte mich nicht auf ihr Level begeben!“
„Was spricht dagegen, wenn es für eine gute, altmodische Racheaktion ist?“, fragte Mary.
„Genau!“, rief Marlene begeistert. „Du zahlst es den vier Jungs gleichermaßen heim, dass sie deinen Freund blamiert haben und dass Potter so gemein zu mir war. Ich bin auf jeden Fall dabei.“
„Was hat er denn gemacht?“, fragte Dorcas interessiert.
„Später“, murmelte Marlene in ihre Richtung, ehe sie sich wieder an Lily wandte. „Was ist? Bist du dabei?“
Lily biss sich auf die Lippe. „Ich weiß nicht“, sagte sie langsam.
„Du musst es nicht machen“, meinte Emmeline achselzuckend. „Aber dann hast du, finde ich, auch kein Recht darauf, dich darüber zu beschweren, dass niemand ihnen die Leviten liest. Entweder du wirst selbst aktiv oder du lässt es bleiben. Deine Entscheidung.“
Sie hatte Recht, das wusste Lily. Mit ihrem ewigen Warten und Hoffen, dass jemand anderes das tun würde, was eigentlich schon lange hätte getan werden müssen, würde sie nur ihre Zeit verschwinden. Wenn sie wollte, dass es jemand Potter, Black und ihren Freunden heimzahlte, dann müsste sie es selbst in die Hand nehmen. „Würdet ihr mir helfen, Potter und seiner Bande einen Streich als Rache zu spielen?“, fragte sie mit einem entschlossenen Blick.
Marlene seufzte lautstark, ehe sie einen Arm um Lilys Schulter warf. „Ich dachte schon, du fragst nie!“
Chapter 17: 17. Jahr 2: Probleme und ihre Lösungen
Chapter Text
Der Oktober schien sich mit einem Mal dazu entschieden zu haben, dass er keine Lust mehr auf den Herbst hatte – von einem Tag auf den anderen fielen dicke, weiße Schneeflocken von Himmel und verwandelten die gesamten Ländereien in ein schmutzig-graues Matschfeld. Kräuterkunde musste für ein paar Tage ausfallen, weil Professor Sprout ihre lieben Pflanzen gegen die plötzliche Kältewelle schützen musste und jeder normal gesinnte Schüler würde bei solch einem Wetter die Wärme seines Gemeinschaftsraumes genießen. James Potter allerdings war kein normal gesinnter Schüler. Statt vor einem lodernden Kaminfeuer zu sitzen und im Schein der Flammen seine Hausaufgaben zu machen, verbrachte er jede freie Minute (und zumeist auch jede Minute, die er eigentlich nicht frei hatte) auf dem Quidditchfeld, flog mit seinem Besen immer schwieriger werdenden Hürdenstrecken und warf mit dem Quaffel durch die Luft, auch wenn er keinen Hüter zum Üben hatte.
Niemand würde etwas dagegen sagen, dass der wahnsinnige Geist eines verstorbenen Quidditchspielers James besessen hätte, wenn das nicht auch bedeuten würde, dass er Sirius jedes Mal nicht in die Kälte zerrte. „Wieso?“, beschwerte sich der junge Black dann jedes Mal. „Wieso muss ich mitkommen?“
„Ich brauche ein Publikum und es ist deine Pflicht als mein bester Freund, mich in jeder Lebenslage zu unterstützen. Sei mein ganz persönlicher Cheerleader, Sirius.“
„Merlin“, murmelte Sirius dann immer nur und folgte James in die kalte Luft, saß für ein paar Stunden auf der feuchten, eisigen Quidditchtribüne und feuerte seinen Mitbewohner immer mal wieder an, wenn es zu still wurde. James schien damit zufrieden zu sein, auch wenn Sirius bereits plante, wie er James am effektivsten im Verbotenen Wald aussetzen könnte.
Sirius würde drei Kreuze in seinem Kalender machen, wenn das erste Quidditch-Match endlich vorbei sein würde. Vielleicht würde das wieder ein wenig Sinn in James‘ Wahnsinn bringen, auch wenn er nicht gerade optimistisch darüber war. Die vielen Stunden, die Sirius draußen in der Kälte verbringen musste, hatten allerdings auch eine kleine, gute Seite. Da er sowieso nichts Besseres zu tun hatte, war er dazu übergegangen, einen Plan für den großen kommenden Halloweenstreich zu schmieden. Jeden Abend besprach er mit Remus und Peter die Details (es war Trotz, der es ihm erlaubte, James vorerst nicht in seine Pläne einzuweihen) und am nächsten Tag baute er die Vorschläge seiner Freunde dann um. Er recherchierte in ausgeliehenen Büchern über die richtigen Zauber, die sie benötigen würden, übte Verwünschungen an den kläglich wehenden Flaggen auf der Tribüne und schrieb sich den gesamten Ablauf fein säuberlich auf, damit es nicht zur Wiederholung vom Desaster des letzten Jahres kommen würde – von der Sirius sehr gerne davon ausging, dass es ganz und gar nicht seine Schuld gewesen war.
Es gab ungefähr ein Dutzend Ideen in Sirius‘ Kopf, jede besser und waghalsiger als die andere. Sicherlich waren einige davon gefährlich und würden gegen ziemlich viele Schulregeln verstoßen, aber das war nie etwas, das Sirius aufgehalten hätte. Ganz im Gegenteil – je mehr Regeln sie brechen würden, desto besser! Manchmal las sich Sirius die Schulregeln durch, nur damit er sich Wege ausdenken könnte, um sie später zu brechen. Remus war natürlich zumeist die Stimme der Vernunft, aber bisher hatte sein werwöflischer Freund keinen guten Grund gefunden, der Sirius davon überzeugen würde, zu einem regelnkonformen Schüler zu werden. Die Aussicht auf Nachsitzen war nur halb so angsteinflößend wie Remus dachte.
„Sirius.“ Eine Stimme, die Sirius seit vielen Wochen nicht mehr gehört hatte, riss ihn nun aus dem Lesefluss und er hätte beinahe das Bibliotheksbuch auf die feuchte Tribüne fallen gelassen. Sirius‘ Herz begann schneller zu schlagen, als er das runde, unschuldige Gesicht seines Bruders erkannte. Regulus sah wie ein deplatzierter Gegenstand aus – seine gerade Haltung, der edle Blick, die black’sche Statur… Regulus passte auf die Quidditchtribünen genauso gut wie Sirius nach Slytherin passte.
„Was machst du denn hier?“, fragte Sirius überrascht.
Regulus allerdings antwortete nicht direkt. Seine Augen glitten zur Seite und fokussierten sich auf die fliegende Gestalt James‘, der mitten in der Luft einen eindrucksvollen Looping hinlegte. Beeindrucken tat er damit allerdings niemanden. Regulus verzog kaum das Gesicht, bevor er leise schnaubte und sagte: „Angeber. Was findest du an ihm nur?“
Sirius ließ sich davon nicht unterkriegen. „Was machst du hier?“, fragte er erneut. „Du bist nämlich sicherlich nicht hier, um James‘ Flugkünste zu bewundern.“
Der jüngere Black-Bruder schüttelte den Kopf, bevor er sich mit etwas Abstand auf der Bank neben Sirius niederließ. „Mum hat geschrieben“, sagte er nach einer kurzen, unangenehmen Stille. Er wischte einen dicken Briefumschlag in Sirius‘ Richtung.
„Warum gibst du mir das?“ Sirius hob den Brief auf und betrachtete die nassen Schmierstreifen, die sich nun über die Rückseite des Umschlages zogen. „Hat Mami dir ein böses Wort geschrieben?“
„Nein, du I-“, Regulus stoppte sich selbst, bevor er ein Schimpfwort nutzte. Nervös blickte er sich um, als erwartete er, dass Walburga Black jeden Moment unter der Tribüne hervorspringen würde. „Lies einfach. Vielleicht wirst du dann – ich weiß auch nicht. Lies.“
Sirius zog die Augenbrauen zusammen, aber tat, wie Regulus ihm geheißen hatte. Das Papier raschelte unter seinen Fingern, als den Brief aus dem Umschlag nahm. Das Logo der Familie Black bedeckte die obere Hälfte des Briefpapiers, bis endlich die feine, schnörkelige Schrift seines Mutter begann.
Regulus,
du hast den Namen der ehrwürdigen Familie Black in allen Ehren gehalten. Dein Vater und ich können dir unseren Stolz gar nicht in Worte fassen – es scheint, als hätte unsere Erziehung doch Früchte getragen und der richtige Sohn hat den Stolz, die Stärke und auch die Ambition unserer Familie geerbt. Als wir davon erfuhren, dass du ins Haus Slytherin geteilt wurdest, waren wir überglücklich. Wie du sicherlich weißt, gab es in letzter Zeit viele Gerüchte darüber, dass die Familie Black vom Thron gefallen wäre – aber dank dir können wir unseren Platz an der Sonne behalten. Die Averys werden sich jetzt hüten, erneut schlecht über unsere Familie zu sprechen.
Regulus, als das jüngste Kind, steht es dir nicht zu, zu erben oder die Führungsposition unserer Familie anzunehmen. Doch nach reichlicher Überlegung haben dein Vater und ich uns allerdings entschieden, dass wir dich dennoch in jedwede Pflichten eines Erben einweisen wollen – nur für den Fall. Die Zeit wird zeigen, ob es von Nöten sein wird, aber wir wollen sicherstellen, dass jemand da ist, der nach unserem Ableben die Führung übernehmen kann. Wir hoffen, dass du dich deinen neuen Pflichten gegenüber gewachsen fühlst und bereit bist, sie anzunehmen. Wir erwarten deine Antwort eulenwendend.
Wir schreiben dir nicht nur, um dir für deine perfekte Einteilung zu gratulieren. Es gibt zwei weitere Dinge, die wir mit dir besprechen müssen. Wie du sicherlich bereits wisst, gab es seit einigen Jahren Probleme mit deinem Onkel Alphard – obschon er ein geachtetes Mitglied der Familie Black war, hat er sich stark von unseren Wegen abgewandt. Alphard ging sogar so weit, einen Muggegeborenen zu ehelichen. Unsere Familie war immer sehr lachs mit deinem Onkel, wir haben ihm viel durchgehen lassen – niemand hat eine Miene verzogen, als Alphard seine Tendenzen den Männern gegenüber bekannt gemacht hat und niemand hat etwas gesagt, als er verkündet hat, keinen Anspruch auf das Erbe zu erheben. Wenn ich ehrlich bin, waren dein Vater und ich mehr als glücklich darüber, dass Alphard das Erbe ausgeschlagen hat. Alphard wäre kein gutes Oberhaupt gewesen.
Erst vor einigen Tagen wurde nun einstimmig in unserer Familienversammlung beschlossen, dass es an der Zeit war, Onkel Alphard aus dem Stammbaum zu streichen. Sobald du diese Zeilen liest, wird Alphards Name längst von unserem Wandteppich gebrannt sein – und wir wünschen uns, dass du nie wieder den Kontakt mit Alphard aufnimmst. Er ist kein Teil dieser Familie mehr, Regulus. Sollten dein Vater und ich erfahren, dass du hinter unserem Rücken mit dem Verstoßenen redest, dann wird es überaus harte Konsequenzen für dich geben.
Die zweite Sache, über die wir mit dir reden wollten, betrifft deinen Bruder. Wir möchten, dass du versuchst, ihn wieder auf den richtigen Pfad zu bringen. Regulus, du weißt, dass dein Vater und ich keinen Gefallen daran finden, deinen Bruder wie einen Verstoßenen zu behandeln, aber wenn sich sein Verhalten und seine Entscheidungen nicht bessern, dann befürchten wir, dass er das gleiche Schicksal wie Alphard befallen wird. Du hast schon immer eine besondere Verbindung zu deinem Bruder gehabt, Regulus, deswegen bitten dein Vater und ich dich darum, dass du alles in deiner Macht Stehende tust, um deinen Bruder wieder gerade zu lenken. So sehr es uns auch schmerzt, aber wir können sogar über die frevelhafte Einteilung Sirius‘ hinweg sehen, wenn er zeigen könnte, dass er noch immer ein Black ist und sich seinen Pflichten gegenüber noch immer verantwortlich sieht. Können wir mit deiner Hilfe rechnen, Regulus?
Wir sind sehr stolz auf dich, mein Sohn. Anbei senden wir dir ein Taschengeld, dass du nach Belieben ausgeben darfst.
Walburga.
Sirius‘ Magen fühlte sich an, als hätte ihm jemand mehrere, harte Schläge verpasst. Er blickte mit zerknirschtem Gesicht auf. „Sie haben Alphard ausgestoßen?“
„Du weißt, dass es nur eine Frage der Zeit war, nachdem er diesen Muggelgeborenen geheiratet hat“, erwiderte Regulus mit strenger Miene. „Alphard hat den Namen Black in den Dreck gezogen – genau wie du es tust, Sirius. Mutter und Vater haben Recht.“
„Haben sie das?“, fragte er säuerlich. Hitze wallte in seinen Händen auf und Sirius warf den Brief zurück zu seinem Bruder. „Falls es dir noch nicht aufgefallen sein sollte, aber ich gebe einen Scheiß darauf, was Mutter und Vater denken. Dich haben sie vielleicht hirnwaschen können, aber –“
„Willst du auch ausgestoßen werden?“, unterbrach Regulus ich aufgebracht, rote Flecken auf seinen Wangen und ein undeutbarer Blick in seinen dunklen Augen. „Willst du auch, dass Mutter deinen Namen aus dem Wandteppich brennt? Du bist der Erbe, Sirius. Er wird langsam Zeit, dass du dich auch wie einer benimmst und dich nicht mit Blutsverrätern und Halbblütern herumtreibst.“ Ein schwerer Atemzug verließ Regulus, als er mit Gift in der Stimme hinzufügte: „Werd doch erwachsen, Sirius.“
„Erwachsen?“, wiederhole Sirius mit hohler Stimme, bevor er schnaubte. „Du weißt doch überhaupt nicht, was das bedeutet, Reggie. Was ist schon dabei, wenn ich nicht nach den Vorstellungen lebe, wie Mum und Dad es wollen? Ich bin keine Marionette, die sie nach Belieben biegen und brechen können, weißt du? Du übrigens auch nicht.“
Rote Flecken bedeckten Regulus‘ Wangen, als er das Kinn hob. „Ich bin keine Marionette“, sagte er, „aber ich weiß, dass Mutter und Vater nur die besten Absichten im Sinn haben, wenn sie streng mit uns sind. Wir sind nun mal keine normalen Zauberer, Sirius. Wir sind die Blacks und damit verdienen wir den gesamten Respekt der Zaubererwelt.“
Sirius spuckte auf die Tribüne. „Das halte ich vom Namen Black.“
„Du wirst deine Worte noch bereuen“, sagte Regulus kopfschüttelnd. „Ich werde dich nicht zwingen, ein besserer Mensch zu werden, Sirius und ich werde dir auch nicht hinterher rennen und versuchen, dich wieder normal zu machen. Ich wollte dir lediglich sagen, dass ich nicht will, dass du auch ein Ausgestoßener wirst.“ Der jüngere Black erhob sich. „Würde es dich umbringen, wenn du den Wünschen von Mum und Dad nachkommen würdest?“, fragte er leise.
„Wahrscheinlich“, erwiderte Sirius ebenso leise. Sein Kopf raste. Es war, als würde man ihm immer wieder einen schweren Stein aufs Herz legen, sobald er Regulus ansah – sein kleiner, unschuldiger Bruder, der in diese prestige-süchtige Welt nicht gehörte und dennoch sein Bestes tat, ein Teil von ihr zu sein. Jedes Mal aufs Neue fühlte sich Sirius wieder zurückversetzt, als er die Strafen seiner Eltern auf sich genommen hatte, damit Reggie nicht den Gürtel oder den Stab spüren musste und jetzt war es trotzdem so, als hätte sich eine weite Kluft zwischen den Brüdern aufgetan. Sirius könnte die Hand ausstrecken und Regulus berühren, aber er war dennoch Meilen von ihm entfernt. „Du weißt nicht, wie es ist, Reggie.“
„Du erklärst es mir aber auch nicht, Sirius“, antwortete der Slytherin. „Du bist ein Freigeist, ich weiß. Du bist genau wie Onkel Alphie. Aber wenn du nicht aufpasst, dann wird dein Name auch bald aus dem Stammbaum gebrannt und ich bin mir nicht sicher, ob Mutter es dabei belassen würde. Alles, was du tun musst, um das zu verhindern, ist mitzuspielen.“
Trotz kam in Sirius auf und mit einem Schnauben verschränkte er die Arme. „Du willst also, dass ich lieber nach den dummen Regeln von Mum und Dad spiele, mich knechten lasse, nur damit ich irgendwann als Erbe dieser verfluchten Familie stehen kann? Damit mich alle irgendwann genauso ansehen, wie sie Dad ansehen?“
„Dad ist ein respektierter Zauberer.“
„Sei nicht dumm, Reggie. Die Leute haben Angst vor ihm. Das ist kein Respekt.“ Sirius biss sich auf die Lippe und schmeckte Blut, aber konnte nicht stumm bleiben. „Warum würde ich das wollen?“
„Willst du wirklich Jahrtausende an Familiengeschichte in den Sand setzen, weil du keine Lust hast, ein paar Regeln zu beflogen?“, fragte Regulus mit der Ruhe vor einem Sturm in seiner Stimme. Seine zu Fäuste geballten Hände zuckten an seiner Seite. „Das kann nicht dein Ernst sein, Sirius. Du wirfst alles weg, was du hast, was du haben kannst, für –“, mit einem zitternden Finger deutete er in die Luft, „für das?“
Sirius folgte seinem Finger. Zwischen den Torringen schwebte James auf seinem Besen, das Gesicht ihnen zugewandt und den Quaffel locker unter den Armen. Auf die Entfernung konnte Sirius seinen Blick nicht ausmachen, aber er konnte sich vorstellen, dass er nicht gerade entspannt darüber war, dass Sirius‘ Bruder hier aufgetaucht war. „James ist mein Freund“, sagte Sirius. „Er gibt nichts darauf, aus welcher Familie ich komme und behandelt mich nicht wie einen reichen Reinblüter.“
Ein seltsamer Ausdruck fiel in Regulus‘ Augen und mit leiser, verletzt klingender Stimme sagte er: „Du ziehst ihn vor? Du ziehst den Potter-Jungen mir vor?“ Er schloss für einen Moment die Augen, dann fügte er hinzu: „Ich dachte, wir sind Brüder.“
„Das sind wir!“, sagte Sirius und sprang auf. „Reggie, du bist immer noch mein Bruder, auch wenn ich mit James befreundet bin. Daran wird sich nichts ändern.“
„Tu nicht so dumm, Sirius“, sagte Regulus gequält. „Ich weiß genau, dass du lieber ihn als Bruder hättest als mich. Ich weiß, dass du lieber Teil seiner Familie wärst und mich am liebsten zurücklassen würdest!“ Mit jedem Wort wurde Regulus immer lauter, bis er Sirius schließlich mitten ins Gesicht schrie. Wut tropfte dem jungen Black aus allen Poren, aber kaum hatte er bemerkt, wie ungezügelt er geworden war, trat er einen Schritt zurück. Räuspernd richtete Regulus seinen Kragen, dann fügte er leise und bemüht ruhig hinzu: „Das ist alles, was ich dir mitteilen wollte, Sirius.“
„Reg!“ Sirius wollte nach dem Arm seines Bruders greifen, doch mit der Agilität eines jüngeren Kindes entwich er ihm und bevor er es sich versah, war Regulus die Treppen heruntergeeilt und hinterließ nichts weiter als das Echo seiner Schritte und die brennenden Worte in Sirius‘ Kopf. „Verdammt“, murmelte er. „Was soll das denn?“
Der rauschende Wind kündigte James‘ Ankommen an. Geschickt sprang der junge Gryffindor von seinem Besen und landete ein paar Meter abseits von Sirius. Sorge erklomm sein Gesicht und mit in Falten gelegte Stirn fragte er: „Alles okay? Was wollte dein Bruder?“
„Nichts“, erwiderte Sirius barsch. „Es mir ins Gesicht reiben, dass meine liebe Mutter ihm einen ganz tollen, persönlichen Brief geschrieben hat und mir nicht.“ Die wichtigen Sachen ließ er aus; Onkel Alphards Verbannung aus der Familie und Regulus‘ plötzliche Pflichten als Erbe. Allein daran zu denken, trieb ihm Übelkeit in den Magen. „Bist du fertig?“
„Sirius“, fing James langsam an, aber ein aggressiver Blick seines Freundes reichte aus, damit er das Thema fallen ließ. „Bin fertig. Den Rest des Tages machen wir, was du willst, okay?“
Sirius nickte grimmig. „Ich hätte große Lust ein paar Slytherins fertig zu machen.“
***
Es gab nicht viel, was Sirius so richtig nach einem Streit mit seinem Bruder aufmuntern konnte, aber James hatte einfach den richtigen Riecher dafür, was ihn zumindest die bösen Worte vergessen ließ, die zwischen ihm und Regulus gefallen waren. Ein paar gut gezielte Verwandlungen und die gesamte Slytherin-Quidditch-Mannschaft trug plötzlich knallrote Umhänge, während jeder Haarschopf in seidigem Gold glänzte. „Danke für den Mannschaftsgeist!“, rief James lauthals durch die Große Halle, nachdem auch jeder die plötzlich geänderten Farben mitbekommen hatte. Die Slytherins waren aufgebracht und verlangten Bestrafung, aber Professor Slughorn, der alles mit ein wenig mehr Humor als Professor McGonagall nahm, kehrte die Verwandlungen lediglich um und beteuerte seine Schüler, dass sie die Energie lieber aufs Quidditchfeld nehmen sollten.
„Und?“, grinste James, nachdem sich der Trubel gelegt hatte. „Endlich lohnt sich mein Ohnegleichen in Verwandlung.“
„Man sollte meinen, du würdest deine guten Fähigkeiten für bessere Dinge einsetzen“, erwiderte Remus halb missbilligend, halb beeindruckt. „Stell dir nur vor, du würdest tatsächlich mal lernen.“
„Langweilig“, sagte James. „Wo bleibt denn da der Spaß?“
„Lernen macht Spaß“, entgegnete Remus nachdrücklich, was Sirius schnauben ließ.
„Na klar, Lupin“, sagte er. „Welcher anständige Zauberer würde denn Lernen dem Streiche spielen vorziehen?“ Kopfschüttelnd fügte er hinzu: „Der Tag, an dem James und ich unsere Fähigkeiten für akademische Zwecke einsetzen, wird ein sehr trauriger sein.“
„Spätestens zu den UTZs“, brachte Peter an. „Die besteht nicht einmal ihr, ohne zu lernen.“
„Sagt wer?“, fragte Sirius.
„Ja, genau, sagt wer? Das klingt nämlich wie die perfekte Herausforderung für uns, nicht wahr?“, fügte James an.
„Absolut, Jamie“, meinte Sirius nickend. „Passt nur auf, ihr beiden“, er deutete mit den Fingern auf Remus und Peter, die absolut unbeeindruckt dreinblickten, „nicht ein einziger Tag wird an dieser Schule vergehen, an dem ich freiwillig in ein Lehrbuch schauen werde.“
Remus seufzte lautlos und wandte sich seiner Tasse Tee zu, die verführerischen Dampf in die Luft abgab.
***
Ein weiterer Vollmond rückte näher und mit ihm füllte sich ebenfalls Sirius‘ Angst. Seit sie herausgefunden hatten, was Remus‘ Geheimnis war, hatte er sich immer wieder dieselbe Frage gestellt: Was könnte man nur tun, um ihm zu helfen? Es schien ihm wie ein schlechter Scherz, dass der netteste und ungefährlichste Junge, den er kannte, gerade der war, der sich jeden Monat einmal in eine menschenfressende Bestie verwandelte, ohne etwas dagegen tun zu können. Aber sowohl Remus als auch Madam Pomfrey und Professor Dumbledore waren sehr eindeutig in ihren Aussagen gewesen – es gab nichts, dass sie tun könnten, damit Remus seine Verwandlungen besser überstehen würde.
Für Sirius war das wie ein Schlag mitten ins Gesicht. Welchen Sinn hatte ein prestigeträchtiges Leben denn, welchen Sinn hatte das ganze Gold in seinem Namen, wenn er es nicht nutzen konnte, um seinem besten Freund zu helfen? Wieso war Sirius überhaupt der Erbe einer Familie, die vor Gold und Macht nur so überquoll, wenn nichts auch nur einen Knut wert war, wenn es darum ging, Remus ein wenig seiner Last abzunehmen? Der heranrückende Vollmond war wie eine kontinuierliche Erinnerung daran, dass Sirius ein Versager war. Er konnte sich nicht wirklich seiner Familie entziehen und noch weniger konnte er Remus helfen, sich nicht wie ein Monster zu fühlen. Was war es denn wert?
Noch dazu schien es Remus nicht zu stören – oder besser – Remus konnte sich nicht mehr dazu abmühen, sich darum zu kümmern. Er hatte seine Kondition lange akzeptiert und würde sein Leben damit verbringen, einmal im Monat irgendwo angekettet oder weggesperrt zu sein, damit er niemandem die Kehle aufreißen würde. Sirius wollte nicht so denken, aber manchmal glaubte er, es würde ihm besser gehen, wenn er nicht wüsste, was Remus wirklich war. Er hatte keine Angst vor ihm, er war auch nicht angewidert oder wollte ihn wie ein wildes Tier einschläfern lassen - Sirius wollte einfach nur helfen, aber er konnte nichts tun und genau das raubte ihm so manchen Schlaf. Wie viele Nächte hatte er bereits damit verbracht, an die Decke seines Himmelbettes zu starren, den Geräuschen seiner Mitbewohner zu lauschen und sich dabei den Kopf zu zerbrechen, was in seiner Macht lag, damit er seinem Freund helfen könnte? Es mussten zu viele gewesen sein, denn auch heute war er zu keiner Lösung gekommen.
Sirius zog sich den Komfort daraus, dass er nicht der Einzige war, der nachdachte und nach Antworten suchte. James und Peter, man sollte die beiden segnen, opferten ebenfalls viele ihrer freien Minuten, um gemeinsam mit Sirius die Köpfe zusammenzustecken und über Werwölfe, Hilfestellungen und Freiheiten für Remus zu tuscheln, auch wenn sie nicht ein einziges Mal zu einer sinnvollen Lösung gekommen waren. Sie hatten bereits einiges durchgesprochen (magische Fesseln, silbergetränkte Kleidung, Schocktherapie (Peters Vorschlag) und Hypnose (James‘ Vorschlag)), aber nichts davon war eine adäquate Lösung für das Problem, dass sich jeden Monat abspielte. Sirius könnte sich jedes Mal die Haare raufen, wenn er daran dachte, dass einer seiner besten Freunde sich selbst zerfleischte, während er genügsam in seinem weichen Bett lag.
„Kumpel“, riss ihn James‘ leise Stimme aus der gedanklichen Trance. „Hast du eine Idee oder starrst du nur wieder an die Wand?“
„Wand“, gab Sirius mit knirschender Stimme zu. „Mir fällt nichts ein. Ich glaube, ich habe alle meine Gedanken aufgebracht.“
„Deine Noten sagen andere Dinge“, erwiderte Peter. „Du hast ein Ohnegleichen in allen Aufsätzen bekommen, obwohl du sie zehn Minuten vorher geschrieben hast.“
Sirius verzog das Gesicht, aber konnte ein Grinsen nicht unterdrücken. „Das ist den ungefähr drei Dutzend Privatlehrern zu verdanken, die Reggie und mich in all den Jahren Zuhause unterrichtet haben. Wenn wir keine perfekten Antworten vorzuweisen hatten, gab es ein Wochenende Keller mit dem Irrwicht.“
James gab ein leises Geräusch von sich, aber ging nicht weiter darauf ein. „Langsam werde ich frustriert“, sagte er. „Kommt schon, Leute. Wir sind die schlausten Schüler auf dieser Schule, es sollte doch wohl ein Kinderspiel sein, eine Lösung für Lupins‘ kleines, pelziges Problem zu finden.“ James stieß mit seiner Faust gegen sein Kopfkissen, ein eher schwächlicher Akt, wenn es darum ging, seinen Ärger kundzutun. „Vielleicht denken wir einfach noch zu legal.“
„Ich weiß ja nicht was du gemacht hast, aber ich habe nicht eine Sekunde lang an etwas legales gedacht, vielen herzlichen Dank auch.“ Sirius schüttelte den Kopf. „Es gibt sicherlich irgendwas, aber –“
„Wir wissen nicht, was“, schloss Peter trübsinnig. „Und solange wir das nicht herausfinden, muss Remus –“ Peter ließ seinen Satz unbeendet, aber sie wussten alle, was er meinte.
Je länger die drei Gryffindors überlegten und nach Lösungen suchten, desto öfter musste Remus sich allein in einer schmutzigen Hütte verwandeln. „Wir müssen einfach weitermachen“, sagte Sirius. „Ich meine, es ist für Remus, nicht wahr? Das muss es wert sein.“
„Ist es auch“, sagte James grimmig. „Ich will nicht daran denken, wie es für ihn ist.“
„Wenn wir doch bei ihm sein könnten“, seufzte Peter. „Glaubt ihr, dann würd es ihm besser gehen?“
„Sicher“, schnaubte James. „Weil er uns als Werwolf dann die Kehle rausreißen und auffressen würde, Pete.“
„Ja, aber was – ich weiß nicht, wenn wir hinter Gittern wären? Oder in einer sicheren Box? Wie in einem Zoo, ihr wisst schon.“ Peters Stimme wurde ein wenig höher, als er sprach, als würde er selbst bemerken, was er für einen Unsinn von sich gab. Er verschränkte die Arme. „Schon kapiert, würde nicht klappen.“
„Hey, warte mal“, sagte Sirius und setzte sich aufrechter hin. „Vielleicht ist die Idee gar nicht so abwegig.“
„Ist das dein Ernst?“, fragte James. „Du willst dich neben Remus setzen, wenn er als Werwolf in der Hütte eingesperrt ist?“
„Nein, naja, nicht unbedingt. Aber, was ist denn, wenn wir bei ihm sein könnten, wenn er sich verwandelt? Er hat gesagt, er verletzt sich nur, weil er allein ist und der Wolf eingesperrt ist, aber wenn wir bei ihm sind, dann wäre er offensichtlich nicht mehr allein und –“
„Sirius“, sagte James laut, Ärger in seiner Stimme aufkeimend, „du weißt genau, dass das nicht möglich ist! So wenig wir es alle zugeben wollen, aber Remus würde uns töten, wenn wir ihm während seiner Verwandlung zu nahe kommen. Wenn er verwandelt ist, dann sind wir nicht mehr seine Freunde, dann sind wir Beute. Bekomm das in deinen Schädel rein, okay!?“
Sirius starrte seinen besten Freund für einen Augenblick schockiert an, dann sackten seine Schultern zusammen. „Du hast ja Recht“, murmelte er. „Aber – daran zu denken, dass Remus, dass er dort ganz allein ist und sich selbst in Stücke reißt – ich weiß auch nicht. Es bricht mir das Herz.“
„Nicht nur dir“, brummte James. „Aber hier geht es nicht darum, was wir wollen, sondern was für Remus am besten ist. Wir können nicht während seiner Verwandlung neben ihm sitzen und seine Hand halten, so gerne du das auch wollen würdest, aber –“
„Hey!“, rief Peter plötzlich aus, wodurch er sowohl James unterbrach als auch die Blicke beider Gryffindors auf sich zog. Der Junge erhob sich von seinem Bett und sprang aufgeregt auf den Boden. „Ich glaube, ich hab eine Idee!“
Sirius beobachtete mit zusammengezogenen Augenbrauen, wie sein Mitbewohner in seiner Tasche wühlte und schließlich das Lehrbuch für Verwandlung hervorzog. „Ungünstige Zeit, um für die nächste Prüfung zu lernen, Pete“, sagte Sirius.
„Nein, warte“, meinte Peter, bevor er anfing rasch in seinem Buch zu blättern.
James fing Sirius‘ Blick auf, aber zuckte lediglich mit den Schultern, auch nicht schlauer aus dem plötzlich Lehrbuchinteresse ihres Freundes. „Wenn du uns irgendwann einweisen willst, dann wären wir dir sehr verbunden.“
Peter blickte mit glänzenden Augen auf, bevor er das Buch herumdrehte, sodass das aufgeschlagene Kapitel für James und Sirius sichtbar war. Animagi war in dicken Buchstaben am oberen Seitenrand gedruckt und darunter befand sich eine Illustration eines Zauberers, der sich halbwegs in ein Pferd verwandelte. „Animagi“, sagte er aufgeregt. „McGonagall hat uns davon erzählt, erinnert ihr euch? Das sind Zauberer, die sich willentlich in ein Tier verwandeln können, okay?“
„Okay?“, fragte James.
In Sirius‘ Kopf fiel allerdings die Galleone etwas schneller. Als wäre eine Extraladung Energie in seine Venen gepumpt worden, sprang er auf. „Bei Merlins linkem Hosenbein!“, rief er und deutete mit dem Finger auf Peter und das Buch.
„Nicht wahr?!“
„Das ist ja absolut genial, Peter!“
„Könntet ihr mich mal einweisen?“, fragte James lauthals, der abwechselnd zwischen Sirius und Peter hin- und herblickte. „Oder wollt ihr lieber allein Pläne schmieden?“
„Werwölfe sind nur gefährlich für Menschen“, sagte Sirius schnell, der das Gefühl hatte, fast über seine eigene Zunge zu stolpern. „Jedes andere Lebewesen könnte sich neben einem Werwolf schlafen legen und würde wieder aufwachen!“
Auf James‘ Gesicht schlich sich langsam, aber sicher die Erkenntnis. Er erhob sich ebenfalls von seinem Bett.
„Und wenn wir Animagi wären, dann könnten wir uns in Tiere verwandeln und während Remus‘ Verwandlung dabei sein“, schloss Peter die Erklärung. „Wieso bin ich da nicht früher drauf gekommen? McGonagall hat ungefähr einhundert Mal erwähnt, wie wichtig es ist, dass wir den Unterschied zwischen einer Tier-Verwandlung und einem Animagus kennen.“
„Die Lösung hat uns ins Gesicht gelacht und wir haben sie nicht bemerkt“, erwiderte Sirius halb lachend, halb seufzend. „Oh man, Pete. Das ist – du bist genial, hat dir das schon mal jemand gesagt?“
Offenbar nicht; das dickste, stolzeste Grinsen überhaupt breitete sich auf Peters Gesicht aus und er strahlte seine Freunde an. Er legte das Buch auf den Boden und sagte: „Ab und zu bin ich auch in der Lage, mit euch mitzuhalten.“
„Was soll das denn heißen“, meinte James grinsend. „Du bist genauso genial wie Sirius und ich.“
„Mindestens“, fügte Sirius an. „Immerhin ist nur die dir Idee gekommen.“
„Ach“, murmelte Peter, dessen Wangen einen verräterischen Rotton angenommen hatten, „ihr wärt bestimmt auch darauf gekommen.“
„Jetzt nimm das verdammte Kompliment an, Pettigrew“, sagte James, trat neben seinen Freund und warf einen Arm um seine Schulter. „Du bist ein genialer Zauberer, klar?“
„Und du hast gerade die Lösung für Remus‘ Problem gefunden“, fügte Sirius an und konnte nicht anders, als beeindruckt zu klingen. „Dafür sollte man dir einen Pokal überreichen.“
„Gleich drei davon!“
„Hört auf“, sagte Peter grinsend und versuchte sich aus James‘ Umklammerung zu befreien, aber der Potter-Junge hielt sich fest an Peters Schulter fest. „Denn so wirklich bringt uns das noch nicht weiter. Wir haben keine Ahnung, wie man zu einem Animagus wird.“
„So schwer kann das nicht“, meinte James beiläufig.
„Genau. Schon gar nicht für die drei schlausten Köpfe Hogwarts‘„, sagte Sirius. „Ich meine, Minnie hat es ja auch hinbekommen und ich würde man fast sagen, wir sind mindestens genauso gut wie sie.“
Peter zog eine Augenbraue in die Höhe. „McGonagall war doch diejenige, die gesagt hat, dass es unglaublich schwierig, gefährlich und langatmig ist. Außerdem illegal, wenn man es nicht mit der Erlaubnis vom Ministerium macht.“
Sirius machte eine wegwerfende Handbewegung. „Das sagt sie nur so daher, damit es nicht gleich alle ausprobieren. Wenn ich dir doch sage, dass wir das locker hinbekommen, Pete. Wie schwer kann das schon sein? Wahrscheinlich muss man nur eine komplizierte Zauberformel auswendig lernen und die dann zehn Mal perfekt aufsagen oder sowas.“
***
Wie man auch immer zu einem Animagus wurde, im einfachen Lehrbuch stand es nicht und auch in den Bibliotheksbüchern, die frei für alle Schüler verfügbar waren, ließ sich keine Anleitung finden. Sirius und James bekamen so einige misstrauische Blicke zugeworfen – allen voran Lily Evans und Madam Pince, die hiesige Bibliothekarin – während die beiden in der Verwandlungsabteilung die Bücher durchgingen. Es war, so musste Sirius zugeben, nun mal eine doch eher seltene Ansicht, dass man ihn und James in der Bibliothek vorfand, noch dazu mit aufgeschlagenen Lehrbüchern. Wahrscheinlich wäre er genauso misstrauisch.
Um nicht weiter aufzufallen, hatten James und Sirius Pergamentbögen, Federn und Tintenfässer bereitgestellt, damit es für den aufmerksamen Beobachter nur so aussehen würde, als würden die beiden Gryffindor-Zweitklässler einen Aufsatz für die Verwandlungsprofessorin schreiben.
„Hier steht schon wieder nichts“, murmelte James, ehe er ein weiteres Buch zuschlug und beiseitelegte.
„Hier auch nicht“, erwiderte Sirius mit gedämpfter Stimme. „Kaum zu glauben, dass nicht eins dieser Bücher einen Hinweis auf Animagi liefert.“
Die Bibliothek war erfüllt von leises Geflüster, dem Kratzen von Federn auf Pergament und dem Rascheln von Seiten. Obwohl James und Sirius einen Tisch gewählt hatten, den man vom Eingang und damit Madam Pinces Pult aus nicht sehen konnte, hatte Sirius das Gefühl, dass man sie die ganze Zeit beobachten würde. Jedes Mal, wenn er sich umdrehte, wurde er jedoch nur mit dem menschenleeren Verwandlungsregal belohnt.
„Naja“, meinte James, „das Einzige, was wir bisher herausgefunden haben, hätte ich mir auch so denken können. Der Weg zur vollendeten Animagus-Verwandlung ist lang und schwierig und sollte niemals leichtfertig gegangen werden“, zitierte er den einen Satz, der in unterschiedlichen Varianten, in so ziemlich jedem Verwandlungsbuch zu lesen war. „Ich werd noch wahnsinnig“, brummte er.
„Immer mit der Ruhe“, sagte Sirius, was ihm nur einen giftigen Blick von James erntete.
„Das sagst gerade du.“
„Ich gebe nur deinen eigenen Hinweis an dich weiter“, erwiderte der Black-Erbe. „Bitter, nicht?“
„Pass bloß auf, dass ich dir nicht im Schlaf die Augenbrauen abhexe“, knurrte James wenig bedrohlich klingend.
Sirius wollte zu einer Antwort ansetzen, aber ein Prickeln im Nacken ließ ihn herumschnellen. Im Bruchteil einer Sekunde hatte er einen Umhang gesehen, der um die Ecke geschwungen war. Mit zusammengezogenen Augenbrauen stand er auf, ignorierte James‘ Frage, was er denn mache und ging mit schnellen, großen Schritten um das Regal herum. „Aha“, sagte er, kaum hatte er denjenigen erblickt, der sie gerade noch belauscht hatte. „Hätte ich mir ja denken können, Schniefelus.“
Snape rümpfte die Nase. „Ich bin mir nicht sicher, ob das stimmt, Black. Meines Wissens kannst du nämlich nicht denken.“ Er stopfte das Buch, dass er schnell aus dem Regal gefischt hatte, wieder zurück. „Oder ist es plötzlich verboten, in der Bibliothek zu sein?“
„Verboten nicht“, sagte nun auch James, der Sirius gefolgt war. „Aber Spionage steht dir gar nicht, Schniefelus. Außerdem riecht man deine ungewaschenen, fettigen Haare doch sowieso auf drei Meilen gegen den Wind.“
Rote Flecken erschienen auf Snapes Wangen. „Keine Ahnung, was du meinst, Potter.“
„Stell dich nicht dümmer als du bist“, sagte Sirius mit verschränkten Armen.
„Schön“, zischte der Slytherin leise. „Was versucht ihr schon wieder anzustellen?“
„Wir? Etwas anstellen?“, fragte James mit Engelsgeduld in der Stimme. „Ich weiß nicht, womit wir solche haltlosen Anschuldigungen verdient haben, du etwa, Sirius?“
„Keineswegs, James“, antwortete Sirius mit spottender Stimme. „Akademischer Fortschritt ist doch nichts Verwerfliches, oder irre ich mich da etwa?“
„Ihr könnt mich nicht für dumm verkaufen“, spuckte Snape aus. „Ich weiß, dass ihr irgendwas ausheckt und ich werde es herausfinden. Dieses Mal werdet ihr sicherlich nicht ungeschoren davonkommen.“ Ohne den beiden Gryffindors eine Chance zu lassen, zu antworten, stürme Snape mit rauschendem Umhang davon, wobei er dabei wie eine übergroße Fledermaus aussah.
„Dieser Schniefelus“, schnaubte James und wandte sich ebenfalls wieder um. „Man sollte meinen, er hätte seine Lektion bereits gelernt, aber anscheinend hat er noch nicht genug.“
„Wie auch immer“, sagte Sirius. „Wir sollten verschwinden. Recherche ist zwar nicht verboten, aber ich habe keine Lust darauf, dass Snape zu Filch rennt und uns anschwärzt.“
„In den Büchern steht eh nichts brauchbares“, brummte James. Er schwang seinen Zauberstab in Richtung des Tisches, an dem sie gesessen hatten und die Stapel an Verwandlungslehrbüchern sortierten sich von allein wieder zurück in ihre angemessenen Regalplätze. „Schätze, wir müssen uns dort umgucken, wo man uns nicht reinlassen will“, fügte er an und zuckte mit dem Kopf in Richtung der Verbotenen Abteilung.
Sirius fing seinen Blick auf und grinste. „Ich glaube, da hast du vollkommen Recht, Potter.“
Chapter 18: 18. Jahr 2: Die Geburt der Rumtreiber
Chapter Text
Obwohl es in der Bibliothek von Hogwarts ungefähr zweihunderttausend verschiedene Bücher gab – die genaue Zahl kannte James nicht, aber er hatte sehr enthusiastisch geschätzt – stand in keinem einzigen auch nur ein Hinweis auf die Schritte für die Verwandlung in einen Animagus. Jedes Mal, wenn er, Sirius oder Peter ein Buch entdeckten, das tiefer in die Materie ging, war das Ende doch immer gleich; aufgeschriebene Schritte gab es nicht und aus vagen Hinweisen und Anspielungen konnten die drei Gryffindors sich keinen Reim machen. Bisher hatten sie ihre Erkenntnis so gut es ging vor Remus geheim gehalten – solange sie keinen konkreten Plan hatten, wie sie überhaupt bis zum gewünschten Endprodukt gelangen würden, sah James keinen Sinn darin, Remus unnötig Hoffnungen zu machen.
Zumal, wie Peter sie daran erinnert hatte, sie etwas höchst Illegales vorhatten und James sich ziemlich sicher war, dass Remus nicht unbedingt Freudensprünge machen würde, sobald er davon hören würde. Nein, Remus musste noch nichts davon wissen. Sie würden ihm davon erzählen, wenn sie so weit waren, alles durchzuziehen und am besten würden sie es ihm auch erst dann erzählen, wenn es bereits zu spät war, um mit der ganzen Aktion aufzuhören. Aber damit es irgendwann auch so weit sein würde, mussten sie überhaupt erst einmal herausfinden, wie diese ganze Verwandlung zu einem Animagus vonstattenging.
„Hoffentlich müssen wir keinen komplizierten Trank brauen“, sagte Sirius. „Ich habe in noch keiner einzigen Stunde bei Slughorn aufgepasst und habe auch nicht vor, das zu ändern.“
Vor dem Fenster des Gemeinschaftsraumes fielen dicke Regentropfen zu Boden. Der kurze Schneeschauer, der die gesamte Länderei eingenommen und alles in ein weiches, weißes Kissen verwandelt hatte, war genauso schnell wieder verschwunden, wie er gekommen war. Oktoberregen goss unnachgiebig auf die matschigen Felder und der Kräuterkunde-Unterricht fiel ein weiteres Mal aus. Professor Sprout, die die gesamten letzten Tage damit beschäftigt gewesen war, ihre Pflanzen vor der plötzlichen Kälte zu retten, musste nun Lecks in den Dächern stopfen und überwässerte Pflanztöpfe ausleeren. Niemand beschwerte sich großartig darüber; bei solch einem Wetter hatten nicht einmal die enthusiastischsten Kräuterkunde-Fans großartig Lust in den Gewächshäusern kneifende Zangblütler umzutopfen.
Der nächste Vollmond stand bevor. Dieses Mal musste Remus sich keine scheinheilige Geschichte einfallen lassen, wieso es ihm Tage davor miserabel ging und seine Laune mit jeder Stunde immer weiter in den Keller sank. Jetzt, da sie wussten, was wirklich jeden Monat mit Remus passierte, nahmen sie die Hinweise viel besser war; das Buch, aus dem James seine Erkenntnis über Remus hatte, lag noch immer aufgeschlagen auf seinem Nachttisch und jeden Abend blätterte er ein paar Seiten weiter, nur um dann wieder zurück zu Werwölfen zu finden und sich ein weiteres Mal durchzulesen, was einer seiner besten Freunde jeden Monat über sich ergehen lassen musste.
„Es ist nicht so schlimm, wie du es dir ausmalst, James“, versuchte Remus ihn zu beruhigen, aber seine Worte hatten kaum Wirkung, wenn man die kleinen Schweißperlen auf seiner Stirn betrachtete und die angespannten Muskeln in seinem Kiefer bemerkte.
„Damit brauchst du gar nicht erst anfangen, Lupin“, sagte James. „Wenn du nicht willst, dass wir dich heute schon zu Pomfrey schieben, dann legst du dich jetzt brav wieder zurück ins Bett und isst deine Suppe auf.“
„Ich mag überhaupt keine Suppe“, beschwerte sich der blasse Junge.
„Ja, naja, das hättest du ja sagen können, bevor ich diese Schüssel mit meinem eigenen zwei Händen von der Großen Halle aus hierhergetragen habe“, erwiderte Sirius von seinem eigenen Bett aus. „Ich finde, du könntest zumindest so tun, als würdest du sie gerne essen.“
Remus verdrehte die Augen, tat aber dann, wie James und Sirius ihm befohlen hatten. Er legte sich zurück auf seine Decke, nahm einen Löffel der Pilzsuppe, die Sirius ihm gebracht hatte und griff dann nach seinem Verwandlungslehrbuch. „Wenn ihr mich schon hier oben haltet, dann helft mir wenigstens bei diesem Aufsatz für McGonagall.“
„Über Animagi und Tier-Verwandlungen?“, fragte Sirius. „Kannst meinen Abschreiben“, meinte er lässig, schwang seinen Zauberstab und ließ eine Pergamentrollte zu Remus fliegen.
Mit zusammengezogenen Augenbrauen betrachtete Remus die Pergamentrollte in seinen Händen. „Wieso hast du schon einen Aufsatz fertig? Der ist doch erst am Montag fällig.“
Sirius zuckte mit den Achseln, aber fing für den Bruchteil einer Sekunde James‘ Blick auf. „Hatte Zeit und nichts Besseres zu tun“, sagte er schließlich.
„Wunder geschehen eben doch noch“, erwiderte Remus, auch wenn er noch immer skeptisch zwischen Sirius und dem Aufsatz hin und herblickte.
Minuten der Stille vergingen und endlich ging die Schlafsaaltür auf. Peter kam mit einem zufriedenen Gesichtsausdruck herein und ließ seine leere Tasche auf den Boden fallen. „Alles erledigt“, sagte er grinsend.
„Fantastisch.“
„Was ist erledigt?“, fragte Remus.
„Nur ein paar Dungbomben“, meinte James mit einer wegwerfenden Handbewegung; er durfte nicht zulassen, dass Remus ihnen zu sehr auf die Schliche kam. Es würde schon schwierig genug werden, die Verwandlung in einen Animagus durchzuziehen, ohne dass er etwas davon mitbekam, aber wenn sie nicht aufpassten, dann würde Remus bereits erkennen, was sie vorhatten, bevor sie überhaupt damit angefangen hatten. „Ein wenig leichte Streichmagie, du weißt schon. In Vorbereitung auf Halloween.“
Remus nickte langsam. „Genau. Halloween. Wofür wir immernoch keinen richtigen Plan haben.“
„Ah, rede nicht so herabwürdigend meinen Ideen gegenüber, Lupin“, sagte Sirius. „Ich hab euch ja gesagt, ich werde den perfekten Plan ausklügeln, damit dieses Jahr nichts schief gehen wird.“
„Du meinst, damit du es nicht verhaust“, grunzte Peter, der sich auf sein Bett geworfen und eine Packung Bertie Botts Bohnen geöffnet hatte.
Sirius überging den Kommentar. „Außerdem haben wir noch über eine Woche Zeit. Das ist mehr als genug, damit ich meine ganzen Ideen ausreifen kann.“
„Wenn du das sagst“, schnaubte Remus.
Peter warf James einen warnenden Blick zu und dieser sprang auf.
„Was hast du denn?“
„Ah – mir fällt gerade ein, ich habe meinen Lieblingsfederkiel in der Bibliothek vergessen!“, rief James aus. Aus dem Augenwinkel konnte er Sirius sehen, der sich lautlos eine Hand gegen die Stirn schlug. „Du weißt ja, wie Madam Pince ist, wenn es darum geht, Dinge liegenzulassen. Wenn ich morgen erst gehe, dann hat sie den Federkiel verbrannt weil er ihr verdächtig vorkam.“
„Die Bibliothek macht gleich zu“, sagte Remus mit einem Blick auf seine Armbanduhr. „Das schaffst du nicht mehr.“
„Sag niemals nie, Lupin“, grinste James. „Bin gleich zurück.“ Ohne einen Blick zurück sprintete James aus dem Schlafsaal. Damit war Phase Zwei eingeleitet – Phase Eins war damit beendet worden, dass Peter genügend Dungbomben in der Bibliothek platziert hatte, damit man einen ausgewachsenen Riesen damit umhauen könnte. James eilte an den Schülern im Gemeinschaftsraum vorbei, raus aus dem Potraitloch („He, die Sperrstunde geht gleich los!“, rief ihm die Fette Dame hinterher.) und immer zwei Treppenstufen auf einmal nehmend. Sein stundenlanges Quidditchtraining zahlte sich endlich aus, dachte er genügsam, als er kaum außer Atem im vierten Stock ankam.
Dem Geruch nach zu urteilen, hatte Peter nicht untertrieben – obwohl ein ganzer Korridor ihn und die Bibliothek trennte, konnte er bereits das grandiose Werk der explodierten Dungbomben riechen. James presste sich seinen Umhang über Mund und Nase und lief weiter. Er konnte die keifende Stimme von Madam Pince vernehmen, die lauthals über den Gestank meckerte und konnte sogar das Gackern von Peeves dem Poltergeist vernehmen, der irgendwie in der Wand hockte. James duckte sich, als er die Bibliothek betrat. Mondlicht schien durch die weitaufgerissenen Fenster herein und gab den hölzernen Regalen und Tischen einen weißen Glanz.
Madam Pince konnte er nirgends sehen, lediglich hören. Sie schien aufgeregt durch die Regalreihen zu eilen. James drückte sich vorsichtig an die Wand und wartete in einer vom Schatten befallenen Ecke, bis er die Bibliothekarin immer näher kommen hörte. Der Gestank der Dungbomben, der so stark war, dass die Luft einen leichten, grünen Schimmer bekommen hatte, brannte in seinen Augen und ließ Tränen seine Wangen hinabrinnen. Er blieb mucksmäuschenstill und bewegungslos in seiner dunklen Ecke, hielt die Luft an und –
„– habe Filch schon hundert Mal gesagt, er soll mehr darauf achten, was diese Kinder mit sich herumschleppen“, ertönte das leise Gemurmel von Madam Pince, die mit schnellen Schritten an James‘ Versteck vorbeirauschte. „Es reicht mir. Wenn Dumbledore nichts dagegen unternimmt, dann…“ Ihre Stimme verklang weiter und als auch das Echo ihrer verschwindenden Schritte langsam aus dem Korridor verschwand, erlaubte James sich Luft zu holen.
Er wusste, er hatte nur wenige Minuten, bis Madam Pince wiederkommen würde, deswegen lief er mit flinken Füßen über den hölzernen Boden der Bibliothek, bis er schließlich die freizugänglichen Regale passiert hatte und vor einer abgesperrten Abteilung stand. Ein schmales, schmiedeeisernes Gitter hinderte jeden Schüler daran, sich einfach so in die Verbotene Abteilung zu begeben und lediglich ein einzelnes Tor erlaubte Eintritt.
„Alohomora“, murmelte er mit dem Zauberstab auf das Schloss gerichtet. Ein leises Klicken ertönte und sang von seinem Erfolg. James schlüpfte in die Verbotene Abteilung und zog das Schloss wieder hinter sich. „Lumos.“
Mithilfe des Lichtstrahls, der aus der Spitze seines Stabes drang, orientierte er sich rasch. Der Gestank der Dungbomben hatte auch hier keinen Halt gemacht und jeden Gedanken an frische Luft verpestet. James presste sich seinen Umhang etwas fester auf den Mund und die Nase, bevor er weiterlief. Schmale, dunkle Regale voll mit Büchern reihten sich dicht aneinander. Etliche Titel waren in Sprachen verfasst, die James nicht kannte oder in Schriftzeichen, die er noch nie gesehen hatte. Einige Bücher hatten gar keine Titel und waren lediglich in dickes, schwarzes Leder gewickelt. Die wenigen Titel, die er lesen konnte, versprachen keine Hilfe für sein Problem. Flüche des Mittelalters, Ein Weg in die Dunkle Magie und Blutmagie – Wie man mit der ältesten Magie überhaupt, die besten Ergebnisse erzielt.
James erschauderte, als er die meisten dieser Bücher sah. Wieso waren Werke voll mit dunkler Magie überhaupt in der Bibliothek Hogwarts vertreten, fragte er sich. Stammten sie vielleicht noch aus einer Zeit, in der Schwarze Magie an Hogwarts nicht nur gefürchtet sondern auch gelehrt wurde? Und wenn ja, warum hatte man sie dann nicht aus den Regalen genommen, jetzt da schwarze Magie im ganzen Land verboten war? James versuchte seinen Blick von den Buchrücken zu reißen, die ihn zu sich zu rufen schienen – nein. Es schien nicht nur so! Leises, unheilvolles Flüstern schwebte in der Luft und James brauchte nicht lange, um herauszufinden, dass es tatsächlich einige der Bücher waren, die redeten.
Er wich zurück. Ekel machte sich in ihm breit. Diese Bücher waren voller dunkler Magie und riefen nach ihm – er musste schnellstmöglich ein Buch über Animagi finden und dann verschwinden, bevor er noch etwas dummes anstellte. Seine Zauberstabhand zuckte und die Formel für den Brandzauber schwebte ihm im Sinn.
„Reiß dich zusammen, Potter“, flüsterte er mit gedämpfter Stimme hinter seinem Umhang hervor, bevor er die flüsternden Bücher hinter sich ließ. Endlich erreichte er ein schmales Regal, dessen Lack fast abblätterte und das mit einer kleinen, silbernen Plakette verziert war. Verwandlungen stand dort in schnörkeliger, kaum lesbarer Schrift, als wäre sie schon ziemlich alt. Rostflecken hatten sich in die Ecken gefressen, aber das Schild hielt stand.
Eine kleine Welle an Euphorie schwappte in ihm auf, als er endlich das richtige Regal entdeckte. Mit dem Finger wischte er über die Buchrücken, in der Hoffnung, dass es eines geben würde, dass einen recht offensichtlichen Titel hätte. Animagus – Eine detaillierte Anleitung für die Verwandlung in ein Tier, sowas bräuchte er. Sicherlich würde es solch ein Buch geben, besonders wenn es schreckliche Fibeln voll mit schwarzer Magie gab, die in einer Schule seiner Meinung nach nichts zu suchen hatten. James las die Buchrücken so schnell er konnte, ließ seine Augen so flink die Reihen und Reihen an Büchern absuchen, sodass er nur noch seinen eigenen Atem im Ohr hatte. Er strich die Regalbretter entlang, zog ab und zu ein Buch hervor, das keinen beschrifteten Rücken hatte, nur um es dann schnell wieder in seinen ursprünglichen Platz zu drücken. Auch hier erklang das leise Flüstern der verbotenen Bücher, die ihn versuchten, in ihren Bann zu locken.
Frustration und Ungeduld mischten sich in ihm, als er das erste Verwandlungs-Regal durchforstet, aber noch immer kein Buch über Animagi gefunden hatte. Er hatte schon genug Zeit vergeudet und es war sicherlich nur noch eine Frage von wenigen Minuten, bis Madam Pince wiederkehren würde – sicherlich nicht allein. James fokussierte sich darauf, noch schneller zu lesen. Er schob seinen Finger über jeden Buchrücken, holte jedes unbeschriftete Werk hervor und blätterte in den fremdsprachigen Seiten, nur um es dann frustriert wieder zurückzuschieben. Langsam überkam ihm ein mulmiges Gefühl – was, wenn es überhaupt keine Bücher über Animagi gab? Vielleicht hatte das Ministerium sie alle konfisziert, damit niemand auf die Idee kommen würde, die Verwandlung ohne offizielle Erlaubnis durchzuführen…
James schüttelte seine Zweifel ab. Wenn das so wäre, dann würde es auch keine Bücher über schwarze Magie geben, redete er sich ein. Irgendwie würde er schon fündig werden. Es konnte doch nicht so schwierig sein, ein einziges, blödes Buch zu finden.
Das Echo von leisen Schritten zuckte in seinen Ohren auf und James erstarrte. Er blickte auf seine Armbanduhr und fluchte lautlos. Er hatte viel zu viel Zeit verschwendet und dem Anschein nach, war Madam Pince bereits zurückgehört – und der Stimme nach zu urteilen, die gemeinsam mit ihrer an James‘ Ohren drang, hatte sie sich Verstärkung in Form von Gryffindors Hauslehrerin geholt.
„ – habe es dir ja gesagt, Minerva“, sagte Madam Pince gedämpft klingend, als würde sie ebenfalls durch ein Stück Stoff sprechen.
„Ein dummer, alberner Streich“, seufzte Professor McGonagall. „Keine Sorge, Irma, das beheben wir sofort.“
„Ich verlange, dass diese schreckliche Dungbomben endlich verbannt werden“, keifte Madam Pince. „Filch soll die Taschen von all diesen Kindern kontrollieren, bis wir jede einzelne davon vernichtet haben.“
„Ich spreche mit Albus darüber“, sagte McGonagall. „Einen Moment.“
James drückte sich in den hintersten Schatten des Verwandlungsregals und lauschte. Seine Augen huschten die Gänge entlang, aber es gab nirgendswo ein Versteck, wo er unentdeckt bleiben würde, sollten McGonagall und Pince die Verbotene Abteilung untersuchen. Er fluchte erneut lautlos und war drauf und dran, das Regal aus Frust zu treten.
Ein lautes Sauggeräusch erfüllte die Luft – James musste es nicht sehen, um zu wissen, dass Professor McGonagall mit ihrem Zauberstab all die schlechte Luft und den Gestank der Dungbomben einsog. Er hatte seine eigene Mutter diesen Zauber oft genug einsetzen sehen, dass er ihn in und auswendig konnte.
James hielt die Luft an und wartete.
„So“, sagte McGonagall und das Geräusch stoppte. „Das sollte alles sein. Und du sagtest, die Bibliothek sei bereits leer gewesen?“
„Ich habe alles kontrolliert, als plötzlich diese schrecklichen Dinger losgingen“, zeterte Madam Pince. „Ich vermute, irgendein Witzbold hat sie liegen lassen und sie sind hochgegangen, als ich meinen Staubputzzauber auf die Regale angewandt habe.“
James konnte sich vorstellen, dass McGonagall nachdenklich nickte. „Das klingt plausibel. Dann komm, schließ ab und wir können gemeinsam mit Albus reden. Vielleicht kann er endlich ein Urteil fällen.“
„Schön wärs“, sagte Madam Pince. „Ich versuche seit Jahren, dass er endlich jegliches Scherzspielzeug verbannt, aber er ist zu weich mit den Kindern. Lässt ihnen zu viel durchgehen.“
Zu James unerwartetem Glück entfernten sich Madam Pince und Professor McGonagalls Stimmen wieder. Er wartete ab, aus Sorge, sich zu früh zu freuen, aber auch Minuten später blieb es totenstill. Erleichtert atmete er aus und wischte sich mit der Hand über die Stirn. Seinen Umhang nahm er auch von Mund und Nase und konnte endlich wieder frische Luft atmen. So praktisch diese Dungbomben auch waren, wenn man schnell seine Ruhe haben wollte, sie rochen einfach nur scheußlich und raubten einem jeden Sinn, wenn man ihnen zu lange ausgesetzt war. James nahm sich vor, beim nächsten Mal den Kopfblasenzauber zu beherrschen, von dem Remus ihm erzählt hatte.
Sich vorsichtig vortastend, um keine unnötigen Geräusche zu verursachen, suchte James den Rest des zweiten Verwandlungsregals ab. Es dauerte nicht lange, dann hatte er den Boden erreicht. Seine Schultern sackten zusammen. Kein einziges der Bücher hatte das enthalten, was sie gesucht hatten und er bezweifelte, dass Madam Pince eine unordentliche Bibliothek führte. Enttäuscht ließ James seinen Zauberstab sinken und gab sich zumindest die geringe Befriedigung, einmal laut zu fluchen.
James wandte sich grummelnd wieder um, öffnete das Schloss der Verbotenen Abteilung und schlüpfte zurück in die freizugängliche Bibliothek. Mondhell war der Parkettboden, als er sich zwischen den Regalen zurück schlich. Wie ausgestorben lag die Bibliothek vor ihm und wäre er nicht so frustriert, dass sein Plan nicht aufgegangen war, dann hätte er sich sogar noch ein wenig länger in der Verbotenen Abteilung umgeguckt. Abgesehen von den unheimlichen, flüsternden Büchern voll mit dunkler Magie, gab es dort sicherlich auch eine ganze Menge an interessanten Lexiken oder Zauberfibeln, voll mit komplizierter Magie, bei der es James nur so in den Fingern juckte, sie auszuprobieren. Er machte sich eine gedankliche Notiz, in einer anderen Nacht wiederzukehren.
Der Gang vor der Bibliothek war genauso ausgestorben, wie James es sich erhofft hatte. Kein Vertrauensschüler, kein Filch und auch kein Peeves in Sicht. Er atmete erleichtert aus. Entspannt lief er den Gang mit großen Schritten entlang, darauf bedacht, trotzdem nicht zu viel Lärm zu machen – und lief direkt in Professor McGonagalls Arme.
Die Verwandlungslehrerin war so schnell aus dem Nichts aufgetaucht, dass James sich nicht sicher war, ob sie unsichtbar oder einfach nur verdammt schnell war. „Wusste ich doch, dass das kein Zufall war“, sagte sie, die Lippen zu einer dünnen Linie verzogen. „Wollen Sie sich erklären, Mr. Potter?“
„Ich habe nach meiner Feder gesucht, Professor“, antwortete James schnell – etwas zu schnell.
McGonagall legte die Stirn in Falten und zog die Augenbrauen zusammen. „Und Sie dachten sich, Sie müssten die Bibliothek dafür zuvor mit einer halben Tonne an Dungbomben präparieren?“
„Das mit den Dungbomben war ich nicht!“, rief er aus, was zumindest halb der Wahrheit entsprach. Es war zwar sein Plan gewesen, aber wenn man es so betrachtete, dann hatte er die Dungbomben nicht platziert, sondern Peter. „Tut mir leid, Professor, ich werde zurück in meinen Gemeinschaftsraum gehen.“
„Wo ist Ihre Feder?“, fragte McGonagall mit scharfer Stimme, als James sich an ihr vorbeidrücken wollte.
Er hielt ertappt inne. „M-Meine Feder?“
„Die Sie gesucht hatten. Sicherlich müssen Sie sie doch gefunden haben, nicht wahr? Oder haben Sie vielleicht in der falschen Abteilung gesucht?“
James schluckte. „Professor?“
McGonagall schüttelte den Kopf. „Glauben Sie nicht, dass Sie mich für dumm verkaufen können, Potter. Ich mache diesen Job schon lange genug, ich weiß, wann Schüler sich unerlaubt in der Verbotenen Abteilung herumtreiben. Oder wollen Sie mir erzählen, Sie sind rein zufällig an genau dem Abend in die Bibliothek gegangen, an dem eine ganze Ladung an Dungbomben hochgegangen sind?“ In ihren Augen blitzte es auf, als sie James betrachtete. „Was für Bücher haben Sie mitgenommen?“
„Keine, Professor“, sagte er wahrheitsgemäß und breitete die Arme etwas aus. „Sehen Sie, keine Bücher. Ich habe nichts gefunden – nicht, dass ich etwas gesucht hätte!“, fügte er schnell hinzu, biss sich aber auf die Zunge, als er McGonagall triumphalen Blick bemerkte.
„Ich hatte besseres von Ihnen erwartet, Mr. Potter. 20 Punkte Abzug für Gryffindor, für das Unerlaubte Herumtreiben in der Verbotenen Abteilung. Jetzt los, ab in Ihren Schlafsaal, sonst gebe ich Ihnen Nachsitzen.“
„Ja, Professor“, murmelte James mit gesenktem Kopf und eilte an der Verwandlungslehrerin vorbei. Er hörte, wie sie etwas murmelte, aber als er sich umdrehte, war sie bereits verschwunden. An ihrer Stelle verblieb lediglich das beinahe lautlose Tapsen von Katzenpfoten, die über den kalten Stein huschten.
Einige Minuten später allerdings, war seine schlechte Laune über das Scheitern seines Plans und die verlorenen Punkte vergessen. Grinsend betrat er den Schlafsaal und wurde direkt mit zwei erwartungsvollen und einem irritierten Blick begrüßt. Sirius hatte sich nicht bewegt, seit er den Schlafsaal verlassen hatte, lediglich Peter hatte sich zu Remus begeben und gemeinsam arbeiteten sie wohl an Peters Zauberkunstaufsatz über Kitzelflüche.
„Gefunden?“, fragte Sirius.
„Nö“, erwiderte James nonchalant und warf sich auf sein Bett. „McGonagall hat mich erwischt.“
„Und darüber freust du dich?“, meinte Remus skeptisch, der die Vorhänge rund um alle Fenster zugezogen hatte, sodass lediglich ein schmaler Streifen Mondlicht in den Saal fiel. Der junge Werwolf war blass und hatte dunkle Ringe um die Augen.
„Normalerweise nicht, nein, aber“, sagte James und hob einen Finger, „aber McGonagall hat mich auf eine grandiose Idee gebracht.“
„Hoffentlich beinhaltet sie, wie man sich nicht erwischen lässt“, murmelte Sirius grummelig.
James ignorierte ihn. „Ich habe endlich einen Namen für uns.“
„Einen Namen?“ Peter blickte ihn irritiert an. „James, wie haben bereits Namen.“
„Nein, ich meine – einen Namen für unsere Gruppe. Unsere Bande. Unseren Beste-Freunde-Club.“
„Ich hab dir doch gesagt, du sollst uns nie wieder einen Beste-Freunde-Club nennen“, sagte Remus. „Damit machst du uns zur Lachnummer der Schule.“
„Deswegen habe ich auch einen besseren Namen. Seid ihr bereit?“ James grinste seine Freunde herausfordernd und erwartungsvoll an.
Sirius seufzte und verdrehte die Augen, Peter lehnte sich etwas hervor und Remus sah aus, als könnte er sich nicht zwischen Belustigung und Genervtheit entscheiden.
„Ab heute heißen wir die Rumtreiber!“
***
Halloween 1972 fiel auf einen Dienstag und so sehr es in den Fingern der neu ernannten Rumtreiber juckte, ein riesiges Spektakel anzustellen, dass die gesamte Schule in den Bann ziehen würde, so mussten sie sich der erdrückenden Realität stellen, dass sie am nächsten Tag wieder in den Unterricht gehen mussten. Und, wie Remus sehr vorbildlich in den Raum geworfen hatte, würden sie niemandem einen Gefallen tun, wenn sie die Schüler und Lehrer die ganze Nacht über wach hielten.
„Immer die Stimme der Vernunft“, kommentierte Sirius grinsend und lehnte sich an Remus‘ Schulter ab, nur um von dem jungen Werwolf weggestoßen zu werden.
„Einer muss euch ja auf dem Boden halten, sonst verbringen wir bald noch jedes Wochenende mit Nachsitzen.“
„Und das können wir nicht durchgehen lassen, nicht?“, meinte Sirius. „Wann sonst solltest du dich in die Bibliothek schleichen und versuchen wieder mit Evans befreundet zu sein.“
Remus reckte das Kinn in die Höhe. „Ich gehe nicht nur deswegen in die Bibliothek, vielen Dank. Zufällig erledige ich dort auch meine Hausaufgaben.“
„Ah, Hausaufgaben.“ James kniff die Augen zusammen. „Solch ein schlimmes Wort an so einem herrlichen Tag, Lupin.“
Kopfschüttelnd folgte Remus seinen Freunden in die Große Halle, in der sie sich mit Peter trafen.
Der pausbäckige Junge lächelte verschmitzt, als er sich zu ihnen setzte. „Alles ist in bester Ordnung“, sagte er in halblautem Flüsterton. „Ich bin mir ziemlich sicher, dass nichts schief gehen wird.“ Dabei warf er einen warnenden Blick in Sirius‘ Richtung, der unschuldig mit den Schultern zuckte.
„Ich weiß nicht, wovon du redest, Pete.“
„Sehr gut“, sagte James leise. „Mit diesem grandiosen Schauspiel werden wir uns wirklich einen Namen machen. Die gesamte Schule wird wissen, wer wir sind. Die Rumtreiber! Und wenn wir erst –“
„Wenn ihr erst was?“, unterbrach die leise zischende Stimme von Lily Evans ihn. „Sagt mir nicht, ihr habt schon wieder irgendwas vor!“ Die rothaarige Gryffindor-Schülerin saß nicht unweit von den Rumtreibern mit den anderen Mädchen und warf ihnen skeptische Blicke zu.
„Ah, Evans“, meinte Sirius kopfschüttelnd. „Weißt du denn nicht, dass es unhöflich ist, andere Leute zu belauschen? Besonders wenn es um Themen geht, die dich gar nichts angehen.“
Lily presste die Lippen zusammen. „Pass nur auf, Black“, sagte sie leise, „dir wird das Lachen noch vergehen.“ Sie warf einen beinahe hoffnungsvollen Blick in Remus‘ Richtung, doch dieser weigerte sich ihren Augen zu begegnen. Lily schnaubte, bevor sie sich zu Marlene wandte und mit dem blonden Mädchen die Köpfe zusammensteckte.
„Unglaublich.“ Sirius schloss sich ihrem Schnauben an. „Wer denkt sie denn, wer sie ist?“
James zuckte mit den Schultern. „Sie wird schon merken, dass sie uns eigentlich ziemlich cool findet, wart’s ab.“
„Warum bezweifle ich das?“, murmelte Remus und Peter lachte leise.
Zu weiteren Gesprächen kamen die Rumtreiber nicht. Das grelle Licht der Großen Halle wurde auf ein sanftes Kerzenlicht gedimmt, sodass man gerade so das gold-glänzende Besteck auf den Tischen erkennen und die schwebenden Kürbisse in der Luft sehen konnte. Dumbledore, an diesem Abend in einen Traum an Purpur und Flieder gekleidet, erhob sich am Lehrertisch. Sein weißer Bart sah inmitten all der Dekoration nur wie ein weiteres, flauschiges Spinnennetz aus. „Es freut mich sehr, dass ihr euch alle wieder zu unserem Halloween-Festessen begeben habt. Die Küche hat sich dieses Jahr etwas ganz besonders für euch einfallen lassen und deswegen will ich euch gar nicht mit den langweiligen Worten und Geschichten eines alten Knackers belästigen. Für heute sage ich nur: Esst, so viel ihr könnt und esst dann noch etwas mehr!“
Tosender, enthusiastischer Applaus folgte den Worten des Schulleiters und kaum hatte sich dieser gesetzt, erschien auch schon das angekündigte Essen auf den vier Haustischen. James hatte bereits viele Festessen erlebt und war schon bei vielen Banketts gewesen, aber Hogwarts setzte es jedem Mal die Krone auf. Auf jedem Tisch thronten Berge an Essen; fette, mit Sauce übergossene Braten, die köstlichen Dampf in die Luft ließen, Kartoffeln in jeglicher Form, Töpfe voll mit Nudeln und gebratenem Gemüse, Saucen in allen Farben und Kürbisse, so groß wie Schäferhunde, die mit allem möglichen gefüllt waren. Überall verteilt standen kleine Körbe mit knackigen, glänzenden Äpfeln und das gesamte Festessen war drapiert mit falschen Spinnenweben, Lakritz-Fledermäusen und Zuckerskeletten.
Remus hatte sich bereits seinen ersten Teller übervoll gehauen, da hatten die anderen gerade einmal nach der ersten Köstlichkeit gegriffen. Als wollte er all die Nächte nachholen, an denen er hungrig aufgrund des Wolfes gewesen war, schlang er nun Berge an Essen in sich hinein, was ihm selbst verwirrte Blicke von Montana einbrachte, der sonst selbst nie zu scheu war, um sich einen dritten Nachschlag zu holen.
„Hast du Angst, man klaut dir das Essen, Lupin?“, fragte Monty mit hochgezogenen Augenbrauen. Sein Teller bestand größtenteils aus gebratenem Gemüse und fettfreiem Fleisch – immer der achtsame Sportler, stellte James belustigt fest.
„Nein“, sagte Remus so elegant er mit einem Mund voll Kartoffelbrei konnte. „Aber wer weiß, ob nicht… irgendwas passiert und ich keine Chance mehr habe.“
James fing seinen Blick auf und grinste. Jetzt verstand er, worauf sein wölfischer Freund hinauswollte. „Keine Sorge, Lupin“, meinte James mit einem Hähnchenschenkel in der Hand. „Ich halte Sirius an der Leine, damit er keine Dummheiten anstellt.“
Sirius rollte mit den Augen, grinste aber ebenso und machte ein ziemlich überzeugendes Bellgeräusch. „Dieses Jahr stelle ich mich besser an, versprochen.“
„Man kann trotzdem nie vorsichtig genug sein“, endete Remus.
„Wohl wahr“, murmelte Peter, der es jetzt Remus nachmachte und seinen Teller mit so viel Essen belud, dass dieses beinahe auf seinen Schoß kippte.
„Ihr seid schon eine komische Bande“, sagte Monty achselzuckend. Danach verwickelte er James in ein Gespräch über das anstehende erste Quidditchspiel der Saison. In zwei Wochen würde es endlich so weit sein und James als auch Monty würden das erste Mal vor der gesamten Schule spielen.
So spannend und anregend James die Unterhaltung mit seinem Mitschüler auch fand, er hörte immer wieder nur mit einem halben Ohr zu. Sein Blick zuckte immer wieder zum Eingang der Großen Halle. Er wusste, er machte sich unnötige Sorgen, aber dieses Mal wollte er, dass alles perfekt lief. Nicht nur, weil Sirius sich so lange den Kopf darüber zerbrochen hatte, wie sie all seine Ideen legal und für alle unterhaltsam unterbringen würden, sondern auch, damit er seinen Eltern dieses Jahr an Weihnachten nicht wieder erklären musste, wieso McGonagall ihnen von einem misslungenen Streich an Halloween schreiben musste.
Gerade als die Hauptspeisen von den Tischen verschwanden und die Nachspeisen erschienen (die von kreativ aufgetürmten Torten bis hin zu skurril eingefärbten Eiscremebergen reichten), hörte James das erste, entfernte Klappern. Wie auf ein Signal hin, blickten die Rumtreiber auf. James konnte sein Grinsen nicht unterdrücken. Pünktlich auf die Sekunde – Stolz flammte in seiner Brust auf. Die Zauber, die sie die letzten Tage geübt und angewandt hatten, zeigten ihre Wirkung.
Die Schüler um sie herum hatten scheinbar nichts mitbekommen – freudig aufgeregt griffen sie nach den köstlichen Nachspeisen, schnitten sich Tortenstücke ab und luden Eiscreme mit Schokoladensauce in ihre Schüsseln. Peter war damit beschäftigt, eine Schale mit Süßkram aus dem Honigtopf, einem bekannten und sehr beliebten Süßigkeitenladen in Hogsmeade, in seine Tasche zu stopfen, während Remus zwei Kuchenstücke (Schokocreme und Erdbeer-Sahne-Torte) gleichzeitig aß. Noch immer traute er ihnen nicht, dass er sein Mahl in Ruhe beenden konnte. James konnte es ihm nicht verübeln, wenn er ehrlich war.
Nur nebenbei bekam er mit, wie Sirius Lily und Marlene ein breites, zähneblitzendes Grinsen zuwarf, als sie ihn skeptisch beobachteten. „Gefällt euch die Aussicht, Ladys?“
„Bild dir nichts ein, Black“, meinte Lily giftig klingend. „Ich weiß genug, dass ihr etwas plant. Ich kann es in euren Gesichtern sehen.“
„Ah, Evans, kannst du einfach nicht genug von uns bekommen, dass du uns beim Essen beobachten musst?“ Sirius schnalzte mit der Zunge. „Es ist immer schön, Fans zu finden, aber ich muss doch um ein bisschen Privatsphäre bitten, ja?“
„Oh bitte“, schnaubte Marlene, aber musste grinsen. „Ich glaube kaum, dass du dir hier besonders viele Fans gemacht hast, Sirius. Der halbe Slytherin-Tisch würde dich gerne im Schwarzen See ertränken.“
„Das klingt wie deren Problem wenn ich hier ganz ehrlich bin, McKinnon. Der Rest der Welt denkt ich wäre sehr liebenswürdig.“
„Was war das?“, fragte Lily plötzlich. „Dieses Geräusch?“
„Du musst schon etwas spezifischer werden, Evans“, sagte James und stützte sein Kinn auf eine Hand. „Siehst du, hier gibt es sehr viele Geräusche und –“
„Dieses Klappern“, zischte Lily ihn an. „Ich kann es – da, schon wieder!“ Lily reckte das Kinn in die Höhe und verengte die Augen. „Außerhalb der Halle. Das wart ihr, nicht wahr? Ihr habt irgendwas angestellt und jetzt – „
Sie kam nicht dazu, die Rumtreiber weiter zu beschuldigen, auch wenn sie sicherlich noch eine ganze Menge zu sagen hatte. Vor der Halle hatte sich ein kleiner Tumult zusammengetragen und mittlerweile hatten auch die anderen Schüler mitbekommen, dass etwas nicht so war, wie es sein sollte. Einige warfen neugierige Blicke zum Eingang der Halle, andere wiederrum fragende zum Lehrertisch, als erwarteten sie, dass Dumbledore jeden Moment aufstehen und eine Ankündigung machen würde. Rumpeln und Klappern klingelte von der Eingangshalle her in die Halle.
James fing grinsend Sirius‘ Blick auf. „Los geht’s.“
Mit einem lauten Klappern, als wären einhundert Regale voll mit Blechschüssel umgefallen, wurden die Tore zur Großen Halle aufgestoßen und eine ganze Parade an wandelnden Rüstungen trat über die Schwelle. Ein paar Schüler schrien erschrocken auf, die meisten der älteren betrachteten die Lage recht neutral und lediglich Professoren McGonagall und Flitwick hatten sich am Lehrertisch erhoben, wobei letzterer wesentlich aufgeregter wirkte als die Verwandlungsprofessorin.
„Remus, wenn ich bitten darf“, sagte Sirius mit einem lässigen Handschlenker in die Richtung seines Freundes.
Remus lächelte spitzbübisch, zückte seinen Stab und schleuderte einen gemurmelten Zauber auf die Gruppe an Rüstungen. Es dauerte nur wenige Sekunden, dann setzte die erwartete Wirkung bereits ein.
James kannte das Lied nicht, das die Rüstungen anfingen zu singen, aber er mochte es. Remus hatte es ausgesucht, es musste ein Muggellied sein. Auch wenn die Rüstungen allesamt mit sehr kratzigen, quietschenden Stimme sangen, die alle ein wenig nach lange nicht mehr geölten Türen klangen, klang das Lied gut.
„Bowie“, sagte Remus.
„Bitte?“
„David Bowie.“
„Gefällt mir“, kommentierte Sirius. „Du hast ja doch guten Geschmack.“
„Hast du das je bezweifelt?“, fragte Remus lächelnd.
„Natürlich nicht eine Sekunde lang. Wie heißt der Song?“
„Oh! You Pretty Things“, erwiderte Remus. „Es ist aus seinem Album Hunky Dory. Ich glaube, es würde dir gefallen.“
Sirius zuckte mit den Achseln. „Das mag ich, vielleicht mag ich den Rest auch.“
„Ich bring das Album nach Weihnachten mit. Meine Mum hat es zuhause.“
Die Rüstungen fingen, wie James vermutete, den Refrain des Liedes an und es war in diesem Moment, dass er und Peter sich entschieden, das Finale einzuleiten. Sie richteten beide ihre Stäbe auf die Rüstungen und wirkten den Zündzauber. Die gesamte Schule starrte wie gebannt auf die Blecharmee (einige Schüler sangen sogar mit breitem Grinsen im Gesicht mit), während in den Helmen der einzelnen Rüstungen kleine Zündschnüre anfingen zu knistern. Für einen Moment war James sich nicht mehr sicher, was für Feuerwerk sie verwendet hatten, und hatte Sorge, sie würden vielleicht doch jemanden in Gefahr bringen – doch einen Moment später konnte er erleichtert aufatmen.
Eine ganze Ladung an Feuerfreien Feuerwerkskörpern für Jedermann wurden aus den Rüstungen in die Luft katapultiert und was für den Bruchteil einer Sekunde so aussah, wie eine ganze Menge an schwarzen, brennenden Kanistern, entpuppte sich einen Augenblick später als ein Spektakel an Farben und Lichtern.
Die Große Halle wurde von goldenen, roten, grünen, silbernen, blauen Funken eingenommen, Lichtreflexe tanzten auf den goldenen Tellern und Kelchen und unter dem sternenbesetzten Nachthimmel wirkte das Feuerwerk noch eindrucksvoller. Die Rüstungen hatten nicht aufgehört zu singen – in Begleitung der knallenden Feuerwerkskörper und glitzernden Lichtkreisen und -funken, stimmten sie noch lauter, noch ausgiebiger an. Ohhhs und Ahhhhs entkamen der begeisterten Schülermenge und selbst am Lehrertisch war es mehr als offensichtlich, dass der richtige Eindruck geschaffen wurde; Professor Flitwick sprang aufgeregt auf seinem erhöhten Stuhl auf und ab, Professor Sprout schaute mit glänzenden Augen in den explodierenden, farbenfrohen Himmel und Professor Slughorn stieß mit roten Wangen einen weiteren Becher Met mit seiner Tischnachbarin an. Der Schulleiter hatte die kühle Gelassenheit, die James erwartet hatte, aber selbst hinter seiner Halbmondbrille war das belustigte Glitzern in seinen Augen zu erkennen.
Die ganze Show hielt nur für den einen Song. Kaum hatten die Rüstungen die letzte Note gesungen, klappten ihre Arme zusammen, die Lichter am Himmel brannten aus und Stille kehrte zurück in die Halle. Es gab einige, die bereits wussten, wer dafür verantwortlich war; ein paar Gryffindors blickten belustigt (und in einigen Fällen erleichtert) in die Richtung der Rumtreiber, die sich allesamt stolz angrinsten, dass sie mit ihrem Streich, der nicht wirklich ein Streich war, den schlechten Ruf vom letzten Jahr wieder gut machen konnten.
„Ich würde mal sagen, dass lief wie geschmiert“, sagte Sirius grinsend.
„Wie gut Dinge doch enden können“, erwiderte Remus mit einem etwas seichteren Lächeln, aber knallroten Wangen.
James gab Peter ein High-Five. „Tolles Timing, Pete.“
„Ihr wart das?“, zischte Lily skeptisch klingend in ihre Richtung.
„Beeindruckt, Evans?“, fragte James und fuhr sich wie aus dem Reflex durch die Haare, um sie ein wenig unordentlicher, wilder aussehen zu lassen. „Wir können viel mehr als nur Unfug anstellen, weißt du?“
„Das habe ich gesehen“, ertönte die Stimme von Professor McGonagall hinter ihm.
Überrascht wirbelte James herum. „Professor. Hat Ihnen die Show gefallen?“
Unmut breitete sich in ihm aus, als er die typischen, dünnen Lippen seiner Professorin sah. Hinter ihrer Brille betrachtete sie ihn, Sirius, Remus und Peter mit strengen Augen. Die Hände hatte sie hinter dem Rücken verschränkt. „Ein weiteres Mal haben Sie bewiesen, dass Sie alles dafür tun wollen, um die Ruhe eines gemeinsames Fester der Schule zu stören“, sagte sie. „Ich kann wohl nur von Glück reden, dass dieses Jahr nicht in einem weiteren Desaster geendet ist.“ Ihre Augen blieben dabei direkt an Sirius hängen, der unschuldig versuchte dreinzublicken. „Allerdings“, fuhr die Verwandlungslehrerin fort, „scheint es mir, als hätten Sie dieses Mal darauf geachtet, einige… Sicherheitsmaßnahmen anzuwenden, gehe ich richtig in der Annahme? Mr. Lupin?“
„Ja, Professor“, erwiderte Remus rasch. „Sie können sich sicher sein, dass wir – dass ich penibel darauf geachtet habe, dass alles sicher gehen wird. Ich habe selbst jeden einzelnen Feuerwerkskörper kontrolliert, damit nichts schief gehen kann.“
Professor McGonagall nickte. „Sehr löblich, Mr. Lupin. Nun – ein weiteres Mal haben Sie gezeigt, dass mehr in Ihnen allen steckt, als nur der Drang nach Unfug und Regeln brechen. Für die sichere, kreative und beeindruckende Magie, die Sie vier heute an den Tag gelegt haben, erteile ich Ihnen jeweils zwanzig Punkte für Gryffindor.“ Die dünnen Lippen der Professorin verloren etwas an Härte und der Hinweis eines Lächelns erschien auf ihnen. „Hervorragende Wahl der Musik. Professor Dumbledore war mehr als angetan.“
Remus grinste breit und deutete eine Verbeugung an, ehe Sirius einen Arm um seine Schulter warf.
Als hätte die gesamte Schule nur auf Urteil der Lehrerin gewartet, brachen die wartenden Schüler endlich in den wohlverdienten Applaus für die Rumtreiber aus. Selbst Lily stimmte mit ein und schenkte den Rumtreibern ein scheues, kurzes Lächeln, bevor sie sich wieder zu ihren Freundinnen drehte.
„Wir gehen hier irgendwann als Legenden, Leute“, sagte Sirius lautstark über den Applaus. „Verdammte Legenden!“
Chapter 19: 19. Jahr 2: Ungebändigter Aufprall
Chapter Text
In den folgenden Tagen gab es an Hogwarts nur ein einziges Gesprächsthema – das erste Quidditch-Match der Saison, Gryffindor gegen Slytherin. Zu sagen, James wäre aufgeregt, war noch untertrieben. Obwohl er nach außen hin die Ruhe selbst war und oftmals mit den anderen Spielern seines Teams zu sehen war, wo er lachte, Witze riss und Lobpreisungen mit offenen Armen annahm, kannten seine Mitbewohner die Wahrheit. James war ein nervöses Wrack – jeden Morgen wachte er mit dunklen Ringen auf und sah aus, als hätte er mal wieder nur wenige Stunden geschlafen, er war energiegeladen und hibbelig, konnte nicht still sitzen und ging abends gerne ein paar hundert Runden durch den Schlafsaal, sodass er Sirius beinahe zur Weißglut gebracht hätte.
„Komm schon, James“, sagte Sirius mit zerknirschten Zähnen am Donnerstagabend – einen Tag vor Sirius‘ Geburtstag und zwei Tage vor dem Quidditch-Match. „Du hast so viel trainiert, das wird schon. Du bist ein klasse Jäger und dein Team verlässt sich auf dich.“
„Das ist ja das Problem“, meinte James fahrig. Er fuhr sich nervös durch die Haare. „Was ist denn, wenn ich es vermassele? Ich – keine Ahnung, wenn ich den Quaffel ständig fallen lasse oder keine Tore schieße? Dann schmeißt Patrick mich aus dem Team, weil er erkennt, dass ich einfach nur ein Hochstapler bin und –“
„Jetzt halt mal die Luft an“, sagte Sirius, während er James eine Hand auf den Mund presste. „Du hast uns doch erzählt, Patrick hätte gesagt, du würdest besser fliegen als so manche Leute in seinem Team. Jetzt kratz dir mal dein bisschen Gryffindor-Mut zusammen, James. Dann kannst du den Leuten zeigen, dass es die richtige Entscheidung war, dich zum Jäger zu machen.“ James murmelte etwas unverständliches hinter Sirius‘ Hand, aber dieser nahm sie nicht weg. „Genau das wollte ich hören. Und jetzt beweg deinen Hintern ins Bett, sonst klebe ich dich mit dem Dauerklebefluch an deiner Matratze fest. Ja?“
James nickte.
„Gut.“ Sirius nahm die Hand von James‘ Mund und wischte sich den Sabber an seiner Hose ab.
Die Rumtreiber gingen zu Bett und dimmten das Licht. „Danke“, konnte man James‘ Stimme zwischen der Dunkelheit hören.
„Ja, Danke“, sagte auch Monty mit einem unterdrückten Schnauben. „Der geht mir schon die ganze Zeit auf die Nerven.“
„Nicht nur dir“, murrte Remus, wenn er auch mehr Empathie für seinen nervösen Freund empfand.
Der nächste Tag brach kalt, klar und mit einem lauten, einstimmigen, „Happy Birthday!“, an. Obwohl Schlaf in Remus‘ Augenwinkeln klebte und er sich am liebsten zurück in seine Kissen drücken würde, war er seinen Freunden gefolgt, hatte sich vor Sirius‘ Himmelbett platziert und auf James‘ Zeichen hin lautstark die Glückwünsche für den jungen Black gerufen.
„Ihr Ärsche“, brummte Sirius schlaftrunken, setzte sich aber grinsend auf. „Danke, Leute.“
„Dreizehn“, sagte James beeindruckt. „Wie fühlt sich das an?“
„Sehr erwachsen“, erwiderte Sirius. „Ich kann die Weisheit bereits jetzt schon spüren. Jetzt bin ich euch allen sowieso überlegen.“
„Na immerhin ist es ihm nicht zu Kopf gestiegen“, sagte Peter trocken und Monty schnaubte.
„Willst du dein Geschenk?“, fragte James, der so aufgeregt klang, als wäre es sein eigener Geburtstag.
Sirius streckte seine Hände aus. „Natürlich!“
James zog ein schlampig verpacktes Päckchen unter seinem Bett hervor und warf es in Sirius‘ Griff. Der Black-Erbe riss eifrig am Papier, bis er schließlich einen rot-goldenen Schal hervorzog. Nebenbei fielen noch ein paar Schokofrösche heraus. „Ich dachte mir, du könntest ein wenig Haus-Stolz vertragen“, sagte James lächelnd. „Außerdem beißt es sich ganz großartig mit deinen ganzen grünen und schwarzen Sachen von deiner Familie.“
Sirius grinste breit und wickelte sich den Schal lose um den Hals. „Danke, Kumpel. Meine Mum wird ihn hassen.“
Peter hatte Sirius ein breit gefächertes Set aus dem Scherzartikelladen Zonkos gekauft, mit gut zwei Dutzenden Dungbomben, ein paar nasenbeißenden Tassen, Scherzzauberstäben und der neusten Erfindung, ein explodierender Federkiel, der unschuldige Opfer mit Tinte bespritzen würde. Von Monty gab es ein paar Süßigkeiten aus dem Honigtopf und schließlich drehte sich Sirius zu Remus.
„Es ist nicht viel“, sagte Remus mit roten Wangen, der sich sehr wohl bewusst war, dass sein Geschenk das billigste von allen war. „Aber vielleicht gefällt es dir trotzdem…“
„Natürlich wird es das“, meinte Sirius von seinem Kissenthron aus. „Alles, was mir meine Freunde schenken könnten, wird mir gefallen. Mach dir keinen Kopf, Lupin. Zeig schon, was bekomm ich?“
Remus holte ein säuberlich eingepacktes Päckchen aus seiner Kommode. Schlichtes, braunes Papier und eine Schleife aus weißem Band – seine Mutter hatte eben ein Händchen dafür, selbst das kleinste, unbedeutendste Geschenk schön einzupacken. Er war nur froh, dass es rechtzeitig angekommen war. Mit nervösen Fingern überreichte er Sirius sein Geburtstagsgeschenk und beobachtete, wie der Junge vorsichtig das Papier auseinandernahm. Zum Vorschein kam ein kleines, ausgelesenes Buch. Auf dem Umschlag waren zwei junge Leute zu sehen und in dicken, roten Lettern stand Love Story darunter.
„Ein Buch?“
„Ein Muggel-Buch“, korrigierte Remus hastig. „Ich dachte mir, dass du sicherlich noch nie eins gelesen hast und – naja, das ist eins meiner liebsten. Also wollte ich –“, er brach mit heißen Wangen ab. „Du musst es nicht lesen, wenn du nicht willst!“
„Danke“, sagte Sirius laut. Er lächelte schmal. „Ich werd’s auf jeden Fall lesen, sei es nur um meine Mutter in den Wahnsinn zu treiben. Danke, Remus.“
„Kein Problem“, murmelte der junge Werwolf. Er wusste nicht, was genau er sich dabei gedacht hatte, Sirius einen Liebesroman zu schenken. Es war das Lieblingsbuch seiner Mutter, sie hatte es ihm vorgelesen, da war er gerade gebissen worden. Sie wusste nicht, wie sie ihrem Sohn sonst hätte helfen können und eine Liebesgeschichte schien ihr die beste Antwort zu sein, auch wenn sie in Tragödie endete. Das eigentliche Ende hatte Hope Lupin beim Vorlesen immer ausgelassen. Wenn ihr Sohn schon seine eigene Tragödie leben musste, dann wollte sie wenigstens sicherstellen, dass der Rest der Welt glückliche Enden hatte. Sicherlich hätte sie das Spiel lange genug aufrecht erhalten können, wenn Remus nicht angefangen hätte, die Bücher seiner Eltern selbst zu lesen, als er acht Jahre alt war. Die Wahrheit war zwar hart gewesen, aber wenigstens hatte sie Remus auf die Echtheit der Welt besser vorbereitet.
„Jetzt komm ich mir mit meinem Geschenk ziemlich albern vor“, sagte James. „Aber was erwarte ich auch von unserem regelkonformen Bücherwurm, huh?“ Er grinste und schlug Remus auf den Rücken.
„Verzieh dich, Potter“, lachte Remus, wischte seine Hand weg und schüttelte den Kopf. „Mir ist einfach nichts besseres eingefallen“, gab er zu. „Sirius kann sich doch sowieso alles leisten.“
Sirius nickte langsam. „Black-Erbe zu sein hat eben doch Vorteile.“
Die Gruppe Zweitklässler machte sich bereit fürs Frühstück, wo Sirius von weiteren Glückwünschen begrüßt wurde. Schüler, mit denen er noch nie geredet hatten, wollten ihm die Hand schütteln und einige ältere Slytherins kamen mit säuerlichen Mienen herüber, um ihm mit höflicher Stimme einen angenehmen Geburtstag zu wünschen.
„Arschkriecher“, murrte Sirius und stach etwas zu fest in sein Rührei. „Die schleimen sich bei mir ein, weil sie denken, ich würde ein gutes Wort bei meinen Eltern einlegen.“ Er schnaubte lauthals.
Remus fiel auf, dass Sirius‘ Bruder Regulus es ausgiebig vermied, in ihre Richtung zu schauen. Seit das Schuljahr begonnen hatte, hatten die Black-Brüder keine richtige Konversation geführt, zumindest keine von der Remus wusste. Wenn sie sich in den Gängen begegneten, dann nickten sie, um die Existenz des anderen anzuerkennen, aber das war alles, was an Freundlichkeit zwischen den beiden existierte. Remus verstand nicht viel von Geschwister-Beziehungen und wusste, dass James da nicht besser war, aber er vermutete sehr stark, dass Sirius und Regulus sich sonst nicht so verhielten.
Als die Posteulen in die Große Halle flatterten, landete eine elegant aussehende, nachtschwarze Eule vor Sirius, legte ihm einen dicken Briefumschlag auf den Teller und flog dann wieder davon, bevor sie kurzdarauf von einer etwas zerzausten grauen Eule abgelöst wurde, die erst dann wieder davonflog, als Sirius ihr den Brief abgenommen und ihr etwas Brotkruste gefüttert hatte. „Die sind sicher nicht von Mum und Dad“, murmelte er skeptisch und betrachtete die beiden Briefe.
„Mach schon auf“, sagte James aufmunternd. „Oder hast du Angst, dass sie explodieren?“
„Wenn du Teil meiner Familie wärst, dann wüsstest du, dass man bei unbekannten Briefen nie vorsichtig genug sein konnte. Tante Druella hat dutzende explodierende und mit Giften ausgestattete Briefe bekommen, als sie in die Familie geheiratet hat.“ Augenverdrehend hob Sirius den ersten Brief mit spitzen Fingern an.
„Ihr Reinblüter seid alle verrückt“, sagte Peter. „Es ist ein Wunder, dass überhaupt noch genug von euch leben.“
„Glaub mir, Pete, es ist nur eine Frage der Zeit, bis wir uns gegenseitig ausrotten. Die alten Reinblüter lieben ihre Machtspielchen.“ Sirius schlitzte den Umschlag vorsichtig auf und hielt ihn eine Armlänge von sich, aber nichts geschah. „Wenigstens kein Gift“, murmelte er, bevor er dickes, teuer aussehender Briefpapier aus dem Umschlag zog. Sein Gesicht hellte sich sofort auf und ein dickes Grinsen erschien auf seinen Lippen. „Es ist von Onkel Alphard!“
„Onkel wer?“, fragte Peter verwirrt klingend.
„Onkel Alphard“, erklärte James mit einer wegwerfenden Handbewegung. „Er hat einen Muggel geheiratet und wurde dafür vom Familienstammbaum der Blacks gestrichen.“
Sirius starrte ihn mit offenem Mund an. „Woher weißt du das?“, fragte er und schluckte sichtbar.
James warf ihm einen entschuldigenden Blick zu. „Sorry, Kumpel“, meinte er zerknirscht. „Ich hab’s in Zaubertränke von ein paar Slytherins aufgeschnappt. Sie haben sich praktisch das Maul darüber zerrissen.“
„Oh“, sagte Sirius. „Naja, es war wohl nur eine Frage der Zeit, bis sich alle auf den neusten Skandal stürzen.“ Er lächelte schmal und Remus fand, es sah ein wenig zu traurig für ihn aus.
„Was schreibt dein Onkel?“, fragte Remus sanft und leise. „Wünscht er dir nur einen schönen Geburtstag?“
Sirius blickte kurz zu Remus, dann wieder zum Brief in seiner Hand. Der Black-Erbe überflog die Zeilen, dann sagte er überrascht klingend: „Er lädt mich zu sich sein. Zu sich und seinem – seinem Mann.“ Sirius kräuselte die scharfen Augenbrauen und eine kaum zu erkennende Falte schlich sich auf seine Stirn. „Das ist seltsam.“
„Seltsam?“, erwiderte Remus. „Wieso das?“
„Ich kenne meinen Onkel kaum“, erklärte Sirius über das stimmungsvolle Geschnatter in der Halle. Besteckscharren und Gläserklirren füllte die Luft, aber Sirius‘ Stimme war klar zu hören. „Als Reg und ich noch Kinder waren, durften wir ihn immer ein paar Mal besuchen, aber seit er zu sehr an den Muggeln interessiert geworden war, hatte sie es uns verboten. Ich glaube, ich habe ihn seit drei Jahren nicht mehr gesehen und er hat nicht unbedingt versucht, in Kontakt mit uns zu treten. Deswegen…“
„Deswegen?“
„Deswegen wundert es mich, dass er mich jetzt zu sich einlädt“, meinte Sirius nachdenklich. „Warum gerade jetzt?“
Remus zuckte mit den Schultern. „Keine Ahnung. Aber ich finde es nett von ihm“, sagte er langsam, unsicher, ob er damit nicht auf einen falschen Punkt treffen würde. „Vielleicht will er die Möglichkeit nutzen, dass er kein Black mehr ist, um sich wieder mit seinem Neffen anzufreunden.“
Sirius warf Remus einen nachdenklichen Blick zu, einen Zahn auf der Lippe und eine Falte auf der Stirn. „Vielleicht.“ Er blickte zum Slytherintisch, aber es hielt nur den Bruchteil einer Sekunde an, dann hatte er wieder zurückgeschaut. „Wie auch immer. Ist ja nicht so, als könnte ich einfach zu meiner lieben Maman sagen, dass ich den enterbten Onkel besuchen gehe.“
„Du musst es ihr ja nicht sagen, Kumpel“, sagte James.
„Und herausfordern, dass sie es rausfindet und mich dann –“ Sirius schauderte. „Nein, lieber nicht.“
„Es ist ja immer noch deine Entscheidung“, sagte Remus mit sanfter Stimme. Eine Familie wie die Blacks hätte sich Remus in seinen kühnsten Träumen nicht ausdenken können. Alles an ihnen schrie nach Ärger. Blutreinheit und Erhaltung der Magie – die Blacks waren Stoff für die düstersten Geschichten, mit denen man kleinen Kindern das Fürchten lehren könnte, aber sie waren keine kleinen Kinder mehr. Und die Blacks waren keine Figuren aus dunklen Märchen. Sie waren echt und ihre Effekte waren nur allzu deutlich zu erkennen, wenn Remus sich Sirius ansah. Ein steinschweres Gewicht zog an seinem Herzen.
Sirius steckte den Brief grob zurück in seinen Umschlag. „Richtig. Und solange ich nicht über mich selbst bestimmen darf, werde ich Onkel Alphard nicht besuchen können.“ Achselzuckend warf er den Brief in seine Tasche, bevor er den zweiten griff, der noch unbeachtet auf seinem Rührei lag.
„Noch mehr enterbte Verwandtschaft?“, fragte James schief grinsend und fuhr sich durch die Haare. Ein unordentlicher Wirbel stand an seinem Hinterkopf ab, sodass er aussah, als wäre er gerade aus dem Bett gestiegen. Auf dem linken Glas seiner Brille war ein Fingerabdruck zu sehen.
„Liest du meine Post, Potter?“, erwiderte Sirius mit hochgezogener Augenbraue. „Es ist von Andy.“
James rutschte mit dem Ellenbogen vom Tisch. „Deiner Cousine, die letztes Weihnachten die Biege gemacht hat? Oh, wow und ich wollte nur einen Witz machen.“
„Ist eigentlich irgendeiner in deiner Familie normal, Sirius?“, fragte Peter seufzend, der seinen Teller voll Rührei und Speck endlich geleert hatte. Etwas Eigelb klebte an seinem Kinn.
„Ich sag Bescheid, wenn ich jemanden gefunden habe“, grinste Sirius, wobei die perfekt weißen Zähne aufblitzten. Erbe einer alten Reinblutfamilie zu sein, hieß wohl auch, dass alles an einem perfekt war, dachte Remus bitter, während er seinen schiefen Eckzahn mit der Zunge fühlte. „Sie schickt mir liebe Grüße“, sagte Sirius, nachdem er auch den zweiten Brief überflogen hat. „Sie sagt, Ted hätte ihren Antrag angenommen und sie haben sich ein Haus gekauft!“
„Oh, wie aufregend!“, sagte Peter.
„Das ist echt klasse“, meinte auch James.
„Sie sagt, ich soll die Ohren steif halten und durchhalten. Irgendwie will sie, dass wir uns wiedersehen können.“ Sirius lächelte, als er den zweiten Brief zusammenfaltete. „Ich glaube, ich habe das einzig normale Mitglied meiner Familie schon gefunden.“
***
Der alte Muggel-Plattenspieler schwebte eine Handbreit über dem Boden, als Remus ihn mit seinem Zauberstab zur Schalfsaaltür dirigierte. Nur ab und zu hatte er die Gelegenheit, das musikalische Gerät rauszuholen und eine seiner Platten darauf zu spielen, aber jedes Mal schien es, als würde sich die ganze magische Welt noch ein wenig magischer anhören, wenn er die Melodien der Beatles oder die Stimme von Bowie durch den Schlafsaal hallen ließ. Fast so, als würde seine Mutter neben ihm im Schneidersitz auf dem Boden sitzen und zur Musik wippen.
„Ich hätte nie gedacht, dass ich mal selbst meine eigene Party vorbereiten muss“, sagte Sirius halb belustigt, halb grummelnd, während er den Staub von Remus‘ Schallplatten blies.
„Technisch gesehen ist es auch nicht deine Party“, meinte Remus.
Sirius verdrehte die Augen. „Nur weil es eigentlich die Quidditch-Party ist, heißt es nicht, dass es nicht auch meine Party sein kann. Ich meine, ich bin mindestens genauso berühmt wie Quidditch.“
„Na immerhin ist dir dein Black-Erbe nicht zu Kopf gestiegen, man male sich nur aus, wie das sein würde“, erwiderte Remus mit monotoner Stimme, woraufhin Sirius bellend lachen musste.
„Schon gut, Lupin, hab’s ja kapiert. Wer ist das?“, fragte er und deutete mit einem Nicken auf die Platte, die er in der Hand hielt. Darauf war das Gesicht einer jungen, schwarzen Frau zu sehen, deren Augen blau geschminkt waren. Surrender stand in kleinen Lettern über ihrem Gesicht.
„Oh. Das ist Diana Ross.“ Remus konnte sein Lächeln nicht verhindern, als er Sirius‘ beinahe ehrfürchtiges Gesicht sah. „Willst du sie hören?“
„Klar!“
Remus ließ den Plattenspieler vor der Tür stehen und erhob sich. Er nahm die Sirius die Platte ab, legte sie mit vorsichtigen Fingern auf und setzte die Nadel an. Sofort erklangen die fernen, mechanischen Klänge eines Schlagzeugs im Gryffindor-Schlafsaal, dicht gefolgt von der, in Remus‘ bescheidener Meinung, magischen Stimme der Sängerin. Wenn er es nicht besser wissen würde, dann würde er einhundertprozentig davon ausgehen, dass Diana Ross eine Hexe war. Solch eine Stimme konnte nur reine Magie sein.
Ein Blick genügte, damit er wusste, dass Sirius ähnlich dachte. Sein Mund hing leicht offen und er betrachtete mit halb geschlossenen Augen den Plattenspieler, während er sanft zu beiden Seiten wiegte. „Wahnsinn“, hauchte er, als es seine kurze Pause im Lied gab. „Allein dafür würd es sich schon lohnen, ein Muggel zu sein, nicht?“
„Du musst kein Muggel sein, um Musik genießen zu können“, meinte Remus nachdenklich.
Sirius zog eine Grimasse. „Ich müsste ein Muggel sein“, sagte er. „Wenn meine Eltern wüssten, dass ich Muggel-Musik höre und auch noch gut finde, dann würden sie mir wahrscheinlich die Ohren abfluchen.“ Er seufzte kaum hörbar.
„Oh.“
Seine Schultern zuckten für den Moment in die Luft. „Schon gut. Tut mir leid, ich wollte die Stimmung nicht ruinieren.“ Sirius zog seinen Zauberstab und richtete ihn auf den Plattenspieler, woraufhin die Lautstärke der Musik angehoben wurde. Diana Ross‘ singende, sanfte Stimme erfüllte jede Stelle des Schlafsaals und Sirius schloss die Augen. „Ich genieß es einfach, solange ich kann.“
Remus betrachtete Sirius unverblümt, während der andere Junge der Musik lauschte. In Momenten wie diesen war Remus sich sicher, dass irgendwo ein Fehler gemacht wurde. Der Junge, der mit sanftem Gesicht und leicht zum Takt der Musik wippenden Füßen auf dem Boden saß, konnte unmöglich der Erbe einer schwarzmagischen, uralten Familie sein, deren Reinheit das Einzige war, dass ihr wichtig war. Es schien ihm einfach falsch, dass Sirius unter solch harten Bandagen aufwachsen musste – und Remus wusste, was das hieß. Wieso war es ihm nicht vergönnt, die Musik von Muggeln und die Kleidung von Muggeln zu genießen? Wieso musste Sirius auf alles verzichten, was ihm Freude bringen könnte?
Er hatte Sirius‘ Familie nie getroffen, aber wenn er sie jemals zu Gesicht bekommen würde, dann hätte Remus ein paar sehr ausgewählte Worte für sie übrig. Er konnte nicht mitansehen, wie sein bester Freund jeden Tag litt und in einer Welt gefangen war, die ihm keine Erfüllung bot, er konnte nicht mitansehen, wie Sirius die gleichen Werte vertreten musste, die Menschen wie ihn, Remus, aus der Zaubererwelt ausschlossen. Während er die scharf geschnittenen Augenbrauen und die gerade Kieferpartie von Sirius Black betrachtete, fällte der junge Zauberer eine Entscheidung; er würde nicht länger mitansehen, wie seinem besten Freund eine Welt verwehrt wurde, die ihm guttun würde. Er machte sich eine mentale Notiz, dass er bei nächster Gelegenheit nach Hause schreiben würde, bevor er sich vorsichtig räusperte.
„Wir müssen weitermachen.“
Sirius blickte auf, als wäre er aus einer Trance erwacht. Die sanfte Stimme um sie herum verlor an Lautstärke, als er seinen Zauberstab ein weiteres Mal auf den Plattenspieler richtete. „Okay.“ Er erhob sich, schenkte Remus ein flüchtiges, beinahe scheues Lächeln, ehe er mit dem Muggel-Musikgerät aus dem Schlafsaal eilte. „Kommst du auch?“, hallte seine Stimme aus dem schmalen Treppenaufgang wider.
Lächelnd rief Remus zurück: „Bin ja schon unterwegs!“, bevor er sich die restlichen Platten und Sirius‘ neuen Gryffindor-Schal schnappte und den Schlafsaal verließ.
Der Gemeinschaftsraum war bereits für die kommende Party vorbereitet. Die knuddeligen Sessel, die kleinen Tische und selbst die Sofas waren an die Wände geschoben und aufeinander gestapelt worden, sodass genügend Platz zum Tanzen und Feiern wäre. Nahe des Eingangs war ein riesiger Fressstand aufgebaut, mit allem, was der Magen begehren konnte. Irgendjemand – Remus vermutete die Siebtklässler-Zwillinge Gideon und Fabian Prewett – hatte die Küche um Süßigkeiten, süße Säfte und mundgerechte Häppchen erleichtert, sodass der Siegesparty des Quidditchteams in ein paar Stunden nichts mehr im Wege stand. Niemand glaubte daran, dass das Gryffindor-Team verlieren würde – zwar hatten sie seit vier Jahren den Quidditch-Pokal nicht mehr gewonnen, aber das würde den grenzenlosen Optimismus des ganzen Hauses nicht einen Deut ankratzen. Bereits jetzt sahen die älteren Schüler den glänzenden Pokal vor Augen, während die jüngeren sich lediglich darauf freuten, bei einer Party dabei sein zu können.
„Ah, da seid ihr ja“, sagte Vertrauensschüler Frank, der das ganze Aufbau-Prozedere mit Adleraugen beaufsichtigte. „Stellt den in die Ecke, damit niemand auf die Idee kommt, damit rumzuspielen, ja? Danke nochmal, Remus.“
„Kein Thema“, meinte der Junge achselzuckend. „Sieh nur zu, dass er nicht kaputt geht.“
„Du hast uns nie erzählt, wo du das Teil eigentlich her hast“, sagte Sirius nachdenklich klingend, als er Remus half, den Plattenspieler aufzubauen. „Ich bezweifle ja, dass der einfach irgendwo herumlag.“
Remus lächelte spitzbübisch. „Ein wahrer Zauberer erzählt nie seine Geheimnisse, Sirius.“ In Wahrheit wollte er seinen Freunden nur nicht erzählen, dass er den Plattenspieler selbst mitgebracht hatte, in der Hoffnung, dass er so das Heimweh ein wenig lindern könnte. Es wäre nur eine halb so interessante Geschichte, wenn er ihnen das erzählen würde, also blieb Remus dabei, ein Geheimnis daraus zu machen.
„Hinterlistig und gemein, das bist du. Ich glaube ja, sie haben dich ins falsche Haus gesteckt“, murmelte Sirius missmutig klingend, aber ein schwaches Zucken seiner Mundwinkel verriet ihn.
„Red dir das ruhig ein.“
***
Die versprochene und hochangepriesene Siegesfeier nahm den gesamten Gemeinschaftsraum bereits ein, als Remus mit seinen Freunden ankam. Jemand hatte den Plattenspieler angeschmissen und Monkey Man von den Rolling Stones spielte mit dröhnendem Bass und knallendem Schlagzeug in der Luft. Der Geruch von Schweiß und Adrenalin lag in der Luft.
„Ich war absolut miserabel“, beschwerte sich James zum wiederholten Male. „Kein einziges Tor, keins! Patrick sollte mich sofort rausschmeißen. Ich weiß nicht, wieso er mich überhaupt gelobt hat.“
„Weil du fantastisch geflogen bist und kein einziges Mal den Ball verloren hast“, sagte Remus aufmunternd.
„Quaffel“, verbesserte Sirius mit scharfem Grinsen, aber nickte. „Remus hat Recht. Du hast klasse gespielt, James, lass dich nicht davon unterkriegen, dass du nicht sofort jedes Tor geschossen hast.“
James sah nicht so aus, als hätten ihn die Worte seiner Freunde erreicht. „Meint ihr, Patrick hält mich nur im Team, weil der Rest noch schlechter war? Vielleicht bin ich einfach nur der, der am wenigsten schlecht war und –“
Weiter kam er nicht, denn Sirius‘ freie Handfläche war mit seiner Wange kollidiert. „Reiß dich mal zusammen, Potter“, sagte der Black-Erbe mit lauter Stimme. „Das ist ja erbärmlich. Benimmt sich etwa so ein echter Gryffindor?“
James starrte ihn mit aufgerissenen Augen an, Peter und Remus taten es ihm nach. Als Sirius das Kinn reckte, erschien ein beinahe erleichtertes Grinsen auf James‘ Lippen. „Weißt du was? Ja. Du hast Recht. Ich meine“, er presste die Brust hervor, sein Quidditch-Trikot wie ein flammend roter Feuerball im gemütlichen Gemeinschaftsraum, „ich bin James Fleamont Potter!“
„So kennen wir ihn“, meinte Sirius. „Schön zu wissen, dass du doch nicht zu viele Klatscher an den Kopf bekommen hast.“
„Danke, Kumpel“, erwiderte James, der einen stolzen Gesichtsausdruck aufgesetzt hatte. „Du hast ja Recht. Es gibt nichts, wofür ich mich schämen müsste. Immerhin haben wir das erste Spiel der Saison nicht nur gewonnen, wir haben Slytherin vernichtend geschlagen. Zerstört, haben wir sie. Ich hoffe, es wird diese schmierigen Schlangen lehren, dass sie sich nicht mit uns anlegen sollten.“
„Sicherlich wird die Memo nicht bei Schniefelus angekommen sein“, murmelte Peter missbilligend, auch wenn seine Stimme fast in der drögen Musik des Plattenspielers unterging, der jede Ecke ausfüllte.
Lautes Lachen und Jubeln erfüllte die Luft. Musik und das Klirren von Glasflaschen hingen wie zwei schwebende Schwestern über ihren Köpfen, eine nie ganz ohne die andere. Es war fast, als hätten die Rolling Stones das enthusiastische Aneinanderklopfen von Butterbierflaschen selbst in ihre Lieder geschrieben. Ein paar der älteren Schüler saßen um ein offenes Fenster herum, dicht aneinander gedrängt und verdächtiger Rauch strömte über ihre Köpfe in die kühle Herbstluft. Remus kannte sich nicht besonders gut mit den Vergnügungsdrogen der jungen Heranwachsenden aus, aber er vermutete stark, dass es sich dabei nicht nur um einfache Zigaretten handelte, die man an jeder Muggel-Tankstelle kaufen konnte.
Der unverwechselbare Geruch von verschüttetem, billigen Alkohol, trübem Rauch und dem vereinten Schweiß von gut drei Dutzend euphorisch jubelnden Teenagern hatte die sonst herbstlich duftende Gemeinschaftsraumluft verpestet. Stummel von bereits aufgerauchten Muggel-Zigaretten, Butterbierkorken und ein paar frühzeitig ausgezogenen T-Shirts bedeckten den Boden, hingen über Sessellehnen oder waren in die Ecken gestopft. Ältere Schülerinnen hatten sich ausgiebig geschminkt und ihre Hemden über ihrem Bauchnabel zusammengeknotet, ältere Schüler hingegen hatten ihre Hemden ganz verloren oder hatten die Schuluniform gegen sportliche Trikots und Achselshirts getauscht, wodurch eine lockere Stimmung überall herrschte, auch wenn einige der jüngeren Schüler immer wieder irritierte Blicke zu ihren älteren Mitschülern warfen. Keiner von ihnen hatte jemals solch eine ausgelassene Stimmung bei den Gryffindors gesehen – nicht nur waren die Erstklässler das letzte Jahr bei keiner der Partys erlaubt gewesen, das Gryffindor-Quidditch-Team hatte seit vier Jahren kein so gutes Spiel mehr gehabt. Nur deswegen durften Remus und seine Freunde, sowie die anderen Zweitklässler, überhaupt teilnehmen.
„Schniefelus wird schon bekommen, was er verdient“, sagte Sirius ausweichend. „Aber heute will ich gar nicht erst über seine öligen Haare nachdenken, okay? Lasst uns einfach Spaß haben.“
„Hört, hört“, erwiderte James. „Ihr habt den Mann gehört, Leute. Auf, auf in die Masse! Ich will unbedingt ein Butterbier.“
Obwohl die Party am frühen Nachmittag begonnen hatte, fühlte es sich bereits zur Zeit des Abendessens so an, als hätten sie tagelang durchgefeiert. Nur wenige Gryffindors verlassen die brüllende Feier, die im Gemeinschaftsraum wütet, um sich in der Großen Halle zu stärken und obwohl die Hauslehrerin, Professor McGonagall, gegen den frühen Abend vorbeigekommen und alle an die Ruhezeiten im Schloss erinnert hatte, war niemand auch nur ansatzweise auf die Idee gekommen, bereits zu Bett zu gehen. So wie Remus es mitbekommen hatte, wollten die Älteren die ganze Nacht durchmachen, um dann den Sonntag zu nutzen, um Schlaf nachzuholen und alkoholinduzierte Kater auszunüchtern.
James und Sirius hatten sich zu den Quidditch-Spielern und Enthusiasten begeben, wo James für sein gutes Fliegen gelobt wurde, Peter hatte es sich gemeinsam mit Mary bei den Tischen voll mit Snacks und Süßkram gemütlich gemacht und Remus war dazu übergegangen, auf einem der knautschigen Sessel zu sitzen, die noch nicht mit verschüttetem Butterbier verklebt waren. Er hatte einen schmalen Pappteller voll mit süßen Knabbereien auf dem Schoß, den Peter ihm in die Hand gepresst hatte und eine fast geleerte Butterbierflasche in der Hand, von der er nicht mehr wusste, wer sie ihm gegeben hatte. Das süß-warme Gebräu erhitzte seinen gesamten Körper aus dem Inneren heraus und verpasste ihm seltsame Glücksgefühle, die er nicht ganz zuordnen konnte. Ein paar Mal wurde ihm Feuerwhisky oder billiger Muggel-Fusel angeboten, aber Remus hatte höflich abgelehnt. Er fand, zwölf war ein wenig zu früh, um mit dem Trinken anzufangen und war sich sicher, dass keiner der bereits betrunkenen älteren Schüler ihm Alkohol angeboten hätten, hätten sie noch einen klaren Kopf.
„Wieso überrascht es mich nicht, dass ich dich hier ganz allein vorfinde?“ Marlene kam wie aus dem Nichts, setzte sich auf die Armlehne seines Sessels und stibitzte sich ein Schokoladengebäck von seinem Teller. „Lily und du seid euch eben doch ähnlicher, als sie im Moment zugeben will.“
Remus hob überrascht eine Augenbraue. „Wie das?“
„Oh, sie hat sich vor ein paar Stunden schon in den Schlafsaal zurückgezogen“, meinte Marlene mit dem Mund voll Schokolade. „Sie hat gesagt, sie muss noch Hausaufgaben machen, aber ich glaube, sie hatte einfach keine Lust mehr darauf, noch jemandem in die Arme zu laufen, der ihr lautstark erklären wollte, wie gut Potter sich auf dem Besen gemacht hat.“ Ein wenig säuerliche Härte hatte sich in ihre Stimme geschlichen, aber Remus befand, dass er nicht darauf eingehen würde, dass Marlene augenscheinlich noch immer nicht gut auf James zu sprechen war.
„Wie schade“, sagte Remus. „Sie verpasst die ganze Party nur deswegen?“
„Du müsstest wissen, dass sie die Ruhe vorzieht. Lily ist eben ganz eigen.“
Lächelnd meinte er: „Da ist sie nicht die einzige.“ Sein Blick fiel auf Sirius, der sich seine Krawatte um die Stirn gebunden und gerade eine Geschichte erzählte, wobei er sehr wild gestikulierte und die Augen aller Umstehenden auf sich zog. Ein heißer Knoten wand sich in seinen Eingeweiden.
„Ihr seid alle schon ziemlich eigen“, kommentierte Marlene, die seinem Blick gefolgt war. „Aber warum bist du nicht bei ihnen? Man sieht dich doch sonst nur in Sirius und James‘ Schatten.“
„Manchmal ziehe ich ein wenig Einsamkeit und Ruhe vor“ erwiderte er. „Ist einfach hilfreicher, wenn man die eigenen Gedanken nicht mehr hören kann, weißt du?“
„Nicht wirklich.“ Marlene zog eine Grimasse. „Aber was immer dich glücklich macht, schätze ich.“ Ihr Blick lag immer noch auf James und Sirius, die die ganze Aufmerksamkeit von den älteren Schülern aufsogen, als wären sie Pflanzenkeime, die sich nach dem Sonnenlicht streckten. „Immer eine Show mit den beiden, oder?“
„Sie können es nicht lassen“, sagte Remus achselzuckend. „Ich glaube, sie gehen ein, wenn man ihnen keine Aufmerksamkeit schenkt.“
„Und dabei wird ihr Ego nur noch mehr gefüttert. Wenn ich noch einmal hören muss, dass Potter der beste Zweitklässler auf einem Besen jemals war, dann werf ich mich aus dem Fenster.“ Marlene gab einen leisen, grummelnden Laut von sich, bevor sie ein weiteres Schokogebäck von Remus‘ Teller klaute. „Ich kann ihn ja sogar gut leiden, aber irgendwann ist die Grenze auch erreicht.“
„Man lernt, damit umzugehen, dass die ganze Welt James und Sirius zu Füßen liegt, wenn sie die Münder öffnen“, entgegnete Remus, bevor er sich selbst ein kleines Gebäck in den Mund warf. „Immerhin hilft es, wenn man selbst nicht entdeckt werden will.“
Marlene warf ihm einen belustigten Blick zu. „Ich seh schon, während Potter und Black die Aufmerksamkeit auf sich ziehen, können du und Peter die eigentlichen Pläne ausführen und die Schule mal wieder ein ganzes Frühstück lang ins Chaos stürzen.“
Remus grinste. „Ich sage gar nichts.“
„Wusste ich es doch. Die wahren Superhirne seid eigentlich ihr beide und Potter und Black sind lediglich eure Marionetten.“ Marlene nickte verstehend. „Alles ergibt so viel mehr Sinn.“
In keiner Welt wäre es möglich, dass diese Erklärung zutreffen würde, fand Remus belustigt. James und Sirius waren, so sicher war er sich, der einzige Grund, wieso Remus überhaupt Freunde an der Schule hatte und nicht jeden Tag mit der Nase in einem weiteren Buch stecken würde. Wären James und Sirius nicht so hartnäckig gewesen, dann würde er wahrscheinlich jetzt ebenfalls allein in seinem Schlafsaal hocken und den Aufsatz über Geschichte der Zauberei fein säuberlich aufschreiben, während der Rest seines Hauses die Party ihres Lebens feierte. Selbst seine und Peters Ideen kombiniert kamen nicht an das Genie heran, dass sich in James‘ Kopf befand und keiner von ihnen würde jemals so viel über Magie, Flüche und magische Familienbräuche wissen wie Sirius. Ein jeder von ihnen war ein kleines Zahnrad im Getriebe der Rumtreiber und schon das Fehlen eines einzigen Rades würde das Ende für ihre Gruppe bedeuten. Remus konnte sich keine Welt mehr ausmalen, in der er nicht mit James, Sirius und Peter befreundet war. Sie wussten, dass er ein Werwolf war und hatten ihn nicht fallen lassen. Solche Freunde würde er nie wieder finden.
„Ich versteh eure Freundschaft nicht“, sagte Marlene nach kurzer Pause, die sie Sirius und James stumm beobachtet hatte. „Aber ich glaube, das muss ich auch nicht. Sie behandeln dich und Pettigrew gut, ja?“
Überrascht blickte er sie an. „Sie sind die besten Freunde, die ich mir jemals hätte erträumen können“, gab er zu. „Keiner hat mich besser behandelt als die beiden.“
Marlene nickte. „Dann ist das gut. Ich muss diese seltsame Freundschaft nicht verstehen, die ihr habt, solange ihr gut füreinander seid.“ Lächelnd klaute sie sich ein letztes Mal ein Schokogebäck von Remus‘ Teller und schwang dann die Beine von der Sessellehne. „Sieh nur zu, dass es auch so bleibt, ja?“ Ein weiteres Mal biss sie von der Süßigkeit ab. „Ich werde jetzt wieder Spaß auf der Party haben, so wie du es auch solltest, Rem.“
„Rem?“
Statt zu antworten, lachte Marlene, bevor sie sich abwand und zwischen den schwitzenden, feiernden Körpern der Gryffindors hindurchquetschte und schließlich aus seinem Blickfeld verschwand.
Er fing Sirius‘ Blick über den halben Gemeinschaftsraum hinweg ein, ein Brennen in dessen sturmgrauen Augen und mit einem breiten Grinsen schwang Remus sich ebenfalls vom Sessel, um sich zu seinen besten Freunde zu gesellen.
***
Es hatten nur einige, wenige Minuten gefehlt, dann hätte die Uhr Mitternacht geschlagen und die Gryffindor-Siegesfeier wäre ohne einen Zwischenfall ausgekommen. Ein paar unschuldige Minuten mehr und Remus wäre zu Bett gegangen, ohne einen Gedanken daran zu verschwenden, auf wessen Seite er sich jetzt stellen musste.
In seinem Versuch, Lily mit einer diplomatischen Geste entgegenzukommen, hatte er nur alles schlimmer gemacht, als es ohnehin schon gewesen war. Es sollte ein Friedensangebot sein, ein Lass uns unseren dummen Streit vergessen und wieder Freunde sein-Geschenk. Remus hatte den Teller voll mit Lilys Lieblingssüßigkeiten selbst zusammengestellt (Waldmeisterbonbons, von denen sie erzählt hatte, dass ihr Vater ihr immer welche schenkte, wenn er länger von zu Hause weg war, schokoladenüberzogene Brezeln und, damit sie nicht vergaß, dass sie an einer magischen Schule befand, ein paar Bertie Botts Bohnen, von denen Remus hoffte, dass sie keine widerwärtigen Sorten sein würden), hatte ihr eigenhändig ein Glas voll mit dem süßen Erdbeerpunsch gefüllt und Marlene gebeten, ihre Mitschülerin aus ihrem Schlafsaal zu holen. Alles wäre so ausgegangen, wie Remus es sich vorgestellt hatte, wenn da nicht James gewesen wäre.
„Was soll das werden“, hatte Lily gefragt, die Arme fest vor der Brust verschränkt, ein roter Schimmer auf ihren Wangen. „Ich rede nicht mit dir, Remus.“
„Lily, ich hab dir doch schon gesagt –“
„Ich gehe wieder nach oben, Marlene.“ Lily hatte sich zur Seite gedreht, um ihre Freundin anzufunkeln, die sie direkt in die Arme ihres Feindes geführt hatte, als James den ungünstigsten Moment überhaupt gewählt hatte, einen geklauten Quaffel zu werfen.
Der rote Lederball traf Lily in der Brust, ließ sie überrascht zurücktaumeln und führte dazu, dass sie sowohl Teller als auch Becher mit pinkem Punsch fallen ließ. Geschmolzene Schokolade und Erdbeerpunsch verteilten sich auf ihrer schneeweißen Bluse und zu allem Übel fiel Lily auch noch hin.
Remus hatte erwartet, dass die Musik aufhören würde zu spielen und alles um sie herum, lautlos werden würde, aber mitnichten; die Geräusche der Party hatten nicht aufgehört, nur weil eine Zweitklässlerin hingefallen war. Mit fleckigem Gesicht und noch fleckigerer Bluse hatte Lily sich wutentbrannt aufgerappelt und der Plan, wieder in ihrem Schlafsaal zu verschwinden, schien vergessen gewesen zu sein. Ein Moment der Ruhe vor dem Sturm, ein paar wenige Sekunden, in denen Remus sich hatte vorbereiten können und in den James mit aufgerissenen Augen beobachtet hatte, wie die zornesrote Lily Evans auf ihn zugestapft kam, dann war es explodiert.
„James Potter, du ignorantes Arschloch!“, brach es aus Lily hervor, brennende Augen und tropfende Bluse, gut einen Kopf kleiner als James und doch schaffte sie es, dass sich die halbe Party zu ihr umdrehte. „Wann lernst du endlich, dass sich die Welt nicht nur um dich dreht!?“
„Woah, hey, Evans, ganz ruhig, es war ein Unfall“, sagte James mit hochgehaltenen Händen, während er einen Schritt zurückwich. „Tut mir leid, okay, hier, ich –“
„Nein!“, schrie sie mit Zornestränen in den Augenwinkeln. Ihre Augen sahen aus wie ein brennender Urwald. Statt James ausreden zu lassen, zückte sie ihren Zauberstab und richtete ihn auf sein bleich gewordenes Gesicht. „Du wirst mir jetzt zuhören, du arroganter, mieser, blöder Tölpel! Ich kann nicht fassen, wie du immer mit allem durch kommst! Kaum denkst du, du wärst ein großer Quidditch-Star, trägt man dich auf Händen, wie ein blöder, kleiner Prinz! Ich hasse dich, Potter, ich hasse, hasse, hasse dich!“ Lilys Stimme wurde immer schriller, während ihr Gesicht immer mehr Farbe annahm, bis es ihren dunkelroten Haaren starke Konkurrenz machte.
Wenn Remus in James‘ Schuhen stecken würde, dann würde er wohl den Kopf senken und sie schreien lassen, am besten nicht einmal daran denken, ein Widerwort zu geben, aber James war gänzlich anders gestrickt. Vielleicht war es der Gryffindormut, den Remus bei sich manchmal noch suchte.
Ein zähnezeigendes Grinsen war auf James‘ Lippen erschienen. „Hab noch nie mitbekommen, wie hübsch du bist, Evans“, sagte er mit dem Hochmut eines kürzlich am Himmel kratzenden Sportlers. Eine seiner Hände fuhr in seine mattschwarzen Haare, wo sie in den Untiefen der Unruhe stecken blieb. „Wenn wir nächstes Jahr nach Hogsmeade gehen dürfen, würdest du mich dann begleiten?“
„Oh Gott“, hauchte Marlene schreckgebleicht, die Finger vor den Mund gehoben. „Will der Kerl sterben?“
„Er ist ein übergroßer Idiot“, gab Remus mit einer Hand auf der Stirn zu.
Die Schüler um ihn herum, die ebenfalls den Streit der beiden Zweitklässler beobachteten, schienen sich entweder dieselbe Frage zu stellen oder die gleiche Antwort zu haben. Einige lachten leise, andere hoben beeindruckt die Augenbrauen, ein paar andere wichen etwas zurück. Sie alle einigten sich aber darauf, nicht die Augen von den beiden Gryffindors zu nehmen, die einen Zuschauerkreis um sich gebildet hatten. Im Hintergrund dröhnte noch immer der Plattenspieler und der Refrain zu Rock 'n' Roll Suicide füllte die stillen Ecken, die auf den letzten, messerscharfen Ton von Lily warteten.
Lily, genauso überrascht und geschockt von James‘ Antwort, starrte den schwarzhaarigen Jungen für ein paar Momente an. Ihr Mund öffnete sich ein, zwei, drei Mal, aber sie kam zu keiner Antwort. Die roten Flecken auf ihrem Gesicht wurden nur von noch blasseren Stellen abgelöst, die ihren Unglaube verstärkten. Erst als auf James‘ Lippe ein zweites, noch breiteres Grinsen erschien, das jedem anderen das Herz etwas höher schlagen ließ, kam Lily dazu, ihre Stimme wiederzufinden. „Ich würde auch nicht in einer Million Jahre daran denken, mit dir auszugehen, Potter“, spuckte sie aus, eine Mischung aus Ärger und Horror in der Stimme. „Dein riesiger, aufgeblasener Kopf würde doch sowieso nicht ins Dorf passen!“
Gedämpftes Gelächter füllte Remus‘ Ohren, als er sich eine Hand vor den Mund presste, um sein eigenes belustigtes Schnauben zu unterdrücken – Remus fühlte sich schlecht, dass er darüber lachte, dass er eine Beleidigung über seinen besten Freund lustig fand, aber er konnte sein Lachen nicht herunterschlucken. Lily hatte selbstverständlich übertrieben, aber der Ausdruck auf James‘ Gesicht war genug Beweis, dass es dort getroffen hatte, wo sie hingezielt hatte.
James‘ Lächeln schwankte, als er scheinbar nach einer Antwort suchte. Ein Zucken flog durch seine Augenbrauen, bevor es in seinen Mundwinkel festhing. „Eine scharfe Zunge, Evans“, kommentierte er, seine Stimme ein wenig dünner als sonst. „Vielleicht sollten wir dich zur neuen Kommentatorin machen“, überlegte er laut. „Du würdest jedes Spiel zu einem ganz neuen Spektakel machen.“
Lily Evans sah aus, als würde sie jeden Moment in die Luft gehen wie ein überhitzter Teekessel. „Du –“, fing sie mit lauter, schriller Stimme an, aber unterbrach sich selbst. Ihr Stab, den sie nach wie vor auf James‘ Gesicht gerichtet hatte, flog zur Seite und im Gelächter und Gemurmel der anderen Schüler ging ihr Zauber unter, aber jeder konnte sehen, was sie vorhatte. Die bauchige Punschschüssel erhob sich von ihrem Tisch, schwebte über den Köpfen der schaulustigen Partygänger, bevor sie direkt über James‘ chaotischen Haaren innehielt. Lily zuckte mit dem Handgelenk und die Schüssel kippte ihren Inhalt über den Jungen.
Rosaroter Erdbeerpunsch ergoss sich in einer laut-platschenden Kaskade über James‘ Kopf, der erschrocken aufschrie. Er stolperte nach hinten und ahmte Lilys Fall nach. Kaum war er auf seinem Hintern aufgekommen, richtete Lily ihren Stab ein weiteres Mal auf ihn. „Du kannst froh sein, dass ich den Flederwichtfluch noch nicht beherrsche, ansonsten würde ich ihn dir jetzt ein Dutzend Mal auf den Hals hängen. Lass mich endlich in Ruhe, Potter!“
Was für James in gutem Spaß angefangen hatte, endete in rasender Wut seinerseits. Mit klitschnassen Haaren, getränkt in klebrigem Wasser, rappelte er sich vom rutschigen Boden auf. Er hatte seinen eigenen Stab gezückt.
Remus war bereits einige Schritt auf die beiden streitenden Zweitklässler zugegangen – Sirius und Peter ebenfalls, die von der anderen Seite des Geschehnisses zugesehen hatten – als eine tiefe Stimme durch den gesamten Gemeinschaftsraum rumorte. Der Plattenspieler kratzte einmal, dann hörte auch die Musik auf und tränkte die Schülerschaft in kurzzeitige Stille, in der der heftige Atem James‘ das lauteste Geräusch war. „Was glaubt ihr eigentlich, was ihr hier macht?!“, rief Frank Longbottom donnernd.
Das sonst so gutmütige Gesicht des Gryffindor-Vertrauensschülers war in Wut getaucht. Rote Flecken bedeckten seine Haut und es war offensichtlich, dass auch er einige Butterbier intus hatte, aber er drückte den Rücken gerade durch und drängte sich mit erhobenem Kinn durch die Schaulustigen. Vor James und Lily, beide in Erdbeerpunsch getränkt und ein jeder mit einer zornigeren Miene ausgestattet, baute er sich zu voller Größe auf, womit er selbst Hagrid ziemliche Konkurrenz machen würde. Obwohl seine Aufmerksamkeit auf den beiden Streitenden lag, fühlte Remus sich eingeschüchtert und schlich sich wieder zurück neben Marlene, die mit weißem Gesicht beobachtete, wie Frank James und Lily anstarrte.
„Will mir jemand mal erklären, was hier los ist?“, verlangte er laut, als keiner der beiden sprach.
„Potter hat –“
„Evans ist total –“
Die beiden hatten gleichzeitig angefangen, aber Frank schien bereits genug gehört zu haben. „Ruhe!“, donnerte er. „Fünfzig Punkte Abzug für Gryffindor, für kindisches Verhalten und das absichtliche Verunstaltens des Gemeinschaftsraumes. Außerdem zwei Wochen Nachsitzen für jeden von euch!“ Frank stierte die beiden Zweitklässler an, ein steinharter Ausdruck in seinen Augen, ehe seine Miene ein wenig sanfter wurde. „Wenn ihr ein Problem miteinander habt, dann redet wie normale Menschen darüber und macht nicht – das!“ Er deutete auf den feuchten Fußboden und die friedlich schwebende Schüssel über ihnen, die noch immer an die letzten Tropfen Punsch festhielt. „Und jetzt verschwindet, geht in eure Schlafsäle und macht euch sauber.“
Weder James noch Lily protestierten, als Frank sie mit dem Finger zu den Treppen scheuchte. Stillschweigend stiegen sie die Stufen hinauf und es erklang kein Wort von ihnen, bis das Zuschlagen zweier Türen ankündigte, dass sie der Anweisung des Vertrauensschülers gefolgt waren. Frank ließ die Punschschüssel zurück auf ihren Platz schweben und säuberte das feuchte Chaos auf dem weichen Teppich mit dem Schlenker seines Zauberstabs. Mit roten Wangen wandte er sich an die stille Schülerschaft.
„Die Party ist zu Ende. Ab ins Bett, keine Widerrede, von niemandem, kapiert?“ Als lediglich Stille als Antwort kam, fügte er mit knurrender Stimme: „Los!“, hinzu.
„Das ging wohl nach hinten los“, murmelte Marlene kaum hörbar über das plötzliche Trappeln der Schülerfüße um sie herum. „Tut mir leid, Remus.“
„Schon gut“, sagte er lahm. Sein Gesicht fühlte sich klamm an und er hatte ein wenig Scheu, in seinen Schlafsaal zurückzukehren. „Sag Lily bitte, dass das nicht meine Absicht war. Ich rede – ich werde nach James sehen.“
Marlene nickte knapp, bevor sie sich für die Nacht verabschiedete.
„Ich wusste ja, dass Gryffindor-Partys die Tendenz haben, chaotisch zu werden“, war Sirius‘ Begrüßung, als sie sich halbwegs die Treppe hinauf trafen, „aber das ist sogar für unsere Verhältnisse echt nach hinten losgegangen.“
„Aber es war doch ein Versehen, oder nicht?“, fragte Peter vorsichtig. Seine Stirn war mit dünnen Schweißperlen benetzt. „James hatte ja nicht vor, Lily umzuwerfen, richtig?“
„Davon gehe ich aus“, erwiderte Remus. Sein schlechtes Gewissen knisterte in seinen Ohren. Hätte er Lily doch nur in Ruhe gelassen…
„Keine Sorge“, sagte Sirius in seiner lässig-lockeren Art, als sie vor der Schlafsaaltür stehen blieben. „James wird sich davon schon nicht unterkriegen lassen. Immerhin ist er jetzt ein Quidditch-Star, ein mieser Streit mit Evans wird ihn schon nicht in den Wahnsinn treiben.“ Sirius legte eine Hand an die Türklinke, aber drückte sie nicht sofort herunter. „Oder nicht?“, fragte er unsicher klingend über die Schulter. Ein sorgenvoller Schleier lag über seinen dunkelgrauen Augen.
Remus wusste keine Antwort, also zuckte er lediglich mit den Achseln. Er gab Sirius einen schwachen Anstoß und dieser öffnete schließlich die Schlafsaaltür. Im Inneren wurden sie von der gleißenden Beleuchtung aller Lampen begrüßt. Ein Fenster war aufgeworfen und kühle Abendluft wehte hinein.
Auf dem Boden vor seinem Bett saß James, die Brille besprenkelt mit pinkem Punsch. Er blickte nicht auf, als Remus mit den anderen eintrat, aber er sprach. „Ich weiß nicht, was da über mich gekommen ist“, murmelte er miserabel klingend. „Ich wollte gar nicht so reagieren. Ich – keine Ahnung, warum ich auf einmal so ein Idiot war.“
Unerwartet über die Ehrlichkeit seines Freundes konnte Remus für einen Augenblick nicht anders, als mit offenem Mund zu starren. Erst dann sagte er: „Ich glaube, euch beiden sind Dinge rausgerutscht, die ihr nicht sagen wolltet.“
„Kein Grund zu Lügen, Remus“, murmelte James und blickte auf. Ein eher erzwungenes Lächeln lag auf seinen Lippen. „Evans hat sicherlich nicht gelogen, als sie mehrmals betont hat, dass sie mich hasst.“
„Komm schon“, sagte Sirius lauter, „du willst dich ernsthaft davon unterkriegen lassen, was sie sagt? Sie hat doch keine Ahnung, wovon sie redet. James, glaub mir, wenn ich sage, dass, wenn ich nächstes Jahr keine Dates für die Hogsmeade-Wochenenden bekommen sollte, ich mit übergroßer Freude mit dir gehen werde.“
James lachte nicht. „Danke, Kumpel“, sagte er humorlos, mattes Glänzen in seinen sonst so spitzbübischen Augen. „Ich glaub, ich werd duschen gehen.“ Er rappelte sich vom Boden auf, blieb aber stehen, als er bei seinen Freunden ankam. „Tolle Party“, meinte er lahm. Er hob eine Hand und sie landete überraschenderweise auf Remus‘ Schulter. „Tut mir leid.“
„Was?“, fragte Remus. „Wieso?“
„Tut mir leid“, wiederholte James, „dass ich deine Entschuldigung bei Evans vermasselt hab. Wollt ich nicht.“
„Oh.“
Hätten Remus, Peter oder Sirius auch nur ansatzweise die Reflexe von James gehabt, dann hätten sie ihn sicherlich noch aufhalten können, bevor er ins Badezimmer verschwunden wäre. Das Klicken einer verschlossenen Tür klingelte in Remus‘ Ohren nach, bevor das Wasser lauthals im anderen Zimmer anfing zu rauschen.
„Mann“, sagte Sirius Minuten später. Er saß auf seinem Bett, aber hatte sich nicht die Mühe gemacht, sich aus seinen Partyklamotten zu schälen. „Mann, ich hab James noch nie so niedergeschlagen gesehen.“
Ein säuerlicher Geruch von vorpubertärem Schweiß lag in der Luft, den Remus nur dank seiner verschärften Wolfssinne wahrnahm. Immerhin konnte er kein sanftes Schluchzen aus dem Badezimmer hören. „Ich auch nicht“, sagte Remus vorsichtig. Er stand noch immer dort, wo James ihm eine Hand auf die Schulter gelegt hatte, als wäre er am Boden festgewachsen. „Ich hätte auch nicht gedacht, dass es ihn so mitnimmt. So war er noch nicht mal drauf, als er sich mit Schniefelus fast in der Großen Halle duelliert hat.“
„Ich glaube“, piepte Peter auf, „ich glaube, James mag Lily.“ Seine runden, blauen Augen scannten den Schlafsaal.
„Du bist verrückt, Peter“, sagte Sirius und warf ein Kissen nach ihm. „James mag sie nicht, James mag überhaupt keine Mädchen.“ Ein roter Schleier schlich sich auf Sirius‘ Wangen.
„Oh, okay“, murmelte Peter, der sich in seinem Bett sehr schmal und klein machte.
Remus allerdings blickte an die Decke und konnte ein Lächeln nicht verhindern. Es würde so viel erklären, dachte er. Das ständige Anfeinden, James‘ Art, sich zum Trottel zu machen, wann immer Lily in der Nähe war, selbst die Haare, die er sich immer unordentlicher machte, wann immer der temperamentvolle Rotschopf mit ihm sprach; in Gedanken gab Remus Peter Recht und er wusste, dass Sirius es auch wusste.
James Potter hatte einen Narren an Lily Evans gefressen.
Chapter 20: 20. Jahr 2: Unsinnige Rache
Chapter Text
Lily Evans konnte James Potter nicht ausstehen, vielen herzlichen Dank auch.
In ihrer bescheidenen Meinung war er ein aufgeblasener, ignoranter Trottel, der den Kopf zu hoch in den Wolken trug. Anfängliche Sympathiepunkte hatte der schwarzhaarige, bebrillte Junge schon längst wieder mit seiner schrecklichen Art verspielt und Lily bezweifelte, dass sie sich jemals wieder in einem Raum mit ihm befinden würde, ohne ihn verhexen oder mit bösen Blicken verfluchen zu wollen. Jedes Mal, wenn Potter den Mund öffnete, verspürte Lily den Urzorn einer jeden Frau in sich aufwallen, der bereits ein Unrecht angetan wurde.
Lily sah sich natürlich im Recht. Sie hatte versucht mit Potter und seinen Kumpanen klarzukommen, hatte versucht freundlich zu ihnen zu sein. Hatte gedacht, es läge nur daran, dass sie muggelgeboren war, dass sie nicht sofort mit den Zaubererkindern klar kam und Meinungsunterschiede hatte. Sie hatte gedacht, sie wäre mit Remus Lupin befreundet gewesen, sie wäre sogar soweit gegangen, zu sagen, dass sie sich mit dem etwas schüchternen Peter Pettigrew gut verstand, aber mit James Potter und Sirius Black geriet sie immer wieder aneinander. Spätestens nach dem absolut fiesen Streich, den Potter und seine Bande Sev gespielt hatten, war es für Lily vorbei mit Nettigkeiten und Entschuldigungen. Oh nein, jetzt war sie wütend. Harmlose Scherze konnte sie noch verzeihen, aber traumatische Streiche, die Severus vor Demütigung zitternd zurückließen nicht. Marlene und die anderen hatten Recht - wenn Lily sie nicht zur Rechenschaft ziehen würde, dann würde es niemand tun.
Wenn Lily ehrlich war, dann hatte sie gehofft, jemand anderes würde etwas tun, aber darauf würde sie wohl lange warten können - die ganze Schule schien James Potter aus der Hand zu fressen. Es hatte etwas mit seiner Familie zu tun, soviel hatte sie verstanden, aber bisher hatte sie nicht kapiert, was das ganze Gerede von der Heiligen Achtundzwanzig bedeuten sollte. Was sollte schon so besonders daran sein, dass in einer Familie nur Zauberer und Hexen mit reinem Blut waren? Lily war trotzdem Klassenbeste und darauf bildete sie sich auch etwas ein, wenn das bedeutete, dass sie Reinblüter wie Sirius Black oder Enis Mulciber in Zaubertränke und Verwandlung überbot. Lily wusste, dass sie eine gute Hexe war und sie hatte eine Verbindung zu ihrer Magie, die die meisten Reinblutkinder nie nachvollziehen könnten, also warum sollte sie sich schlecht fühlen, aus einer magielosen Familie zu kommen? Wenn dann war es nur der Antrieb, den sie benötigte, um noch besser zu werden. Jedes Mal, wenn die Professoren Slughorn und McGonagall Lily für ihre fantastische Arbeit lobten, reckte sie das Kinn etwas höher. Ob man sie dafür so arrogant wie James Potter hielt war ihr noch nicht in den Sinn gekommen.
Der kürzliche Streit - auch wenn Marlene es eher einen Schrei-Wettbewerb getauft hatte - war Lily gut genug im Gedächtnis geblieben. Sie war noch nicht davon überzeugt, dass Remus wirklich unschuldig bei der ganzen Geschichte war, auch wenn Marlene es beteuerte, aber was sie wusste, war dass man James Potter so schnell wie möglich zeigen musste, dass er nicht der unantastbare Quidditch-Star war, für den er sich offensichtlich hielt. Immer wieder verwuschelte er sich die Haare, damit er wild und verwegen aussah, auch wenn Lily immer der Meinung war, er würde einfach nur aussehen, als hätte er noch nie von einer Bürste gehört. Lily konnte sein arrogantes Grinsen nicht einmal mehr sehen, ohne die Hände zu Fäusten zu ballen.
Während Potter in der Aufmerksamkeit badete, die ihm zuteilwurde, hatte Lily sich mit Mary, Marlene, Emmeline und Dorcas zurückgezogen und einen Plan ausgeklügelt, wie sie es ihm und den anderen Mitgliedern seiner kleinen Truppe heimzahlen konnte. Lily war nicht die Beste, wenn es darum ging, Pläne zu schmieden, aber dafür waren Emmeline und Dorcas umso besser darin. Die beiden Ravenclaw-Schülerinnen hatten ein überraschend großes Repertoire, wenn es um Streiche und Racheaktionen ging, die Dorcas damit erklärt hatte, dass man nicht anders konnte, als Tipps und Tricks aufzuschnappen, wenn man immer mit den Rowdy-Jungs aus dem Dorf spielte. „Die meisten von denen konnten nicht bis Zehn zählen, ohne mehrmals falsch abzubiegen, aber Streiche konnten die wie kein Zweiter spielen“, hatte sie gesagt. „Jeden Tag gab es irgendwas zu sehen, weil Tyler Dennis den Fußball geklaut hatte oder was auch immer.“
Lily war anfangs skeptisch gewesen, ob Spielplatzkeilereien ihnen helfen würden, die selbsternannten Streichekönige der Schule zu schlagen, aber sie hatte keine andere Wahl, als Emmeline und Dorcas zu glauben.
Adrenalin rauschte durch Lilys Venen, als sie sich mit Mary in den Schlafsaal der Jungs schlich. Die ganze Schule war beim Abendessen und auch wenn Lilys Magen nach einem langen Tag voll mit Lernen und Fragen beantworten knurrte, schob sie das nagende Hungergefühl beiseite. Es gab wichtigere Dinge, um die sie sich kümmern musste. Marlene sorgte dafür, dass weder Potter noch einer seiner Freunde die Große Halle verließ, bevor Lily und Mary nicht fertig mit der ersten Phase von ihrer Racheaktion waren.
„Urgh, das ist so typisch Jungs“, sagte Mary, als sie die Tür aufstieß.
Ein Haufen schmutziger Wäsche, hauptsächlich Socken und matschverschmierte Quidditch-Trikots, bedeckten den Boden. Süßigkeitenpapier, zerrissene Pergamentfetzen, aufgeschlagene Bücher und abgebrochene Federkiele waren überall zu sehen. Um eines der Betten, von dem Lily ausging, dass es Remus gehören musste, stapelten sich Bibliotheksbücher und Vinylplatten von Remus' liebsten Musikern. Auf dem Plattenspieler, den der Zweitklässler zum Laufen gebracht hatte, lag eine David Bowie-Platte, darum verteilt lagen Zeitschriften und Magazine aus der Muggelwelt, die meisten über Musik.
„Lass uns das schnell hinter uns bringen“, meinte Mary, die in einen der Schränke gelugt hatte. „Ich will nicht länger als nötig hier bleiben.“
Lily stimmte zu und sie teilten sich auf. Mit all ihrem Gryffindor-Mut nahm Lily sich das Badezimmer vor, während Mary im Schlafsaal blieb und anfing, Schrankinhalte zu tauschen und Klamotten kleiner und größer werden zu lassen. Das Badezimmer war zum größten Teil sauber, auch wenn das ein oder andere benutzte Handtuch auf dem Boden lag und ein paar Wasserflecken die Spiegel zierten. Lily tippte mit ihrem Zauberstab die Zahnbürsten in den Bechern am Waschbecken an und ließ sie die Plätze und Farben miteinander tauschen. Sie holte eine schimmernde Phiole aus ihrer Umhangtasche hervor und kippte sie großzügig in die Seifenspender, bis der Inhalt glänzte und glitzerte. Es war ihr ein Leichtes gewesen, einen Trank zu finden und zu brauen, mit dem die Haut unerklärlich anfangen würde zu jucken. Die kleine Dosis würde ausreichen, damit die Jungs nicht sofort Verdacht schöpfen, aber trotzdem nervigen Juckreiz verspüren würden.
Von Färbemittel im Shampoo hatte Emmeline ihr abgeraten („Das ist zu auffällig, es muss etwas sein, damit sie nur genervt sind. Farbe im Shampoo ist außerdem der älteste, langweiligste Trick überhaupt.“), aber gegen ein wenig Glitzer im Duschbad hatte die Ravenclaw nichts gehabt. Nachdem Lily zum Schluss alle Deodorantdosen geleert und wieder an ihren Platz gestellt hatte, schloss sie die Tür hinter sich. Mary hatte indes Umhänge geschrumpft, Hosen geweitet, Gürtel verkleinert und T-Shirts mit kleinen Löchern versehen, hatte James' viel zu enge Umhänge in Peters Schrank gelegt und Montys ausgeleierte Pullover mit Remus' eingelaufenen Sweatshirts getauscht.
Auf den ersten Blick hatte sich im Schlafsaal nichts verändert; die schmutzigen Socken lagen noch auf ihren ursprünglichen Plätzen, ein Paar ausgelatschene Turnschuhe (die Mary in jeweils zwei linke Schuhe verwandelt hatte) schaute unter James' Bett und die angebissene Schokoladentafel lugte aus Sirius' Nachttischschublade hervor. Alles wirkte perfekt und normal, aber Lily und Mary wussten, was für ein unsichtbares Chaos sie angestellt hatten. Lily wünschte, sie könnte dabei sein und die Gesichter der Jungs sehen, wenn sie langsam, aber sicher an ihrer Wahrnehmung zweifelten. Sicherlich würde das ein oder andere Mal der Poltergeist Peeves für das Unglück der Gryffindors verflucht werden, bevor sie die wahren Schuldigen ausmachen würden. Und bis dahin würden Lily und ihre Freundinnen bereits in die nächste Phase übergegangen sein.
Zwar konnte Lily die Gesichter der Jungs nicht sehen, als sie am nächsten Morgen versuchten, durch das von ihnen verursachte Chaos zu graben, aber sie konnte die Ergebnisse von ihrer und Marys Arbeit erkennen. Ein Hauch von Glitzer klebte jedem einzelnen Jungen auf der Haut und in den Haaren, sie konnte sehen, wie James Potter sich die Hände kratzte, während er sein Rührei aß und sie hatte die Genugtuung zu beobachten, wie Peter in viel zu großem Umhang und Hose zum Frühstück kam. Die Verwirrung stand dem Jungen groß auf die Stirn geschrieben.
„Verdammt“, flüsterte Marlene, die die anderen Jungs genau beobachtete. „Wieso ist nur Pettigrews Kleidung zu groß?“
„Ich weiß nicht“, erwiderte Mary leise, die James mit einem raschen Seitenblick bewarf. „Ich hab alles geschrumpft und vergrößert und dann herumgetauscht!“
Besagte Kleidung der Jungs war augenscheinlich so intakt, wie sie sein sollte – von Peters zu großem Umhang mal abgesehen - und es sah auch nicht danach aus, als wäre James in zwei linken Schuhen die Treppen heruntergekommen. Die vier Unruhestifter hatten es sich mit Monty am Tisch gemütlich gemacht und schaufelten ordentliche Massen an Frühstücksei und Würstchen in sich hinein, bei dem lediglich Remus und Sirius sich daran erinnerten, dass Tischmanieren existierten. Sie unterhielten sich in leiser Stimme und zeigten keinerlei Anzeichen daran, dass ihre Kleidung sie an unangenehmen Stellen zwickten.
„Das war bestimmt Re-“, Lily brach ab, holte Luft. „Das war bestimmt Lupin“, verbesserte sie sich daran erinnernd, dass sie sauer auf den Jungen mit den Narben im Gesicht war. „Er ist ziemlich gut in Zauberkunst, das haben wir nicht beachtet.“
Mary schnaubte leise. „All die Arbeit für nichts! Wahrscheinlich hat ihn das nicht mal fünf Minuten gekostet!“
„Da ist Emmelines großartiger Plan wohl nach hinten losgegangen“, brummte Marlene, während sie mit der Gabel in ihrem Rührei stocherte.
„Hoffen wir mal, Phase Zwei läuft besser“, fügte Lily hinzu, der der Appetit vergangen war.
Phase Zwei von Emmelines und Dorcas Plan, so stellte sich heraus, war sehr einfach. „Wir mussten umdenken“, hatte Dorcas erklärt. „Unsere Streich-Geschichte nur mit Muggel-Jungs hat uns den sehr offensichtlichen Fakt übersehen lassen, dass wir es hier mit Zauberern zu tun haben.“
„Ja, ups. Unser Fehler“, fügte Emmeline grinsend hinzu.
„Wie kann einem Ravenclaw entgehen, dass Zauberer… zaubern können?“ Marlene hatte ihre Augenbrauen so hochgezogen, dass sie in ihrem blonden Pony untergingen. „Ich meine, ernsthaft? Du hast Mary und Lily die Aufgabe gegeben, etwas zu verhexen, aber dir ist gleichzeitig entgangen, dass James und seine Bande das auch können?“ Sie schüttelte den Kopf, wobei ihre Haare wie ein Fächer um ihr Gesicht flogen.
Dorcas, die neben Marlene stand, legte einen Arm um das blonde Mädchen und sagte mit lauter Stimme: „Selbst den Besten kann ein Fehler passieren, McKinnon, kein großes Drama!“
Marlene murmelte etwas, das Lily nicht ganz verstand, aber sie hörte: „Sehr wohl ein Drama“, heraus und verkniff sich das Lachen. Sie konnte Emmeline und Dorcas nicht einmal böse sein. Immerhin hatten weder sie noch Mary und Marlene den offensichtlichen Fehler in ihrem Plan erkannt und ihn wie ein paar blinder Hühner ausgeführt.
„Also“, sagte Emmeline, womit sie die Blicke der anderen Mädchen auf sich zog. „Phase Zwei!“
„Wehe, wir machen uns wieder umsonst Arbeit“, antwortete Mary.
Dorcas und Lily führten die nächste Phase gemeinsam durch. Es war - wie Lily sich erhofft hatte - simpel aber genial. Im ersten Schuljahr hatte Professor Slughorn ihnen von dutzenden Zaubertränken erzählt, die ihre Wirkung erst nach 24 oder mehr Stunden verloren. Genau diese Zaubertränke hatte Dorcas in der Bibliothek nachgeschlagen und selbst wenn es einen Gegentrank geben würde, keiner der Jungs war gut genug im Fach, als dass sie es schnell genug hinbekommen würden. Lily war die Aufgabe zuteil geworden, einen Plappertrank zu brauen, einen nicht allzu komplizierten Trank, der im Kurrikulum der Drittklässler stand. Wie der Name vermuten ließ, würde derjenige, der davon trank, nur noch Unsinn reden.
Dorcas hatte „rein theoretische Fragen“ an Professor Slughorn gestellt, „weil ich so interessiert an ihrem überaus spannendem Fach bin, Sir“, und herausgefunden, dass die Dauer der Wirkung abhängig von der Hinzugabe des Gnom-Speichels war. Mehr Speichel würde zu längerem Geplapper führen, hatte die Ravenclaw ihr mit einem spitzbübischen Grinsen mitgeteilt. Den Trank zu brauen war keine Meisterleistung für Slughorns Lieblingsschülerin. Es den Jungs allen gleichzeitig zu verabreichen würde der schwierige Teil sein, aber auch dafür hatte Dorcas einen Plan.
Für diesen Plan musste Marlene etwas tun, wofür Lily sie bewunderte und gleichzeitig fürchtete - sie musste James Potter für seine Taktik im letzten Quidditch-Match loben und ihn dazu bringen, ihr davon zu erzählen, damit er und seine Kumpel abgelenkt genug waren, damit Mary beim Vorbeigehen ein paar Tropfen Plappertrank verteilen konnte. Es war einfacher gesagt als getan.
Beim nächsten Mittagessen nahm Marlene die Jungstruppe ins Visier, holte tief Luft und musste von Lily dann geschubst werden, damit sie sich bewegte. Lily beobachtete von ihrem Platz mit Mary aus, wie Marlene sich todesmutig dem Löwenpack näherte und Potter auf die Schulter tippte. Sie saßen zu weit weg, um zu hören, was Marlene zu Potter sagte, aber es war genug, damit der bebrillte Junge näher an seinen Kumpel Black rutschte und Marlene sich neben ihn quetschte. Von irgendwelchen Lobpreisungen und Schleimereien konnten Lily und Mary nichts hören, dafür stellte Lily feixend fest, dass Potters bronzefarbene Haut im Licht der einhundert Kerzen leicht glitzerte und dass sowohl Black als auch Remus (den sie selbst in Gedanken nicht immer Lupin nennen konnte) sich immer wieder geistesabwesend die Handinnenflächen und Wangen kratzten, als würden ihnen hauchdünne Härchen auf der Haut tanzen.
Über die Halle hinweg konnte Lily den Blick von Emmeline auffangen, die ebenfalls immer wieder zu Marlene sah und ihr, Lily, dann einen raschen Daumen nach oben zeigte, ehe sie sich wieder ihrem Alibi-Eintopf widmete.
Zehn Minuten gelegentlich lautes Lachen später, entschieden Mary und Lily, dass es jetzt oder nie war. Langsam erhoben sie sich, Mary hatten ihren Stab mit einem Fläschchen voll Plappertrank in ihrem Umhangärmel verstaut und im Schleier eines nichtssagenden Gespräches über Hausaufgaben gingen die beiden am Gryffindor-Tisch entlang.
„Wingardium Leviosa“, murmelte Mary aus ihrem Mundwinkel heraus, als sie zwei Sitze von Potter entfernt waren. Das Fläschchen war so klein und der Trank durchsichtig, sodass niemand mitbekam, wie das gläserne Gefäß über ihren Köpfen hinweg schwebte. Mit einem gezielten Schlenker ihres Zauberstabes und eines gut getarnten Lachen von Marlene, die Potter noch dazu auf die Schulter klopfte, landeten einige Tropfen im Krug voll Kürbissaft.
„Ich finde darauf sollten wir doch anstoßen, oder nicht?“ Marlene hatte die Stimme erhoben und sogleich den Krug ergriffen. „Hogwarts' derzeit jüngster Quidditch-Spieler! Das muss doch angemessen gefeiert werden!“ Ohne viel Federlesen goss Marlene fünf Kelche mit der hellorangenen Flüssigkeit voll und schob Potter, Black, Lupin, Pettigrew und auch Monty einen hin. Sie selbst ergriff einen noch gefüllten Kelch, der vor ihrer Nase gestanden hatte.
„Aber ich bin schon seit über einem Monat Jäger“, sagte Potter mit den dunklen Augenbrauen auf der Stirn. Ein chaotischer Wind schien über seinen Kopf gefegt zu sein, zumindest saß keine seiner schwarzen Strähnen an Ort und Stelle. Als würde er Ordnung verabscheuen, schob er sich einen Augenblick eine Hand durch die Haare, was Lily ein Augenverdrehen entlockte. „Hätten wir das nicht feiern sollen, als die Auswahlspiele waren?“
Marlene winkte ab und nippte an ihrem Kelch. „Was, willst du mir erzählen, es gefällt dir auf einmal nicht, wenn man dich feiert?“ Ein verspieltes Grinsen hatte sich auf ihre Lippen geschlichen. „Das sah auf der Party nämlich ganz anders aus.“
„Da hat sie Recht“, lachte Sirius Black, ehe er den Kürbissaft ergriff, den Marlene zu ihm geschoben hatte. Ein dunkler Hauch legte sich auf Potters Wangen, aber er grinste jetzt auch. Als er den Saft in die Hand nahm, folgten ihm Monty, Pettigrew und Lupin ebenfalls, auch wenn letzterer ein Seufzen nicht unterdrücken konnte, was zumindest Lily einen Stich der Sympathie verpasste.
„Na also!“ Marlene hob ihre Hand an. „Auf Hogwarts' jüngsten und wahrscheinlich besten Jäger seit ein paar Jahrzehnten!“ Sie und die Jungs hoben gleichzeitig die Kelche, ehe sie alle tiefe Schlucke tätigten. Marlene fing Lilys Blick auf und ihre hellen Augen glänzten vor Schalk. Neben ihr kicherte Mary, die so getan hatte, als müsste sie ihren Schuh neu binden.
„Danke Marlene“, grinste Potter. „Meine Mutter kannte eine wunderbare Doxy-Familie von der sie mich adoptiert haben.“ Realisation dämmerte auf seinem Gesicht, als er erkannte, was er gerade gesagt hatte, aber es war zu spät. Lily hielt sich lachend die Hand vor den Mund.
„Wie bitte, wie war das?“ Marlene konnte sich das Lachen ebenfalls kaum verkneifen. Ihre Mundwinkel zitterten, während sie die Lippen aufeinander presste.
Potter zog die Augenbrauen zusammen, öffnete langsam den Mund und sagte: „Ich sagte, ich bin unsterblich in eine Sumpfhexe verliebt.“ Mit einem lauten Klatschen schlug der bebrillte Junge sich eine Hand vor den Mund und starrte mit schockgeweiteten Augen in Marlenes Richtung, die sich vor stummem Lachen den Bauch halten musste.
„Manchmal schmecke ich Farben und weine dann im Schlaf“, sagte Sirius Black lachend, bevor auch seine Hand seinen Mund verdeckte.
„Was redet ihr da?“, fragte Monty argwöhnisch klingend, doch auch er hatte vom Kürbissaft getrunken. „Papperlapapp, türkischer Honig schmeckt wie der Bart von Dumbledore!“
Lily konnte nicht mehr an sich halten. Sie und Mary stützten sich gegenseitig, damit sie vor lauter Lachen nicht umfallen würden, aber was zuvor stumm und halbwegs versteckt geschehen war, prustete nun aus der Hexe heraus. Sie lachte laut auf, wodurch die Blicke der fünf Jungs zu ihr flogen.
Remus zog die Augenbrauen zusammen. „Ich sehe, es war der Saum eines Vampirs.“ Er machte sich nicht die Mühe, sich den Mund zuzuhalten.
„Ich finde, die ganze Schule sollte an euren Weisheiten teilnehmen“, sagte Mary, die sich vor Kichern schüttelte. Eine Hand hielt sie sich an der Hüfte, wahrscheinlich plagten sie wie Lily schon Seitenstiche vom unterdrückten Lachen.
„Großartige Idee“, erwiderte Marlene, die den Stab bereits gezückt hatte. „Sonorus!“ Remus' Augen weiteten sich ebenfalls, als Marlenes Verzauberung ihn und die anderen traf. Potter und Black hielten sich den Mund mit beiden Händen zu und Pettigrew, der aussah, als wüsste er immer noch nicht, was überhaupt passierte, blickte zwischen Potter und den lachenden Mädchen hin und her. Lediglich Monty schien die ganze Situation zu erheitern. Mit glänzenden Augen und beinahe stolzem Grinsen nahm er die Hand vom Mund.
„Die beste Zeit ist Puddingzeit!“ Seine magisch verstärkte Stimme hallte durch die Große Halle, als würde er aus allen Ecken reden. Schüler und Lehrer zugleich, die in Seelenruhe gegessen hatten, blickten verwundert auf.
„Es bringt nichts, Potter“, sagte Lily mit gerecktem Kinn. „Lass einfach zu, dass du dich vor der ganzen Schule blamierst.“ Da sie damit gerechnet hatte, dass die Jungs sich weigern würden zu reden, sobald sie herausgefunden hatten, was los war, hatte Lily etwas Drachenflammenchili in den Trank gemischt. Was auch immer die Jungs sagen wollten, es brannte ihnen wortwörtlich auf der Zunge.
„Ich wäre nur zu gerne ein Niffler im Ballkleid“, platze es aus Black, aus dessen Mundwinkel eine winzige Rauchfahne stieg. Seine Stimme hallte wie ein Echo in den Bergen durch den Saal. Sirius Black war weitaus bekannter als Montana, sodass sich mindestens vier Dutzend Köpfe zum Black-Erben drehten, darunter sein jüngerer Bruder und seine Cousine, deren platinblondes Haar ihrem kreidebleichen Gesicht ziemliche Konkurrenz machte. Zwischen all den feixenden Slytherin-Gesichtern stach ihres deutlich hervor.
Black sah aus, als würde er liebend gern im Marmorboden der Großen Halle versinken und nie wieder auftauchen. Sein Gesicht wurde aschfahlen und er senkte den Kopf, sodass sein Haar wie ein düsterer Vorhang über seine Augen fiel.
„In meinem Kopf existiert nur Krimskrams und Quiek“, sagte Potter, aus dessen Mundwinkel ebenfalls Rauch strömte. „Außerdem bin ich ein ziemlicher Schwachkopf voll mit Schwabbelspeck!“ Seine Wangen wurden deutlich dunkler und als die Große Halle aufgrund seiner Worte in Gelächter ausbrach, ließ er den Kopf auf den Tisch fallen.
„Oh, das funktioniert ja besser als erhofft“, kicherte Mary.
Vom Slytherin-Tisch her kam lautes Lachen. „Ich wusste immer, dass in Potters Kopf nur Trollrotze steckt“, schwang die Stimme von Ennis Mulciber herüber. Selbst über die Entfernung hinweg konnte Lily die markanten schwarzen Augenbrauen des Jungen erkennen, während er mit einem fiesen Grinsen auf Potters gesenkten Kopf starrte.
Lily und Mulciber hatten in diesem Moment zwar denselben Feind - oder zumindest konnte Lily Potter nicht ausstehen - aber sie würde sich nicht auf Mulcibers Level herunterbegeben. Sie war sich ziemlich sicher, dass er es nicht bei etwas harmlosen wie Plappertrank belassen würde - wahrscheinlich würde er eher das von Professor Slughorn erwähnte und eigentlich illegale Veritaserum nutzen, ein Wahrheitstrank, der jeden dazu zwang, seine dunkelsten Geheimnisse auszuplaudern, der ihn trank. Höchstwahrscheinlich würde der Slytherin nicht einmal vor Giften zurückschrecken, dachte sie und schüttelte sich innerlich.
„Ich habe mich immer den Gnomen verbunden gefühlt“, sagte Peter Pettigrew mit hallender Stimme. „Ich wünschte ich könnte in einem Loch voll Erde leben.“
Keine Sekunde später sagte Remus: „Vampire sind viel cooler als Enten! Jeder war schon mal in einen Goldfisch verliebt.“
„Unterhosen sind mein Lieblingssnack!“, deklarierte Monty lachend.
„Hört, hört!“, sagte Marlene, deren ganzes Gesicht rot angelaufen war. „Endlich sprechen sie nichts als Fakten.“
„Ich hoffe, ich kann wie ein Regenwurm leben“, hallte Potters Stimme durch die Halle. „Frei wie ein Schmetterling in einem Puddingtopf.“
Lily lachte und drückte ihr Gesicht an Marys Schulter.
„Was geht hier vor sich?“ Professor McGonagalls Stimme peitschte durch die Halle, gänzlich ohne magische Verstärkung. Auch ohne eine Verzauberung auf ihren Stimmbändern schaffte die strenge Professorin es, dass die Schülerschaft verstummte, als sie die Stimme erhob. „Miss Evans, Miss McKinnon, Miss Macdonald, möchte sich eine der Damen zu dieser Situation äußern?“ McGonagalls Lippen waren zu einer dünnen, weißen Linie gepresst und sie sah so aus, als würde sie jeden Moment in die Luft gehen.
„Ich bin eine Trophäe und werde bald einen Quaffel essen!“, sagte James Potter mit Augen auf die Professorin gerichtet, aber hielt sich sofort wieder eine Hand vor den Mund. Seine Stimme hallte noch in der Halle hinterher.
„Ich glaube“, sagte Marlene, die ihr Lachen nicht verbergen konnte, „dass James einfach sein wahres inneres Ich gefunden hat.“ Ihr ganzes Gesicht war ebenfalls rot und Tränenspuren klebten in ihren Augenwinkeln. „Endlich lässt er all seine Gedanken und Gefühle heraus, die er sonst nur vor anderen verbirgt.“
Lily war sich sicher, dass jemand ihre Verwandlungslehrerin in Brand gesteckt hatte, denn Rauch schien aus ihren Ohren zu strömen.
„Finite.“ McGonagall richtete ihren Stab auf James Potter und seine Freunde, aber selbst sie war nicht mächtig genug, um die Wirkung des Plappertranks aufzuheben. „Erklären Sie sich.“
„Ein rosaroter Hund liegt in meiner Nase!“, sagte Black lautstark, stöhnte im nächsten Moment aber genervt.
Lily, begeistert davon, dass ihr Trank so gut wirkte, straffte die Schultern. „Keine Ahnung was passiert ist, Professor“, erwiderte sie mit dem neutralsten Gesichtsausdruck, den sie aufbringen konnte. „Auf einmal haben die Jungs einfach angefangen, Unsinn zu reden. Vielleicht haben sie sich“, sie warf einen raschen Seitenblick auf Potter, der sie mit ungläubigen Augen anstarrte, „irgendwo Feinde gemacht.“
McGonagall rümpfte die Nase. „Ist das die Aussage, mit der Sie gehen wollen, Miss Evans? Haben Miss McKinnon und Miss Macdonald auch etwas zu sagen?“
„Es ist alles sehr mysteriös, Professor“, sagte Mary.
„Wirklich, sehr merkwürdig. Ich habe auch von dem Saft getrunken und mir ist nichts passiert.“ Marlene schüttelte den Kelch vor sich zwischen den Fingern.
„Sie wollen mir also erklären, dass diese jungen Männer einfach so angefangen haben, Unsinn zu reden Niemand von Ihnen hat vielleicht einen Trank in ihr Getränk gemischt?“ McGonagall reckte das Kinn, sodass sie noch größer über den Zweitklässlerinnen ragte. „Ich muss sagen, ich finde es schwer zu glauben, dass Sie nichts damit zu tun haben.“
„Leberwurst ist mein Lieblingsgetränk“, platzte es mit kleinen Rauchfäden auf Remus heraus. Der Junge wurde puterrot im Gesicht.
Mary prustete und musste sich halb hinter Lily verstecken, damit McGonagall sie nicht mit ihren Blicken taxierte.
„Tut mir leid, Professor“, sagte Lily, die den harten Augen ihrer Lehrerin nicht auswich, „aber ich kann es mir beim besten Willen nicht erklären. Irgendjemand muss es wohl auf die Jungs abgesehen haben.“
„Tanzende Gespenster in meinen Zähnen“, sagte Pettigrew, als würde er damit etwas zur Unterhaltung beitragen.
McGonagall schürzte die Lippen, bevor sie den Kopf schüttelte. „Sie sollten in den Krankenflügel gehen. Ich bin mir sicher, Madam Pomfrey kann Ihnen eine Gegenlösung zusammenbrauen. Miss Macdonald, Sie gehen mit und erklären die Sache.“ Die Verwandlungslehrerin wartete, bis Mary, die sich noch immer vor Lachen schüttelte, mit den fünf Jungs aus der Halle verschwunden war, dann wandte sie sich an Lily. „Miss Evans, ich hätte mehr von Ihnen erwartet“, sagte sie. „Ich dachte, Sie wären eine Gegnerin dieser kindischen Streiche?“
Lilys Gesicht heizte sich auf. Die zu Fäusten geballten Hände presste sie an die Seite. Es wäre leicht gewesen, ihrer Lehrerin weiterhin vorzuspielen, dass sie nicht wusste, wer den Plappertrank in den Krug getan hatte, aber so wie Professor McGonagall aussah, hatte sie Lily und ihre Freundinnen sowieso von Anfang an durschaut. „Jemand musste etwas unternehmen, Professor“, sagte sie, was ihr einen alarmierten Blick von Marlene erntete. Lily ignorierte sie und fügte an: „Ich habe ihnen nur ihre eigenen Medizin verabreicht.“
„Nun.“ Professor McGonagall legte die Stirn in Falten und ihre dunklen Augenbrauen berührten sich fast, so nah zog sie sie aneinander. „Ich kann Sie nicht unbestraft davonkommen lassen, das wissen Sie sicherlich. Für ihr kindisches Verhalten werden Gryffindor“, die Verwandlungslehrerin machte eine dramatische Pause, bei ihre Nasenflügel bei jedem Atemzug bebten, bis sich ein kaum merkliches Lächeln auf ihre Lippen legte, „fünf Punkte abgezogen. Außerdem“, Marlene schnappte hörbar nach Luft, „erteile ich Ihnen zehn Punkte dafür, dass sie einen korrekten Plappertrank zusammengebraut und die Wirkung des Drachenflammenchilis ausgenutzt haben.“ Marlene atmete erleichtert aus und Lily konnte das Lächeln nicht unterdrücken. „Beim nächsten Mal werde ich nicht so gütig sein, Miss Evans, merken Sie sich das.“
Lily grinste, als sie den dunklen Schatten auf McGonagalls Wangen erkannte. Die Mundwinkel ihrer Professorin zuckten, als Lily sagte: „Vielen Dank, Professor. Das nächste Mal werde ich aufpassen, dass man mich nicht erwischt.“
***
„Unglaublich, dass sie dich dafür auch noch belohnt hat“, sagte Emmeline begeistert klingend. Nach dem ihr Streich gegen die Gryffindor-Jungs hervorragend funktioniert hatte, hatten sich die fünf Mädchen auf den Ländereien getroffen, wo Lily Dorcas, Emmeline und Mary davon berichtet hatte, was McGonagall noch gesagt hatte.
„Ich hab uns schon beim Nachsitzen gesehen“, gab Marlene zu, die ihre Finger aneinander rieb. Weißer Dampf stob aus ihrem Mund, als sie sprach. „Ich dachte, wir werden total bestraft.“
„Ich nicht“, sagte Lily wahrheitsgemäß, wofür sie überraschte und skeptische Blicke erntete. „Wirklich. McGonagall wusste genauso gut wie ich, dass die Jungs für die Sache mit Sev verantwortlich waren. Außerdem glaube ich, dass sie es irgendwie auch lustig fand.“
„So wie Professor Flitwick. Habt ihr gesehen, wie er vor Lachen fast von seinem Stuhl gefallen wäre?“, fragte Dorcas grinsend. Sie hatte sich ein Paar Ohrenschützer aufgesetzt, wodurch eine dicke Delle in ihr Haar gepresst wurde.
Lilys Euphoriegefühl brodelte in ihrem Inneren. Es war, als würde sie ohne Besen vom Astronomieturm springen - erst raste ihr Herz, dann flog sie, der Himmel eine stahlblaue Fläche über ihr. Regentropfen prasselten auf den steinernen Boden, aber ertränkten nicht das Gefühl des Sieges in ihr. Entgegen den Erwartungen hatte sie es Potter und seiner Bande heimgezahlt, hatte sie vor der Schule mit ihren unsinnigen Aussagen blamiert. Als sie und Marlene die Große Halle verlassen hatten, sich der Blicke anderer Schüler sehr wohl bewusst, hatte sie immer wieder Tuscheleien und verhaltenes Kichern gehört, wenn jemand wiederholt hatte, was aus Sirius Blacks Mund gesprungen war. Es war ein voller Erfolg gewesen und -
„Irgendwie hat das Spaß gemacht“, endete Mary Lilys Gedanken. „Macht mich nicht zum nächsten Opfer, aber“, sie lächelte verhalten, ein Schatten auf ihren dunklen Wangen, „ich glaube, ich weiß jetzt, warum Potter ständig Streiche spielt.“
Lily wollte protestieren, aber Emmeline kam ihr zuvor: „Ja, das sollten wir wiederholen! Es war auch echt witzig diese Pläne mit euch zu schmieden.“
„Auch wenn die Hälfte nicht funktioniert hat“, überlegte Marlene laut grinsend, woraufhin Emmeline eine wegwerfende Handbewegung machte.
„Komm schon, Lily“, sagte Mary und stieß sie mit der Schulter an. „Los, gib zu, dass es dir auch Spaß gemacht hat.“
Selbst wenn sie es hätte verneinen wollen, ihre Freundinnen hätten sie sofort durchschaut. Der rote Schleier auf ihren Wangen kam nicht von der Kälte, als Lily seufzte und sagte: „Es war wirklich lustig.“
Marlene und Mary lachten und Dorcas sagte: „Ich wusste du bist nicht so ein Spießer, für den ich dich anfangs gehalten hatte.“
„Na danke auch“, brummte Lily, aber sie lächelte trotzdem.
„Ach, nicht der Rede wert“, erwiderte die Ravenclaw lachend. „Also, was machen wir als nächstes? Ich finde, ein paar dieser Slytherin waren zu schadenfroh, die könnten auch was vertragen...“
„Ich passe“, sagte Lily. „Das soll eigentlich eine einmalige Sache bleiben, ich will mich nicht auf Potters Level begeben und dort bleiben.“
„Also ich finde es macht Spaß hier unten“, meinte Emmeline.
„Genau, komm schon, Lily“, sagte Marlene mit ihren besten Hundeaugen. Sie schon die Unterlippe hervor und starrte Lily aus großen blauen Augen heraus an. „Du könntest es Mulciber heimzahlen, dass er Mary letztens beim Quidditch-Match versucht hat ein Bein zu stellen.“
„Uh, darf ich seinen Kopf anschwellen lassen?“, fragte Mary begeistert klingend, als würden sie nicht über den Jungen reden, der sie fast 300 Treppenstufen hinabstürzen lassen wollte. „Flitwick hat letztens so einen Zauber erwähnt und den würde ich nur zu gerne ausprobieren.“
Emmeline lachte kurz auf. „Ich mag deine Art zu denken! Das behalten wir auf jeden Fall im Hinterkopf.“
„Was sagst du, Lily?“, fragte Dorcas etwas leiser. Ihre dunkelbraunen Augen glänzten im Fackellicht, wodurch sie einen sehr schelmischen Ausdruck bekam. „Bist du dabei noch jemanden zu rächen?“ Die Ravenclaw lächelte breit und strahlend.
Lily seufzte. „Schätze, da habe ich keine andere Wahl.“ Das Grinsen konnte sie allerdings nicht unterdrücken, auch nicht die kribbelnde Vorfreude, die sich in ihrer Magengrube sammelte.
„Das ist die richtige Einstellung“, sagte Emmeline lächelnd, wodurch sie eine ganze Reihe ihrer hellen Zähne zeigte. „Also, noch jemand Ideen, außer Köpfe anschwellen zu lassen?“
***
Ohne brodelnde Rachegelüste gegen ihre Klassenkameraden, fand Lily es schwierig, weiterhin sauer auf Remus Lupin zu sein, als wäre er persönlich für all das Unglück der Welt zuständig. Die folgenden zwei Tage hatte Lily versucht, Gründe zu finden, wieso sie nicht mit dem vernarbten Jungen befreundet sein sollte, aber es wollte ihr nichts Triftiges einfallen. Seine Kameradschaft zu Potter war zwar schmerzhaft zu akzeptieren, aber Lily konnte nicht wirklich darüber richten, mit wem er befreundet war. Für sie war James Potter die Verkörperung von Arroganz und Ignoranz. Lily könnte den ganzen Tag lang darüber reden, wie sehr James Potter sie aufregte und was für ein widerwärtiges Gefühl er in ihr auslöste und das hatte sie auch schon mit Mary und Marlene besprochen. In einer sehr langweiligen Stunde Geschichte der Zauberei hatten die drei jungen Hexen in leisem Flüsterton darüber gesprochen, was für ein Blödmann Potter war, bis Marlene angedeutet hatte, dass es gute Gründe dafür gab, wieso man mit Leuten befreundet war, die bei anderen nicht immer beliebt waren. Lily wusste, dass sie ihre und Severus' Freundschaft meinte und konnte daraufhin nichts antworten.
Die Wirkung des Plappertrankes hatte lang nachgelassen, als Lily Remus im Gryffindor-Gemeinschaftsraum ansteuerte und sich neben ihn auf dem roten Sofa setzte. Peter, der ihnen gegenüber auf einem Sessel saß und über einem Pergamentbogen hing, zuckte kaum merklich zusammen, als er sie erkannte. „Kein Grund zur Panik“, sagte Lily und versuchte sich an einem Lächeln. „Ich bin hier um“, sie drückte ihre Fingernägel tief in den weichen Couchstoff, „mich zu entschuldigen.“
„Fürs Einflößen vom Plappertrank?“, fragte Remus mit einem amüsierten Brummen in der Stimme.
„Nein, dafür stehe ich“, erwiderte Lily. „Außerdem war das lustig.“
„Für dich vielleicht“, murmelte Peter mit roten Flecken auf den Wangen. „Über uns wird überall gelacht.“
Normalerweise sollte sie Mitleid haben, aber da sie wusste, dass die Jungs es mehr als verdient hatten, zuckte sie nicht einmal mit der Wimper. „Vielleicht denkt ihr jetzt einmal mehr darüber nach, bevor ihr jemandem einen fiesen Streich spielt“, sagte sie, ohne die Kälte ganz aus ihrer Stimme verbannen zu können.
„Dachte ich mir doch, dass es um Sna- Severus geht“, entgegnete Remus gelassen. „Das ist dann wohl deine Idee von Rache gewesen.“
Lily reckte das Kinn ein wenig in die Höhe. „So ziemlich. Jedenfalls hoffe ich, dass es euch und Potter und Black eine Lektion war.“
„James und Sirius sicherlich nicht“, murrte Peter.
Seufzend sagte Lily: „War ja klar.“
„Aber sie werden sich bestimmt in nächster Zeit zurücknehmen, was ihre Rivalität mit Severus angeht“, fügte Remus gutmütig an. „Sie waren sehr beeindruckt von dir, Lily.“
„Nun, solange es reicht, damit sie Sev in Ruhe lassen.“ Sie schob das seltsame Gefühl von Stolz beiseite, ehe sie zu Peter auf dem Sessel blickte. „Tut mir leid, wie ich letztens mit dir geredet habe.“ Er hob beide Augenbrauen an, bis sie im unordentlichen Pony seiner blonden Fransen untergingen. „Das war nicht in Ordnung und es wird nicht wieder vorkommen. Ich hoffe, du kannst mir verzeihen“
Peter bedachte sie mit einem nachdenklichen Blick. Er lehnte sich zurück und warf seine Feder auf dem Pergament ab, sodass einige Tintenspritzer darauf erschienen. „Ich schätze schon“, sagte er langsam. „Auch wenn das echt mies von dir war, E-Evans.“ Peter lief purpurfarben an; Lily vermutete, dass er das bei Potter aufgeschnappt hatte und es ihm jetzt herausgeplatzt war.
„Ich weiß“, sagte Lily und tat einfach so, als hätte sie nichts gehört. „Es kommt auf jeden Fall nicht mehr vor, großes Ehrenwort.“
„Dann ist alles vergeben und vergessen“, quiekte Peter rotwangig, seine Schultern etwas eingesunken.
Lily lächelte ihn an, bevor sie den Kopf zu Remus drehte. „Da das geklärt wäre, würdest du morgen mit mir und Mary für Verwandlung lernen? Wir könnten uns in der Bibliothek treffen.“
Ein schiefes Lächeln paarte sich mit einem schelmischen Glänzen in Remus' Augen. „Ich denke, da hätte ich nichts gegen. Vielleicht kannst du mir dann auch bei meinem Zaubertrankaufsatz helfen. Du scheinst ja ein Händchen dafür zu haben.“ Remus grinste und Lily lachte.
„Abgemacht“, erwiderte sie. „Hat jemand Lust auf Zauberschach?“
„Du meinst, du willst verlieren?“, fragte Peter. „Du sitzt hier immerhin Hogwarts' nächsten Schachmeister gegenüber.“
Und kurz darauf verlor Lily im hohen Bogen gegen Peter, aber jetzt waren sie wieder Freunde, also störte es sie nicht. Sie verlangte lediglich Revanche und grinste.
Chapter 21: 21. Jahr 2: Wichteln zu Hauf
Chapter Text
Aus einer Muggelfamilie zu kommen, hatte wesentlich mehr Vorteile, als diese hochnäsigen Reinblüter es sich vorstellen konnten. Zum einen hatte Mary Macdonald die schönste Handschrift von all ihren Klassenkameraden; sie hatte jedes Mal gemeckert und gequengelt, wann immer ihre Mutter mit ihr Schreibschrift geübt hatte und mit neun Jahren wäre Mary nie in den Sinn gekommen, dass sie diese Fähigkeit irgendwann mal sinnvoll nutzen könnte. Stundenlanges Üben hatte sich aber ausgezahlt und jetzt konnte sie sogar mit Feder und Pergament so schön schreiben, dass die meisten Lehrer ihr bereits Bonus-Hauspunkte dafür gegeben hatten. Besonders Professor McGonagall genoss es, wenn Mary ihr ihre Aufsätze in der schönsten Handschrift des ganzen Jahrgangs überreichte.
Zum anderen aber - und da war sie sich nicht sicher, ob das eine allgemeine oder persönliche Erfahrung war - hatte sie ein gutes Verständnis was Gefühle betraf. Vielleicht war es die seltsame Erziehung, die Zaubererkinder genossen (mehrmals hatte sie von persönlichen Hauselfen gehört, die die Kinder betreut und aufgezogen hatten), aber Mary war sich fast sicher, Zaubererkinder würden großartige Romanzen nicht erkennen, wenn man sie ihnen vor die Nase Wingardium Leviosa'n würde. Es war eine Schande, wirklich. Zu versessen waren sie mit Regeln, Verwandtschaftsbeziehungen und was auch immer für ein Kult die Heiligen Achtundzwanzig waren, als dass sie ein Auge für Romantik haben könnten.
Umso unverständlicher war es für sie, dass sie wohl die Einzige aus ihrer gesamten Freundesgruppe war, die genauestens erkannt hatte, was dort zwischen James Potter und Lily Evans geschah. Es war die älteste Geschichte überhaupt; Junge und Mädchen sehen sich, Junge benimmt sich wie ein großer Volltrottel in Mädchens Nahe, weil er offensichtlich Gefühle für es hat, während Mädchen die Wahrheit nicht anerkennen würde, wenn sie ihr ins Gesicht schreien würde. Mit Lily befreundet zu sein, sollte eigentlich einfach sein, aber Mary fand sich immer wieder mit Kopfschmerzen, wenn sie ihrer rothaarigen Klassenkameradin wieder einmal zuhören musste, wie sehr sie James doch hasste. Die einzige Person, die freiwillig noch mehr über James Potter sprach, als er selbst, war Lily. Es war der jungen Hexe bisher wohl noch nicht in den Sinn gekommen, seine Existenz einfach zu ignorieren, wenn er sie so sehr aufregte. Stattdessen nutzte sie jede Möglichkeit, die sich ihr bot, um über ihren schwarzhaarigen Nemesis zu wettern, als gäbe es keine anderen Gesprächsthemen, die sie länger als fünf Minuten unterhalten könnten.
Zumal - wie Mary unschuldigerweise dachte - James Potter nicht einmal der interessanteste Junge ihres Jahrgangs war. Sicher, mit den unordentlichen Haaren und der warm-braunen Haut sah er wie ein verwegener Typ aus, vor dem ihre Mutter sie warnen würde, aber er war gar nichts im Vergleich zu seinen Freunden. Mary hielt nicht viel von Reinblütern und ihren seltsamen Familien, aber selbst sie konnte nicht vortäuschen, was für ein dramatisches Leben Sirius Black führte. Er setzte gerne ein toughes Lächeln auf, für das so einige Mädchen schwärmten, aber hinter seiner kühlen Fassade hatte Mary ihn schon mehr als einmal bröckeln sehe, gerade wenn er mit James zusammen war. Sorgenfalten, panisches Augenzucken, Händekneten und Beinzittern lösten dann seine Attitüde ab, mit denen er Hogwarts ein falsches Gesicht zeigte. Mary wusste nicht, was hinter den Türen der Black-Familie passierte, hatte sich nur ein paar Details zusammenreimen können, aber sie war sich ziemlich sicher, dass es Sirius dort nicht gut ging. Besonders gut zu erkennen war es daran, wie gereizt und sprunghaft er wurde, weil die Weihnachtsferien immer näher rückten. Jeden Morgen verfolgte er die Eulen in der Großen Halle und erst, wenn alle Briefe zugestellt waren, entspannten sich seine Schultern und er aß weiter. Im Gemeinschaftsraum sah man ihn nicht mehr allein; es war, als wären er und James an der Hüfte zusammengewachsen und Mary konnte sich nur vorstellen, was ihrem Mitschüler zuhause blühte.
Es war erst, als sie zusammen mit Marlene, Emmeline und Dorcas in der Großen Halle an ihren Zauberkunsthausaufgaben saß, dass ihr eine grandiose Idee kam. „Wir sollten ein Weihnachtswichteln veranstalten!“
Marlene sah verwirrt auf. „Ein was?“
„Wichteln“, wiederholte Mary. „Das ist eine Art Weihnachtsbrauch. Wir werfen all unsere Namen in einen Topf, jeder darf einmal ziehen und egal wen man zieht, dem muss man dann ein kleines Geschenk machen.“
„Und wann kommen die Wichtel ins Spiel?“, fragte Marlene.
„Das - es gibt keine Wichtel dabei, es heißt nur so. Es ist ein Muggelbrauch, Marlene“, erklärte Dorcas geduldig. „Aber die Idee gefällt mir, sollten wir machen.“
„Nur wir vier?“, fragte Emmeline, die am Ende ihrer Zuckerfeder kaute. Der normale Federkiel lag vergessen neben dem Tintenfass.
„Nee, alle! Also Lily auch, und die Jungs und Benjy“, erwiderte Mary. „Wir können uns trotzdem noch was anderes schenken, aber ich finde besonders jetzt wäre das doch klasse, damit wir wieder alle Freunde sind. Außerdem macht es Spaß.“
„Und was schenkt man so?“ Marlene sah immer noch nicht überzeugt aus, hatte sich zurückgelehnt und die Arme locker verschlungen. „Also, was, wenn ich jetzt Peter ziehe? Was soll ich ihm denn schenken?“
„Nichts Teures oder so“, meinte Dorcas nachdenklich. „Eine Kleinigkeit einfach. Es geht mehr um das Schenken und das Zeit verbringen als die Geschenke selbst. Du kannst auch etwas basteln, wenn du nichts kaufen magst.“
„Hm.“ Marlene nickte langsam. „Okay, ich glaube, ich hab’s verstanden.“ Sie legte den Federkiel beiseite und fügte an: „Wenn ich James ziehe, kann ich auch einfach eine Dungbombe nach ihm werfen?“
„Meinst du nicht diese Ehre sollte Lily zuteilwerden?“, erwiderte Emmeline grinsend.
„Lily hatte ihren Spaß schon, jetzt bin ich dran.“
„Ich dachte du und Potter versteht euch gut?“, fragte Dorcas nachdenklich. Sie hatte eine dicke Locke um ihren Finger gewickelt und rieb sie immer wieder zwischen zwei Fingerspitzen hin und her.
„Das schon“, sagte Marlene. „Aber es wäre witzig. Außerdem bin ich mir sicher, dass er sowas auch machen würde.“
Dorcas seufzte. „Und ich dachte, du wärst eine verantwortungsbewusste junge Frau.“
„Das wird nicht die einzige Enttäuschung in deinem Leben bleiben.“
„Damit werde ich mich wohl abfinden müssen.“ Das Mädchen grinste schalkhaft. „Oder ich helfe dir dabei und werfe auch was auf ihn.“
Mary schüttelte den Kopf. „Meine schöne, unschuldige Idee wird hier mit Füßen getreten.“
„Wohl eher mit Dungbomben beworfen“, sagte Emmeline, die geistesabwesend mit ihrer Zuckerfeder auf ihrem Pergament kratze und dabei kleine Zuckerkristalle umherschleuderte. Ein paar davon hatten sich bereits in ihren Haaren verfangen, aber das hatte die Ravenclaw gar nicht mitbekommen. „Keine Sorge, ich geh sicher, dass keiner von denen auch nur in die Nähe eines Scherzartikels kommt.“
Die anderen von ihrer Idee zu überzeugen war einfacher als gedacht. Lily war sofort dabei, als Mary sie gefragt hatte, aber selbst die Jungs waren Feuer und Flamme für die ganze Wichtel-Sache, nachdem Remus ihnen erklärt hatte, was das war. Sirius und James waren zwar immer noch davon überzeugt, dass die ganze Sache wesentlich mehr Spaß machen würde, wenn sie ein paar echte Wichtel importieren würden, aber ein böser Blick von Lily hatte ausgereicht, damit sie endgültig ruhig waren. Niemand, James und Sirius voran, hatte den Plappertrank vergessen und noch jetzt musste Mary manchmal lachen, wenn sie daran dachte, was die Jungs auf dem Weg zu Madam Pomfrey gesagt hatten. Sie würde sicher gehen, diese goldenen Erinnerungen niemals zu vergessen, sei es nur, damit sie die Jungs damit erpressen könnte.
Nach einiger Überzeugungsarbeit für Benjy („Ihr wisst doch, dass ich für sowas kein Geld hab, ich -“, wollte er protestieren, aber Emmeline hatte ihm nur eine Hand auf den Mund gelegt, dabei seine Brille verschoben und geantwortet: „Dann bastelst du deinem Wichtel eine schöne Karte und steckst all dein Herzblut rein, ja? Du machst mit und wirst Spaß haben und das ist mein letztes Wort.“) hatten Mary und Lily den Zetteltopf vorbereitet. Da Mary mit Abstand die beste Schrift hatte, hatte sie die Pergamentfetzen mit ihren Namen beschrieben und dann in Lilys Ersatzkessel geworfen („Ein Ersatzkessel, Lily, ernsthaft?“, fragte Mary.), bevor sie sich alle in der Bibliothek versammelt hatten. Madam Pince, die Bibliothekarin wollte sie erst nicht mit einem Kessel reinlassen, aber Lily konnte sie überreden, ihr zu vertrauen, dass sie keinen Unfug anstellen würden.
„Ich will anfangen“, sagte James, der nicht ruhig auf seinem Stuhl sitzen konnte.
„Ganz bestimmt nicht“, erwiderte Lily kühl und zog den Kessel aus seiner Reichweite. „Wenn jemand anfängt, dann Mary, es war immerhin ihre Idee.“
James zog für einige Momente einen Schmollmund, dann grinste er. „Na, stimmt, was wäre ich denn auch für ein Gentleman, wenn ich einer Lady den Vortritt nehme?“
„Einer, dem ich es zutrauen würde“, schnaubte die rothaarige Hexe. „Mary?“
Mary würde es nicht zugeben, aber sie genoss es sehr, wie sie jeder erwartungsvoll ansah, als wäre sie eine wunderschöne Schauspielerin, die gerade den roten Teppich entlang ging. Daran könnte sie sich auf jeden Fall gewöhnen; die Aufmerksamkeit, weil man sie bewunderte, beneidete, vielleicht sogar in ihren Schuhen stecken wollte... es war so viel besser, als von idiotischen Reinblütern angeglotzt oder beleidigt zu werden. Mary hatte aufgehört zu zählen, wie oft man sie bereits mit dem S-Wort beschimpft hatte, von Leuten, mit denen sie nie ein Wort gewechselt hatte.
Mary reckte das Kinn ein wenig an, griff mit der linken aufgeregt zitternden Hand in den Kessel, wühlte ein wenig in den Pergamentfetzen herum und fischte schließlich einen heraus.
„Und niemand luschert, klar?“, sagte Lily mit scharfer Stimme und James' Stuhl rutschte zurück. „Wehe ihr erzählt euch untereinander, wen ihr gezogen habt.“ Mary musste Lilys Augen nicht sehen, um zu wissen, dass sie James und seine Bande anfunkelte.
„Du bist 'ne richtige Spaßbremse, Evans“, murrte Sirius, der die Hände hinter dem Kopf verschränkt hatte und leicht auf seinem Stuhl kippelte. Seine dunklen Haare fielen wie Theatervorhänge um sein schlankes, blasses Gesicht.
„Du kannst auch wieder gehen, wenn es dir hier nicht gefällt, Black“, erwiderte Lily.
„Okay, jetzt hören wir alle auf zu streiten und haben uns wieder lieb, ja? Das hier soll uns näher zusammenführen und nicht darin enden, dass Lily euch alle verhext“, sagte Dorcas mit etwas lauterer Stimme, senkte sie aber sofort wieder. „Wir sind alle Freunde, kapiert? Niemand geht irgendwo hin, bevor wir nicht verdammt viel Spaß hatten.“
„Sie kann echt gruselig sein“, murmelte Benjy Fenwick, der noch kleiner als sonst aussah. Ein Bügel seiner drahtigen Brille war mit Klebeband umwickelt, als hätte er vergessen, dass er sie mit seinem Zauberstab reparieren könnte. Mary machte sich eine gedankliche Notiz, ihn nachher darauf hinzuweisen.
„Ich kann noch gruseliger sein, wenn's sein muss“, sagte Dorcas grinsend und Benjy sank in sich zusammen. Sie lachte, ehe sie wieder zu Mary blickte.
Diese sah endlich auf ihre Finger, drückte den Pergamentfetzen auseinander, achtete darauf, dass keiner einen heimlichen Blick riskierte, bevor sie den Namen James Potter in ihrer eigenen Handschrift sah. Das war nicht allzu schlimm, fand sie. Sie hätte zwar eine ihrer Freundinnen bevorzugt, aber immerhin hatte sie damit Lily erspart, seinen Namen zu ziehen. Für James ein Geschenk zu finden, würde auch nicht schwierig werden - ein paar Scherzartikel oder ein Spielzeugbesen würden den bebrillten Jungen schon glücklich machen.
„Okay, wer als nächstes?“, fragte sie, nachdem sie den Pergamentfetzen in ihrem Umhang verschwinden ließ. Jetzt, da sie gezogen hatte, war sie auch nicht mehr so aufgeregt - der eigentliche Teil des Spiels war für sie vorbei. „Peter, warum ziehst du nicht?“
Peter zuckte auf. „Ich? Klar, warum nicht.“ Er griff in den Kessel und fischte wie Mary zuvor einen Fetzen Pergament hervor. Damit Sirius nicht spicken konnte, lehnte Peter sich weit in seinem Stuhl zurück, linste auf den Fetzen und zerdrückte ihn dann schnell zwischen seinen Fingern. „Gib's auf, Sirius“, sagte er grinsend, als der andere Junge schnaubend die Arme verschränkte.
Mary konnte Peter gut leiden; von seinen Freunden hatte er zwar nicht das stärkste Rückgrat, aber er war lustig und gut in Zauberschach und lieh ihr seine Aufzeichnungen, wenn sie in Verwandlung wieder geträumt hatte. „Dann zieh du doch gleich als nächstes, Sirius, dann kannst du aufhören zu schmollen.“
„Oh, du darfst ihm nicht nachgeben“, erwiderte Remus, „sonst nutzt er das aus.“ Er war blasser als sonst. Schwarze Ringe fielen in seine Wangen, sodass seine hellbraunen Augen einige Schattierungen dunkler aussahen, wodurch er noch müder wirkte als sonst. Würde Mary nicht wissen, dass ihr Mitschüler immer mal wieder etwas kränklich war, dann würde sie fast schon vermuten, er fiele jeden Moment bewusstlos vom Stuhl.
„Das ist eine unfaire Lüge und das weißt du auch“, beschwerte sich Sirius.
„Ach und wie war das letztes Jahr, als du meinen guten Willen ausgenutzt und jeden Geschichts-Aufsatz von mir abgeschrieben hast?“
„Das ist, weil ich in Binns' Klasse nicht wach bleiben kann! Es ist ein schwerwiegendes Problem.“
„Wenn jemand sie nicht unterbricht, dann kann das den ganzen Tag so weitergehen“, murrte Peter mit einem Ausdruck im Gesicht, der klar machte, dass er die beiden sehr oft so ertragen musste.
Trotz der bibliothekischen Ruheverordnung klatschte Dorcas einmal schallend in die Hände, sodass sich mehrere Schüler, darunter ein paar genervt wirkende Sechstklässler, zu ihnen umdrehten. Die kurze Störung hatte nicht nur die Aufmerksamkeit anderer Schüler auf sie gezogen, sondern auch Sirius und Remus ruhig gestellt, wobei letzterer wesentlich peinlich berührter drein sah.
„Da wir das geklärt hätten“, sagte Dorcas mit einem durchtriebenen Lächeln, „da sind noch ein paar Zettel zum Ziehen übrig.“
„Genau, wir haben nicht den ganzen Tag Zeit“, fügte Mary an, bevor sie den Kessel in Sirius' Richtung schob.
Ohne viel Federlesen zog Sirius einen Pergamentfetzen heraus, stopfte ihn in seinen Umhang und drückte den Kessel dann weiter zu James. Dieser tat das Gleiche und gab den Kessel dann an Dorcas weiter.
„Hey, warum denn nicht gleich so?“, fragte sie glücklich klingend, bevor sie ebenfalls zog.
***
Der November endete in einem schweren Gewitter, das bereits Tage davor in der Luft gelegen hatte. Der unverkennbare Geruch nach Regen erfüllte die Räume, dunkle Wolkentürme trieben am Himmel und eisiger Wind rüttelte mit kalten Fingern an den Fenstern. In den Pausen sammelten sich Schülergruppen um die Fackeln in den Hallen oder wickelten sich dicke Schals um den Kopf, während wieder andere kleine magische Feuer in Einmachgläsern mit sich herumtrugen.
Nach einigen Fehlversuchen ihrerseits (Frank Longbottom musste einen Vorhang löschen und reparieren und ein paar Brandflecken aus dem Teppich zaubern) hatte Mary Lily gebeten, ihr auch ein Taschenfeuer zu zaubern. Die meisten Lehrer sahen es nicht gerne, wenn die Schüler mit magischen Flammen hantierten, drückten aber aufgrund der Kälte ein Auge zu. Professor Flitwick verbesserte ihre Feuer sogar, auch wenn man dann einen Sicherheitsvortrag des kleinen Lehrers ertragen musste. Mary war froh, dass sie dafür Lily hatte.
Jetzt, da der Dezember tatsächlich angebrochen war, rückten für alle Schüler die jährlichen Weihnachtsferien immer näher. Nur ein paar wenige Ausnahmen sahen den freien Feiertagen nicht entgegen; Lily freute sich nicht darauf, die Ferien mit ihrer Schwester verbringen müssen, mit der Mary ebenfalls schon Bekanntschaft gemacht hatte. Man konnte kaum meinen, Lily und ihre Schwester Petunia wären überhaupt verwandt, waren sie weder äußerlich noch innerlich irgendwie ähnlich. Mary verstand sehr gut, warum Lily sich nicht auf die Ferien freute. Lilys seltsamer Freund Severus Snape - von James liebevoll Schniefelus getauft - schien ebenfalls sehr miesepetrig durch die Hallen zu stiefeln und jeden mit einem düsteren Blick zu strafen, der es wagte, ihn anzusprechen. Sein Slytherin-Gefolge bestehend aus Avery und Mulciber grinsten derweil dämlich vor sich hin, als würden in ihren Flachköpfen nur eine Gehirnzelle hin und her eiern. Wahrscheinlich stimmte das auch.
Im Gegensatz zu Sirius, führten Lily und Snape sich allerdings fast schon wie glückliche Weihnachtselfen auf; der Erbe einer der ältesten Zaubererfamilien Englands schlurfte schlecht gelaunt durch die Flure, gab den Professoren patzige Antworten und verbreitete allgemeine eine Stimmung, als hätte man ihn gezwungen, fortan mit Peeves dem Poltergeist zu leben. Mary versuchte gar nicht erst, mit ihm zu reden. Was auch immer für Probleme er zuhause hatte, sie wollte nicht diejenige sein, an der er sie auslassen würde.
„Seine Eltern sind ziemlich streng“, sagte Marlene, die ihre Hände aneinanderrieb und weiße Atemwölkchen produzierte. Das Gewitter, das den November beendet hatte, wurde durch Schneegestöber abgelöst, die den Dezember einläuteten. Trotz der eisigen Temperaturen zwang man sie zum Kräuterkundeunterricht zu gehen, eine absolute Frechheit wie Mary fand. Selbst mit ihren Drachenhauthandschuhen froren ihre Finger wie unter kaltem Wasser. „Ich hab ihn und James mal belauscht - unbeabsichtigt natürlich“, fügte sie auf Marys zweifelnden Blick hinzu. „Jedenfalls finden Sirius' Eltern es nicht gerade gut, dass er in Gryffindor gelandet ist und sich mit Muggelgeborenen angefreundet hat.“
Mary hauchte einen Schwall an weißen Atem in die Luft. „Und ich dachte meine Familie wäre anstrengend“, sagte sie. „Meine Tante bringt jedes Jahr einen anderen Kerl mit, von dem sie fest überzeugt ist, dass er der eine ist, bevor sie sich auf den Punsch stürzt. Es ist echt traurig, aber Mum bringt es nicht übers Herz sie auszuladen.“
„Ich glaube solche Probleme hätte er gerne“, erwiderte Marlene mit einem traurigen Lächeln. „Aber jetzt mal was anderes, hast du das Wichtel-Geschenk schon fertig?“ Ihre Augen funkelten aufgeregt, auch wenn sie bis vor zwei Wochen nicht einmal gewusst hatte, was Wichteln war.
„So ziemlich“, gab Mary zurück. „Es fehlt nur der letzte Schliff.“
Marlene seufzte, weiße Wolken verdeckten kurzzeitig ihr Gesicht, dann sagte sie: „Ich noch nicht. Ich will es auf jeden Fall richtig machen, damit er -“, sie stockte mit großen Augen. „Ich meine, damit die Person sich auch freut! Verdammt.“ Sie legte sich eine Hand an die Stirn. „Tut mir leid.“
Mary lächelte lediglich. „Schon gut, Marls, um ehrlich zu sein, bin ich überrascht, dass du so lange durchgehalten hast.“
„Es ist wirklich nicht einfach, ein Geschenk für einen Jungen zu suchen“, meinte sie, sichtlich erleichtert, dass zumindest ein Teil ihres Geheimnis raus war. „Ich meine, was mögen die denn so?“
Mary musste ein belustigtes Schnauben unterdrücken. „Mädchen?“
„Oh, tolle Idee, ich bind mir einfach 'ne Schleife um und verschenk mich an ihn.“ Das Mädchen rollte mit den Augen. „Das war überhaupt nicht hilfreich.“
„Hab nie behauptet, dass ich hilfreich wäre.“ Mary grinste. „Komm schon, dir fällt schon was ein. Jetzt lass uns endlich reingehen oder mir frieren die Finger ab.“
Eine Woche vor Weihnachten hatten sie ihren Wichtel-Tag angesetzt. Genauer gesagt hatte Mary den Tag festgesetzt und jedem befohlen, bis dahin mit seinem Geschenk fertig zu sein. Das Geschenk für James hatte sie in eine kleine dunkelblaue Schachtel gesteckt und trug diese wie ein wichtiges Artefakt in beiden Händen vor sich. Zum Austauschen der Geschenke trafen sich die Zweitklässler in der Großen Halle, nachdem alle bereits zu Mittag gegessen hatten. Nur vereinzelt saßen ein paar ältere Schüler vor dampfenden Teetassen oder knabberten an Gebäck, während sie die letzten Hausaufgaben des Jahres erledigten. Wärmende Feuer brannten in den Kaminen in den Wänden und die eintausend schwebenden Kerzen warfen überall ihre langen Schatten. Der verzauberte Himmel an der Decke ließ Schnee von dicken, weißen Wolken rieseln, der auf der Hälfte des Weges verschwand. Seit Tagen hatte es auf den Hogwarts-Ländereien durchgängig geschneit. Zu jeder Tageszeit konnte man den riesigen Wildhüter Hagrid dabei beobachten, wie er das Gemüsebeet an seiner Hütte freischaufelte, Besen entfrostete und mit dicken Fellstiefeln hinauf zum Schloss stapfte, wobei er tiefe Fußabdrücke hinterließ, in die Mary sich einrollen könnte. Erst der knöchelhohe Schnee hatte den Kräuterkunde-Unterricht ausfallen lassen, sodass die Zweitklässler nach dem Mittag eine Freistunde hatten. Diese würde nun mit dem Austauschen von Wichtelgeschenken und Trinken von heißer Schokolade gefüllt werden.
Mary und ihre Freunde besetzten den Gryffindor-Tisch, legten ihre jeweiligen Geschenke auf einen Haufen und warteten. „Kommen jetzt doch die Wichtel?“, fragte Marlene leise.
„Nein“, erwiderte Dorcas belustigt, „aber wir können ja schlecht anfangen, ehe nicht alle da sind.“
„Das ist so typisch für Potter, dass er wieder zu spät ist“, murrte Lily vor sich hin, aber die anwesenden Mädchen waren schlau genug, ihr nicht zu antworten. Eine Tirade, wieso James Potter der schlimmste Mensch der Welt sei, hatte jeder von ihnen allein diese Woche schon zwei Mal gehört.
Es dauerte nur ein paar Minuten, ehe der Teufel in Person mit seinem Gefolge, Monty und Benjy die große Halle betrat. Ihren geröteten Gesichtern und den feuchten Haaren nach zu urteilen, kamen sie aus dem Schneegestöber.
„James und Schnee sind keine gute Kombination“, sagte Peter außer Atem, als er sich neben Emmeline fallen ließ. „Er hätte mich fast vergraben.“
„Ich hätte es auch geschafft, wenn Remus mich nicht aufgehalten hätte!“
Lily schnaubte hörbar genervt.
James warf ihr einen Blick mit hochgezogenen Augenbrauen zu, bevor er sich an Mary wandte. „Jedenfalls sind wir jetzt hier. Fehlt noch was?“
„Nö“, antwortete Mary, ein schwacher Schauer an Funken in ihrer Magengegend. „Meinetwegen können wir anfangen.“
„Und wie läuft das jetzt ab?“, fragte Sirius, der sich mit den Händen hinter dem Kopf verschränkt zurücklehnte. Schatten lagen unter seinen Augen, die ihn übermüdet aussehen ließen, womit er Remus' Augenringen deutliche Konkurrenz machte. Die beiden Jungs sahen aus, als hätten sie seit Tagen keinen erholsamen Schlaf mehr gehabt. Ob das die Panik vor den kommenden Weihnachtsferien war oder waren ihre Nächte einmal mehr für die Planung eines Streichs draufgegangen?
„Wir verteilen die Geschenke, oder nicht?“, erwiderte Dorcas mit einem fragenden Blick zu Mary.
„Am besten der Reihe nach, wie wir gezogen haben“, sagte diese, die mittlerweile ein nervöses Kribbeln in den Fingern spürte. Sie wollte endlich ihr Geschenk loswerden, James' Reaktion sehen und wissen, wer wem etwas geholt hatte.
„Dann fang du an.“ Lily lächelte ihr aufmunternd zu, als würde sie ahnen - vielleicht auch wissen - was passierte.
„Okay.“ Mary griff mutig in den Stapel Geschenke vor sich und holte die dunkelblaue Schachtel heraus, die sie dort vor wenigen Minuten erst abgelegt hatte. Alle Augen lagen auf ihr, abwartend und ungeduldig, Lily lächelte, Benjy biss sich auf die Unterlippe, Sirius lehnte sich weit nach hinten. Mary war das Zentrum der Aufmerksamkeit und sie ging in jedem Augenblick davon auf. Ihr Herz setzte einen Schlag aus, als sie sich schließlich nach vorne beugte und das Geschenk in James' Finger fallen ließ. „Für dich, Potter.“
Sein Gesicht hellte sich auf und Aufregung ließ kleine Falten um seine Lippen und Augen springen. „Danke, Mary!“
Ohne viel auf die schöne Verpackung oder Marys von Hand gebundene Schleife zu geben, riss er das Päckchen auf und enthüllte einen Miniatur-Besen sowie einen sauber beschriebenen Pergamentfetzen. „Frohe Weihnachten, James“, las er mit einem breiten Grinsen, sichtbaren Grübchen in den Wangen und glänzenden Augen, „dieses Spielzeug ist eigentlich für Kleinkinder gedacht, die gerade alt genug sind, nicht mit jedem Schritt wieder hinzufallen, deswegen ist es perfekt für einen Kindskopf wie dich! Viel Spaß damit. In Liebe, Mary.“ James lachte lauthals auf. „Das ist sehr nett von dir, Macdonald, danke. Ich werd's in Ehren halten.“
Mary konnte die Hitze spüren, die sich in ihre Wangen grub; sie kicherte ein wenig dümmlich, wie sie selbst fand, bevor sie den Blick abwandte.
Lily betrachtete sie mit hochgezogenen Brauen, aber blieb still, presste lediglich die Lippen zusammen, um ein Lächeln zu verbergen, das Mary trotzdem sehen konnte.
Ohne, dass er aufgerufen werden musste, ergriff Peter das Zepter; seine Finger griffen nach einem überraschend sauber verpacktem Päckchen, welches er sogleich an Monty überreichte.
„Hey, cool, danke, Pete!“ Der wesentlich breiter gebaute Gryffindor nahm das Geschenk entgegen und enthüllte nach schnellem Reißen und Zerren einen winzigen Quaffel, kaum größer als eine geballte Hand.
„Du kannst ihn größer werden lassen“, erklärte Peter beinahe aufgeregt klingend. „Gabs ganz neu beim Quidditch-Laden in der Winkelgasse! Drück einfach hier und - genau! Cool, oder?“
Der winzige rotbraune Ball in Montys Fingern war auf die Größe eines handelsüblichen Quaffel gewachsen. „Oh, Wahnsinn!“ Monty betrachtete den Ball mit glänzenden Augen. „Jetzt kann ich überall damit üben!“
Mary wollte nicht daran denken, wie oft sie jetzt einen Quaffel durch die Luft fliegen sehen musste - gerade, als sie dachte, sie wäre dem Fliegen entkommen, musste sie quidditchversessene Jungs in ihre Freundesgruppe ziehen. Es war ihre eigene Schuld, wirklich. Sie hätte damit rechnen müssen, dass irgendjemand Monty ziehen und ihn in seiner Obsession auch noch unterstützen würde.
Das nächste Geschenk war von Sirius. Es war mehr als schlampig verpackt, mit eingerissenen Stellen im Papier und ausgefransten Ecken. Das Päckchen war größer als die anderen auf dem Tisch, beinahe so groß wie eines der Schachbretter im Gemeinschaftsraum und Mary war sich plötzlich nicht mehr sicher, ob sie Sirius gesagt hatte, dass er es mit den Kosten nicht übertreiben sollte.
„Freu dich nicht zu früh“, sagte Sirius mit gewichtiger Stimme, als er das viel zu große Geschenk an Remus überreichte, „dafür bekommst du nichts anderes mehr zu Weihnachten.“
Remus wurde nicht rot; seine blasse Haut wurde lediglich noch ein Stück blasser und er stammelte unverständlich, als er das Päckchen annahm.
„Keine Widerworte, Lupin. Du hast mir lange genug damit in den Ohren gelegen und jetzt hast du es.“
Lily und so ziemlich alle anderen Anwesenden beugten sich mit interessiertem Blick vor, während Remus, der unter all ihren Augen zusammenschrumpfte, das Papier wegriss und eine Schallplatte hervorzog. „Sirius!“, sagte er müde, aber glücklich. „Ich hab dir doch gesagt, du sollst nicht -“
„Und ich habe ignoriert, was du gesagt hast.“ Sirius grinste breit, sichtlich zufrieden mit sich selbst und zeigte dabei seine glänzenden Zähne.
„The Rise and Fall of Ziggy Stardust and the Spiders from Mars“, las Marlene laut vor. Sie zog die Augenbrauen zusammen, halb belustigt, halb irritiert. „Das ist ein ziemlicher Zungenbrecher.“
„Das ist David Bowie“, erwiderte Remus, als würde das alles erklären.
„Er ist ziemlich berühmt, oder?“, fragte Mary, die den Namen zwar kannte, aber nicht viel mit seiner Musik anfangen konnte. Wenn sie zuhause war, hörte sie lieber ABBA oder einer der Platten ihrer Mutter.
„David Bowie ist ein Gott auf Erden“, sagte Remus, der seine Augen nicht von der Platte nehmen konnte. Mit einem Finger strich er über das bunte Coverbild, so sanft, als hätte er Angst, die Platte würde unter seiner Haut zu Staub zerfallen, wenn er zu viel Kraft aufwenden würde.
„Ihr seid nachher alle eingeladen, die Platte einzuweihen“, sagte Sirius. „Damit können wir diese Wichtel-Sache perfekt beenden, ja?“
Lily warf ihm einen zweifelnden Blick zu, aber selbst sie schien der Idee nicht abgeneigt zu sein. „Wir denken drüber nach.“
„Ach, Evans, sei kein Spielverderber“, grinste James. „Komm schon, ein wenig Spaß und gute Laune wird dich nicht umbringen.“
„Das nicht“, schnaubte Lily mit verschränkten Armen, „aber du wirst sicher mein verfrühtes Grab werden, Potter.“
„Bitte, fängt das wieder an“, murrte Dorcas und fuhr sich mit einer Hand übers Gesicht. „Dauert das noch lange mit euch?“
Lily, feuerrotes Haar und brennende Ohren, presste die Lippen zusammen, während James sichtbar mit den Augen rollte, aber ebenfalls ruhig blieb.
„Geht doch. Wer war als nächstes?“, fragte Dorcas an Emmeline gewandt, die nur mit den Schultern zuckte.
„James“, sagte Mary und verkniff sich das Lachen. „James, du hast nach Sirius gezogen, oder?“
Es war James' Zug zu erröten. „Kann sein“, murmelte er. Durch seine braune Haut bekam man es kaum mit, dass er peinlich berührt war, aber sein Stammeln und die nervös zuckenden Augenbrauen verrieten selbst ihn.
Mary kannte ihn nicht gut genug, um zu wissen, wann seine Cooler-Typ-Fassade bröckelte, aber selbst ohne dieses Wissen konnte sie erkennen, wie er mit schwächlich wackelnden Fingern nach einem sorgfältig eingepackten Geschenk griff. Die Farbkombination dunkelrot und grün verriet nur noch mehr, für wen das Päckchen war.
„Frohe Weihnachten, Evans“, sagte James Potter, ohne Lily dabei in die Augen zu sehen und schob ihr das Geschenk in die Hand.
„Oh.“ Für jemand so Intelligenten wie Lily, hatte sie eine erschreckend geringe Auffassungsgabe. „Äh, danke, Potter.“ Vorsichtig, als hätte sie Angst, das Päckchen würde jeden Moment zwischen ihren Fingern explodieren, entfernte sie die roten und grünen Papierschichten, bis eine schmale, kleine Box übrigblieb, ungefähr so groß wie eine geballte Faust. Lily bedachte James mit einem kalkulierten, nachdenklichen Blick, dann holte sie tief Luft und öffnete die Box. „Oh, lieber Gott...“
Mary, Marlene und Dorcas beugten sich erwartungsvoll vor, während Lily das Gesicht in den Händen vergrub und James die Lippen so fest zusammenpresste, dass seine Mundwinkel weiß wurden.
In der Box lag eine, wenn Marys krude Pflanzenkenntnis sie nicht täuschte, Lilie mit weiß-rosanen Blüten, platt gedrückt und getrocknet. Kaum hatte Lily sie enthüllt, strömte ein süßlicher Geruch von der Blume aus.
„Das“, sagte Marlene langsam, die Augen misstrauisch verengt, „ist überraschend süß. Nicht nur der Geruch.“
„Es sind nur ein paar einfache Zauber“, murmelte James verlegen. „Ich dachte, es würde dir vielleicht gefallen.“
„Das ist“, Lily stockte. Sie berührte die eingelegte Blume mit einem Zeigefinger, als müsste sie sichergehen, dass sie echt war. „Ich bin nicht sicher, was ich sagen soll, Potter.“
„Ein Danke würde reichen“, schnaubte Sirius, woraufhin Lily, Mary und Marlene ihm giftige Blicke zuwarfen. Der Junge zuckte mit den Schultern.
„Danke“, knirschte Lily. „Ich weiß nicht, was ich sonst sagen soll. Wirklich, danke.“
James' Lippen zierte ein schmales Lächeln, keine Spur des arroganten Grinsen war zu sehen und er neigte den Kopf ein wenig an, als würde er sich verbeugen und antwortete: „Ist mir eine Ehre, Evans.“
Nur ein Dummkopf würde den liebeskranken Blick in James Potters Augen nicht bemerken und Mary schätzte, Lily war der einzige Dummkopf in diesem Raum.
Unangenehme Stille legte sich über ihren Tisch; James nahm die Augen nicht von Lily, die überall aber in seine Richtung blickte. Eine unmögliche Sehnsucht lag in seinem Blick, lag in der Art, wie er Lilys gesamtes Gesicht musterte und nicht einmal blinzelte, wenn sie sich eine verirrte Strähne hinters Ohr schob. James war ein liebeskranker Volltrottel, Lily war ignorant und Mary seufzte. Sie riss die Augen von James Potters unmöglich chaotischen Haaren und den haselnussbraunen Augen, die nur für Lily bestimmt waren.
Emmeline räusperte sich und legte ihre Hände lauter als nötig auf der Tischplatte ab, dann sagte sie: „Wollen wir dann weiter machen?“
Dankbar für die Ablenkung, nickte Mary. „Ja, wer ist als nächstes?“ Sie warf einen erneuten Seitenblick auf James, bekam kribbelnde Handinnenflächen und biss sich auf die Zunge. Nur ein Dummkopf, dachte sie, und verkniff sich ein Schnauben. Vielleicht war sie auch ein Dummkopf.
„Ich, oh, ich!“ Dorcas setzte sich aufrechter hin, ein breites Grinsen auf den Lippen, welches ihre perlweißen Zähne zeigte. Sie hatte einen tuchähnlichen Schal um ihre schwarzen Haare gebunden, sodass sie einen dicken Zopf hatte, der hin und her wackelte, als sie ein dickes Päckchen aus dem Stapel zog und es auf Emmelines ausgestreckte Hand fallen ließ.
„Uh, uh, ist es das, was ich denke, was es ist?“, fragte diese aufgeregt, offensichtlich nicht überrascht, dass ihre Kindheitsfreundin das Glück gehabt hatte, sie beim Wichteln zu ziehen.
„Weiß ich nicht“, grinste Dorcas.
Emmeline fackelte nicht lange und begann das goldgelbe Papier vom Päckchen zu reißen. Zum Vorschein kam ein unscheinbares, schwarzes Kästchen mit einem Logo in Form eines Pinsels, welches die aufgeregte Ravenclaw sich sofort an die Brust drückte. Ein quiekendes Geräusch entkam ihr, ehe sie sagte: „Danke, danke, danke!“
„Was ist das?“, fragte Peter neugierig vorgebeugt.
„Eine magische Schminkschatulle“, erklärte Dorcas, die immer noch grinste. „Die wurde letztes Jahr in der Hexenwoche vorgestellt. Egal was für ein Make-Up man will, die Schatulle bereitet es für einen vor.“
„Ein paar der älteren Schülerinnen haben auch so eine und haben mir gezeigt, wie sie funktioniert“, fügte Emmeline glücklich an, „und seitdem wollte ich so eine haben. Meine Mutter glaubt Make-Up und Kleider würden mich dumm machen.“ Sie verdrehte die Augen.
„Deine Mutter glaubt aber auch, unsichtbare kleine Feen würden ihr die Schuhe klauen und verstecken“, sagte Dorcas trocken.
Mary konnte ein Lachen nicht verhindern. „Warum würde sie sowas glauben?“
„Keine Ahnung“, Emmeline zuckte mit den Schultern, während sie ihre neue magische Schminkschatulle mit sanften Fingern streichelte, „ich glaube ja, sie hat zu viele Zaubertrankdämpfe eingeatmet oder Gras geraucht oder so.“
„Gras?“, fragte Benjy mit zusammengezogenen Augenbrauen hinter seiner drahtigen Brille. „Wie kommt deine Mutter an Muggel-Drogen?“
„Sie kennt genug Leute“, seufzte Emmeline. „Das findet sie auch nicht verwerflich oder so, aber ein wenig Lippenstift ist ganz klar ein Zeichen von Hirnverlust.“
Benjy schnaubte belustigt, während James und Sirius verwirrte Blicken tauschten. (Reinblüter, dachte Mary feixend.) „Ihr magischen Leute seid echt komisch.“
„Du sagst das so, als wärst du nicht selbst magisch“, sagte Peter grinsend, woraufhin Benjy dunkelrot anlief.
„Ich meine – ich bin, aber ich –“
„Ich weiß, was du meinst“, meinte Lily laut, die Peter einen bösen Blick zuwarf. „Manchmal kommt es mir selbst noch unwirklich vor, dass ich eine Hexe bin, obwohl ich vorhin erst eine Obstplatte dazu gebracht hab, eine Tanznummer aufzuführen.“
Benjy lächelte dankbar.
Mary senkte den Blick. Sie wusste genau, was Lily und er meinten, wenn sie das sagten. Selbst nach über einem Jahr in der magischen Welt und Hogwarts, mit all den magischen Dingen, die sie mittlerweile selbst konnte, war es manchmal einfach, sich vorzustellen, sie würde nur einen sehr langen, detaillierten Traum leben. Jeden Moment war sie sicher, würde sie aufwachen und sie wäre wieder zehn Jahre alt und ihre Mutter würde sie zum Frühstück in den Garten rufen. Magie war ihr nicht mehr fremd, aber würde sie jemals wirklich vertraut werden? Wie konnte sie denn Magie verstehen, wie jemand wie James oder Sirius oder Marlene, die mit Magie aufgewachsen waren und nicht jeden Tag hinterfragen mussten, ob nicht vielleicht doch ein Fehler vorläge? Manchmal, ganz selten, wenn Mary nachts wach lag und nicht schlafen konnte, dann überlegte sie, wie anders ihr Leben verlaufen wäre, wäre sie nicht nach Hogwarts gekommen, wäre sie ein Muggel geblieben.
Vielleicht wäre es besser gewesen.
„Quatsch“, ließ James' Stimme sie den Kopf heben. „Ihr seid genauso sehr magisch wie wir es sind. Ist doch egal, wo wir herkommen, wir sind magisch und nur das sollte zählen.“
„Richtig“, sagte Remus müde lächelnd, ein Ausdruck in seinen verschatteten Augen, als würde er jeden Augenblick einschlafen. „Mein Dad hat mir erzählt, dass meine Mum mal darüber gesagt hat, dass magisch zu sein nichts anderes sei, als Mensch zu sein. Manche sind einfach nur ein wenig magischer, im Grunde sind wir aber alle gleich.“
Marlene schnalzte anerkennend mit der Zunge. „Deine Mutter klingt wie eine sehr intelligente Frau“, sagte sie langsam, als müsste sie jedes Wort genau abwiegen.
Remus lächelte und die Müdigkeit verblasste ein wenig aus seinem vernarbten, blassen Gesicht. „Das ist sie.“
„Oh Gott“, murmelte Benjy, die Wangen noch dunkler und die Augen noch weiter gesenkt. „Tut mir leid, ich hab die Stimmung voll runtergezogen.“
Mary wollte bereits zu einer Antwort ansetzen, aber von allen Leuten kam ihr Sirius Black zuvor: „Glaub mal nicht, so ein kleiner Realitätscheck würde uns runterziehen. Dazu fehlt noch so einiges, damit man hier die Stimmung versaut.“
„Ha, ganz genau!“ James Potters Grinsen war wie eine ansteckende Krankheit; man musste nur in seiner Nähe sein und schon fühlte man sich direkt davon betroffen. „Falls es dich aufheitert, wir haben, bevor wir hergekommen sind, ein paar Dungbomben in der Nähe des Slytherin-Gemeinschaftsraums platziert.“
Benjy lächelte verschmitzt. „Ihr habt's echt drauf.“
„Nächstes Mal kommst du einfach mit“, fügte Peter an. „Ich wette, du bist richtig gut darin, Slytherins zu ärgern.“
„Ich kann nicht glauben, dass ihr unseren unschuldigen Benjy in eure fiesen Pläne miteinbringt“, meinte Dorcas kopfschüttelnd. „Und dann nutzt ihr auch noch unsere schöne Wichtel-Runde dafür. Ich bin enttäuscht.“ Nicht einmal der gutmütige Professor Slughorn hätte diese absurde Lüge geglaubt, schon gar nicht mit dem versteckten Grinsen gepaart, das Dorcas hinter ihrer Hand versuchte zu verstecken.
„Du bist entweder für den Kampf gegen die Slytherins oder dagegen“, sagte James. Er schaute kurz irritiert, schüttelte dann den Kopf und fügte an: „Wie auch immer, jeder ist willkommen, den Schlangen eins reinzuwürgen.“
„Genau deshalb wird es nie innerhäuslichen Frieden geben“, zischte Lily mit roten Ohren. „Wenn ihr immer wieder und wieder zuschlagt, ist es kein Wunder, dass die Slytherins sich das nicht gefallen lassen.“
„Ach, Evans“, meinte Sirius kopfschüttelnd. „Du missverstehst uns doch komplett. Wir greifen ja niemanden an, der es nicht verdient hätte oder der nicht auch jede Chance eines Angriffes nutzen würde. Oder willst du mir sagen, du wärst lieber mit Blutfanatikern wie Avery und Mulciber befreundet?“
Mary biss sich auf die Zunge. So sehr sie Lily unterstützen wollte, konnte sie nicht anders, als in diesem Fall den selbsternannten Rumtreibern zu glauben. Sie konnte sich nur zu gut an die giftigen Blicke und noch giftigeren Wörter erinnern, die Mulciber ihr in Zaubertränke in den Nacken zischte, wenn Slughorn grad beschäftigt war, oder wie Avery ihr versucht hatte, einen Brandzauber auf den Hals zu hetzen, als sie auf dem Weg in die Große Halle gewesen war. Es wäre nur zu schön, wenn alle Häuser sich so vertragen würden, wie sie es mit den Leuten aus Ravenclaw und Hufflepuff konnten, aber sie vermutete, dass es einige Dinge gab, die zu sehr in manchen Schülern verankert waren; wie sollten sie auch keine fanatischen Reinblüter mit mittelalterlichen Ansichten sein, wenn sie es direkt von ihren Eltern so gelernt hatten?
Die Stille, die Lily als Antwort gab, war allen genug. Keiner hatte vergessen, wie Avery und Mulciber Lily zum Weinen gebracht hatten, als sie mit ihrem Slytherin-Freund Snape gegessen hatte.
James und Sirius tauschten ein gewinnendes Grinsen miteinander, als hätte Lily ihnen damit ihre persönliche Erlaubnis erteilt, den idiotischen Häuser-Krieg weiterzuführen.
Mary legte einen Ellbogen auf dem Tisch ab, bettete ihr Kinn in ihrer Handinnenfläche und seufzte lächelnd.
„Was ist?“, fragte Marlene neben ihr.
„Nichts“, erwiderte sie. „Ich glaube, ich freu mich einfach nur, hier zu sein.“ Ein warmes Gefühl tränkte sie von innen heraus. So fehl sie sich manchmal am Platz fühlte, so sehr sie manchmal nicht glaubte eine Hexe zu sein und so sehr sie manchmal nicht wusste, ob sie nicht doch einen Traum durchlebte, hier und jetzt war Mary Macdonald sich mehr als sicher, dass sie dazu gehörte, dass sie am richtigen Ort mit den richtigen Leuten gelandet war.
Marlene lächelte sie an, griff unter dem Tisch nach ihrer freien Hand und drückte sie fest. „Das tun wir alle.“
„Genug davon“, sagte Emmeline laut genug, sodass alle Blicke auf ihr landeten. „Wir sollten weiter machen oder wir sitzen noch hier, wenn das Abendessen beginnt. Wer ist als nächstes?“
Das warme Gefühl verstärkte sich nur, als Mary glücklich grinsend beobachtete, wie Benjy in dem Stapel nach einem Päckchen suchte und es mit roten Wangen an Peter reichte.
Weihnachten war nach allem eben doch ihre liebste Zeit im Jahr und was gab es Besseres, als die Feiertage mit ihren Freunden einzuläuten?
Chapter 22: 22. Jahr 2: Reine Weihnacht
Chapter Text
Eine melancholische Schwere drückte auf Sirius‘ Brust. Hogwarts, seine Freunde, selbst der unterfordernde Unterricht lagen in weiter Ferne und der Grimmauldplatz Nummer 12 thronte wie ein dunkles Gegenstück zur Schule inmitten der schmutzigen Straßen Londons. Schwarze Fenster beäugten die gerade angekommenen Black-Brüder.
Kreacher ließ von ihren Ärmeln ab und sagte: „Kreacher hat die jungen Masters Black nach Hause gebracht, wie die Miss es befohlen hat. Die Miss wartet auf die jungen Masters Black im Speisesaal, soll Kreacher ausrichten.“
„Vielen Dank, Kreacher“, sagte Regulus. Er schenkte dem Hauselfen ein Lächeln. „Würdest du meine Tasche für mich in mein Zimmer bringen, ja?“
„Selbstverständlich, Master Regulus, Kreacher wird sich sofort darum kümmern.“ Kreacher legte einen dünnen, gräulichen Arm auf Regulus‘ Tasche und im nächsten Augenblick war er verschwunden.
Die Tür zum Grimmauldplatz Nummer 12, eine schwere, dunkle Holztür mit schlangenartigen Verzierungen und einem massiven Löwenmessinggriff, schwang von allein auf, als die Brüder auf der letzten Stufe ankamen. Sirius ballte beide Hände zu Fäusten und holte tief Luft, bevor er den ersten Schritt ins Haus wagte. Ein düsterer Gestank lag in der Luft, ein Kribbeln in seiner Nase und seinen Fingerspitzen, dass die Haare an seinem Nacken aufstehen ließ. Dunkle Magie klebte an den Wänden, verschmierte die Fenster und Türen, ließ die Dielen am Boden knarzen. Im Haus der Blacks hatte es nie anders gerochen und doch wurde Sirius beinahe schlecht.
„Was glaubst du, möchte Mutter mit uns besprechen?“, fragte Regulus.
Sirius warf einen überraschten Blick zu seinem Bruder. Seit Regulus ihn auf den Quidditch-Tribünen aufgesucht und ihm von Onkel Alphards Verstoß erzählt hatte, hatte er keine wirkliche Unterhaltung mehr mit seinem jüngeren Bruder geführt. Es würde ihn stark überraschen, wenn Regulus plötzlich wieder heile Familie spielen wollte, hatte aber eine Ahnung, was er vor hatte. Sirius entschied sich, vorerst mitzuspielen, wie sein Bruder es vorgeschlagen hatte. „Sie will dir wahrscheinlich persönlich gratulieren, dass du die Familientradition fortführst.“ Er zwang sich zu einem Lächeln, auch wenn es in seinen Mundwinkeln brannte. Wann war das letzte Mal, dass Sirius im black’schen Haus gelächelt hatte? „Und dich dafür loben, dass du mit den anderen Reinblüter-Jungs aus deinem Jahr befreundet bist.“
Was auch immer Regulus als Antwort erwartet hatte, das war es nicht gewesen. Seine blassen Wangen wurden dunkel. „Barty und Evan sind nicht nur meine Freunde, weil sie Reinblüter sind, Sirius.“
„Natürlich nicht, aber Mutter wird trotzdem erfreut sein.“ Sie standen an der Treppe, die hinunter in den Speisesaal führte. Die abgeschlagenen Köpfe der alten Hauselfen an den Wänden schienen ihnen mit toten Augen zu folgen. Es fühlte sich an, als würde Sirius direkt in den Magen der Bestie steigen, je tiefer er die Treppe hinunterstieg. Seine Füße berührten kaum die Stufen, so kam es ihm vor. Als würde er hinunterfliegen, oder gezogen werden.
Die Matriarchin der Familie Black saß am Ende des Tisches, gekleidet in den feinsten, schwarzen Roben, die es in der magischen Welt für Geld zu kaufen gab. Ihre langen Finger lagen auf der Holzplatte und trommelten ungeduldig, bis ihre Söhne vor ihr stehen blieben und die Köpfe senkten. Walburga Black, einst eine Schönheit, heute kaum mehr als ein garstiger Schatten ihrer Selbst, betrachtete zuerst ihren ältesten Sohn, eine Mischung aus Abneigung und Erwartung in den Augen.
„Meine Wünsche wurden nicht beachtet“, sagte sie schließlich. Walburga seufzte nicht, schaute nicht enttäuscht drein oder bat um Aufklärung. Stattdessen zog sie die Augenbrauen zusammen, bis ihre Augen schmal wurden. „Ich bin mir sicher, dass ich ausdrücklich ausgesprochen habe, dass ich nicht möchte, dass du weiterhin Umgang zu Blutsverrätern und Schlammblütern führst. Für das Wohl unserer Familien und dem Ansehen, das wir uns aufgebaut haben, Sirius.“
Still, kalt, dunkel - so, wie es im Grimmauldplatz immer war. Sirius traute sich kaum, seine Füße zu bewegen. Er rammte sich die Fingernägel tief ins Fleisch, bis er heißen, flammenden Schmerz in seiner Handinnenfläche spürte, dann antwortete er seiner Mutter in der höflichsten, ruhigsten Art, die er aufbringen konnte: „Es missfällt mir, meinen Freunden den Rücken zu kehren, Mutter.“
Walburga musste ihren Zauberstab nicht zücken, um in Sirius die Angst zu entfachen, jeden Moment verflucht zu werden. Ihr kühler, kalkulierender Blick reichte dafür vollkommen aus. „Du stellst die Gefühle von Schlammblütern über die deiner eigenen Mutter? Fleisch und Blut und Magie der Familie Black haben seit Jahrtausenden überdauert. Ich werde nicht zulassen, dass du ganze Ären an magischer Geschichte in den Dreck ziehst, nur weil du denkst, du könntest mit dreckigen Muggelliebhabern und Schlammblütern befreundet sein.“ Mit langsamen, bedachten Bewegungen erhob Walburga sich von ihrem Platz. Sie ging um Sirius und Regulus vorbei, bis sie direkt hinter ihrem ältesten Sohn stand, ihr heißer Atem wie eine Warnung im Nacken, dass es zu spät war, um wegzulaufen. Die Spitze ihres Zauberstabs fand den Weg zu Sirius unteren Rücken.
„Mutter, bitte - „, fing er mit panikverklebter Stimme an, aber Walburga wartete nicht auf eine Entschuldigung, eine Ausrede, ein Wimmern.
„Crucio“, wisperte Walburga in Sirius' Ohr.
Der Fluch riss durch seine Haut und steckte sein Fleisch in Brand. Noch bevor er sich daran hätte hindern können, fiel Sirius vor Schmerz schreiend auf die Knie. Er krallte beide Hände vor den Mund, während glühend heiße Flammen sein Inneres ausfüllten, sein Blut verdampfen ließen, seine Knochen schmelzen ließ, die Haut von seinem Körper tropfen ließ. Der Folter-Fluch schnitt durch jede seiner Schichten, hinterließ nichts als Schmerz und den Wunsch nach Erlösung.
So schnell es begonnen und ihn auf die Knie gezwungen hatte, so schnell hörte es auf. Walburga zog ihren Stab zurück, verstaute ihn in den Tiefen ihrer Robe und sagte mit dunkler Stimme: „Wenn meine Worte nicht zu dir durchdringen wollen, dann müssen es Taten sein. Wir beide wollen nicht, dass das passiert, Sirius.“
„Mutter.“ Regulus' Stimme fand ihren Weg kaum an Sirius' Ohr; das Echo seiner eigenen Schreie hallte noch immer darin nach. „Dieser Fluch ist vom Ministerium verboten worden.“
Walburga schnalzte ungeduldig mit der Zunge, ihr ältester Sohn wie ein getretener Hund zu ihren Füßen. „Das Ministerium ist voller Schwächlinge und Feiglinge“, sagte sie mit peitschender Stimme. „Sie tun alles daran, damit wir vor den Muggeln versteckt bleiben, obwohl wir die nötigen Mittel hätten, diese dreckigen Würmer zu vernichten. Na, wie auch immer“, ein kühles Lächeln legte sich auf ihre Lippen, „so, wie die Dinge sich gerade entwickeln, ist es wohl nur noch eine Frage der Zeit.“
„Was soll das heißen?“, keuchte Sirius, der kaum die Kraft hatte, sich auf seinen Knien hochzustützen. Mit wackligen Beinen krallte er sich am Tisch fest, um nicht mit dem Gesicht voran auf den Stein zu krachen.
„Das hat dich nichts anzugehen, Sirius“, erwiderte seine Mutter. „Es gibt Dinge, die sind nicht für die Ohren von kleinen Jungen geeignet.“
Sirius knirschte mit den Zähnen, bereit ihr ein paar sehr gewählte Worte an den Kopf zu werfen, die ganz sicherlich nicht im Repertoire eines Erbsohnes vorhanden sein sollten, als Regulus einen halben Schritt zur Seite tat, ihm dabei auf den Fuß trat und mit lauter Stimme verkündete: „Wahrscheinlich würden wir die schwierigen, erwachsenen Angelegenheiten sowieso nicht begreifen, nicht wahr, Sirius?“ Regulus blickte ihn nicht an, sondern hielt die Augen auf ihre Mutter gerichtet.
„Genau“, gab Sirius schließlich zu, als er den stechend dunklen Blick seiner Mutter nicht mehr ertrug. Er senkte die Augen, Echos von brennenden Schmerzen in seinem Körper. „Vergib mir für meine kühne Frage, Mutter.“
„Für dieses eine Mal werde ich das, aber du tätest gut daran, dich beim nächsten Mal zurückzuhalten.“ Walburga warf Sirius einen letzten, abweisenden Blick zu, dann wandte sie den Kopf ihrem Jüngsten zu.
Regulus zuckte kaum merklich nach hinten.
„Erzähl mir, Regulus, wie gefällt es dir im Haus unserer Familie? Sicherlich ist Slytherin ein wahrer Nährboden für deine magischen Fähigkeiten.“
Sichtlich mit seiner Antwort hadernd, knetete Regulus seine Finger vor sich. „Es ist“, fing er langsam an, „eine großartige Erfahrung und ich fühle mich geehrt, dass ich an Salazar Slytherins Lehren Teil haben darf. Meine Mitschüler behandeln mich gut und ich fühle mich wohl dort.“
Walburga nickte. „Das ist gut zu hören. Slytherin wird dir auf dem Weg an die Spitze ein guter Begleiter sein, vergiss das nicht. Wenn du wie dein Vater bist, dann werden auch dir die laschen Prüfungen Hogwarts' mehr als leicht fallen.“
Es war unter dem kläglichen Küchenlicht kaum zu erkennen, aber Regulus' helle Haut wurde noch blasser. Er krallte die Hände in die Seite und antwortete mit überraschend kräftiger Stimme: „Vielen Dank, Mutter. Ich werde mein Bestes geben, um in Vaters Fußstapfen zu treten.“
„So lobe ich mir das“, erwiderte Walburga, der Anflug eines Lächelns auf ihren dünnen Lippen. „Nun, geht nach oben und macht euch fürs Abendessen fertig.“
„Mutter?“ Sirius wappnete sich bereits für den Ausbruch, doch Walburga blickte lediglich für den Bruchteil einer Sekunde zu ihm - das Zeichen, dass sie ihn gehört und er weiterreden durfte. „Wo wird die diesjährige Weihnachtsparty stattfinden?“
„Auf dem Sitz der Familie Malfoy. Abraxas hat uns alle herzlich eingeladen, nun da Narzissas und Lucius' Hochzeit bald ansteht.“
„Verstehe. Danke.“
Walburga entließ ihre Söhne mit einem Handschwenk.
Die Malfoys - Sirius wusste genug über diese Familie, um eine Gänsehaut zu bekommen. Sie standen der Familie Black in Skrupellosigkeit und Hinterhältigkeit in nichts nach. Abraxas Malfoy, das derzeitige Oberhaupt der Familie, war Vorsitzender des Zaubergamots und schon immer nah mit der Ministerebene gewesen. Ob Abraxas auch mit der Ministerin Jenkins im Bündnis war, wusste Sirius nicht. Er hoffte darauf, etwas Zeit zu haben, auf dem Anwesen der Malfoys nach Informationen suchen zu können, so wie Andromeda ihn gebeten hatte.
Wenn er dem Inhalt aus dem Brief trauen konnte, den Andy ihm vor einiger Zeit geschickt hatte, so braute sich noch mehr zusammen als nur wahllos wirkende Angriffe auf Muggel und Muggelgeborene. Andromeda hatte nur wenig gesagt, was wirklich Hand und Fuß hatte, Spekulationen über Wahrheit, aber Sirius vermutete, dass sie selbst nicht mehr wusste. Alles, was sie gesagt hatte, war ihm schon bewusst gewesen: In der magischen Welt brodelte ein Umschwung und es würde nicht mehr lange dauern, bis er endlich überkochen würde.
***
Im Spiegel stand eine schrecklich blasse Frau, die unzufrieden an ihrem Kleid herumzupfte. Das Kleid war wunderschön, keine Frage, lavendelfarben mit einem weiten Rückenausschnitt und langen, mit Spitze besetzten Ärmeln, die manchmal über ihre dünnen Finger fielen. Der Saum am Ende des Kleids war gerafft und kitzelte bei jeder Bewegung an ihren Knöcheln, die in unbequemen schwarzen Schuhen stecken, lange Absätze und ein halbes Dutzend Schleifen zur Verzierung.
Narzissa Black - sie hatte sich so an ihren Namen gewöhnt, es kam ihr seltsam vor, dass sie ihn bald ändern würde. Narzissa Malfoy würde sie dann heißen. Sie würde die Verbindung zu ihrer Familie nicht komplett verlieren, sie wäre auch nach der Eheschließung immer noch eine Black, aber es würde nie wieder so sein, wie es früher war. Sie, Andy und Bella würden nie wieder durch die Hallen von Black Manor laufen und Verstecken mit den Hauselfen spielen, sie würde nicht mehr mit ihren Schwestern in einem großen Bett liegen und den neusten Tratsch und Klatsch austauschen, sie würde nie wieder davon träumen, wie es wohl wäre, am Altar in die glücklichen Gesichter von Bellatrix und Andromeda zu schauen. Ob sie wohl Andromeda je wiedersehen würde? Seit sie im letzten Jahr verkündet hatte, diesen Muggelgeborenen heiraten zu wollen, hatte sie kein Wort mit ihrer Schwester wechseln können. Andy war noch an dem Abend verschwunden und aus dem Stammbaum gebrannt worden - ein Werk von Tante Walburga, kein Zweifel.
Narzissa betrachtete ihr Gesicht im Spiegel, die hohe Stirn, die feine Nase und die grauen Augen. Sie lächelte, aber es sah wie eine Grimasse aus. Was war nur aus ihrer Familie geworden? Eine Schwester war verschwunden, die andere psychotisch, der Erbe der Blacks war ein Gryffindor, um Merlins Willen, und ihre Mutter hatte einen Nervenzusammenbruch nach dem anderen. Wenn es so weiter mit den Blacks ging, dann wären sie den Platz an der Spitze der Heiligen Achtundzwanzig bald los. Die Hierarchie der Reinblüter war ein seit Jahrhunderten unerschüttertes Konstrukt, jeder war sich seines Platzes mehr als bewusst. Sie und Bellatrix hatten bereits ihren Soll als Töchter des Nebenzweigs erfüllt und sich mit Männern aus anderen Reinblutfamilien verbunden, aber wenn sie sich Sirius und Regulus ansah, dann war sie sich nicht sicher, ob die Herrschaft der Blacks eine weitere Generation anhalten würde. Bereits jetzt gab es Gerüchte und Geflüster darüber, dass sie ihren Thron verlieren würden. Daralis Fawley und Perelope Avery hatten sich ausgiebig bei der letzten Zusammenkunft der Familien darüber unterhalten und obwohl es Narzissa in den Fingern gekitzelt hatte, diesen beiden gierigen Wurm-Frauen ein paar Flüche aus dem Arsenal der Blacks auf den Hals zu hetzen, hatte sie sich beherrscht. Denn sie hatten doch Recht, nicht wahr? Mit den Blacks ging es langsam bergab.
Ein Klopfen an der Tür ließ sie endlich von ihrem Spiegelbild absehen. Dunkelrotes Licht fiel durch einen Spalt der Vorhänge in das Gästezimmer in Malfoy Manor. „Herein“, sagte Narzissa, glättete geistesabwesend die nicht vorhandenen Falten auf ihrem Kleid.
Ein hochgewachsener Mann in dunklen Roben trat ein. Abraxas Malfoy war ein respektabler Mann, mit intelligenten, dunklen Augen und weißblonden Haaren, die zu einem dünnen Pferdeschwanz gebunden seinen breiten Rücken hinabfielen. Er hatte ein glattrasiertes, ebenes Gesicht, mit lediglich einer langen, feinen, silbrigen Narbe, die seine untere Lippe durchschnitt. Narzissa erwischte sich zu oft dabei, wie sie die Narbe anstarrte, zu der ihr Lucius nie gesagt hatte, wie sein Vater dazu gekommen war.
„Mr. Malfoy“, sagte Narzissa und beugte den Kopf.
„Bitte, wir gehören fast zur gleichen Familie, ich glaube es ist Zeit, wenn wir die Förmlichkeiten hinter uns lassen. Nenn mich einfach Abraxas.“
„Ich werde es versuchen“, erwiderte Narzissa, die es schwierig fand, dem Mann in die Augen zu sehen. Sie hatte das Gefühl, er könnte jeden ihrer Gedanken lesen.
Abraxas trat weiter in den Raum, die Hände hinter dem Rücken verschränkt und blieb vor den geschlossenen Vorhängen stehen. Durch den Spalt lugte er in den Garten. „Die Vorbereitungen laufen wunderbar“, sagte er langsam. „Die Lestranges sollten auch jeden Moment eintreffen. Wenn du es wünscht, lasse ich Bellatrix herbringen.“
„Das wäre zu freundlich.“
„Nicht doch. Ihr gehört zur Familie, nicht wahr?“ Abraxas wandte ihr den Kopf zu und lächelte. Wenn sie nicht wissen würde, dass er vor wenigen Jahren einen gigantischen Putsch im Zaubereiministerium verursacht hatte, wodurch der muggelgeborene Minister Nobby Leach zurückgetreten war, dann würde sie sein Lächeln als wärmlich empfinden. Schauspielerische Leistungen hatten ihn damals davor bewahrt, seine Stelle im Zaubergamot zu verlieren und auch heute war sich Narzissa nicht sicher, was echt und was gespielt war.
„Stimmt“, sagte sie nur.
„Nun“, Abraxas wandte sich wieder zum Fenster, die breiten Schultern durchgedrückt, „es gibt etwas, weswegen ich dich aufgesucht habe, Narzissa. Ich möchte dir ungerne deinen besonderen Abend ruinieren, deswegen wollte ich dich vorwarnen, dass unter den Gästen heute Abend Anhänger des Mannes sein werden, der die magische Welt in Aufruhr bringt. Sicherlich weißt du, wen ich meine.“
Narzissa schluckte schwer. Natürlich wusste sie, wer gemeint war, wie auch nicht, wenn ihre eigene Schwester wie ein verliebtes Mädchen über diesen Lord schwärmte, der vorhatte, die Muggel und Schlammblüter aus der Welt zu bannen. Sie stimmte nicht mit dem wahllosen Morden und Schlachten überein, aber auch sie war es leid, dass sie ihre magischen Fähigkeiten vor einem Großteil der Menschen verstecken musste. Wieso musste sie in den Schatten leben, wenn ihre Macht doch alles Licht verschlingen konnte?
„Sie wollen Rekrutieren, nehme ich an?“
„Keiner von ihnen wird es wagen, die Festlichkeiten zu unterbrechen, keine Sorge. Sie haben klare Befehle, kein Aufsehen zu erregen. Allerdings wollte ich dich nicht blindlings in ihre Arme schicken, Narzissa. Ich weiß, dass du Konflikten lieber aus dem Weg gehst.“
„Ich vermeide, was zu vermeiden ist, aber ich weiß, wann ich mir die Hände schmutzig machen muss. Danke für deine Warnung, Abraxas. Ich werde mich den Anhängern des Dunklen Lords entgegenstellen und sie herzlich willkommen heißen, wie es sich für die zukünftige Dame der Malfoys gehört.“
Kein Schauspieler der Welt hätte das stolze Lächeln Abraxas' nachahmen können. Der Kopf der Malfoys drehte sich zu seiner zukünftigen Schwiegertochter um, ein Glänzen in den grauen Augen. Das dunkelrote Licht der Abendsonne ergoss sich auf ihn, sodass es aussah, als würde er in Flammen stehen. „Du übertriffst all meine Erwartungen, Narzissa. Lucius hätte sich wahrlich keine bessere Frau als dich suchen können. Du wirst dem Namen Malfoy alle Ehre machen, dessen bin ich mir sicher.“
„Vielen Dank, Mr. Malfoy“, erwiderte sie, bevor sie sich daran hindern konnte.
Ein seltenes Geräusch erfüllte Malfoy Manor; Abraxas lachte und lächelte sie an, wie ein Vater seine Tochter anlächeln würde. „Bleib bei Abraxas, meine Liebe. Wir sind jetzt eine Familie.“
***
Evan Rosier sah lächerlich in seinen teuren Roben aus. Mitternachtsblaue Seide und nachtschwarzer Samt waren zu einem teuer aussehendem Frack geschneidert worden, wodurch Evan ein wenig wie ein zu groß geratener Pinguin aussah. Wieso sie alle mit elf Jahren so schick herausgeputzt werden mussten, war Regulus schleierhaft, aber er hatte nichts gesagt, als seine Mutter es angeordnet hatte. Im Gegensatz zu Evan mussten er und Sirius immerhin nur schwarze Festtagsumhänge mit silbernen Verzierungen tragen, die sie wesentlich älter aussehen ließen, als sie waren. Regulus fühlte sich damit wie auf einem Silbertablett präsentiert.
Malfoy Manor war an diesem Abend im besten Glanz gezeigt; von der unnatürlich hohen Decke hingen ein Dutzend Kronleuchter, jeder voll beladen mit hunderten kleinen Kerzen und Kristallen, die das Licht brachen, an den Wänden hingen teure Wandteppiche, altehrwürdige Portraits und Raritäten aus anderen Ländern. In der Mitte des riesigen Raumes glänzte ein schwarzer Tisch, so lang, dass das ganze Slytherin-Haus gemütlich daran Platz gefunden hätte, und bedeckt mit Köstlichkeiten und Getränken, für die keine Kosten und Mühen gescheut wurde. Am Ende des Raums wurde eine Bühne aus dem dunklen Parkett erhoben, auf welcher eine ganze Auswahl an Musikinstrumenten stand oder schwebte und von allein spielte. Sanfte Töne erfüllten die Luft, konnten das Brummen der Gespräche aber nicht überdecken.
„Eine Schande, dass Barty nicht hier ist“, sagte Evan, der ungeduldig an seinem Frack zerrte. Seine dunkelblonden Haare waren kurz geschoren, seine grünen Augen verschattet und müde. Er hatte ein sehr rundliches Gesicht und eine fast verheilte Schürfwunde an der Lippe. „Es würde ihm sicherlich gefallen, zwischen all diesen wichtigen Leuten zu sein.“
„Und er würde es sich nicht nehmen lassen, dich für dein lächerliches Outfit auszulachen“, erwiderte Regulus lächelnd.
„Oh, sei bloß ruhig, Reg“, sagte Evan. „Mein Vater hat mich die ganze Zeit über angeschnauzt, weil ich dieses hässliche Ding nicht tragen wollte.“
Daher wohl auch die Wunde, vermutete Regulus lautlos. Evan hatte genug von seinem Vater erzählt, damit Regulus sich zusammenreimen konnte, dass die beiden ein ähnliches Verhalten wie Sirius und ihre Mutter hatten. Allerdings schien Mr. Rosier nicht sehr darauf erpicht zu sein, seine gewaltsamen Tendenzen vor der Außenwelt zu verstecken, ansonsten hätte er nie zugelassen, dass sein Sohn mit einer sichtbaren Wunde zur Weihnachtsfeier der Malfoys kam. Vielleicht schrieb Regulus ihm damit aber auch mehr Intelligenz zu, als Mr. Rosier tatsächlich besaß.
„Hast du die ganzen Leute hier schon mal gesehen?“, fragte Evan leise. „Die Hälfte von denen hab ich noch nie bei irgendeiner Feier gesehen. So viele Ehen kanns doch in letzter Zeit nicht gegeben haben, oder?“
„Keine Ahnung“, erwiderte Regulus. Malfoy Manor war gefüllt mit wichtigen Zauberern, angesehenen Hexen, Mitgliedern des Zaubergamots und den Heiligen Achtundzwanzig. Kaum waren seine Familie und er angekommen, hatte Orion Black Zauberer und Hexen begrüßt und Walburga hatte ihren Jüngsten zu den anderen Kindern der Reinblutfamilien geschickt. Von Sirius' Seite war sie bisher nicht gewichen und hielt einen eisenharten Klammergriff an seiner Schulter.
Aber auch Regulus waren die unbekannten Gesichter aufgefallen, die zwischen all den wichtigen Leuten hervorstachen. Männer mit hochgezogenem Kragen und unfreundlichen Augen, Hexen, die aussahen, als würden sie Gift in die Getränke mischen, eine Truppe an Zauberern, die sich immer im Schatten der anderen Gäste aufhielten und beobachten, lauschten, warteten. Keiner von diesen seltsamen Neuzugängen hatte bisher mit jemandem geredet oder sich wie ein Gast auf einer Feier benommen.
„Glaubst du, das sind vielleicht verdeckt arbeitende Auroren?“ Evan hatte die Augen aufgerissen, als er das fragte, kräuselte aber im nächsten Moment die Augenbrauen, als ein verhaltendes Lachen hinter ihnen ertönte.
„Ihr seid ja noch naiver, als ich dachte. Ist es nicht absolut offensichtlich, wer diese Zauberer sind?“
Hinter Regulus und Evan stand eine Gruppe von Jungs, unter ihnen Ennis Mulciber und Nestor Avery, Slytherin-Schüler aus Sirius' Jahrgang. Gesprochen hatte Mulciber, der jeden seiner Zähne wie ein Raubtier zeigte.
Regulus ließ sich von Mulciber nicht einschüchtern, auch wenn der andere Junge was zwei Köpfe größer und um etliches breiter als er war. „Wenn es so offensichtlich ist, dann erleuchte uns.“
„Aber doch nicht umsonst, Black. Informationen sind ein kostbares Gut, nicht? Was bietest du mir dafür, dass ich es euch verrate?“
Avery schnaubte belustigt.
Regulus wandte ihm den Kopf zu und hob eine Augenbraue. Was seine Eltern ihm über die Averys erzählt hatten, kam ihm in den Sinn und er sagte: „An deiner Stelle würde ich mich ebenfalls nur hinter Größeren verstecken, Avery. Hat dein Vater nicht erst letzten Monat um Leihgaben bei den anderen Familien betteln müssen, weil er euer gesamtes Vermögen in den Sand gesetzt hat?“
Das Grinsen tropfte von Averys Gesicht und er öffnete den Mund ein paar Mal, um zu einer Antwort anzusetzen, aber nichts kam. Stattdessen lachte Mulciber erneut auf. „Beeindruckend, Black. Nach dem Fiasko mit deinem Bruder war ich mir sicher, dass es das mit eurer Familie war, aber ich schätze, ich hab mich getäuscht. Du bist Slytherin durch und durch, nicht wahr?“
Regulus reckte das Kinn leicht in die Höhe. „Du solltest Sirius nicht unterschätzen, nur weil er nach Gryffindor gekommen ist“, sagte er. „Er ist und bleibt trotzdem ein Black und das solltest du nicht unterschätzen, Mulciber.“
Der ältere Slytherin zog die Augenbrauen zusammen und betrachtete Regulus mit einem kalkulierenden, kühlen Blick. Nach einigen Augenblicken nickte er mit dem Kopf zur Seite. „Seht ihr die beiden Männer da? Die in den Winterumhängen an der Säule?“
„Die aussahen, als wären sie mit Trollen verwandt?“, stellte Evan die Gegenfrage, wofür er einen entnervten Blick erntete.
„Willst du jetzt wissen, wer die sind, oder nicht?“, schnauzte Mulciber ihn an.
Evan rollte mit den Augen und Regulus seufzte. „Sag schon.“
„Der eine heißt Valentin Crabbe, das ist der riesige Typ, der andere ist Garret Goyle.“
Entfernt klingelte Vertrauen in Regulus' Ohren, als hätte er die Namen bereits gehört. Er runzelte die Stirn.
Mulciber beantwortete seine ungestellte Frage. „Kommen dir bekannt vor, ja? Etwas anderes hätt ich von 'nem Black auch nicht erwartet. Crabbe und Goyle sind keine Mitglieder der Achtundzwanzig, wie ihr sicher wisst.“ Sein Blick ging zu Evan, der nur halbherzig mit den Schultern zuckte. „Sie sind zwar Reinblüter, aber viele gehen davon aus, dass es Schlammblüter und Halbblüter in ihrem Stammbaum gibt. Gerüchten zufolge hat Crabbe einen Squib-Bruder, der verstoßen wurde, noch bevor sie nach Hogwarts kamen.“ Mulciber grinste schief, Zähne weiß und glänzend und zum Angriff gefletscht. „Jedenfalls arbeiten Crabbe und Goyle für den dunklen Lord und sind hier, um seine Kunde zu verbreiten und mehr Mitglieder der Achtundzwanzig zu rekrutieren.“
Regulus wagte einen raschen Blick auf die Männer in den Winterumhängen; Crabbe und Goyle waren beide groß und breit gebaut, mit aggressiv wirkenden Gesichtern und kurz geschorenen Haaren. Wenn Regulus es nicht besser wissen würde, dann würde er denken, die beiden wären Brüder. Goyle hielt die ganze Zeit den Blick auf eine Gruppe an Hexen gerichtet, während sein Kumpel immer wieder mit den schmalen Augen den Raum scannte. Wonach sie genau Ausschau hielten, konnte er nicht sagen. Regulus wandte sich wieder an Mulciber.
„Woher weißt du das alles?“
„Ist das nicht offensichtlich?“, schnaubte Avery missbilligend klingend. Er hatte die Arme verschränkt und noch immer kroch eine leichte Schamesröte über seine Wangen. „Streng doch mal dein kleines Köpfchen an.“
Regulus legte die Stirn in Falten. „Du bist Mitglied?“, fragte er zweifelnd.
Mulciber zuckte mit den Schultern. „Nicht offiziell“, meinte er nonchalant, als würde er über einen Schachclub reden. „Mein Vater aber und er hat mir alles erzählt, was ich wissen muss, damit ich ebenfalls beitreten kann, wenn ich älter bin. Auch wenn es bis dahin vielleicht schon vorbei ist, eh, Black?“ Er grinste, als hätte er den Hauspokal für Slytherin gerade eigenhändig gewonnen. „Es ist nur noch eine Frage der Zeit, bis der dunkle Lord die Herrschaft an sich reißen wird. Dann leben wir unter jemanden, der das reine Blut eines Zauberers und einer Hexe noch zu würdigen weiß.“
„Aus welcher Familie kommt dieser Lord überhaupt?“, fragte Evan.
„Warum interessiert es dich?“, erwiderte Avery.
„Der dunkle Lord“, fing Mulciber langsam an, „ist wahrscheinlich mehr Reinblut als wir alle zusammen. Ich gebe euch einen Tipp, von welchem großartigen Zauberer er abstammt.“ Mit dem Finger tippte er sich die Brust, als würde er ein imaginäres Wappen zeigen wollen. Würde er seine Hogwarts-Uniform tragen, dachte Regulus amüsiert, dann würde es nicht ganz so dämlich aussehen. Die Belustigung fiel von ihm ab, als er Mulcibers gewinnendes Grinsen sah.
„Du meinst doch nicht - „
„100 Punkte für Slytherin“, sagte Mulciber verschwörerisch. „Ihr seid nicht die einzigen, die mit einer Nachfahrschaft von Salazar Slytherin angeben könnt, Black.“
„Der Lord ist ein Nachfahre Slytherins?“, flüsterte Evan ungläubig.
„Der einzig wahre“, sagte Mulciber. „Du musst mir natürlich nicht glauben, würde ich wahrscheinlich ohne jeglichen Beweis auch nicht tun, aber ich sage das nicht, weil ich Spaß daran finde, euch etwas vorzulügen. Ich hab meinem Vater anfangs auch nicht geglaubt, als er es mir erzählt hat, aber es gibt Beweise, die nicht gefälscht sein können. Ohne Zweifel ist der dunkle Lord ein Nachfahre Slytherins.“
Regulus wollte nicht ganz glauben, was er dort hörte. Wenn das wirklich wahr sein sollte, dann müsste dieser Lord irgendwo in seinem Stammbaum zu finden sein, oder nicht? Immerhin waren die Blacks auch entfernt mit Salazar Slytherin verwandt und das musste bedeuten, dass irgendeine Verwandtschaft mit diesem Lord nicht auszuschließen sei - sollte Mulciber die Wahrheit erzählen. „Warum erzählst du uns das alles?“, fragte Regulus mit zusammengezogenen Augenbrauen. Er verschränkte die Arme, auch wenn er wusste, dass er damit nicht bedrohlich oder tough wirkte.
„Warum nicht?“, stellte Mulciber die Gegenfrage. „Immerhin sind wir doch bald alle Verbündete gegen die Schlammblüter, nicht wahr?“ Er streckte Regulus eine seiner breiten Hände entgegen. „Auf gute, zukünftige Zusammenarbeit, Black.“
Evan und Regulus gleichermaßen starten auf Mulcibers Hand, die wie ein leeres Versprechen zwischen ihnen hing. Sein Vater würde zugreifen, sagte Regulus sich. Sein Vater würde daraus ein Geschäft für die Familie machen und Kontakte pflegen, wie es sich für das Oberhaupt gehörte. Regulus ergriff Mulcibers Hand, Haut and Haut, Reinblut an Reinblut, und schüttelte sie.
„Auf erfolgreiche Kooperation“, wiederholte er, was sein Vater einmal gesagt hatte.
„Gesprochen wie ein richtiger Geschäftsmann“, entgegnete Avery mit anerkennendem Nicken. „Jetzt komm, Ennis, wir sollten deinem Vater Bericht erstatten.“
Ennis Mulciber lächelte erneut so, als hätte er sein Opfer bereits mit Fangzähnen gerissen. „Recht hast du, Nestor. Also dann, Jungs. Man sieht sich bestimmt. Viel Spaß noch.“
Evan und Regulus warteten, bis Mulciber und Avery außer Reichweite waren, dann sagte Evan: „Der Typ ist super unheimlich. Was benimmt der sich eigentlich, als wäre er schon volljährig und die rechte Hand von diesem Lord? Wenn du mich fragst, dann ist das ganz schöner Schwachsinn, was er geredet hat. Wo soll dieser Lord überhaupt auf einmal herkommen? Ich glaub kein Wort, was Mulciber sagt.“
„Aber warum sollte er lügen?“
„Warum nicht? Ich weiß nicht, wieso ich ihm trauen soll, die Sache stinkt doch. Ich bin auch vollkommen dafür, dass Schlammblüter und Halbbrutpack ausgerottet werden, aber dafür muss ich keinem selbsternannten Lord folgen, der sich nicht in der Öffentlichkeit zeigt. Oder hast du den Kerl schon mal gesehen?“
Regulus schüttelte den Kopf. Evan hatte Recht. Er brauchte keinen blöden Lord, der sich nicht traute, selbst herauszukommen und neue Verbündete zu rekrutieren. Regulus wusste, wem er folgen musste und derjenige musste sich nicht einen Lord nennen, um Respekt und Ehrfurcht zu generieren.
„Ich verhungere, komm schon, lass uns was essen.“ Evan zupfte an Regulus' Ärmel und gemeinsam drängten sie sich durch die anderen Gäste der Party. Es roch nach Alkohol und Fleisch, gebratenem Gemüse und Schokolade, Fisch und würzigen Saucen. Überall standen Hexen und Zauberer in kleinen Gruppen zusammen und unterhielten sich in gedrückten Flüstertonen, sodass sie nur vereinzelt Wörter aufschnappen konnten.
Das gleißende Mondlicht strahlte durch die Fensterfassaden und malte silberne Verzierungen auf das schwarze Parkett. Regulus versuchte sich genau einzuprägen, wie die Erwachsenen sich verhielten, wie sie standen, redeten, aßen. Wenn er die Heiligen Achtundzwanzig nachahmte, dann würde seine Mutter nie einen Grund finden, wieso sie ihn, Regulus, verfluchen sollte. Dann müsste er nie sein eigenes schmerzerfülltes Schreien in den Ohren hören, wenn der Folterfluch ihn traf.
Regulus würde nicht Sirius' Fehler wiederholen, auch wenn er dafür mit Leuten wie Mulciber zusammenarbeiten musste.
„Oh Merlin, Reg, guck doch! Die haben 'ne dreifache Schokotorte!“ Evan deutete mit ausgestrecktem Finger auf ein Meisterwerk der Konditorkunst, drei Lagen voller Sahne und Schokolade. Ein paar Hexen hatten Evan ebenfalls gehört und lächelten in ihre Richtung.
Na, dachte Regulus, ein Abend konnte er sich erlauben noch Kind zu sein, bevor er und Evan sich draufmachten, das Buffet zu stürmen.
***
Lieber Sirius,
es ist so langweilig ohne dich. Dad arbeitet die ganze Zeit und hatte selbst an Weihnachten kaum Zeit, meinen neuen Besen mit mir auszuprobieren (ich hab mir nicht mal einen gewünscht, aber Dad dachte, wenn ich dafür trainiere, bald Quidditch-Kapitän zu werden, dann kann ich nicht mit fünf Jahre alten Modellen rumfliegen), aber immerhin hat er hoch und heilig versprochen, dass er mir zeigt, wie man Schneebälle so verzaubert, dass sie einem Opfer hinterherfliegen. Das nutzen wir dann direkt für Schniefelus, wenn wir wieder in Hogwarts sind, ja? Ha, der olle Schmierlappen wird gucken. Selbst Evans muss dann lachen, das garantier ich dir.
Jedenfalls wollte ich dich daran erinnern, dass du immer noch zu unserer Neujahrsparty eingeladen bist. Dieses Mal müssen wir einfach zusammen das neue Jahr einleiten, komm schon! Überleg doch mal, wir könnten nasszündenes Feuerzeug im Garten hochgehen lassen, während Mum und Dad und die anderen Leute im Haus sind! Der ganze Himmel würde glühen!
Wenn deine Mutter Nein sagt, dann bitte ich Mum wieder, dass sie ihr schreibt, letztes Mal hat das doch auch geholfen. Ich will dich einfach nicht in diesem widerwärtigen Haus wissen, wer weiß, was für kranke Strafen sich deine Hexe von einer Mutter dieses Mal einfallen lässt. Sag Bescheid ja? Und sag gleich dazu, dass sie dir nichts angetan hat, okay?!
Meine Eltern bestellen dir schöne Grüße und sagen, du sollst mir sagen, wenn sie dich nicht gut behandeln. Dad kennt genug Auroren und Ministeriumsleute, dass sie dich und deinen Bruder bestimmt rausholen könnten, auch wenn sie dein Haus nicht sehen können. Mum will auch nicht, dass du jeden Sommer da hinmusst und hat angeboten, dass sie mit deiner Mutter reden wird, wenn sie dich vom Bahnhof im Sommer abholt. Vielleicht kann sie raushandeln, dass du wenigstens ein paar Wochen bei uns bleibst! Dann kannst du wieder das Gästezimmer haben, Mum hat auch das Bett frisch bezogen, wenn du kommen solltest.
Schreib mir bald zurück, okay?
In Liebe,
James.
Chapter 23: 23. Jahr 2: Heilige Abende
Chapter Text
Spinner's End war die wohl schmutzigste, hässlichste und heruntergekommenste Straße, die man in Cokeworth finden konnte. Über den Dächern der schäbigen Wohnhäuser ragte ein riesiger Schornstein in die Höhe, der dunkle Wolken an Abgasen in den Himmel spie. Von der Straße aus konnte man den dreckigen Fluss nicht sehen, der sich durch die Industriestadt zog, wohl aber riechen. Ein dauerhafter Geruch nach verschmutztem Flusswasser, toten Fischen und Abfall, der zu lange in der Sonne gelegen hatte, kroch durch jede Ritze Cokeworth' und sorgte dafür, dass niemand diese Stadt jemals freiwillig besuchen würde.
Severus Snape war auf keinen Fall freiwillig hier. Wenn es nach ihm ginge, dann würde er jetzt im Gemeinschaftsraum der Slytherins sitzen und an dem Aufsatz für Slughorn über die Effekte von Warzpulver in verschiedener Dosierung im Anti-Akne-Trank arbeiten, den er nach den Ferien abgeben musste. Vielleicht würde er es sich auch in der Bibliothek gemütlich machen und ungestört in Büchern über Experimentelle Magie und die Schemen von Zaubersilben blättern. Seine eigenen Nachforschungen mussten aber genau wie seine Schulaufgaben warten, bis er die Schrecklichkeit, die sich Spinner's End nannte, verlassen konnte. Er zählte die Tage bereits sehnsüchtig.
Severus saß, seit er von seiner Mutter vom Bahnhof abgeholt wurde, in seinem Zimmer, hatte es nur verlassen, um zu essen oder das Badezimmer aufzusuchen und hatte bisher kaum mehr als eine Handvoll Wörter zu seinen Eltern gesagt. Eltern, in Anführungszeichen, wenn es nach seiner Meinung ging. Mehr als die Magie seiner Mutter und ihr blasses, dünnes Aussehen, sowie die unnatürlich öligen Haare seinen Vaters hatte er nicht geerbt. Ob Eileen und Tobias Snape wirklich seine Eltern war, bezweifelte Severus noch.
Seine Mutter war ein Reinblut und sein Vater ein Muggel. Wieso die reinblütige Slytherin-Hexe gerade einen gewöhnlichen Muggel geheiratet und sich mit ihm im schmutzigen Cokeworth niedergelassen hatte, war ihm schleierhaft. Irgendetwas musste sie in ihm gesehen haben, dass sie überzeugt hatte, die Bande zu ihrer Familie zu kappen und in eine schmutzige Industriestadt zu ziehen, in der es weniger Magier gab, als Snape an einer Hand abzählen konnte. Was auch immer Tobias Snape damals gehabt hatte, damit Eileen Prince ihre Prinzipien zurückließ, heute war davon sicher nicht mehr viel übrig. Severus' Vater hatte seit einigen Jahren nicht mehr gearbeitet, seit er seine Stelle in der Cokeworth-Mine verloren hatte. Er hatte seiner Frau verboten, sich einen Job zu suchen oder ihnen mit Magie zu helfen und seitdem lebten sie größtenteils von Spenden und Essensmarken. Wenn Eileen nicht vorgedacht und einen Sack voll Galleonen für ihren Sohn gespart hätte, dann hätten sie sich vor zwei Jahren nicht einem seinen Zauberstab leisten können.
Lange hatte Severus gedacht, sein Vater müsste ein besonderer Mann sein und die trunkenen Wutanfälle wären nichts, was er nicht aushalten könnte, aber mittlerweile war er sich nicht einmal mehr sicher, ob seine Mutter sich nicht aus Versehen in einen schmutzigen Kanalköter verliebt hatte. Tobias Snape tat den lieben langen Tag nichts anderes, als vor dem dicken, schwarzen Fernseher zu sitzen und über die gekappte Leitung Kabelfernsehen zu gucken, während er billiges Bier trank, als wäre es Wasser. Manchmal ging er in die Kneipe und kam dann noch betrunkener und mit Schulden zurück, weil er versucht hatte, auf das Ergebnis eines Rugby-Spiels zu wetten. Betrunken war seine Laune eine brennende Zündschnur. Es fing langsam an, beinahe schon friedlich, er redete langsamer als sonst und konnte den Blick nicht klar stellen, aber je mehr Zeit verging, desto aggressiver wurde er. Wenn die Schnur ihr Ende erreicht hatte, schlug er zu.
Severus hatte lange versucht, die Trunkenheit und die Aggressivität seines Vaters zu entschuldigen, aber auch er wusste mittlerweile nicht mehr, was er sagen sollte. Der Gedanke, dass Tobias Snape ein großartiger Mann und ein liebevoller Ehemann gewesen war, war für Severus abwegig. Auch, wenn er ihn einst mit anderen Augen gesehen hatte, heute wusste Severus, dass sein Vater ein fauler Taugenichts und ein dummer, unnützer Muggel war. Er würde keine Entschuldigungen mehr für ihn suchen.
Vor dem mickrigen Fenster in seinem kleinen Zimmer setzte schmutziger Nieselregen ein. Die Scheibe wurde lange nicht mehr geputzt, deswegen konnte er nur einen recht verschwommenen Blick nach draußen werfen. Die dunkle Straße begann in kürzester Zeit feucht zu glänzen und obwohl es eigentlich tiefster Winter war, war dieses Jahr nicht eine Schneeflocke auf Cokeworth gefallen. Severus mochte es nicht, wenn es regnete, aber noch weniger mochte er es, wenn die Sonne schien. Das Wetter war ihm schon immer negativ aufgefallen, egal wie schön oder schlecht es war. Er fühlte sich draußen nicht wohl, zog es aber dem schrecklichen Haus in Spinner's End vor. Vielleicht könnte er am Flussufer entlang laufen und bis zum Spielplatz gelangen, ohne dass ihn eines der dämlichen Kinder entdeckte, die gegenüber der Mine wohnten und sich für etwas besseres hielten, weil ihre Väter noch Jobs hatten. Widerliche, dreckige Muggel-Gören - Severus hatte jedes Mal große Lust, ein paar der Flüche auszuprobieren, von denen die älteren Schüler im Gemeinschaftsraum manchmal redeten.
Das quietschende Geräusch der Haustür ließ Severus aufblicken. Momente später wurde die Tür heftig ins Schloss geworfen, sodass selbst das kleine Fenster seines Zimmers erzitterte. Er spähte durchs schmutzige Glas und seine gedankliche Frage wurde beantwortet, als er die bullige, leicht wankende Gestalt seines Vaters auf der Straße entdeckte. Ein paar Stunden würde das letzte Haus in Spinner's End jetzt vor Tobias Snapes Ausbrüchen sicher sein.
Severus verließ sein Zimmer mit langsamen, kalkulierenden Schritten. Die Treppe schloss direkt an seine Tür an, denn das Haus war nicht nur schäbig sondern auch unmöglich klein. Um das Wohnzimmer zu betreten musste er ein dünnes Bücherregal beiseite schieben, wodurch er allerdings den Durchgang in die Küche blockierte. Das Wohnzimmer der Familie Snape war kaum größer als das Büro des unliebsamen Hausmeisters an Hogwarts, Mr. Filch, ausgestattet mit einem Sofa, das älter als Severus war, einer gerade so aufrecht stehenden Kommode mit dem klobigen Fernseher darauf und einem Sofatisch aus Glas, den Tobias irgendwann mal von der Straße mitgenommen hatte. Wohnlich oder gar heimisch sah es hier keineswegs aus. In den Ecken, neben dem Fernseher, auf dem Tisch und selbst in die Ritzen des Sofas geschoben, bedeckten leere Bierflaschen das Zimmer, als wären sie ausgewählte Dekorationsgegenstände. Durch ein einziges Fenster neben der Tür fiel gedimmtes Licht, die andere Lichtquelle, eine Laterne, die mit einer Schnur von der Decke hing, war aus.
Severus' Mutter, Eileen, saß in der Küche, frische Tränenspuren auf ihren Wangen und eine zerknitterte, grob angerissene Zeitung vor sich aufgeschlagen. Die Küche war kaum größer als das Wohnzimmer, ebenso mit Bierflaschen dekoriert und kaum als Küche funktionstüchtig. Der Kühlschrank war so alt, dass er kaum noch Strom zog und deswegen nicht richtig kühlte und der Ofen brauchte Ewigkeiten, um heiß zu laufen. Die Küchenschränke waren gelblich verfärbt und an der Decke gab es Wasserflecken. Der Tisch, an dem Eileen saß, wackelte, wenn man eins der Beine nicht mit altem Zeitungspapier stützte. Severus könnte diese Probleme alle mit seinem Zauberstab lösen, aber durfte außerhalb von Hogwarts nicht zaubern und würde seine Ausbildung nicht dafür riskieren. Seine Mutter weigerte sich, Magie im Haus zu wirken. Eigentlich weigerte sie sich allgemein, Magie zu nutzen. Severus war sich nicht sicher, ob er seine Mutter jemals hatte zaubern sehen.
„Oh, Severus“, sagte Eileen und wischte sich über die Augen. Sie war dünn und blass und sah kränklich aus, mit eingefallenen Wangen und tiefen Schatten unter den Augen.
„Hallo, Mutter“, erwiderte Severus mehr aus Höflichkeit. „Wie geht es dir?“
„Ach, du weißt ja, wie es ist. Es ist nicht einfach, aber ich komme zurecht. Hast du Hunger? Ich kann ein paar Ravioli warm machen.“
Severus würde viel lieber ein selbstgekochtes Gericht aus den Hogwarts-Küchen essen, konnte sich diesen Luxus im Moment aber nicht leisten. „Vielleicht später.“ Er wartete einen Moment, seine Hände ein Knäuel vor sich haltend, dann fragte er: „Wieso bleibst du?“
Es brauchte keine Spezifikationen, was er damit meinte. Eileen seufzte leise, als hätte sie gewusst, dass es irgendwann kommen würde. Sie deutete auf den Platz neben sich, aber Severus blieb stehen. Einen Augenblick blickte sie ihrem Sohn in die dunklen Augen, dann wandte sie den Kopf nach unten. Die fast zerrissene Zeitung knisterte unter ihren Fingern.
„Ich glaube nicht, dass du es verstehst, Severus. Liebe ist etwas sehr kurioses, es gibt kein richtig oder falsch, wenn es darum geht. Ich liebe deinen Vater über alles.“
„Warum?“
„Ich tu es einfach“, sagte sie, die Spur eines Lächelns auf ihren dünnen Lippen, auf denen sie kontinuierlich heraumkaute. „Es gibt kein Wieso oder Warum, weißt du? Vielleicht verstehst du es irgendwann selbst mal, aber wenn du einen Menschen wirklich liebst, dann liebst du seine guten und schlechten Seiten. Ich habe deinen Vater mit Neunzehn kennengelernt, wir sind jetzt zwanzig Jahre verheiratet, ich weiß, wie er ist. Ich liebe ihn mit all seinen Macken.“
„Er schlägt dich“, sagte Severus trotzig klingend. „Er schlägt mich.“
Eileen hob zwar den Kopf, vermied es aber, ihrem Sohn in die Augen zu gucken. Sie streckte eine Hand nach ihm aus, eine dünne, blasse Hand mit knochigen Fingern und einer silbernen Narbe auf dem Handrücken und wartete, dass Severus sie ergriff.
Er bewegte sich nicht vor.
„Dein Vater hat Probleme mit seiner Selbstkontrolle“, sagte sie schließlich und ließ die Hand fallen. „Aber er arbeitet daran, wirklich! Es gibt auch Aussichten auf einen neuen Job!“
Severus ballte die Hände zu Fäusten. Die Ärmel seines viel zu großen Pullovers rutschten ihm bis zu den Fingerspitzen. Mit zittriger Stimme sagte er: „Und das soll die Schmerzen entschuldigen? Das soll entschuldigen, dass er mir einen Zahn ausgeschlagen hat, als ich sieben war? Das entschuldigt, dass er mir fast den Arm gebrochen hat, als ich das erste Mal gezaubert hab?“ Severus hatte große Mühe seine Stimme ruhig zu halten, während er seine Mutter anstarrte, die nicht den Abstand hatte, zurückzublicken. „Wo ist seine Reue, wenn er sich verliert?“
„Er arbeitet daran!“, wiederholte Eileen sich, aufgebracht klingend, als wäre es Severus, der seine Kontrolle verlieren und sie schlagen würde. „Dein Vater ist ein guter Mann, ich weiß es.“
„Wann zeigt er es denn endlich?“, fragte Severus, der sich nicht daran hindern konnte, erschöpft zu klingen. Müde von all den Entschuldigungen, müde von den Versprechen, die nie gehalten werden. Hätte er denn nicht auf der guten Seite des Flusses geboren werden können? Hätte er nicht eine Familie wie die von Lily haben können? Womit hatte er diesen nichtsnutzigen Trunkenbold eines Vaters verdient, diese schwache Mutter, die sich nicht wehren würde, obwohl sie Magie besaß, die das elendige Leben dieses Muggels auslöschen könnte?
„Severus, du weißt nicht, wovon du redest. Du bist noch jung, du verstehst es nicht“, sagte Eileen. „Wenn du älter bist, dann wirst du wissen, dass man nicht immer die einfachen oder offensichtlichen Dinge tut, auch wenn man es sollte. Auch Erwachsene haben Gefühle, weißt du? Wir hören nicht auf, traurig oder hoffnungsvoll zu sein, nur weil wir groß werden.“
Ein abfälliges Schnauben entkam ihm, was seine Mutter endlich dazu veranlasste, aufzublicken. Ihre gleichen, dunklen Augen trafen sich für einen Augenblick, einen elendig langen Augenblick, in dem Severus hoffte, etwas in ihr zu erkennen, das ihm zeigen würde, das wenigstens sie seinen Schmerz, seinen Unmut, seinen Hass verstand.
Nichts. Eileen Snapes Blick war trüb und dunkel und kühl. Als hätte sie nicht ein Wort dessen gehört, was ihr Sohn gesagt hatte.
„Das solls also sein?“, fragte er langsam. „Damit soll ich mich zufriedengeben und einfach hoffen und warten, bis er sich mal dazu entscheidet, nicht zuzuschlagen?“
„Es wäre besser, wenn du auf dein Zimmer gehst, Severus. Dein Vater kommt bald zurück“, sagte sie, erneut den Blick abwendend.
Severus drehte sich auf dem Absatz um. Er trat einen Schritt ins schäbige Wohnzimmer, verschob das Bücherregal, sodass er den Zugang zur Küche halb verdeckte und die Treppe halb offenlegte. Er hatte bereits einen Fuß auf die knarzenden Dielen gesetzt, bereit, sich am Regal vorbeizuquetschen und auch die nächsten Tage in seinem Zimmer zu verbringen, als er innehielt. Er blickte zur Seite, wo er nur noch das dunkle Holz der Vertäfelung zu Gesicht bekam, hinter der seine Mutter saß. „Manchmal“, fing er an und räusperte sich, als er das Kratzen in seiner Stimme bemerkte. „Manchmal wünsche ich mir, ich wäre nicht geboren worden.“
Es war so lange still, dass Severus sich sicher war, dass sie ihn nicht gehört hatte. Er nahm die letzten Stufen nach oben, hatte die Hand bereits an der Tür, als die leise Antwort seiner Mutter zu ihm wehte.
„Manchmal wünsche ich mir das auch.“
***
Nicht jeder war sonderlich erfreut über Lilys Rückkehr nach Hause. Ethan Evans, Lilys Vater, hatte ihr Leibgericht gemacht und April Evans, Lilys Mutter, wollte jedes kleine Detail über ihren Hogwarts-Aufenthalt hören, das es zu erzählen gab, von den Unterrichtsfächern, zu Hausaufgaben und was sie mit ihren Freunden angestellt hatte, bishin zu Fragen nach Marys und Marlenes Wohlbefinden. Lily schätzte das Interesse ihrer Eltern sehr wert. Es war nicht selbstverständlich, dass sie so geliebt und gepflegt wurde, wenn sie an die schreckliche Situation in Severus' Haus dachte. Umso dankbarer war sie auch für ihre Familie, selbst für ihre Schwester, die nicht ein einziges, nettes Wort für sie übrig hatte, seit sie angekommen war.
Petunia hatte, kaum dass Lily mit ihrer Tasche über die Schwelle des Evans-Haushaltes getreten war, ihrer Schwester einen gehässigen Blick zugeworfen und war in ihr Zimmer gelaufen. Zum Abendessen hatte sie sich zwar wieder blicken lassen, aber es redlichst vermieden, in Lilys Richtung zu blicken. Um an das Salz zu kommen, das bei Lily stand, war sie extra aufgestanden und war um den gesamten Tisch gegangen, damit sie auf keinen Fall mit ihrer Schwester reden musste.
Tage später hatte sich daran nicht viel geändert, allerdings hatte sich Petunia dazu erweichen lassen, zumindest sporadisch mit ihrer Schwester zu reden. Sie hatten sogar ein für ihre Verhältnisse ausführliches Gespräch über die am Nachmittag laufende Gerichtsshow gehabt, die Petunia immer schaute. Zwei Tage vor Neujahr hatte sie sogar gelächelt, als Lily zum Frühstück kam.
„Guten Morgen, Tuni“, sagte Lily in einer vorsichtig-fröhlichen Art.
„Morgen“, erwiderte Petunia. „Reich mir bitte eine Tasse, ja?“
Lily tat, wie sie drum gebeten wurde und setzte sich danach auf ihren üblichen Platz.
„Ich wünschte, es würde mal wieder schneien“, sagte April Evans, die ihre Finger um eine Tasse mit brühfrischem Tee geschlungen hatte. „Dann könnten wir alle zusammen zur Eishalle und Schlittschuhfahren.“
„Hier hat es doch ewig nicht geschneit“, meinte Petunia, die sich Orangensaft eingoss. „Es regnet doch eh nur.“
„Auf Hogwarts liegt immer Schnee im Winter“, sagte Lily, bevor sie sich dran hindern konnte. „Bevor wir gefahren sind, bin ich mit Mary und den anderen Mädchen auf dem Schwarzen See Schlittschuh gelaufen.“ Augenblicke später biss sie sich auf die Zunge.
„Das muss herrlich gewesen sein“, seufzte April. „Ich wünschte, ich könnte es auch mal sehen. Das Schloss, meine ich.“
Petunia blickte vehement nicht in Lilys Richtung und hielt ihr Buttermesser mit solch einer Kraft umklammert, dass ihre Knöchel weiß hervorstachen.
„Kannst du nicht ein Foto davon machen, Lily?“, redete April weiter. „Du könntest es mit einer dieser Eulen senden, ja? Oder gibt es vielleicht Postkarten oder Souvenire? Bestimmt gibt es in dieser Winkelgasse einen Souvenirladen, meinst du nicht auch? Dann ist es fast so, als wären - „
Ein lautes Klirren unterbrach sie. Petunia hatte ihr frisch gefülltes Glas umgeworfen, sodass es auf den weißen Fliesen zerbrochen war. Mit zusammengekniffenen Augen stierte sie Lily an, als wäre auch das irgendwie ihre Schuld gewesen. „Lily dies, Lily das, Hogwash dies, Hogwurt das, meine Güte. Ich bin auch noch da, aber mich hat niemand nach meiner Schule gefragt!“
April, die bereits aufgesprungen und Küchenpapier geholt hatte, erstarrte mitten in der Bewegung. „Petunia“, sagte sie tadelnd. „Du warst das ganze Jahr zuhause und hattest genug Zeit, uns von deiner Schule und deinen Freunden zu erzählen! Wir sehen deine Schwester nur noch selten und wollen deswegen alles wissen, was sie zu erzählen hat.“
„Ja, nun“, Petunia verschränkte die Arme hart vor der Brust und blickte ihre Mutter mit herausfordernd zusammengezogenen Augenbrauen an, „manche von uns wollen aber ihr Weihnachten nicht mit Details über irgendwelche Freaks auf der Freak-Schule ruiniert haben.“
„Petunia!“
„Es ist doch wahr!“, kreischte die ältere Schwester. „Immer, wenn Lily hier ist, dann redet ihr nur über ihre dämliche Freak-Schule und ich bin vollkommen egal! Weiß sie überhaupt, dass ich das ganze Schuljahr über die besten Aufsätze der ganzen Klasse geschrieben hab? Weiß sie, dass ich zur Klassensprecherin gewählt worden bin?! Natürlich nicht, denn keinen hier interessiert was ich kann, wenn die ach so tolle Lily hier ist!“
Es wurde still in der Küche, nur unterbrochen vom stetigen Ticken der Uhr an der Wand und dem mechanischen Surren des Kühlschranks. April starrte ihre Tochter an, die wütend und schwer atmend zurückstarrte. Die Küchentücher lagen vergessen auf dem Tisch, Scherben und Orangensaft glitzerten unschuldig unter der Deckenleuchte wie stille Beobachter.
„Das ist wirklich toll, Tuni“, sagte Lily mit belegter Stimme. Sie versuchte sich um jeden Preis nicht anmerken zu lassen, wie verletzend die Worte ihrer Schwester waren, wie tief sie sich in ihr Herz bohrten. „Klassensprecherin wolltest du doch schon lange werden, Glückwunsch.“
Lily hatte nicht damit gerechnet, dass ihre Schwester ihr freudestrahlend um den Hals fallen würde, aber noch weniger hatte sie damit gerechnet, dass Petunia wie eine Warnsirene kreischte, aufsprang und die Treppen hoch in ihr Zimmer polterte. Das Zuschlagen ihrer Tür hallte wie ein Kanonenschuss in der Luft nach.
Lily standen die Tränen in den Augen. „Es tut mir leid“, sagte sie schluchzend. „Das ist alles meine Schuld.“
„Was redest du denn da?“ April ging neben ihrer Tochter auf die Knie und griff nach ihren Händen. „Wie kannst du denn Schuld daran haben, dass Petunia sich unmöglich verhält?“
„Weil ich so anders bin. Sie hat doch Recht“, schniefte sie, die bissigen Worte ihrer Schwester und die gehässigen Flüstereien von Leuten wie Mulciber im Ohr. „Wenn ich nicht diesen Brief bekommen hätte, dann wäre das alles nicht passiert.“
„Aber ich dachte, du liebst es, eine Hexe zu sein?“, fragte April vorsichtig, ihre warme Hand auf Lilys Fingern. „Du siehst so glücklich aus, immer wenn du von Hogwarts und all den wundersamen Dingen erzählst, von denen dein Vater und ich nur die Hälfte verstehen.“
„Das bin ich auch und - und ich liebe Hogwarts und Magie“, erwiderte Lily leise. Es stimmte natürlich, sie würde ihre Erfahrungen auf der Zauberschule gegen nichts in der Welt eintauschen, aber warum konnte sie nicht eine Hexe und eine Schwester gleichzeitig sein? Musste sie denn eine Wahl treffen, die nicht zu treffen war? Bevor Lily einen Fuß in die magische Welt gesetzt hatte, hätte sie Tuni über alles gewählt, weil sie ihre große Schwester war, aber heute würde sie ihre Magie nicht mehr aufgeben. Sie war ein Teil von ihr, den sie nicht aufgeben konnte, selbst wenn sie wollte.
„Petunia wird schon zu Sinnen kommen, Liebling“, sagte April. „Deine Schwester braucht Zeit, um sich damit anzufreunden, dass du nun mal etwas besonderes bist.“
„Tuni ist auch etwas besonderes“, antwortete Lily beinahe trotzig.
„Natürlich ist sie das“, meinte ihre Mutter nebensächlich klingend. „Ihr seid beide besonders, Lily, aber du bist nun mal eine Hexe. Damit wirst du immer etwas haben, das Petunia nicht haben kann. Verstehst du das?“
Lily nickte. Selbstverständlich verstand sie das, sie war ja kein Kleinkind mehr. Bald wäre sie schon dreizehn, sie hätte zwei Schuljahre an Hogwarts überstanden. Lily war auf dem besten Weg, erwachsen zu werden. Vielleicht wäre es an der Zeit, dass sie sich auch wie eine fast Erwachsene benahm, oder?
Lily wischte sich die Tränen weg. „Wenn ich schon zaubern dürfte, dann könnte ich das Glas jetzt reparieren, weißt du? Professor Flitwick hat gesagt, mein Reparo wäre von allen Zweitklässlern am schnellsten.“
April lächelte ihre Jüngste an. „Das ist fantastisch, Lily. Ich kann es auch kaum erwarten, bis du mir endlich etwas zeigen kannst. Seit du erzählt hast, dass du Früchte zum Tanzen bringen kannst, muss ich beim Einkaufen im Supermarkt jedes Mal lachen, wenn ich in der Obst-Abteilung stehe.“
„Von all den Zaubern, die ich kann, willst du nur sehen, wie ich einer Mango Tango beibringe“, lachte Lily.
„Natürlich! Ein kaputtes Glas kann ich ersetzen, aber ich werde doch nur einmal im Leben sehen, wie meine Tochter Obst verzaubert, sodass es tanzen lernt!“ April stimmte in Lilys Lachen mit ein und erhob sich wieder. Sie griff nach den Küchentüchern. Seufzend betrachtete sie die Scherben und den verschütteten Saft auf den Fliesen. „Wenigstens ein Mal könnten sie dir eigentlich erlauben, zu zaubern, wenn du damit deiner armen Mutter helfen würdest.“
Lily zog eine Grimasse. „Ich könnte, aber dann würden sie mich bestimmt von der Schule werfen und nach Askaban schicken.“
„Askaban?“, fragte April verwirrt.
„Das ist -“, fing Lily an, aber eine andere Stimme unterbrach sie.
„Das ist dieses freakige Gefängnis, oder?“ Petunia stand am Fuß der Treppe, mit rot umrandeten Augen und sich ineinander verknotenden Fingern. „Ich hab mal gehört, wie du mit dem Snape-Jungen darüber geredet hast“, fügte sie auf Lilys überraschten Gesichtsausdruck hinzu. „Tut mir leid.“ Sie vermied es ihrer Mutter oder Schwester direkt in die Augen zu sehen. „Mit dem Glas.“
April schnalzte mit der Zunge. „Ich war der Meinung, dass ich dich nicht so erzogen hatte, Petunia.“
„Ich werde ein neues Glas kaufen“, sagte sie mit gesenktem Kopf. „Es wird auch nicht wieder vorkommen.“
„Das will ich auch meinen. Wir haben nicht das Geld, uns ständig alles neu zu kaufen, das müsstest du wissen.“ April deutete auf den Boden. „Und jetzt hilf mir das sauber zu machen.“
Lily erwartete, dass Petunia protestieren und meckern würde, wurde jedoch ein weiteres Mal überrascht. Ohne zu murren, nahm Petunia ihrer Mutter die Tücher ab und machte sich daran, ihren verschütteten Orangensaft aufzuwischen.
„Es wäre wirklich praktisch“, sagte Petunia langsam, ohne aufzublicken, „wenn du schon zaubern dürftest, Lily.“
„Wir können das auch ohne Magie im Handumdrehen aufräumen“, sagte sie. „Wenn wir gemeinsam arbeiten.“
„Das lobe ich mir“, entgegnete April glücklich. „Ihr Schwestern solltet zusammenhalten und euch nicht übertrumpfen wollen. Und jetzt erzähl mir noch mal ganz langsam, was es mit diesem Askaban auf sich hat, ja?“
Lily und Petunia tauschten, auf Knien und mit vollgesogenen Küchentüchern in den Händen, einen belustigten Blick unter einander. Zum ersten Mal seit fast drei Jahren fühlten sie sich wieder wie richtige Schwestern an.
***
Als Phyllis Pettigrew in der zweiten Klasse gewesen war, hatte sie sich einen Namen als begabte Zauberkünstlerin und gekonnte Trankbrauerin gemacht. Ihre Fähigkeiten hatten die von älteren Schülern überragt und sie war eine der jüngsten Hogwarts-Schülerinnen gewesen, die von Slughorn in seinen fast schon prestige-trächtigen Slug-Klub geladen wurde. Mit herausragenden Fähigkeiten und einer allseits beliebten Persönlichkeit, war Phyllis an der gesamten Schule bekannt. Sie hatte dem Namen Pettigrew zu Glanz und Ansehen verholfen.
Bisher hatte Peter sich nur dafür einen Namen gemacht, recht gut in Zaubererschach zu sein und zu der Bande zu gehören, die es sich zur Aufgabe gemacht hat, jedem an der Schule mindestens einen Streich zu spielen. Die Fußstapfen seiner Schwester hatte er damit nicht gefüllt und die hohen Erwartungen seiner Mutter sowieso nicht übertroffen.
Freilich, noch glaubte Atlanta Pettigrew daran, dass ihr Sohn ebenfalls Vertrauensschüler werden könnte, wenn er seinen langsamen Start überwunden hatte. Peter hatte es nicht in sich, seiner Mutter zu erzählen, dass er keine Absicht hegte, Vertrauensschüler zu werden, deswegen gab er ihr meist nur leere Versprechen und vage Antworten.
„Vielleicht solltest du Phyllis einfach fragen, ob sie dir ein wenig Nachhilfe gibt“, sagte Atlanta geschäftig, während sie mit dem Zauberstab eine ganze Ladung an Gemüse dirigierte, damit es sich selbst schälen und schneiden würde. „Dann würdest du bestimmt schnellstens an der Spitze deiner Klasse stehen.“
„Das bezweifle ich“, murrte Peter. „Nicht, solange James, Sirius, Remus und Lily in meinem Jahr sind.“
„Das ist nicht die richtige Einstellung, Häschen“, tadelte seine Mutter ihn. „Wenn du dich überhaupt nicht anstrengst, weil du glaubst, andere nicht übertrumpfen zu können, dann wirst du auch nie vorankommen.“
Peter verschränkte die Arme. „Ich hab doch schon gute Noten. Vor den Ferien hat McGonagall mich sogar gelobt.“
„Natürlich hast du das“, meinte Atlanta nebensächlich klingend. „Ich sage ja nur, dass du noch bessere Noten haben kannst, wenn du dich ins Zeug legst. Du willst doch sicher irgendwann einen guten Job haben, oder etwa nicht?“ Als Peter daraufhin nichts erwiderte, fügte sie an: „Phyllis hat für den Sommer bereits Zusagen für zwei unterschiedliche Stellen bekommen.“
„Das ist toll“, brachte Peter zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor.
Mit einem Schlenker ihres Zauberstabs delegierte sich das geschnittene Gemüse von selbst in einen massigen Kochtopf. Wasserdampf strömte im nächsten Moment in die Höhe, während sich Kräuter und Gewürze in der Luft aneinanderreihten, um etwas von ihrem Inhalt in den Topf zu geben. Mit ihrem Stab dirigierte Atlanta Geschirr und Besteck aus den Schränken, das sich fein säuberlich um Peter herum auf dem Tisch verteilte. Eine Vase flog aus dem angrenzenden Wohnzimmer auf die Mitte des Tisches und aus wurde mit durch das offene Fenster hereinfliegenden Blumen verziert, die aus dem Garten kamen.
Peter staunte immer wieder über die alltägliche Magie, die seine Mutter so nebenbei einsetzte. Präzision und Finesse hatten ihm noch nie gelegen und jedes Mal wenn er versucht hatte, etwas auf einen genau gewählten Ort fliegen zu lassen, war es entweder mehrere Meter daneben gelandet oder mit solch einer Wucht aufgekommen, dass es zerbrochen war.
„Hol deine Schwester, ja? Das Essen ist gleich soweit.“ Atlanta hatte mit dem Rücken zu Peter gesprochen, als sie in den Ofen geschaut hatte, drehte sich aber um, als ihr Sohn sich nicht wegbewegte. Sie lächelte, als sie seinen Blick bemerkte. „Viel Üben und dann kannst du sowas auch. Phillys beherrscht solche Magie im Schlaf.“
Peter unterdrückte ein genervtes Schnauben und erhob sich. Er wollte nicht hören, dass er üben und lernen und noch mehr üben sollte, um so gut wie seine Schwester zu sein. Er wollte für das gelobt werden, was er bereits konnte und nicht ständig damit verglichen werden, was andere in seinem Alter konnten. Seine Mutter meinte es zwar nicht böse - zumindest ging er davon aus, dass sie es nicht böse meinte - aber es gab ihm kein sonderlich gutes Gefühl. Seine Schwester war ein begabtes Wunderkind, seine Mutter beherrschte präzisionsgenaue Beschwörungen, ohne sich anstrengen zu müssen und selbst von seinem Vater, der vor sieben Jahren das Weite gesucht hatte, hörte er immer wieder, wie toll dessen Magie gewesen war. Und Peter? Bei ihm hieß es nur, dass er sich anstrengen sollte, um so gut wie andere zu sein. Vergleiche hatten sein Leben bereits geprägt, da hatte Peter seine eigene Magie noch gar nicht spüren können, da war selbst Hogwarts wie eine Märchengeschichte gewesen, die man ihm zum Einschlafen erzählt hatte.
Hogwarts - Peter dachte mit einem zufriedenen Lächeln an seine Freunde, an James, Sirius und Remus und auch Mary und Benjy. Seine Freunde hatten sich nie etwas daraus gemacht, sich miteinander zu vergleichen, selbst wenn sie wussten, dass sie besser als andere waren. James und Sirius, die talentiertesten Zauberer in ihrer Klasse, konnten sich ohne Anstrengung bereits mit wesentlich älteren Schülern messen, sie wurden in so gut wie jeder Unterrichtsstunde gelobpriesen, auch wenn sie die Hälfte der Zeit Grimassen geschnitten und Unsinn angestellt hatten, aber nicht ein einziges Mal hatten sie auf Peter herabgesehen. Sie wussten genauso gut wie Peter selbst, dass er nicht so talentiert wie sie war, dass er die meisten Klassen nur mit ihrer Hilfe bestand, aber das war etwas, das Peter so sehr an seinen Freunden schätzte: Sie waren trotzdem mit ihm befreundet, obwohl sie besser in allem waren. Es kümmerte sie einfach nicht.
Phyllis saß in ihrem Zimmer im ersten Stock, gleich drei Bücher über Mittelalterliche Hexenverbrennungen aufgeschlagen. Sie hatte die Feder zwischen den Zähnen und Tinte auf den Händen. Mehrere vollgeschriebene Bögen Pergament bedeckten ihren Schreibtisch. Durch die Lücke der Vorhänge strahle rot-goldenes Abendlicht. Sie blickte fahrig auf, als Peter die Tür hinter sich zufallen und sich auf einen Sitzsack fallen ließ.
„Mum sagt, Essen ist gleich fertig.“
Phyllis lächelte schwach. „Danke aber ich muss das hier beenden. Ich ess später.“
„Oh bitte, komm mit runter“, sagte Peter. „Ich will nicht schon wieder allein mit Mum essen müssen.“
Seine Schwester hob eine Augenbraue und ließ die Feder langsam sinken. „Was soll das denn bedeuten?“
Peter mied ihren Blick. „Du weißt schon. Ich will einfach, dass wir alle zusammen essen, als Familie. Du lässt so viele Mahlzeiten ausfallen, obwohl wir Ferien haben.“
„Die Arbeit hört leider nicht auf, nur weil ich nicht in der Schule bin, Petie. Meine UTZ stehen bevor.“
„Die wirst du doch eh mit Ohnegleichen bestehen“, murrte Peter, während er an einem Faden an seinem Pullover zupfte. „So als perfekte Schulsprecherin und so weiter.“
„Ah“, sagte Phyllis leise. „Das.“ Sie seufzte kaum hörbar und drehte sich auf ihrem Stuhl, bis sie Peter ins Gesicht blicken konnte. „Ich bin nicht Schulsprecherin geworden, weil ich Dumbledores Lieblingsschülerin bin, okay? Ich habe sechs Jahre lang hart dafür gearbeitet und jedes Wochenende in der Bibliothek verbracht, selbst wenn Quidditch-Spiele anstanden oder schönes Wetter herrschte. Ich habe mir diese Position und auch meine Ohnegleichen verdient.“
„Ich wünschte nur, du hättest es nicht so übertrieben“, murrte Peter. „Mum erwartet von mir, dass ich auch so wie du werde.“
„Ist doch egal“, erwidert Phyllis, als wäre es das wirklich. „Weißt du, ich wünschte, mir hätte damals jemand gesagt, dass ich nicht nur Bestnoten schreiben oder auf Mum hören muss, aber ich schätze, der Hippogreif ist abgeflogen. Die letzten Monate bekomme ich noch hin, aber du solltest es dir nicht so zu Herzen nehmen, was sie sagt. Du weißt, sie will nur das Beste für uns.“
Mit zusammengezogenen Augenbrauen blickte Peter in die ernsten, hellen Augen seiner Schwester. „Was soll das denn?“, fragte er zweifelnd.
„Was das soll?“ Phyllis lächelte schmal und stützte das Kinn auf einer Hand auf. „Du sollst nicht den gleichen Fehler wie ich begehen und auf Mum hören. Weißt du, wie oft ich meine Freunde in den gesamten Ferien besucht habe?“ Bevor Peter die Möglichkeit hatte, führte sie fort: „Einmal, im dritten Jahr, als du dir das Bein gebrochen hast, weil du vom Besen gefallen bist. Mum wollte nicht, dass ich allein zuhause bleibe, also bin ich ein paar Tage bei Abigail untergekommen. Das waren die einzigen Tage, an die ich mich erinnern kann, an denen ich nicht irgendwas gelernt oder wiederholt habe.“
Peter legte die Stirn in Falten. „Jetzt willst du mir sagen, ich soll nicht auf Mum hören?“
„Ich will gar nichts“, erwiderte seine Schwester geduldig. „Du sollst selbst für dich entscheiden, ob du Lernen willst, um gute Noten zu schreiben oder ob du Lernen willst, weil es dir Spaß macht. Mum hat mir diese Entscheidung damals abgenommen, weil sie unbedingt will, dass ich gute Prüfungen schreibe, um einen guten Job zu bekommen, es hat sie, um ehrlich zu sein, recht wenig interessiert was ich wollte. Vielleicht bin ich ja eine gute Quidditch-Spielerin, wer weiß?“, schloss Phyllis lächelnd. „Ich schätze, das werde ich während meiner Hogwarts-Zeit nicht mehr rausfinden, aber du schon.“
„Oh nein, ich bin schrecklich in Quidditch. James ist das Naturtalent.“
Phyllis lachte ein leises, verhaltenes Lachen und hielt sich eine Hand vor den Mund. „Das war auch nicht wörtlich gemeint. Ich weiß, dass wir Pettigrews nicht auf Besen gehören. Dafür haben wir nicht die Balance. Dein gebrochenes Bein beweist das.“
Peter grinste verlegen.
„Wobei ich glaube, dass Dad ein passabler Flieger war“, überlegte Phyllis laut, bevor sie den Kopf schüttelte. „Na, egal. Kann ich jetzt weitermachen?“
Wenn es eines gab, dass Peter zur Weißglut brachte, dann war es seine Schwester, die nicht von ihrer Arbeit aufsehen wollte. Es waren Weihnachtsferien, verflucht noch einmal, und Peter würde nicht zusehen, wie sie die letzten freien Tage in ihrem Zimmer hockte und an irgendwelchen Aufsätzen arbeitete. Trotz des Verbots von minderjähriger Magie, zückte Peter seiner Zauberstab. Solange er in Gegenwart von erwachsenen Hexen war, konnte er ein wenig Magie wirken. „Wingardium Leviosa“, sagte er und im nächsten Moment begann Phyllis' angefangener Aufsatz in die Luft zu schweben. Bevor Phyllis nach ihren Pergamenten greifen konnte, sprang Peter auf, schnappte sich die Papiere und lief zur Tür.
„Nein“, sagte er mit spitzem Lächeln. „Du kommst runter mit zum Essen und verbringst Zeit mit uns!“
„Peter, gib mir meinen Aufsatz wieder!“ Phyllis erhob sich und zog ihren eigenen Zauberstab hervor. „Ich hex dir die Ärmel zusammen, wenn du nicht hörst“, fügte sie drohend an.
„Komm schon.“ Peter versteckte die Hände und den Aufsatz seiner Schwester hinter dem Rücken. „Wenigstens zum Essen kannst du mitkommen. Danach lass ich dich in Ruhe, versprochen.“ Er kreuzte die Finger hinterm Rücken, wie James es immer machte, wenn er Professor McGonagall versprach, im Unterricht keinen Mist anzustellen.
Phyllis betrachtete ihren jüngeren Bruder einen Moment lang, sichtlich mit sich ringend, dann seufzte sie ergeben. „Schön“, entgegnete sie ungeduldig. „Aber nach dem Essen gehe ich sofort wieder hoch, ich muss das wirklich fertigstellen.“
Ein gewinnendes Grinsen erschien auf Peters Lippen, er entkreuzte seine Finger und ließ dann Phyllis' Aufsatz wieder auf ihren Schreibtisch fliegen.
„Du bist echt unmöglich, Petie. Früher hast du sowas nicht gemacht.“
„Da wusste ich auch nicht, wie viel Spaß es macht.“
„Deine Gryffindor-Freunde sind ein ganz schlechter Einfluss auf dich“, erwiderte sie und rieb sich die Nasenbrücke.
„Im Gegenteil“, sagte Peter grinsend, bevor er sich umdrehte und die Treppe anfing herunterzulaufen. „Sie haben einen großartigen Einfluss.“ Er fühlte einen Fluss an Stolz durch sich fließen, als er an seine Freunde dachte, die er bald wieder sehen würde. Er konnte es kaum erwarten, wieder mit Sirius, James und Remus im Gemeinschaftsraum zu faulenzen und Bertie Botts Bohnen zu essen. In Hogwarts hatte immerhin niemand unmögliche Ansprüche an ihn.
***
Lieber Peter,
wie ist dein Weihnachten? Meins ist grottig. Die Heimaufseherin hat eine hässliche Grippe und ist richtig mies drauf. Sie hätte fast unser Weihnachtsessen abgesagt, weil ihr ein paar der jüngeren Kinder zu laut gewesen waren. Zum Glück haben Maribel und Lin, zwei der etwas älteren Mädchen hier, ihr eine starke Kanne mit Tee gekocht und geschworen, dass sie dafür sorgen würden, dass es ruhig blieb, wenn sie das Essen nicht absagt.
Das Essen war dann auch ganz gut, für die Heim-Verhältnisse zumindest. Es gab Braten und Truthahn und Tonnen an weichen Kartoffeln. Ich hatte den ganzen Abend Bauchschmerzen, weil ich zu viel gegessen hab, aber an das Hogwarts-Essen kam es nicht heran. Ich glaub, nächstes Jahr bleib ich über die Feiertage in der Schule, dann können wir vielleicht gemeinsam das Schloss erkunden, wenn du willst. Weiß nicht, wieso ich über die Feiertage überhaupt ins Heim gegangen bin, hier gibt es eh nichts für mich. Stan wurde vor ein paar Wochen von so einer Etepetete-Schnösel-Familie adoptiert und ohne ihn halte ich es nicht lange aus, nur mit Vic zu reden. Obwohl ich es ihm mehrmals erklärt habe, glaubt er noch immer, ich wäre im Jugendknast. Seit dem Sommer hat sich da nichts geändert. Immerhin hatte er einen ganzen Batzen an neuem Süßkram zusammengeklaut, von dem er mir die Hälfte geschenkt hat. Wenigstens dafür isser gut, he?
Mann, ich wette, du und deine Familie habt ein richtig cooles, magisches Weihnachten und ich stecke hier mit 'nem Dutzend anderer Kinder fest, die nicht mal wissen, dass ich ein Zauberer bin. Ich wünschte, dieses blöde Verbot würde nicht existieren, dann könnte ich denen beweisen, dass ich nicht ins Heim sondern nach Hogwarts gehöre.
Ha, sorry, Peter, ich wollte dich nicht mit meinen Problemen nerven. Wir sehen uns bald in der Schule, ja?
Grüße vom Heim,
Benjy.
Chapter 24: 24. Jahr 2: Unterdrückung und Erkdunung
Chapter Text
Schnee fiel in dicken, weißen Flocken vor dem Fenster des Hogwarts-Expresses, aber Remus hatte mittlerweile genug davon. Caerleon, das walisische Dorf, in dem er mit seinen Eltern lebte, war klein und idyllisch und der perfekte Schauplatz für Winterwunder. Sanfte Hügel und kleine, schmale Flüsse, bedeckt von Schnee, Eis und Frost, und mittendrin der einzige Werwolf in einem fünfhundert Meilen Radius. Die Weihnachtstage hatte Remus so verbracht, wie er sie die letzten Jahre verbracht hatte: im kleinen Häuschen seiner Eltern, der Duft von frischem Braten in der Luft und die liebste Platte seiner Mutter auf dem Spieler. Sein Vater hatte selbst zwischen den Feiertagen viel gearbeitet, sich aber dennoch die Zeit genommen, mit seiner Familie vor dem Kamin zu sitzen und heiße Schokolade zu trinken, verziert mit Mini-Marshmallows, die Hope aus dem örtlichen Muggelmarkt gekauft hatte.
Alles in allem gab es absolut keinen Grund für Remus, sich über seine Ferien zu beschweren, aber gegen zumindest ein wenig Abwechslung hätte er auch nichts. Er wollte keinesfalls undankbar wirken, immerhin wusste er, dass sein Vater Überstunden über Überstunden arbeitete, damit sie überhaupt genug Geld hatten, um über die Runden zu kommen, aber sie waren doch magisch, um Merlins Willen. War es wirklich zu viel verlangt, ein paar verhexte Schneebälle zu haben, die ihn durch den Garten jagen würden?
Das Rattern des Zuges schüttelte Remus auf der Sache nach seinen Freunden ziemlich durch. Der Hogwarts-Express war eindeutig zu groß für seinen Geschmack. Wie sollte er in der kobaltblauen Bahn denn jemals jemanden finden, den er kannte, wenn sich die Abteile bis ins Unendliche zogen? Wahrscheinlich war es ein freundlicher Wink des Schicksals, dass genau in dem Moment der dunkle Lockenschopf von Mary Macdonald aus einer Tür einige Meter vor ihm herauslugte.
Als sie ihn erkannte, lächelte Mary erleichtert auf. „Gott sei Dank“, sagte sie und winkte ihn heran. „Du musst mir helfen, Remus.“
„Muss ich das?“ Remus hatte allerdings nicht den Luxus, eine freie Entscheidung zu treffen, denn kaum war er in Marys Reichweite, griff sie nach seinem Ärmel und zog ihn zu sich ins Abteil. Statt, wie er erwartet hatte, Lily und Marlene zu sehen, wurde er mit einem blassem Sirius Black belohnt, der eine Hand an seinen Nacken gepresst hatte und aus dem Fenster starrte, als würde er Mary und Remus' Anwesenheit überhaupt nicht bemerken. Leise summend betrachtete er die Wiesen und Flüsse, die am Fenster vorbeizogen.
„Er reagiert auf gar nichts“, sagte Mary mit den Fingern an den Lippen, als könnte sie es kaum erwarten, an ihren Nägeln zu kauen.
Remus ließ sich auf dem Polster Sirius gegenüber nieder. „Sirius?“, fragte er vorsichtig, seine Stimme kaum mehr ein Flüstern. „Kannst du mich hören?“
Der Junge vor ihm zuckte zusammen, als Remus ihm sacht eine Hand auf den Oberschenkel legte. „Merlin“, zischte Sirius mit krächzender Stimme, räusperte sich und schluckte schwer. „Was machst du hier?“
„Was machst du hier?“, entgegnete Remus. „Mary sagt, du hast auf nichts reagiert. Alles okay bei dir?“
„Alles bestens“, erwiderte Sirius. „Sorry, MacDonald, war nicht mit Absicht.“ Er wischte sich über die blasse Haut und forcierte ein Lächeln. „Sind wir schon da?“
„Wir sind gerade erst los“, sagte Mary mit zweifelhafter Miene. „Was ist mit dir?“
„Mit mir? Gar nichts. Warum sollte denn was sein?“ Sirius setzte sich aufrechter hin, aber auch das half nicht darüber hinweg, dass seine Haut so aussah, als hätte er wochenlang kein Sonnenlicht gesehen, dunkle Ränder seine Augen zierten und er so wirkte, als würde er jeden Moment vor Erschöpfung einschlafen.
„Sirius“, sagte Remus langsam, bevor er Mary einen raschen Seitenblick zuwarf. Wie viel wusste sie überhaupt über Sirius' Situation und wie viel war er bereit preiszugeben, wenn sie dabei war? Er senkte die Stimmung, in der Hoffnung, dass Mary ihn nicht hörte und fragte dann: „War das deine Mutter? Was hat sie gemacht?“
Sirius schüttelte kaum merklich den Kopf. „Schon gut, mir gehts gut, wirklich. Macht euch - macht euch keinen Kopf um mich. Wie waren die Ferien, Mary?“
Mary war vom plötzlichen Themenwechsel genauso überrascht wie Remus. „Ähm - sie waren gut. Ereignislos schätze ich. Meine Mutter hat ein paar neue Platten aus dem Second-Hand-Shop geholt und die haben wir angehört. Wir war es bei dir?“
„Ah, du weißt schon. Das Übliche“, erwiderte Sirius, wobei er es vermied, in Remus Richtung zu blicken. „Bei den Blacks gab es noch nie wirklich Weihnachtsstimmung, also ...“
Remus war sich nicht sicher, was er davon halten sollte. Bisher war Sirius weitestgehend offen gewesen, was seine Zeit mit seiner Familie anging, deswegen war es irritierend, dass er auf einmal so kryptisch davon redete. War es nur, weil Mary dabei war? Es wäre nicht das erste Mal, dass einer von seinen Freunden sich in der Gegenwart eines Mädchens verstellte.
„Wie geht es deinem Bruder?“, fragte Remus und wurde mit der genau erwarteten Reaktion belohnt.
Sirius' Kopf zuckte herum, seine scharfen Augenbrauen zogen sich zusammen und er presste die Lippen zusammen. „Gut“, sagte er mit zusammengebissenen Zähnen. „Reg geht's gut. Warum fragst du?“
„Ich weiß ja, wie nahe ihr euch standet, deswegen dachte ich, ihr habt in den Ferien bestimmt einiges an Zeit miteinander verbracht.“
„Nicht wirklich“, erwiderte Sirius mit blanker Stimme. „Er spielt den perfekten kleinen Erben, wann immer meine Eltern in der Nähe sind, und sonst hockt er in seinem Zimmer und schreibt seinen Freunden.“ Er zwang sich zu einem Lächeln. „Fast schon niedlich wie sehr er an den anderen Reinblütern hängt.“
Remus versuchte zwischen Sirius' scharfen Worten zu erkennen, was er wissen wollte, aber genauso gut hätte er nach den Antworten für die Hausaufgaben suchen können. Sirius war unwillig, über seinen Bruder zu reden, denn Sirius hasste es, ehrlich über seine Gefühle zu sein. Remus vermutete, dass es im Moment nicht viel gab, dass er tun oder sagen konnte (nachts, wenn James und Peter und Monty schliefen und der Mond hinter den Wolken leuchtete, vielleicht würde er dann die Vorhänge für Sirius öffnen und der andere Junge würde ihm ein Stück Wahrheit überlassen, die er im Licht nicht aussprechen konnte), deswegen lehnte er sich in seinem Sitz zurück. Er sagte: „Ich hab das Bowie Album mit, von dem ich dir erzählt hab“, und es reichte aus, damit Sirius' trüber Blick ein wenig mehr glänzte.
Mary hatte zwar mit der ganzen Sirius-Sache nicht abgeschlossen, gab sich nach einem ausgiebigen Seufzen aber ebenfalls zufrieden. Sie setzte sich auf einen der Sitze neben Remus und überschlug die Beine. „Ich werde wohl nie aus euch schlau werden“, sagte sie. „Weder euch noch Potter und Pettigrew.“
Sirius grinste, womit er etwas von seinem üblichen Rumtreiber-Schalk zurückgewann, den sie alle laut James besaßen. „Ein Mann muss eben mysteriös und begehrenswert sein.“
„Wer hat was von Männern gesagt?“, fragte Mary mit zuckenden Mundwinkeln. „Bitte, du bist grad mal dreizehn, Black“, fügte sie auf seinen empörten Ausdruck hinzu.
„Eh, ja. Auf einer Skala von eins bis zehn sicherlich.“
„Auf einer Nervtöt-Skala vielleicht“, brummte Mary. „Ihr habt für den Rest des Jahres bestimmt wieder eine ganze Menge an dämlichen Streichen geplant, die uns Hauspunkte kosten werden, oder?“
Remus lächelte vage. „Als du uns mit Lily reingelegt hast, waren Streiche plötzlich nicht mehr dämlich.“
„Das war auch etwas anderes. Ihr hattet es immerhin verdient.“
„Ah, Macdonald, der Tag wird noch kommen, an dem auch du unser großes Genie erkennen wirst“, sagte Sirius.
„Ja, das wird wahrscheinlich der Tag sein, an dem ich mich unsterblich in Snape verliebe.“
„Über sowas solltest du lieber keine Witze machen“, sagte Remus.
„Genau, sonst werden sie irgendwann noch wahr und am Ende musst du dich um seine fetthaarigen Babys kümmern“, fügte Sirius grinsend hinzu.
Mary blickte einen Augenblick lang wie zu Stein erstarrt, dann schüttelte sie sich. „Das war ein wirklich widerwärtiger Gedanke.“ Sie hielt sich eine Hand vor den Mund. „Oh Gott, das war gemein. Warum bin ich so gemein? Ich weiß doch, dass Lily ihn gut leiden kann? Oh Gott, ich bin eine schreckliche Freundin.“
„Woah, das ist jetzt aber schnell passiert.“ Sirius winkelte ein Bein an, wobei es ihn nicht sonderlich zu interessieren schien, dass er dabei getrockneten Matsch auf das Sitzpolster schmierte, als er den Fuß hochzog. „Was ist los?“
„Gott, nein, du wirst jetzt nicht fragen, was los ist, wenn du selbst nicht darüber reden kannst“, maulte Mary. „Es ist nur“, führte sie fort und hielt sich damit nicht an das, was sie eben noch predigte, „ich kann ihn nicht wirklich leiden, dabei kenne ich ihn gar nicht, aber muss ich das? Außerdem ist Lily mit ihm befreundet und sie redet ständig davon, wie genial er ist.“ Sie blickte erst zu Sirius, dann zu Remus, dann wieder zurück zu Sirius. „Severus Snape, genial! Ich weiß doch auch nicht. Ich mag es einfach nicht, wie er guckt. Und das macht mich offensichtlich zu einer schlechten Freundin.“
„Ich bin mir nicht sicher, ob das wirklich so funktioniert“, erwiderte Remus. „Du denkst zu viel darüber nach. Nur weil du Snape nicht leiden kannst, heißt das nicht, dass du eine schlechte Freundin bist.“
„Genau, das zeigt eher, dass du gute Menschenkenntnis besitzt“, funkte Sirius dazwischen. „Ich hab von Anfang an gesagt, dass Schniefelus nicht zu trauen ist.“
Remus hob die Augenbrauen. „Wann hast du das jemals gesagt?“
„Na, von Anfang an. Willst du ein genaues Datum, oder was?“
Kopfschüttelnd wandte Remus sich wieder zu Mary. „Mach dir keine Sorgen. Ich bin auch nicht Snapes größter Fan und trotzdem noch mit Lily befreundet.“
„Hm, stimmt“, sagte sie mit schief gelegtem Kopf. „Und ihr habt Snape vor Lilys Augen verhext und trotzdem redet sie noch mit dir. Schätze, ich hab einfach etwas überreagiert.“ Sie setzte ein strahlendes Lächeln auf. „Okay, ich bin also keine schreckliche Freundin!“
„Hätten wir das auch geklärt“, murrte Sirius. „Wer hat Lust auf eine Runde Zauberschnippschnapp?“
„Ist das das, wo die Karten explodieren und dir die Augenbrauen versengen?“, fragte Mary mit skeptischer Miene.
„Nur wenn du zu nah dran gehst“, erwiderte er. „Komm schon, Macdonald, wo bleibt dein Sinn für Abenteuer?“
„Also schön“, seufzte sie. „Aber wenn auch nur ein Haar an meiner Augenbraue fehlen sollte, dann hexe ich deine ganz ab, kapiert?“
***
Sirius, so stellte Remus fest, fand seinen Weg nicht zurück durch die Vorhänge von Remus' Bett. Die Nächte blieben ruhig, die Tage blieben laut, aber keine Anzeichen waren zu finden, dass Sirius darüber reden wollte, was ihn plagte. Remus konnte es in seinem Blick sehen: die sonst so sturmgrauen Augen Sirius', die bei jeder Gelegenheit mit Schalk und Witz glühten, waren trüb und dunkel.
Der Januar schenkte Hogwarts noch mehr Schnee und Stürme. Kräuterkunde war bis aufs Weitere abgesagt und Schüler hatten selbst in den Korridoren und Klassenzimmern dicke Schals umgewickelt, um sich gegen die zischende Kälte zu wappnen, die durch die Risse strömte. Professor Flitwick unterbrach sein übliches Programm, damit er seinen Klassen etliche Wärmezauber beibringen konnte und Professor Slughorn stellte extra heiß brennende Kessel voll mit Butterbier bereit, die seinen Klassenraum aufheizten und außerdem süße Belohnungen für die Schüler am Ende jeder Stunde waren.
Am Abend thronten riesige Töpfe voller duftender Suppen und deftigen Eintöpfen auf den vier Haustischen und die Kaminfeuer knisterten ein wenig heller. James erleichterte die Hauselfen in der Küche am ersten Tag um einen ganzen Vorrat an Süßkram, Kuchen und Kürbissaftflaschen, die er stolz im Gemeinschaftsraum verteilte. Selbst Lily griff dankbar nach einem Muffin, als er ihr mit freundlicher Stimme einen anbot. Alles in allem hatte sich eine gemütliche, winterliche Stimmung im ganzen Schloss verbreitet, aber Sirius sah weiterhin so aus, als hätte er nächtelang nicht geschlafen. Remus wollte nicht derjenige sein, der unerwünschte Erinnerungen hochbrachte oder Sirius' Privatsphäre durchbrach, konnte aber trotzdem nicht mitansehen, wie sein Freund nicht einmal motiviert genug war, um den Slytherins eins auszuwischen, obwohl James und Peter mit ein paar grandiosen Einfällen angekommen waren. Und zu dritt machten die Rumtreiber keinen Sinn, wie James beteuerte.
Sirius hatte bisher nicht einmal Hunky Dory hören wollen und dabei war David Bowie laut Remus' Meinung die Lösung für fast alles.
„Wir brauchen einen Plan“, sagte James am Frühstückstisch. Er hatte seinen Teller mit Bergen an Rührei beladen und aß bereits sein drittes Toast mit Bacon. Auf Marys verstörten Blick hin hatte er nur“ „Proteine“, gesagt und dann weitergegessen. „Es kann so nicht weitergehen.“ Die ganze Woche über hatte Sirius nicht mehr gesagt, als nötig war und auch in den Klassenzimmern zog er kaum Aufmerksamkeit auf sich. Er hatte nicht mal etwas gesagt, als Slughorn Snapes perfekten Heiltrank gegen Furunkel vor der Klasse gepriesen hatte.
Zwar zerrte der kommende Vollmond an Remus' Nerven, aber er musste James zustimmen. So ein Sirius Black war ihm nicht geheuer. „Was sollen wir tun?“, fragte er. „Er redet nicht mit uns darüber.“
James wedelte mit seiner Gabel umher. „Ich weiß, das ist es ja. Ich wette, wenn er darüber reden würde, dann würde es ihm besser gehen, so wie die letzten Male, aber irgendwas muss passiert sein, dass ihn - keine Ahnung, verängstigt oder so.“ Er zog eine Grimasse, als würde ihn der Gedanke an einen verängstigten Sirius physische Schmerzen bereiten.
„Hast du schon versucht mit seinem Bruder zu reden?“, fragte Peter, der auf der anderen Seite saß und nachdenklich auf seinen Teller blickte. „Der müsste doch wissen, was los ist, oder?“
„Ich hab’s versucht“, erwiderte James mürrisch. „Jedes Mal, wenn ich ihn ansprechen wollte, waren entweder ein Dutzend Slytherins um ihn oder er hat sofort mit seinen Freunden das Weite gesucht. Bin ich angsteinflößend?“, fügte er hinzu.
Remus schnaubte. „Für einen Niffler vielleicht. Keine Sorge, James, ich glaube nicht, dass Regulus Angst vor dir hat.“
„Was ist es denn dann?“
„Vielleicht kann er dich einfach nicht leiden?“, überlegte Peter.
James fiel der Mund auf. „Warum sollte er mich nicht leiden kann? Ich würde sagen, ich bin überaus liebenswert! Witzig, loyal, ein guter Flieger, intelligent natürlich und offensichtlich gutaussehend -“
„Vergiss arrogant und ignorant nicht“, klinkte Mary sich ein. Sie saß James gegenüber und hatte zuvor nur stumm an einer Hausaufgabe gearbeitet, die nun vergessen neben dem Kürbissaft lag. „Sieh es ein, Potter, nicht jeder ist deinem unmöglichen Charme erlegen.“
James öffnete den Mund, schloss ihn wieder und dann grinste er Mary mit blitzenden weißen Zähnen an. „Du denkst also auch, ich wäre wahnsinnig charmant?“
Mary verschränkte die Arme vor der Brust, mied aber seinen Blick. Sie ignorierte, was er gesagt hatte und fragte stattdessen: „Habt ihr denn schon versucht ihn abzulenken? Ich kann mir vorstellen, dass er den Kopf einfach mal richtig frei bekommen muss, dann ist er bestimmt auch bereit zu reden.“
„Wir haben schon versucht -“, fing Peter an, aber Mary unterbrach ihn mit einem Zungenschnalzen.
„Nicht mit Streichen oder was auch immer ihr ständig macht. Etwas, dass ihn komplett ablenkt und auf etwas anderes fokussieren lässt. Wisst ihr, mein Dad nimmt sich immer eine Karte und fährt in die umgehenden Wälder, wenn er zu gestresst von der Arbeit ist. Ein paar Stunden Wandern helfen ihm immer, damit er klar denken kann.“
„Wir können ihn schlecht auf eine nächtliche Wanderung in den Verbotenen Wald nehmen“, sagte Peter mit hochgezogenen Brauen.
„So abwegig finde ich das - okay, tut mir leid.“ James wurde durch einen intensiven Blick Marys ruhig gestellt.
„Aber vielleicht ...“, sagte Remus langsam. „Vielleicht ist das gar keine blöde Idee. Natürlich nicht im Wald“, fügte er schnell hinzu, „aber immerhin redet ihr beiden doch immer davon, dass ihr jeden geheimen Winkel des Schlosses finden wollt, oder nicht?“ Er blickte zu James, der zur Antwort nickte. „Dann sollten wir genau das tun. Uns im Schloss herumtreiben und Geheimnisse finden.“
James und Peter strahlten über Remus' Vorschlag, während Mary lediglich seufzte. „Wenn ihr erwischt werdet und Nachsitzen aufgebrummt bekommt, ist das aber nicht meine Schuld“, sagte sie, ehe sie sich wieder ihrem Aufsatz widmete.
Sirius davon zu überzeugen, nachts im Schloss herumzuwandern, war nicht schwierig. Regeln zu brechen lag ihm im Blut und wenn er schon keine Lust hatte, ausgeklügelte Streiche auszuhecken, konnte man ihn für eine schöne Runde Speerstunde missachten immer begeistern.
Das Portrait der Fetten Dame war zwar wenig erfreut, als sich die vier Gryffindor-Zweitklässler in dieser Nacht herausschlichen („Warum weckt ihr mich denn andauernd?“), aber das reichte lange nicht, damit sie ihre Mission abbrechen würden.
Remus musste zugeben, dass es ihm irgendwie gefiel. Das Adrenalin pumpte durch seine Venen, als er sich hinter James durch die ausgestorbenen Korridore schob, sein Herz klopfte bei jedem entfernten Echo etwas schneller und er fühlte sich, als könnte er Bäume ausreißen (wobei das auch der Wolf in seinen Adern sein könnte, der sich im Mondlicht regte). Sein anfängliches Misstrauen, ob das wirklich eine gute Idee gewesen war, war bereits verflogen, da hatten sie den siebten Stock noch nicht verlassen. Remus antizipierte Großes für diese Nacht.
„Das ist genial“, flüsterte Sirius, als sie den Treppenaufgang erreichten. Das Echo von eintausend schnarchenden Portraits hallte wie ein einstimmiger Chor durch die marmorne Halle. „Das ist einfach genial.“
James grinste sie über seine Schulter hinweg an, gleißendes Licht an der Spitze seines Stabes, das seine braune Haut wie Gold glänzen ließ. „Das ist erst der Anfang, mein Freund. Stell dir nur vor, was wir alles finden können, wenn wir die Gänge für uns haben!“
„Geheimhänge und versteckte Schätze und einen lebenslangen Vorrat an Schokofröschen“, hauchte Peter in die Nacht.
„Das ist die richtige Einstellung, Pete“, erwiderte James.
„Und wo fangen wir an?“, fragte Remus, den es in den Fingern juckte, hinter jede unbekannte Tür zu gucken. „Darüber hätten wir uns vielleicht Gedanken machen sollen.“
„Ah, Lupin, Legenden werden nicht auf Plänen errichtet. Sie werden aus Zufall und Glück und Hingabe geboren. Und ich würde fast behaupten, dass heute die Legende der Rumtreiber geboren wird.“ James' Enthusiasmus war ansteckend genug, damit Remus sein Grinsen erwiderte.
„Aber ich schätze mal, es kann nicht schaden, wenn wir festlegen, wo es losgeht“, meinte Sirius.
„Die Kerker“, schlug Peter vor. „Stellt euch die Gesichter der Slytherins vor, wenn wir alle Geheimgänge in ihrem Revier gegen sie ausnutzen können.“
„Genial“, antwortete Sirius mit glänzenden Augen. Das Licht von James' Zauberstab reflektierte sich in seinen dunklen Pupillen. „Das wird die beste Nacht meines Lebens.“
James voran, Remus und Peter hinter ihm und Sirius als Schlussschlicht, schlichen die Rumtreiber sich über die vielen Marmortreppen nach unten. Sie bewegten sich auf Zehenspitzen, damit sie keins der schlafenden Gemälde wecken würden und damit sie hören würden, wenn sich irgendwo eine Tür öffnen würde. Die Lehrer und Vertrauensschüler patrouillierten nachts das Schloss, als würden sie den Schülern nicht zutrauen, keine Regeln zu missachten („Eine bodenlose Frechheit“, wie James fand. „Kein Vertrauen wird uns entgegengebracht.“), und würden jedem Nachsitzen aufbrummen, der ihnen nach der Sperrstunde unterkam.
Im dritten Stock trafen sie auf den Geist des Fetten Mönches, der mit geschlossenen Augen und vor sich hin murmelnd durch eine der Wände glitt und in der Eingangshalle mussten sie sich alle eng in die Schatten drücken, als Professor Sprout mit ihrem hell erleuchteten Stab in die Große Halle schlenderte. Dabei summte sie fröhlich vor sich hin, was Remus schließen ließ, dass es ihren kälteempfindlichen Pflanzen mittlerweile besser ging.
„Wir könnten -“, fing James an, aber Remus brachte ihn mit einem warnenden Blick zum Schweigen, als in der Entfernung Schritte erklangen.
Sirius drückte sie alle nacheinander in die Besenkammer, verschloss die Tür, sodass sie einen Spaltbreit offen war und lauschte. Die Schritte kamen langsam näher und mit ihnen wehte die Stimme von Professor McGonagall zu ihnen.
„- Ihnen versichern, dass Sie sich keine Sorge um Ihre Schwester machen müssen, Mrs. Malfoy.“
„Wie können Sie sich da so sicher sein?“, fragte die verstopft klingende Stimme einer Frau. „Ich habe seit einem Jahr nichts mehr von ihr gehört.“
Sirius versteifte sich hinter Remus, seine Finger gruben sich in Remus' Schulter. „Narzissa“, hauchte er in die Besenkammer.
„Mrs. Malfoy, Sie können meinem Wort Glauben schenken. Andromeda und auch Ihrem Mann geht es gut. Sie sind sicher dort, wo Sie sich jetzt befinden und es gibt nur wenig, dass Ihnen jetzt schaden könnte.“
„Sie wissen nicht, was Sie da sagen“, erwiderte Narzissa schnaubend. „Es gibt Zauberer, die es auf sie abgesehen haben und sie werden Andy und Edward nicht verschonen, nur weil sie meine Schwester ist. Sie ist ungefähr genauso sicher wie jeder andere Blutsverräter.“
Professor McGonagalls Stimme erklang laut und streng neben ihnen. „Ihre Schwester hat eine Wahl getroffen, Mrs. Malfoy, eine, die ihnen auch bevor steht. Es ist kein gut gehütetes Geheimnis, dass unsere Welt vor einigen schwerwiegenden Veränderungen steht. Jeder, der Voldemort unterstützt, trägt dazu bei, dass der seit Jahren erhaltene Frieden brüchiger wird.“
Narzissa sog scharf die Luft ein, als McGonagall diesen Namen aussprach - Remus konnte sich nicht erinnern, ihn schon einmal gehört zu haben -, dann antwortete sie gefährlich leise: „Mich interessiert dieser ganze Konflikt nicht. Ich will nur nicht, dass meiner Familie etwas zustößt.“
Ein seltsamen Geräusch wehte zu ihnen und Remus einen Augenblick später, dass Professor McGonagall gelacht hatte. Eine Gänsehaut rann ihm den Rücken hinab.
„Das ist wahrscheinlich schwieriger, als Ihnen lieb ist, Mrs. Malfoy, immerhin ist es doch Ihre Familie, die diesen Konflikt herbeisehnt.“
Lange war es leise und auch die Schritte der beiden Frauen hatten ausgesetzt. Remus spürte Sirius' heißen Atem in seinem Nacken und seinen eigenen Herzschlag in den Ohren. Es war so still, er war sich sicher, sie würden jeden Moment durch ihre rasenden Herzen erwischt werden.
„Vielen Dank, Professor“, sagte Narzissa letztlich. „Vielleicht“, sie stockte, holte Luft. „Vielleicht könnten Sie eine Nachricht für mich an meine Schwester weiterleiten?“
„Das ließe sich bestimmt einrichten, Mrs. Malfoy. Kommen Sie gerne morgen in mein Büro, wenn Sie etwas aufgeschrieben haben.“
„Vielen Dank“, wiederholte Narzissa. „Gute Nacht, Professor.“
„Gute Nacht, Mrs. Malfoy. Ach und - Herzlichen Glückwunsch zu Ihrer Hochzeit.“ Professor McGonagall wartete nicht, bis Narzissa antwortete. Die Schritte der Professorin hallten in der leeren Eingangshalle wider.
Die Rumtreiber verharrten in der Besenkammer, bis auch Narzissa sich endlich in Bewegung setzte. Sie warteten ab, bis das letzte, entferne Echo verschwunden war, dann atmeten sie kollektiv aus.
„Was war das denn?“, fragte James leise.
„Das ...“ Sirius' Stimme versagte. Er räusperte sich. „Ich schätze, meine Cousine hat grad bewiesen, dass sie doch ein Herz besitzt.“
***
Aus der großen nächtlichen Erkundungsrunde wurde im Nachhinein nichts mehr. Mit der Gefahr, dass sie Narzissa auf dem Weg in die Kerker direkt in die Arme laufen würden, trafen die Rumtreiber die Entscheidung, es für diese Nacht sein zu lassen. Sie schlichen sich die Eingangshalle wieder zurück, entkamen dabei nur knapp Professor Sprout, die summend aus der Großen Halle trat, und folgten mit vorsichtigen Schritten den Treppen rauf in den siebten Stock, immer darauf bedacht, keines der Gemälde zu wecken oder geradewegs in Professor McGonagall zu laufen.
Sirius schwirrte der Kopf. Seine Cousine hatte sich zu Weihnachten von ihrer besten, kühlen Seite gezeigt, hatte gelächelt, wann immer sie Lächeln sollte und dann gesprochen, wann immer sie reden sollte. Sie hatte nicht eine Sekunde durchscheinen lassen, dass ihr die Situation nicht gefiel, dass sie ihre Schwester vermisste oder dass sie lieber mit all dem nichts zu tun haben wollte. Vielleicht, dachte Sirius, als sie das Portrait der Fetten Dame erreichten, gab es in seiner Familie doch mehr Arten der Rebellion als seine eigene.
„Drachenschuppen“, sagte James an der Spitze.
„Schraggenduppen“, murmelte die Fette Dame im Schlaf, grunzte lautstark und drehte sich mit dem Aufschwingen ihres Gemäldes auf die andere Seite.
Anstatt über Sirius' merkwürdige Familie reden zu wollen, schnitt James ein gänzlich anderes Thema an, kaum dass sie im ausgestorbenen Gemeinschaftsraum angekommen waren. „Ich habe nachgedacht“, fing er an.
„Das kann wieder was werden“, murmelte Peter müde klingend.
James beachtete ihn nicht. „Es wäre schön und gut, wenn wir all diese Geheimnisse finden, aber wie merken wir die uns alle? Und wie vermeiden wir es in der Zukunft, dass wir uns nicht in Besenkammern quetschen müssen?“
„Ich vermute mal nicht, dass dein Vorschlag ist, dass wir gar nicht erst das Bett verlassen“, erwiderte Remus.
„Im Gegenteil, Lupin, im Gegenteil“, sagte James. „Aber ich hatte außerdem einen brillanten Einfall. Was, wenn wir es irgendwie schaffen würden, immer genau zu wissen, wo sich jede Person in dieser Schule befindet?“
Sirius zog die Brauen zusammen. „Du meinst sowas wie -“
„Wie eine Karte, ganz genau!“, schloss James aufgeregt seinen Satz. „Stellt euch doch nur mal vor, wie praktisch es wäre! Wir würden immer sehen, wo Gonnie oder Schniefelus sich aufhalten und müssen sie nicht suchen. Wir könnten alle Geheimnisse und Gänge darauf vermerken und könnten überall auftauchen, wo wir es wollen.“
„Das würde eine ganze Menge an komplizierter Magie erfordern“, sagte Remus langsam, klang aber nicht abgeneigt.
„Aber es wäre machbar“, erwiderte James.
„Und es würde uns ziemlich helfen“, meinte Sirius.
„Aber wie stellen wir sowas an?“, fragte Peter, der aussah, als würden ihm die Haare rauchen. „Das klingt viel zu kompliziert für uns.“
„Ah, sag sowas nicht, Pete. Hab ein wenig Vertrauen in die Rumtreiber.“ James grinste gewinnend.
„Ich vermute mal, das Schloss ließe sich mit einer Art Verfolgungszauber auf Pergament zeichnen. Dafür müsste man wahrscheinlich jede Wand und jedes Zimmer abgehen, aber es ließe sich bewerkstelligen“, meinte Remus nachdenklich. „Was Personen betrifft, bin ich mir nicht sicher, aber ich wette, darüber würde ich etwas in der Bibliothek finden.“
„Genial“, sagte James. „Ich wusste, ich könnte dich davon überzeugen, Remus.“
Remus lächelte schief. „Es ist eine ziemliche Herausforderung, aber definitiv machbar. Es wird aber dauern.“
„Wie gut, dass wir noch fünf Jahre Zeit haben“, entgegnete Sirius grinsend.
„Ich hätte sowas aber lieber, bevor wir die Schule verlassen“, meinte James achselzuckend. „Sonst bringt uns eine Karte recht wenig, wenn wir das Schloss nicht von innen sehen.“
„Okay, dann eben vier Jahre“, sagte Sirius und verdrehte die Augen. „Reicht dir dieser Zeitraum, oh großer James Potter?“
„Annehmbar“, erwiderte James mit gerecktem Kinn, bevor er grinsend an Sirius vorbeiging. „Und jetzt ab ins Bett, Männer. Wir müssen Energie tanken.“
Es gab keine Widerworte, dafür aber zustimmendes Gähnen von Peter, der sich das nicht zwei Mal sagen ließ. Sie verließen den Gemeinschaftsraum, kletterten die Treppen zum Schlafsaal hoch und begaben sich auf Zehenspitzen zu ihren Betten. Sirius wartete in seinem Bett, bis er sich sicher war, dass die anderen schliefen (allen voran das leise Schnarchen von James, der dem von Monty Konkurrenz machte), dann schwang er die Beine auf den Boden. Im Mondlicht tapste er zu Remus' Bett.
Die Vorhänge waren zugezogen, aber der dumpfe Schein von goldgelbem Licht strahlte durch den Stoff, wie ein Leuchtturm, der durch den dichten Nebel strahlte. Für einen Moment blieb er stehen, die Hand erhoben, als wollte er anklopfen und fragte sich, was er überhaupt tat. Wieso zog es ihn zu Remus, wenn der Rest der Welt schlief, wieso gerade er?
Sirius wollte nicht denken. Er zog am Vorhang, bis er Remus' von Zauberstablicht erleuchtetes Gesicht sah. Der andere Junge verzog nicht einmal die Miene. Er sagte: „Komm rein“, drückte seine brennenden Finger in Sirius' Hand und zog ihn durch den Vorhang.
„Tut mir leid“, murmelte Sirius.
Remus lächelte. „Warum? Wir sind doch eh wach.“
„Aber du bist sicherlich müde.“
„Dann hätte ich nicht gewartet“, sagte Remus. „Ich wusste, dass du irgendwann kommen wirst.“
Sirius verzog das Gesicht. Wann war er so vorhersehbar geworden? Wann war es zur Routine für ihn geworden, sich in Remus' Bett zu schleichen, damit sie mit gedämpften Stimmen reden konnten? Nicht wissend, ob es gut oder schlecht war, zuckte er lediglich mit den Schultern.
Verständnis lag in Remus' Blick. Mit überkreuzten Beinen saß er auf seiner Bettdecke und wartete. Kein Drängen, kein Pressen, kein Fragen.
Sirius schluckte. Er sah auf seine Finger, die sich ungewollt ineinander verschlungen hatten, sah zu, wie seine bleiche Haut im goldenen Licht glänzte und Schatten warf, wann immer er sich bewegte. Ungeduld regte sich in ihm. Die Erinnerungen in seinem Kopf waren blass und verschwommen, als würde er durch ein verschmutztes Fenster gucken. Er war sich nicht sicher, was wirklich passiert war und was er geträumt hatte, aber einer Sache war er sich ziemlich sicher: Seine Mutter hatte irgendwas damit zu tun.
„Du bist sehr still“, sagte Remus schließlich mit der verdammten Geduld eines Heiligen in der Stimme. „Wenn du nicht reden willst, dann -“
„Ich glaube, ich war unter dem Imperius.“ Sirius hatte nicht vorgehabt, Remus zu unterbrechen, aber seine Zunge war schneller als sein Kopf. Er biss sich auf die Lippe.
Die silbernen Narben stachen deutlich hervor, als Remus' Gesicht an Farbe verlor. Das Lächeln war ihm gefroren. Seine Nägel kratzten mit einem unangenehmen Geräusch über das Laken. „Bist du sicher?“
„Ich ... nicht unbedingt. Ich weiß nicht, ob es das ist, was ich fühle, aber ...“ Seine Stimme versagte ihm. „Ich kann mich nicht daran erinnern, was an Weihnachten passiert ist“, gab er schließlich zu.
„Wieso denkst du dann direkt an den Imperius?“, fragte Remus mit sanfter Stimme. „Wäre ein Gedächtniszauber nicht naheliegender? Obliviate zum Beispiel?“
Sirius hob die Hand, ließ sie aber direkt wieder fallen. „Unverzeihliche Flüche liegen meiner Familie eher“, erwiderte er langsam. „Außerdem ... außerdem weiß ich noch ein paar Sachen. Ich weiß, dass ich mit meinen Eltern und Regulus zum Malfoy Manor gefloht bin und mich mit Narzissa unterhalten hab, aber ... danach ist alles verschwommen.“
„Vielleicht weiß deine Cousine etwas?“, fragte Remus vorsichtig, aber Sirius schnaubte abschätzig. „Hast du sie denn gefragt?“
„Nein“, murmelte der Black-Erbe. „Wozu? Ich weiß wo ihre Loyalitäten liegen. Sie würde meine Mutter nicht verraten, dafür liegt ihr zu wenig an mir.“
Remus presste die Lippen aufeinander, bis die Haut ringsum weiß wurde. „Und dein Bruder?“
Sirius spürte, wie seine Schultern sich automatisch anspannten. „Nein“, erwiderte er barsch. „Nein, ich will nicht mit ihm darüber reden.“ Die Wahrheit war, dass er auch schon daran gedacht hatte, sich aber nicht dazu aufraffen konnte. Sein Bruder hatte tatenlos zugesehen, als seine Mutter den Cruciatius-Fluch gewirkt hatte und hatte nicht versucht mit Sirius zu reden oder ihn zu fragen, wie es ihm ging. Er wusste nicht, was Regulus sagen würde, sollte Sirius ihn zu Weihnachten befragen. Würde er die Wahrheit sagen? Würde er seiner Mutter zuliebe lügen? Sirius war sich nicht sicher, was schlimmer wäre und er war nicht scharf drauf es herauszufinden.
„Aber wenn er doch -“, fing Remus an.
„Ich sagte Nein.“ Sirius' Stimme war lauter als beabsichtigt, aber er dachte nicht daran, sich zu entschuldigen. „Ich will Regulus nicht in meine Probleme ziehen.“
Remus sah aus, als würde er liebend gerne etwas erwidern, biss sich aber auf die Lippen und blieb stumm. Es war nicht schwierig herauszufinden, was er sagen wollte: „Das ist er bereits.“
„Es war dumm“, sagte Sirius und schob ein Bein durch den Vorhang. „Ich lass dich in Ruhe. Gute Nacht, Re-“
Ein paar vernarbte, warme Finger griffen nach Sirius' Handgelenk, als er aufstehen wollte. „Tut mir leid“, flüsterte er. „Es ist deine Entscheidung, ich weiß, ich ... wir machen uns nur Sorgen um dich. Wir alle, weißt du?“
Die Falten auf Sirius' Stirn glätteten sich, er ließ die Schultern sinken. „Ich weiß“, erwiderte er murmelnd. Langsam zog er das Bein wieder zurück. Sein Blick fiel auf Remus' Finger. „Ich will nur nicht ...“ Er wusste nicht einmal, was er wollte. Er wollte seinen Freunden keine Sorgen bereiten, er wollte seiner Familie Paroli bieten, er wollte seinen Bruder beschützen. Es gab zu viel, was er wollte, und er hatte das Gefühl, nichts davon erreichen zu können.
„Ich weiß“, sagte der andere verständnisvoll. „Aber du kannst nicht alles und jeden von dir stoßen, Sirius. Du brauchst uns.“
Es war dumm, wirklich, und überhaupt nicht für einen Black-Erben vorhergesehen, aber Sirius spürte, wie seine Augenwinkel anfingen zu brennen. „Ich will nicht ihre Marionette sein“, sagte er schließlich. „Aber was kann ich schon tun? Wahrscheinlich sollte ich auf Regulus hören und einfach tun, was sie verlangt, dann ...“
„Dann hast du schon verloren“, erwiderte Remus vorsichtig. „Und das würde nicht zu dem Sirius Black passen, den ich kenne. Seit wann gibst du einfach auf?“ Ein schmales Lächeln legte sich auf Remus' Lippen und es strahlte heller als seine gleißend leuchtende Zauberstabspitze.
Sirius stöhnte. „Du sollst nicht immer Recht haben“, murrte Sirius. „Ich hasse das.“
„Zu blöd.“ Eine Pause, dann: „Versuch mit ihm zu reden, okay?“
„Okay.“ Vielleicht, hängte er in Gedanken an.
Remus murmelte: „Nox“, und das Licht an seinem Zauberstab erlosch. Er legte ihn beiseite und schob seine Füße unter die Decke. „Du ... du kannst bleiben, wenn es dir dann besser geht.“
Sirius schnaubte belustigt. „Keine Sorge, ich bleibe, damit du keine Albträume bekommst, Lupin.“
„Ha. Du bist zu gut zu mir.“ Selbst ohne Licht war sein Augenrollen gut zu sehen.
„Ich kann einfach nicht anders.“ Sirius fand seinen Weg unter die Decke. Er schloss die Augen und atmete tief ein. Ein unverkennbarer Geruch lag über Remus' Bett, gänzlich vertraut und beruhigend.
Wahrscheinlich würde er diese Nacht derjenige ohne Albträume sein, dachte er, gähnte und drückte seinen Kopf tiefer in Remus' Kissen. Ihre Atemzüge wurden langsamer und schließlich waren beide Jungen eingeschlafen, ihre Hände fingerbreit voneinander entfernt.
Chapter 25: 25. Jahr 2: Raus
Chapter Text
Wenn Peter in Astronomie richtig aufgepasst und seine Mondtabelle korrekt gedeutet hatte, dann stand ihnen in wenigen Tagen nicht nur ein Vollmond sondern auch eine Mondfinsternis bevor. In den wenigen Büchern, in denen Werwölfe thematisiert waren, gab es kaum ein Wort über die Effekte des Mondes an sich, geschweige denn etwas über eine Mondfinsternis. Peter war nicht ganz so unsensibel, als dass er Remus direkt danach fragen würde, zumal dieser die letzten Tage wieder die Symptome der bevorstehenden Verwandlung gezeigt hatte, die sie bisher beobachten konnten. Unruhe, Hunger, Schmerzen am ganzen Körper, eine besonders kurze Aufmerksamkeitsspanne und ein Wachstum an Aggressionen waren die üblichen Dinge, mit denen Peter und die anderen gelernt hatten, umzugehen. Wahrscheinlich wüsste Remus selbst nicht, was eine Mondfinsternis mit ihm anstellen würde.
Normalerweise würde man Remus zu dieser Zeit in der Bibliothek anfinden, aber ein hässlicher Kopfschmerz hatte ihn bereits den ganzen Tag gepeinigt, sodass er sich nach dem Unterricht in den Schlafsaal zurückgezogen und seine Freunde rausgeschmissen hatte. Stattdessen hatte Peter sich mit Marlene und Benjy in der ruhigen Halle zurückgezogen, fernab von seinen anderen Freunden (James und Sirius waren auf und wollten nicht in den Gemeinschaftsraum zurückkehren, ehe sie nicht einen Geheimgang gefunden hatten) und studierte ein Buch über magische Kartographie.
Marlene beäugte ihn und seine Buchwahl bereits seit einiger Zeit, aber jetzt war es ihr zu viel geworden. Sie legte ihren Federkiel beiseite und fragte mit gesenkter Stimme: "Was haben du und die anderen Jungs schon wieder vor?"
"Wer sagt, dass wir etwas vorhaben?", erwiderte er. Immerhin war es dieses Mal wahr.
"Oh bitte", sagte Marlene, wodurch Benjy ebenfalls von seinem Aufsatz aufblickte. "Ihr habt immer irgendwas vor und nie fragt ihr mich, ob ich mitmachen will. Weißt du, was das ist? Sexismus ist das."
Peter schnaubte. "Bist du nicht ein wenig zu jung für sowas?"
Marlene betrachtete ihn mit hochgezogenen Augenbrauen. "Sexismus kennt kein Alter. Und jetzt lenk nicht ab. Was habt ihr vor und kann ich mitmachen?"
"Du könntest, wenn wir etwas vorhätten" antwortete Peter achselzuckend. "Im Moment sind wir allerdings aus dem Schlafsaal verbannt, weil Remus Kopfschmerzen hat."
"Und ich vermute mal, niemand von euch hilft ihm, wenn ihr in seiner Nähe seid, he?", überlegte Benjy grinsend. Einer seiner Schneidezähne war größer als der andere. "Kann Pomfrey ihm keinen Trank geben? Dazu sollte sie als magische Heilertante doch fähig sein, oder?"
"Remus kann die nicht ab", log Peter, der sich zu gut daran erinnern konnte, wie Remus kläglich erzählt hatte, dass selbst Madam Pomfreys besten Heiltränke keine Wirkung gegen die Beschwerden eines Werwolfs ausrichten konnten. Er konnte nichts anderes tun, außer die Schmerzen ertragen und versuchen alles wegzuschlafen. "Er sagt, davon wird ihm nur übel."
Benjy zog eine Grimasse. "Armer Typ. Da is' man schon magisch und hat trotzdem die Arschkarte gezogen."
Wenn du wüsstest, dachte Peter düster.
"Wir sollten ihm aus der Küche ein Stück Schokotorte holen", sagte Marlene. "Dann geht's ihm bestimmt gleich besser."
"Seit wann hilft Torte gegen Kopfschmerzen?", fragte Benjy mit angezogenen Brauen.
"Tut sie nicht", erwiderte Marlene. "Aber lieber Kopfschmerzen mit Torte als ohne, oder?" Sie grinste.
"Überzeugendes Argument", sagte Peter und schlug sein Buch zu. "Aber wie kommt man in die Küchen?"
Daraufhin warf sie ihm einen überraschten Blick zu. "Ich dachte ihr wüsstet das? James hat doch mehr als einmal die Küchen geleert."
Peter grummelte. "Schon, aber er will nicht verraten, woher er es weiß und wie man es macht. Ich wette er hat einfach nur jemanden danach gefragt und tut jetzt so, als hätte er es allein rausgefunden."
"Ich weiß, wie man in die Küchen kommt", sagte Benjy. "Ich hab ein paar Sechstklässler dabei beobachtet, wie sie letztes Jahr Essen und Getränke für irgendeine Party organisiert haben."
Marlene blickte stutzig drein, während Peter für einen Augenblick vergaß, dass sie sich in der Bibliothek befanden. "Dein Ernst?", fragte er lauthals begeistert, wofür er direkt einen mahnenden Blick Marlenes und ein zischendes "Shhhh!" von Madam Pince erhielt. Kleinlich sank er seinem Stuhl zusammen, die Wangen in Feuer getaucht. "Ich meine", sagte er leiser, "dein Ernst?"
Benjy zuckte mit den Schultern. "Klar. Es ist auch nicht sonderlich kompliziert, ich kann dir zeigen, wie es geht."
"Oh, dann will ich das aber auch sehen!" Marlene schob ihr längst vergessenes Buch zur Seite und blickte Benjy mit glänzenden Augen an. "Das würde bedeuten, ich hätte Zugriff auf einen nie enden wollenden Vorrat an Butterbier und Schokofröschen."
"Du sollst die Küchen nicht gleich leerräumen."
"Wieso? Die können doch sicher neues Essen herzaubern oder so."
"Das ist unmöglich", erwiderte Benjy. "Gamps Gesetz der elementaren Transfiguration verbietet das Erschaffen von Nahrung aus dem Nichts. Wenn du es trotzdem versuchst, passieren schreckliche Dinge mit dir."
Schnaubend verschränkte sie die Arme. "Wie langweilig. Wozu lerne ich denn Magie, wenn ich damit keine Süßigkeiten beschwören kann?"
Benjy lächelte schwach. "Du kannst immer noch anderes heraufbeschwören, nur eben kein Essen oder beispielsweise Geld." Bei seinen letzten Worten schlich sich ein pinker Schleier auf seine Wangen. "Jedenfalls verbietet es Gamps Gesetz, dass man mit Magie materiell wichtige Dinge oder Gegenstände aus dem Nichts beschwört."
"Aber ich kann doch Wasser beschwören, oder nicht?", fragte Marlene.
"Kannst du. Wasser zählt aber nicht zu Gamps Gesetzen und ich bin mir sicher gelesen zu haben, dass Wasser nur deshalb beschwörbar ist, weil es so gut wie keinen Nährwert hat."
"Und was ist mit Tieren?" Peter zog die Stirn in Falten. "Flitwick hat uns doch einen Zauber beigebracht, mit dem man Vögel herausbeschwört."
"Du meinst Avifors, oder?" Benjy wartete, bis Peter genickt hatte, dann fügte er an: "Mit Magie heraufbeschworene Lebeweisen verfügen meist nur über kurze Lebensdauer und verschwinden wieder ins Nichts, wenn sie sterben oder die Magie ausläuft. Also nein, du könntest keine Vögel heraufbeschwören und dann daraus Essen herstellen."
"Verdammt. Ravenclaws müssen aber auch jeden Spaß verderben", murrte Marlene, grinste aber einen Augenblick später. "Aber gut, dann zeig uns bitte die Küche und ich beschaffe mir zumindest genügend Schokofrösche, um den Monat zu überstehen."
"Das heißt, für den Rest der Schule wird nichts übrig bleiben", erwiderte Peter.
Marlene streckte ihm die Zunge raus.
"Ich zeig es euch nur, wenn ihr euch benehmt", sagte Benjy, aber das Zucken seiner Mundwinkel verriet ihn.
"Na dann los!" Marlene stopfte Aufsatz, Buch und Federkiel in ihre Tasche, bevor Peter überhaupt realisiert hatte, was los war. "Worauf warten wir noch?"
"Du erinnerst dich hoffentlich daran", sagte Peter einige Minuten später, als er mit Marlene und Benjy die Treppe in die Kerker hinunterstieg, "dass das eigentlich für Remus ist."
"Klar, sicher. Remus kann auch ein paar Schokofrösche haben, wenn er will."
"Ich dachte, du wolltest ihm Torte bringen?"
"Aber nur, wenn die gut schmeckt. Heißt, ich muss leider erstmal alles probieren und auf die Genüsslichkeit testen. Ich würde Remus niemals eine Torte vor die Nase stellen, die nicht meinen professionellen Test bestanden hat." Marlene nickte bedächtig und Peter verdrehte die Augen.
"Hier is´ es", sagte Benjy. Er war vor einem großen Bild einer Obstschale stehengeblieben, welches sich gut in die Reihe anderer Portraits reihte, die die Wand zierten. Es stach nicht sonderlich hervor, Benjy allerdings hob den Arm und zog damit ein paar sachte Kreise über eine sattgrüne Birne.
Peter und Marlene tauschten einen verwirrten Blich.
Die Birne kräuselte sich unter Benjys Berührung und ein verhaltenes Kichern hallte durch den Gang, bevor das Gemälde sich nach oben schob und einen Durchgang in der Wand freilegte. Dahinter lagen unmissverständlich die Hogwarts-Küchen, wie das Klappern von Kochutensilien, die piepsigen Stimmen der dutzenden Hauselfen und der kräftige Geruch nach allem möglichen zu Essen zu erkennen gab.
"Wow", sagte Marlene, die Benjy als erste in den Raum gefolgt war. Dutzende Herde und Öfen reihten sich aneinander, aber der Großteil der Küche wurde von exakten Replika der Haustische und des Lehrertischs eingenommen, die im Moment nur mit goldenem Gedeck beladen waren. Ein massiver, fünfzehn Fuß hoher Kessel stand fast in der Mitte des Raums und mehrere Hauselfen mussten die hölzerne Kelle festhalten, damit sie genügend Kraft aufbrachten, um den Inhalt umrühren zu können. "Hier will ich bleiben."
"Ich dachte, du wolltest dem Quidditch-Team beitreten?", fragte Peter grinsend, auch wenn er selbst mehr als versucht war, sich hier irgendwo einzunisten.
"Ach Mist", erwiderte sie. "Stimmt, ich muss Potter ja zeigen, dass er nicht der einzige mit Talent ist."
"Ich kanns kaum erwarten."
"Dürfen wir den Mistern und der Misses etwas anbieten?" Einige Hauselfen hatten ihre Anwesenheit bemerkt und waren um ihre Füße gewuselt. Alle von ihnen hatten fledermausartige Ohren und große Nasen, noch dazu trug jeder ein dünnes Hemd mit dem Hogwarts-Logo, mal mehr mal weniger mit Essen verschmiert.
"Wir hätten gern Torte", sagte Marlene. "So viel ihr habt am besten. Oh! Und Schokofrösche!"
"Vielleicht ein wenig Tee", meinte Peter nachdenklich.
"Und etwas Brot", fügte Benjy hinzu. Auf Peters Blick fügte er hinzu: "Wenn ich Kopfschmerzen hab, bekomm ich im Heim immer Tee und Butterbrot." Er zuckte kaum merklich mit den Achseln.
"Wir werden sofort alles bringen, Sie warten hier!", piepste einer der Hauselfen, bevor sie verschwanden.
Es dauerte keine Minute, dann kamen sie wieder, vollbeladen mit Tabletts voll Torte, Broten und Teekannen, die sie Peter und Benjy in die Hände drückten. "Falls es noch etwas gibt, dann müssen die Misters nur etwas sagen", sagten die Elfen, ehe sie sich unter etlichen Verbeugungen zurückzogen und sich wieder an die Arbeit machten.
"Nun", sagte Marlene, die sich ein Schokoeclair von Benjys Tablett nahm, "das war einfacher als ich gedacht hab. Ich war total beeindruckt, weil James so viel Essen besorgt hatte, aber die haben uns das ja quasi hinterhergeworfen." Ihre Stimme hallte im Echo des Kerkergangs wider.
"Ich finde Hauselfen seltsam", entgegnete Benjy. "Sie... sie werden nicht bezahlt und machen trotzdem alles, was Zauberer ihnen sagen. Das ist... ich weiß nicht. Ich find’s seltsam."
Marlene schluckte ihren Bissen herunter, bevor sie antwortete: "Ich fürchte, da bist du in der Minderheit. Hauselfen sind schon so lange versklavt, sie kennen es nicht besser. Du wirst kaum einen Elfen finden, der nicht gerne arbeitet."
Benjy und Peter zogen gleichzeitig Grimassen. "Es ist eine der barbarischen Seiten der magischen Welt", gab Peter zu. "Wobei die Hauselfen hier in Hogwarts wahrscheinlich noch am glücklichlichsten sind. Sirius hat mir von dem Elfen aus seiner Familie erzählt, der bestraft wird, wenn er etwas verbockt. Und wenn ein Elf im black'schen Haus zu alt zum Arbeiten wird, dann ..." Peter fuhr sich mit einem Finger über den Hals und machte ein würgendes Geräusch.
Benjy zog eine angewiderte Grimasse. Auf halbem Weg zum Gryffindor-Gemeinschaftsraum wollte er Marlene das Tablett in die Hand drücken. "Ich kann doch nicht in euren Gemeinschaftsraum kommen", sagte er schockiert.
"Was? Wieso nicht?'
"Naja, das ..." Aber anscheinend fiel ihm kein triftiger Grund ein, denn seine Stimme verblasste.
"Das ist kein Problem", sagte Peter. "Es ist nicht verboten, den Gemeinschaftsraum von einem anderen Haus zu betreten."
Obwohl Benjy so aussah, als würde er gerne protestieren, blieb er stumm. Im Licht der Fackeln, die an den Wänden hingen, glänzten die Gläser seiner Brille.
Im siebten Stock angekommen, nannte Marlene das Passwort (Benjy hatte das Tablett abgestellt und sich die Ohren zugehalten) und führte dann den Weg vorbei an den knautschigen roten Sesseln und den warmen Wandteppichen. Benjy betrachtete alles mit großen Augen, wurde aber von Marlene die Treppe zum Schlafsaal hinaufgescheucht.
Peter betrat das Zimmer der Zweitklässler als erstes, einerseits um sicherzugehen, dass niemand halbnackt herumrannte (James hatte die Angewohnheit sich nach dem Duschen zu verquatschen und dann vergaß er sich anzuziehen), andererseits um zu prüfen, ob Remus wach war.
Der Junge lag mit offenen Augen auf seinem Bett, den Kopf an die Decke gerichtet und ein dickes Buch lag aufgeschlagen auf seinem Bauch. Nicht einmal wölfische Schmerzen konnten ihn davon abhalten, die Hogwarts-Bibliothek vor seinem siebten Jahr komplett durchzulesen und wenn Peter es nicht besser wusste, dann würde er wenigstens beruhigt sein, dass Remus keine Hausaufgaben machte.
"Hey", sagte Peter leise. "Ich hab Besuch für dich."
Mit einem zugekniffenen Auge setzte Remus sich auf. "Was?" Seine Stimme war kratzig. Er klappte das Buch vorsichtig zu und legte es auf seinem Nachttisch ab, auf welchem sein Zauberstab, ein Tintenfass und ein Haufen an Pergamentfetzen lagen. Ein zerbrochener Federkiel guckte traurig zwischen den zerrissenen Fetzen hervor. "Oh, tut mir leid", murmelte er und wischte den Müll in seine Nachttischschublade. "Wollte einen Brief schreiben."
"Das Pergament wollte aber nicht beschrieben werden und ihr habt euch einen ziemlichen Kampf geliefert", schloss Peter. Er drückte die Tür hinter sich wieder auf und ließ Marlene und Benjy in den Schlafsaal. "Überraschung."
Als wären die beiden strahlend helle Sterne, kniff Remus beide Augen zusammen und gab ein gequält klingendes Geräusch von sich. "Pete", murrte er. "Ich hab doch gesagt -"
"Du hast Kopfschmerzen", endete Marlene mit überraschend leiser, sanfter Stimme. "Deswegen sind wir hier." Sie hob das Tablett etwas an, was Remus dazu veranlasste, ein Auge zu öffnen. Als er die saftigen Tortenstücke entdeckte, wurde sein Blick genügsamer.
"Wir haben auch Tee und Butterbrote", fügte Benjy hinzu.
Remus kämpfte ein Lächeln hervor. "Danke", brachte er raus. "Das wär aber nicht-"
"Wenn du diesen Satz beendest, dann werde ich dieses ganze Tablett voll Torte vor deinen Augen alleine essen", erwiderte Marlene warnend. "Fordere es nicht heraus, Lupin."
Mit zusammengepressten Lippen nickte Remus, bevor er eine Hand ausstreckte.
"Ha. Wusste ich es doch, dass Torte alles besser macht." Marlene stolzierte neben Remus' Bett, stellte das Tablett auf seinem Nachttisch ab (direkt auf das dicke Buch, was Remus das Gesicht verziehen ließ) und setzte sich dann an die Bettkante.
Peter schob den nächstbesten Nachttisch an die andere Seite, stellte Benjys Tablett darauf ab und bedeutete dem Jungen dann, dass er endlich von der Tür wegkommen sollte. Vorsichtig setzte Benjy sich ans äußerste Ende von Remus' Bett.
"Danke, Leute", sagte Remus, der sich eine Tasse dampfenden Tee geschnappt und seine Finger darum gewickelt hatte. Er hatte die Augen halb geschlossen.
"Und Pettigrew wollte erst keine Torte mitnehmen", entgegnete Marlene mit vollem Mund. Die Hälfte einer Schoko-Nuss-Sahne-Kreation war bereits in ihrem Magen verschwunden.
"Ok, tut mir leid", meinte Peter auf Remus' empörten Blick.
"Du wolltest mir wirklich Torte verwehren, Pete? Oh, der Verrat."
"Merlin, du klingst wie James und Sirius." Peter verdrehte die Augen, bevor er sich ebenfalls bediente. "Wo sind die beiden überhaupt?", fügte er sich umsehend hinzu.
"James ist beim Quidditch-Training. Sirius fängt sich wahrscheinlich Nachsitzen ein oder so." Remus zuckte mit den Schultern. "Ich hab ihm gesagt, er soll sich dieses Mal nicht erwischen lassen, aber wir wissen alle, dass er nicht auf mich hört."
"Wenn er auf jemanden hört, dann wahrscheinlich auf James oder seine Mutter", sagte Peter nachdenklich kauend.
"Ich hab fast das Gefühl, dass James seine neue Mutter ist. Habt ihr gesehen, wie er Sirius gestern beim Abendessen unbedingt mehr Gemüse auf den Teller legen wollte?", fragte Marlene grinsend an. Sie stellte ihre Stimme tiefer und sagte in einer recht überzeugenden Imitation von James: "Das ist gut für dich, Sirius, damit wirst du endlich mal etwas wachsen." Sie kicherte verhalten, ehe sie sich den Rest Torte in den Mund schob.
"Hör auf, das ist zu akkurat", sagte Remus mit einem zusammengekniffenen Auge. "Das klingt auch wie James, aber ich will nicht lachen, weil es dann wehtut."
Marlene presste die Lippen zusammen. "Ups."
"Ich könnte dir meinen Aufsatz für Professor Binns vorlesen", schlug Benjy langsam vor. "Da gibt es auf jeden Fall nichts zu lachen.
Peter schnaubte belustigt und Remus lächelte hoffnungslos. "Vielleicht nächstes Mal. Ich wollte nicht den ganzen Tag durchschlafen."
Zumindest für den Rest des Nachmittags, den die vier Zweitklässler zusammen verbrachten, verzog Remus das Gesicht nicht mehr schmerzhaft und für Peter war das ein Gewinn. Was der Mond und seine Finsternis bringen würde, stand in den Sternen, aber wenigstens konnte er seinen Freund vorher davon ablenken.
***
Der Mond war eine langsame, kontinuierliche Folter. Sein Sog brannte auf Remus´ Haut, als wäre er in Feuer getaucht, sein Kopf glühte vor Schmerzen. Alles in seinem Körper schien dagegen zu sein, ihn am Leben zu erhalten und es war, als würde selbst der Drang zum Atmen mit jeder vergangenen Minute schwieriger werden. Remus wusste nicht, ob er schon schlief oder ob er einfach nur im Albtraum seines Lebens gefangen war. Der einzige Gedanken, den er noch klar denken konnte, war der: Ich will raus.
Remus wollte weg, raus, in die Welt, in den Wald. Der Wald rief nach ihm so wie der Mond es tat. Im Wald ruhte Linderung, im Wald ruhte Familie. Familie, andere Wölfe. Der Wolf in ihm wollte in den Wald, während Remus für immer schlafen wollte. Vielleicht konnte er schlafen und der Wolf würde seinen Körper übernehmen und niemand von ihnen müsste mehr leiden, er, der Junge, eingesperrt in einem vernarbten Sarg und er, der Wolf, eingesperrt in einer fleischlichen Hülle.
Ich will raus.
Niemand konnte Remus´ Schmerzen lindern, nicht die gut gemeinten Taten seiner Freunde, nicht die sanft geflüsterten Worte Madam Pomfreys, während sie ihn zur Hütte gebracht hatte, noch die zerkratzten Laken auf dem halbzerstörten Bett, auf denen er seinen zerschundenen und frustrierten Leib bettete. Der brennende Sog des Mondes kroch durch die Ritzen der zerstörten Wände der Heulenden Hütte und verbrannte Remus bei lebendigem Leibe. Nicht einmal die Kühle der Nacht auf seiner nackten Haut gab ihm Linderung.
Ich will raus.
Der Wolf kratzte in seinem Inneren. Der Wolf wollte heulen, wollte rennen und reißen. Der Wolf war frustriert, dass er nicht in die Wildnis durfte. Es lag in seinem Blut und damit lag es auch in Remus´ Blut. Je lauter der Ruf des Mondes wurde, desto dringender wollte Remus aus dieser Hütte fliehen. Aber er konnte nicht. Er musste hier bleiben und es ertragen und leiden.
Ich will raus.
Ein unendlicher Hunger wütete in ihm, wie ein trüber Sturm auf offener See, gewaltig und niemals zu bewältigen. Remus wusste, die Verwandlung rückte immer näher und doch wusste er nicht, ob er sie nicht dieses Mal herbeiwünschte. Die Zeit vor dem Mond war dieses Mal schlimmer, schrecklicher als je zuvor und es kam ihm alles wie ein krankes Spiel vor. Schicksalsfaden baumelte nur Millimeter vor der Klinge, aber es war ihm nicht vergönnt, alles zu beenden. Die Verwandlung würde ihm für ein paar Stunden die Sinne rauben und dann wäre er kurzzeitig frei, aber sobald sie wiederkommen würden, würde er es nur noch schlimmer erleben. Ob die Schmerzen ihm dieses Mal den Rest geben würden?
Ich will raus, dachte er ein letztes Mal, bevor er sich vor Schmerz aufbäumte und ein Heulen in seinen Ohren klingelte. Danach, wie schon hunderte Male zuvor, verlor er alles.
Der Morgen war das schlimmste. Während sein Körper langsam, langsam wieder zu sich kam, konnte er sich nicht bewegen, konnte nur fühlen, was alles an ihm zerstört war. Seine Rippen schmerzten, sein Arm war taub, die Hälfte seines Gesichtes war feucht und warm. Ein metallischer Geruch lag in seiner Nase – Blut. Es lag ebenfalls auf seiner Zunge, auch wenn er sich dort nicht ganz sicher war. Schmeckte er wirklich etwas, oder bildete er sich nur etwas ein?
Minutenlang lag er in seiner Pein. Minuten vergingen wie grobe Körner in einem Stundenglas. Remus´ Atem ging langsam, klang ein wenig röchelnd. Hatte er überhaupt noch den Drang zu Atmen?
„Oh du meine Güte.“ Die sanfte Stimme Madam Pomfreys drang an seine Ohren, seine schmerzenden, feuchten Ohren, eines an der kalten Morgenluft, eines in die kratzige Oberfläche des Lakens gedrückt. „Remus, mein Lieber, kannst du mich hören?“
Eine kühle Hand berührte ihn, aber Remus konnte nicht ganz sagen, wo. Er konnte die Augen nicht öffnen. Remus versuchte zu reden, aber lediglich ein schwaches Stöhnen entkam ihm. Seine Kehle war ausgedörrt, aber sein Verlangen nach Wasser war schwach. Wollte er wirklich trinken oder ins kühle Nass fallen und – er schob den Gedanken beiseite. Nein, er wollte leben. Mit der letzten Kraft, die er zusammensammeln konnte, kämpfte er dafür, dass er die Lider öffnen konnte.
Statt mit dem zerschmetterten Dach der Hütte begrüßt zu werden, sah er weiß. Für einen schrecklichen Moment dachte Remus, der Wolf hätte ihn blind zurückgelassen, aber dann gewöhnten sich seine Augen an die Helligkeit und er erkannte, dass er bereits im Krankenflügel lag. Wie er dort hingekommen war, wusste er nicht. Irgendwann musste er das Bewusstsein wieder verloren haben, aber er konnte sich nicht erinnern, wann das passiert worden war. Er wusste nur, dass Madam Pomfrey die Hütte betreten hatte und dann hatte er die Augen geöffnet.
„Remus?“ Die Stimme der Krankenschwester schwebte irgendwo an seinem linken Ohr. „Merlin sei Dank bist du endlich wach.“
„Hm“, sagte er, sein Mund wirr und wund. Er wusste nicht einmal, was er sagen wollte.
„Ist deine Zunge noch taub?“
Remus nickte schwächlich, auch wenn selbst diese Bewegung weh tat. Sein Nacken schmerzte. Das Licht schmerzte in seinen Augen.
„Das dachte ich mir fast“, erwiderte die Krankenschwester mit ruhiger, leiser Stimme. „Ich hab dir ein paar Tränke gegeben, als du geschlafen hast und die Nebenwirkungen zusammen haben ein paar Taubheitsgefühle in deinem Körper ausgelöst. Die werden aber in ein paar Stunden wieder verschwinden, versprochen. Du hattest eine gebrochene Elle und angeschlagene Rippen, außerdem war deine Nase gebrochen und du hattest mehrere schlimme Verletzungen am ganzen Körper.“ Sie holte einen tiefen Atemzug. „Das – ich meine, der Mond, hat er sich anders auf dich ausgewirkt?“
„Hm“, war alles, was Remus herausbrachte.
„Oh, richtig, taube Zunge.“
Remus versuche sich an einem Nicken.
„Verstehe. Nun, ich habe nicht viel darüber herausgefunden, muss ich gestehen, über Werwölfe wird nicht sonderlich viel geschrieben, es sei denn, es geht darum, sie zu erkennen.“ Madam Pomfrey seufzte. „Diese Mondfinsternis hatte es wohl in sich. So schlimm waren deine Verletzungen noch nie. Ich –“, sie wurde von einem Klopfen an der Tür unterbrochen. Pomfrey schnaubte ungeduldig. „Schon wieder“, murrte sie. „Warte einen Moment, Remus.“
Remus hatte nicht den Kraft, den Kopf zu bewegen, deswegen konnte er nur hören, wie die Krankenschwester aufstand und mit schnellen Schritten in Richtung der Tür ging. Er schloss die Augen wieder, aber das grelle Licht des Krankenflügels drang trotzdem durch seine Lider. Schlaf wollte ihn nicht mehr übermannen.
„Nein“, sagte Madam Pomfrey. „Er braucht Ruhe.“
„Oh bitte“, maulte die Stimme Sirius Blacks. „Nur fünf Minuten.“
„Absolut nicht“, erwidere die Krankenschwester resolut. „Dieser Junge braucht seinen Schlaf und ich werde nicht zulassen, dass er gestört wird.“
„Bitte, Poppy“, sagte Sirius, aber ein lautes Schnauben später fügte er an: „Ich meinte, bitte Madam Pomfrey. Ich will ihn nur kurz sehen.“
„Was, glauben Sie nicht, dass er wirklich hier ist?“
„Nein, das meinte ich nicht. Ich will – ich will ihn einfach nur sehen. Nur kurz. Sichergehen, dass es ihm gut geht und ihm nichts wirklich fehlt, ja? Sie können auch zugucken!“ Sirius klang hoffnungsvoll und Remus war sich sicher, dass er seinen besten Hundeblick aufsetzte, um zu bekommen, was er wollte. „Bitte?“
Madam Pomfrey seufzte laut. Bildlich konnte er sich vorstellen, wie sich an die Stirn fasste und den Kopf schüttelte. „Einen Blick“, sagte sie. „Ich erlaube einen Blick, danach verschwinden Sie sofort und lassen meinen Patienten in Ruhe.“
„Jawohl, Ma´am!“ Schritte näherten sich rapide Remus´ Bett und obwohl er nicht die Kraft hatte, den Kopf zu heben, wusste er genau, dass das grinsende Gesicht von Sirius Black jeden Moment neben ihm auftauchen würde.
Die Schritte endeten abrupt, ein schneller Atemzug, dann Stille. Langsam breitete sich wieder Gefühl in seinem Körper aus, ein seltsam belebendes Gefühl, als würde er mit Aufpäppel-Tränken vollgepumpt werden. Dunkelgraue Augen und glänzendes schwarzes Haar tauchten in Remus´ Sichtfeld auf, doch statt das grinsende Gesicht von Sirius zu sehen, sah Remus lediglich Sorge in den Augen des anderen Jungen.
„Merlin“, sagte Sirius langsam.
„´S is´ nich´ so schlimm“, brachte Remus hervor, seine Zunge noch nicht ganz wieder am Leben. Er konnte seine Unterlippe nicht spüren.
„So sieht das nicht aus“, hauchte Sirius.
„Ich versichere Ihnen, Mr. Lupin geht es so weit gut, aber er braucht Ruhe“, tauchte Madam Pomfreys Stimme im Hintergrund auf. „Und jetzt, da Sie ihn gesehen haben, können Sie uns wieder allein lassen?“
„Lag es am Mond?“, fragte Sirius, komplett die Worte der Krankenschwester übergehend. „Die Mondfinsternis? Lag es daran?“
Madam Pomfrey seufzte erneut. „Ich bin nicht sicher“, sagte sie. „Die Effekte der verschiedenen Mondphasen auf einen Menschen mit Lykanthropie sind nicht wirklich erforscht. Vollmonde sind offensichtlich der Katalysator für die Verwandlung, aber was eine Mondfinsternis oder Ähnliches auslöst … wir wissen es nicht. Ich bin mir zumindest sicher, dass es zu besonderer Aggressivität beim Wolf geführt hat, wodurch Remus nun mehr leiden muss.“
Obwohl er sich schrecklich fühlte, füllte eine blubbernde Wärme Remus´ Körper aus. Es ging nicht an ihm vorbei, dass Madam Pomfrey von Remus und dem Wolf als zwei verschiedenen Wesen sprach; sie sah Remus nicht als den Wolf an und wusste, dass er nicht dafür verantwortlich war, was passierte, wenn der Mond die Fülle erreichte. Für Remus ging die Sonne auf, als er die Augen schloss und ein entferntes Brennen nahm seine Augenwinkel ein. Pomfreys warme Worte sickerten wie Honig in seinen Kopf und ließen das Pochen, dass seinen gesamten Körper einnahm, langsam verschwinden.
„Deswegen werde ich ihm jetzt ein paar weitere Tränke verabreichen“, führte die Heilerin fort. „Remus braucht Ruhe, damit sein Körper sich erholen kann und ich bin mir sicher, dass er erst dann Kraft tanken kann, wenn er tief schläft. Also, Mr. Black –“
„Noch eine Minute, bitte!“, flehte Sirius.
Remus öffnete die Augen. Sein Nacken brannte vor Schmerz, als er den Kopf zur Seite drehte, aber er schaffte es und kämpfte ein Lächeln auf die Lippen. „Schon gut, Si´us“, murrte er mit halb wachem Gesicht. „Wir seh´n u´s morg´n.“
„Remus …“ Das Schleifen von Schuhen über Marmor ertönte, dann rückte Sirius´ Gesicht näher heran. Der mintfrische Zahnpastaatem ließ Remus´ Augen tränen, wobei ihm das nicht half, zu erkennen, wie spät es war. „Bist du sicher, dass es dir gut geht?“
Statt zu antworten, nickte der Junge lediglich, Schmerzen im Nacken, Brennen im Magen. Sein Körper schrie nach Ruhe, sein Kopf verlangte nach … nach Sirius. Er wollte, dass der andere Junge bei ihm blieb, aber er hatte keine Chance, dieses Verlangen in Worte zu fassen und es Madam Pomfrey zu erklären. Die einfachste Entscheidung war es deswegen, Sirius gehen zu lassen und sich den Tränken hinzugeben, die ihn in den Schlaf zwingen würden.
„Mr. Lupin wird es wieder gut gehen, wenn er endlich dazu kommt, zu schlafen, Mr. Black“, sagte Madam Pomfrey mit strenger Stimme. Eine ihrer Hände grub sich in Sirius´ Schulter und zog ihn von Remus´ Bett. Sanft, aber bestimmt schob sie den Jungen zurück zur Tür. „Sie können morgen wiederkommen, wenn Mr. Lupin wieder wach ist, andernfalls verbiete ich es Ihnen, den Krankenflügel zu betreten, sollte es sich nicht um einen Notfall handeln. Und Nein“, fügte sie mit Nachdruck an, „Sie können keinen schlechten Trank schlucken, um eine Magenverstimmung zu bekommen.“
„Aber Madam Pomfrey“, maulte Sirius, wobei er den letzten Laut unnatürlich lang zog.
„Nein.“ Ein einziges Wort reichte aus, damit Sirius den Mund hielt und Remus ein schwaches Lachen von sich gab. Madam Pomfrey schloss die Tür zum Krankenflügel mit einem dumpfen Geräusch, das wie eine massive Glocke in Remus´ Ohren nachhallte. Die scharfen Schritte Madam Pomfreys kamen wieder zurück und einen Moment später lag ihre kühle Hand auf seiner Stirn. „Du musst schlafen“, sagte sie. „Du bist fiebrig und schwach.“
„Hm.“
Madam Pomfreys Augen verengten sich kaum merklich. „Hier“, sagte sie und führte eine Phiole mit orangeroter Flüssigkeit an seinen Mund, „trink das, dann solltest du einschlafen.“
Remus zwang sich dazu, den Schlaftrunk einzunehmen. Es schmeckte nach nichts, als würde er versuchen Luft zu schlucken, aber kaum hatte er ihn getrunken, breitete sich erneut eine wohlige Wärme in ihm aus, wie ein Lagerfeuer in seinem Magen. Es wurde schwierig, die Augen offen zu halten.
„Ich lasse eine Phiole auf deinem Nachttisch liegen, falls du wach wirst“, sagte sie. „Daneben lasse ich einen Schmerztrank, ja? Du kannst ihn einnehmen, wenn du meinst, dass du ihn brauchst.“ Erneut legte sie eine Hand auf sein Gesicht, dieses Mal an seine Wangen. Vorsichtig, als hätte sie Angst, er würde unter ihrer Berührung zerbrechen, strich sie über seine heiße Haut. „Es tut mir wirklich leid, dass ich nicht mehr tun kann, Remus.“
Er wollte ihr sagen, dass sie sich keine Sorgen darüber machen sollte, aber sein Mund fühlte sich erneut zu schwer zum Bewegen an. Der Schlaftrunk ließ seine Glieder bleiern und sein Hirn leer werden und als seine Lider zufielen und er nicht einmal mehr die Kraft hatte, sie wieder zu öffnen, hatte er nur noch einen Gedanken, bevor der Schlaf ihn wie einen Umhang einhüllte:
Ich will raus.
***
Sirius kehrte mit geknickter Miene in den Schlafsaal zurück, warf sich auf sein Bett und seufzte lauthals.
„Kein Glück mit Remus?“, fragte James, die Füße von seinem eigenen Bett baumelnd, ein angefangener Aufsatz für Zauberkunst halb unter seinem Kissen vergraben, während er deutlich wichtigere Sachen tat – die Handschuhe, die zu seiner Quidditchausrüstung gehörten, von Schmutz befreien.
„Poppy wollte mich nicht bei ihm bleiben lassen“, murrte Sirius. „Dabei ging es ihm schrecklich und ich wette, ich hätte es bestimmt besser gemacht.“
„Weil du offensichtlich mehr Ahnung von Heilerzeug hast“, kommentierte Peter trocken von seinem Bett aus. Im Gegensatz zu James versuchte er noch immer, ein paar Zeilen für Flitwick hinzuschmieren, Tinte an seinen Fingern und ein zerbrochener Federkiel zu seinen Füßen. „James, kann ich –“
„Irgendwas müssen wir doch tun können!“, überging Sirius ihn lautstark.
James verdrehte die Augen, bevor er den Blick hob. „Und was stellst du dir darunter vor? In den Krankenflügel einbrechen und uns als Deko verkleiden, damit Pomfrey uns nicht rauswirft?“
„Ich meine, ich hatte eher an eine gebrochene Nase gedacht, damit sie uns nicht wegschicken kann, aber meinst du, das bekommen wir hin?“ Sirius hatte den Kopf halb angehoben, hoffnungsvolles Glänzen in seinen Augen.
James warf sein Kissen nach ihm. „Natürlich nicht, du Idiot“, meinte er, als das fedrige Geschoss nur Millimeter von Sirius´ Gesicht in die Wand krachte. „So ätzend es auch ist und glaub mir“, fügte er an, als Sirius erneut den Mund öffnete, „ich weiß, wie ätzend es ist, wir können nichts tun, wenn Pomfrey sagt, es gibt nichts, was wir tun können.“
Sirius drückte sich James´ Kissen ins Gesicht. „Komm schon“, maulte er gedämpft klingend. „Wozu sind wir denn die Rumtreiber?“
„Wir müssen das mit dem Animagus-Kram einfach schneller hinbekommen“, sagte Peter, wofür er einen gereizten Blick von Sirius´ Seite aus erntete. „Was? Ich dachte, das wäre unser Plan gewesen?“
„Ist es auch“, meinte James. „Aber falls du es schon vergessen hast, haben wir noch immer keinen Ansatz dafür gefunden.“ Er blickte mit hochgezogenen Augenbrauen zu Sirius und hielt den Blickkontakt, bis dieser genervt stöhnte und den Kopf wieder fallen ließ. „Ich hab auch keine Ahnung, wo wir noch suchen sollen. Die Bibliothek hat gar nichts und als ich meinen Dad gefragt hab, hat er nur gesagt, dass das nichts ist, womit ich mich beschäftigen sollte, sofern ich nicht älter bin.“
„So lange können wir nicht warten“, murrte Sirius.
„Wer sagt was von warten?“ Peter kratzte sich mit dem Ende seiner Feder am Kinn, wobei er einen dunkelblauen Tintenfleck auf seiner Haut hinterließ. „Du bist in die Verbotene Abteilung eingebrochen, also kannst du doch ein Buch von deinem Vater klauen, oder nicht?“ Er zuckte mit den Schultern. „Ich sehe jetzt den Unterschied darin nicht.“
Sirius hob schlagartig den Kopf. „Warte mal, er hat Recht“, sagte er und starrte James an. „Wieso bist du nicht in die Bibliothek deines Vaters eingebrochen und hast uns ein Buch mitgenommen? Es ist fast so, als würde dir der kleine Remus gar nicht am Herzen liegen.“ Eine seiner Augenbrauen war in seinen dunklen Locken verschwunden.
James´ Wangen wurden heiß und er drehte den Kopf, damit er Sirius´ stechenden, anklagenden Blick meiden konnte. „Ich kann doch meinen Dad nicht beklauen“, murmelte er, in der Hoffnung, dass die anderen Rumtreiber es nicht hören würden, wobei er nicht mit Sirius´ Hundegehör gerechnet hatte.
„Wie bitte?“, fragte er entsetzt, setzte sich auf. „Natürlich kannst du das, wenn es um Remus´ Wohl geht! Du verkaufst seine Sachen ja nicht auf dem Schwarzmarkt oder so, du bringst es ihm wieder. Irgendwann“, fügte er hinzu.
„Hast du denn deinen Vater schon gefragt?“, schoss James zurück.
Sirius lachte humorlos. „Oh, das wäre eine schöne Unterhaltung. Hey, Dad, ich weiß, du bist grad dabei, mich zu verfluchen, aber kannst du mir vielleicht ein Buch ausleihen, damit ich ein illegaler Animagus werden kann?“ Trotz des dunklen Inhalts zuckte ein Grinsen auf Sirius´ Lippen.
Ein Kloß setzte sich in James´ Kehle an. „Tut mir leid, ich wollte nicht –“
„Piss dir nicht gleich ein, Potter“, erwiderte Sirius nonchalant klingend, auch wenn seine wegwerfende Handbewegung ein wenig zittrig wirkte. Er drückte seine Finger in James´ Kissen. „Ich würde liebend gern in die Bibliothek meines Vaters einbrechen, aber da liegen einhundert Flüche drauf. Wenn ich nur die Tür berühre, fallen mir wahrscheinlich die Finger ab oder was auch immer er sich für kranke Sicherheitsvorkehrungen ausgedacht hat. Ich vermute mal, dein Dad macht sowas nicht.“
„Nein“, gab James langsam zu. „Ich …“, er seufzte, als er Peters hoffnungsvollen Blick bemerkte. „Na schön. Ich lass mir über die Sommerferien was einfallen. Wenn ich erwischt werde, werde ich allerdings dir die Schuld in die Schuhe schieben.“
„Das ist okay“, sagte Sirius grinsend. „Deine Eltern haben mich sowieso lieber als dich.“
„Haben sie nicht!“
„Haben sie!“
„Nicht!“
„Wohl!“
„Habt ihr es bald?“, unterbrach Peter die beiden augenrollend.
Sirius seufzte laut und theatralisch. „Wenn du es denn willst, Pete.“
„Kannst du deinem Vater nicht schreiben, ob er dir ein Buch zuschickt? Lüg einfach und sag, es sei aus Interesse.“ Peter zuckte mit einer Schulter. „Einen Versuch wäre es doch wert, oder?“
„Dann würde er doch direkt wissen, was wir vorhaben“, erwiderte James. „Also lieber nicht.“
„Wenn du meinst.“
Sirius warf den Kopf wieder zurück. „Es ist langweilig, wenn Remus nicht hier ist“, sagte er, was James eine Augenbraue anheben ließ. „Remus hätte bestimmt eine Idee, was wir tun können.“
„Du kannst mir mit dem Zauberkunstaufsatz helfen, wenn dir so langweilig ist“, meinte Peter trocken.
„Ha. Nicht dein bester Witz, aber nicht schlecht, Pete. Mach weiter so.“
Peter verdrehte erneut die Augen.
„Falls jemand noch ernstgemeinte Vorschläge hat, bin ich immer offen dafür, ansonsten“, Sirius ließ den Rest ungesagt, wartete ein paar Sekunden, dann presste er die Lippen zusammen. „Ihr seid beides Langweiler.“
„Wir könnten Zauberschnippschnapp spielen“, schlug James vor, der sowieso nicht wirklich Lust hatte, Hausaufgaben zu machen. „Oder die Mädchen ärgern. Ich glaub, Evans und die anderen sind noch im Gemeinschaftsraum.“
„Evans, ja?“
„Was?“, erwiderte James, das leichte Flimmern in seinen Wangen ignorierend.
„Oh, gar nichts“, sagte Sirius. „Wirklich absolut gar nichts.“
James schnalzte mit der Zunge, entschied sich aber, nicht zu antworten. Es gab genug Dinge, die er sagen könnte und er war sich sicher, dass alles darin enden würde, dass er und Sirius sich raufen würden. Was auch immer seine Freunde dachten, es war falsch. Er hatte sicher keine komischen Gefühle für Lily Evans. Wenn er nämlich ganz ehrlich war, dann konnte er sie nicht einmal leiden. Sie war besserwisserisch, herrisch und teilweise ziemlich gemein zu ihm, selbst wenn er nichts getan hatte. Zugegeben, manchmal wollte er sie provozieren, weil ihre Reaktionen witzig waren, aber das hieß natürlich nicht, dass er es verdient hatte, von ihr angefahren zu werden, nur weil er im selben Raum mit ihr war.
Den Kitzelfluch, den er ihr mitten im Zaubertränkeklassenzimmer auf den Hals gehetzt hatte, konnte sie ihm sowieso nicht nachweisen.
Auch am nächsten Tag durfte Remus den Krankenflügel nicht verlassen und Besuch war ihm ebenfalls nicht gestattet, was besonders Sirius aufregte. James musste ihn davon abhalten, die Türen aufzuhexen und ihn vom Krankenflügel wegzerren, während Madam Pomfrey mit einem undeutlichen Blick zugeschaut hatte. Einerseits hatte die Heilerin verständnisvoll gewirkt, als sie Sirius mehrmals gesagt hatte, dass Remus einfach zu schwach war, um lange wach zu bleiben, andererseits hatte sie gedroht, ihn in eine Bettpfanne verwandeln zu lassen, wenn er weiterhin so einen Radau veranstalten würde.
Dass sie Remus nicht sehen durften, half nicht, damit Sirius´ Laune sich verbesserte. Dadurch, dass es Samstag war, konnte James nicht darauf hoffen, dass der Unterricht sie ablenken würde, sondern musste es selbst in die Hand nehmen, Sirius in Schach zu halten, damit er sich nicht von der Treppe warf, um Zutritt zum Krankenflügel zu bekommen. Er würde es seinem besten Freund definitiv zutrauen, sich irgendwelche Verletzungen anzutun, nur damit er sichergehen konnte, dass Remus noch da war.
„Woher wissen wir denn, dass sie ihn nicht nach St. Mungos gefloht haben, während wir geschlafen haben?“, hatte er mit trotziger Stimme gefragt. „Wenn sie uns doch wenigstens fünf Minuten in den Raum lassen würden …“
„So sehr wir auch davon gerührt davon sind, dass du dich so um Remus´ Gesundheit sorgst“, fing Peter an, die Ungeduld nicht ganz aus seiner Stimme verbannt, „ist es doch ziemlich nervig, dass du jedes Mal ausrastest, wenn du mal zwei Tage von ihm getrennt bist.“ Als Sirius ihm einen empörten Blick zuwarf, schnaubte er kurz. „Was? Du weißt, dass ich Recht habe.“
James zog an Sirius´ Arm, damit er nicht in eine Gruppe von Slytherin-Drittklässlern lief, die ihnen entgegengekommen waren. Als sie außer Hörweite waren, sagte er: „Wir könnten uns immer ein wenig die Zeit vertreiben, bis Remus wieder fit ist und wir dann die großen Geschütze ausfahren.“
„Was ist aus daraus geworden, dass wir nur zu vier die Rumtreiber sind und es sonst keinen Sinn ergibt, Streiche zu spielen?“, fragte Peter mit hochgezogener Augenbraue.
„Regeln können ein wenig gebogen werden, ohne sie zu brechen. Remus würde es bestimmt gutheißen“, antwortete er.
„Wie auch immer.“
„Wenn du nicht mitmachen willst, dann können wir es auch zu einer Zwei-Mann-Mission machen“, sagte James, einen Arm um Sirius´ Schulter geworfen, beide Junge am Grinsen. Es brannte in seinen Mundwinkeln und seine Finger verlangten nach der Ablenkung durch Unfug. Das ganze Schloss stand ihnen offen und wartete nur darauf, dass sie etwas anstellten, dass vielleicht gegen die Regeln verstieß, aber jede Menge Unterhaltung brachte.
„Wir könnten die Zeit auch nutzen“, sagte Peter langsam, „um unsere Arbeit mit der Karte voranzubringen, oder? Heute ist kein Quidditchtraining, also haben wir den ganzen Tag Zeit, ja?“
„Oh, hey, keine schlechte Idee. Und wenn wir nebenbei ein paar Slytherins sehen, dann …“ Sirius machte eine wagemutige Zauberstabbewegung in der Luft, wodurch ein paar Funken durch die Luft stoben.
James grinste. „Perfekt.“ Er boxte Peter mit der anderen Hand gegen die Schulter. „Dann los. Lasst uns Kartographieren!“
„Woher er das Wort jetzt wieder kennt“, murmelte Sirius halblaut, was James geflissentlich ignorierte.
Sie würden Remus Unmengen an Fortschritten präsentieren, während er sich den Schmerz wegschlief. James würde schon dafür sorgen, dass Remus die Vollmondnächte bald nicht mehr allein verbringen würde, darauf gab er sich selbst ein Ehrenwort.
Remus würde nicht mehr allein sein.
Und ein Potter brach niemals ein Versprechen.
Chapter 26: 26. Jahr 2: Ungewünschte Überraschungen
Chapter Text
Am Morgen von Lily Evans´ dreizehnten Geburtstag flatterte unerwartet eine kleine, braune Eule zu ihr, ließ einen leicht knittrigen, dicken Umschlag auf ihr Rührei fallen und setzte sich dann mit großen Augen vor ihren Trinkkelch.
„Was für eine unhöfliche Eule“, sagte Mary, als Lily den Brief mit spitzen Fingern von ihrem Teller zog.
„Von wem ist der?“, fragte Marlene, den Mund voll mit Toast und Bohnen.
Lily inspizierte die kleine Schrift auf dem Umschlag, bevor sich ihre Lippen zu einem Lächeln verzogen. „Von meinen Eltern! Wahnsinn, sie haben es echt hinbekommen, Eulenpost zu verschicken.“
„Und das auch noch pünktlich“, fügte Mary beeindruckt klingend hinzu. „Meine Geburtstagsglückwünsche kamen fast einen Monat zu spät, weil meine Mum nicht wusste, ob sie die Eule in den Briefkasten stecken musste oder nicht.“
Marlene schnaubte. „Muggel kommen echt auf komische Ideen.“
„Was auch immer“, Mary wedelte ungeduldig mit der Hand herum, „Was schreiben sie?“
„Okay, Moment.“ Lily riss den Umschlag auf, aus dem direkt ein Brief quoll, der einen entfernt vertrauten Geruch mit sich brachte. Das müsste das Rosenparfüm ihrer Mutter sein. Das Papier fühlte sich weich auf ihrer Haut an, als ob ihre Mum wieder extra in die Stadt gefahren wäre, um das teure Briefpapier zu kaufen, von dem ihr Vater sagte, es sei eine reine Geldverschwendung. Lily lächelte, beugte sich näher an Mary und Marlene und las dann den Brief ihrer Eltern mit leiser Stimme vor.
„Liebste Lily. Alles, alles Liebe zu deinem Geburtstag! Wir hoffen, du hast eine schöne Zeit mit deinen Freunden und hast schon eine Menge gelernt. Anbei legen dein Vater und ich dir ein wenig Taschengeld, dann kannst du dir etwas aus dieser Zeitschrift bestellen, die ihr alle lest. Hexenmonat hieß die, oder?“ Lily schnaubte belustigt. „Ich hab ihr schon fünf Mal gesagt, dass es die Hexenwoche ist.“
„Meine Mum weigert sich zu glauben, dass ein Wort wie Quidditch existiert“, sagte Mary grinsend, deutete Lily dann aber an, weiterzulesen.
„Wir wussten nicht, wie wir dir dein Geschenk zukommen lassen sollten, weil die Eule doch sehr klein aussah, deswegen kannst du es auspacken, wenn du in den Sommerferien nach Hause kommst. Trotzdem darfst du aber noch nicht wissen, was es ist. Das bleibt eine Überraschung!“ Lily verdrehte die Augen. Ihre Mutter liebte Überraschungen manchmal ein wenig zu sehr. „Deine Oma Marigold hat gestern angerufen und gefragt, wann du sie mal wieder besuchen fahren kannst und wir wussten nicht, ob sie wissen darf, dass du eine Hexe bist, deswegen haben wir einfach gesagt, du wärst auf ein Internat in den Bergen. War das richtig?“
„Deine Mum ist richtig süß“, meinte Marlene lachend.
„Sie ist toll“, erwiderte Lily stolz. „Vielleicht kann ich in den Ferien ja mal zu euch kommen? Dann kann ich eure Familien kennenlernen.“
„Vielleicht zu mir“, entgegnete Marlene aufgeregt. „Marek soll eigentlich im Juli aus Kenia zurückkommen, dann könntet ihr ihn endlich kennenlernen!“
„Oh, dann durfte er endlich seinen Schreibtischjob verlassen?“, fragte Lily.
Marlene zog eine Grimasse. „Nicht unbedingt“, meinte sie. „Aber er durfte zumindest in die Länder mitreisen, in denen sie Ausgrabungen durchführen, auch wenn er dann da auch nur am Schreibtisch hängt und Dokumente ausfüllt. Aber es ist nur noch eine Frage der Zeit, bis er auch in die Ruinen und Gräber mitkommen darf.“
Mary grunzte. „Hast du uns das letztes Jahr nicht auch schon erzählt?“
„Naja … ich kann auch nur weitergeben, was Marek mir sagt. Um ganz ehrlich zu sein, glaube ich ja, dass es ihm nicht das bringt, was er sich vorgestellt hat. Ich glaube, er sucht schon nach einem anderen Job.“
„Sie sollten vielleicht in die Jobbeschreibung schreiben, dass man die ersten zehn Jahre nichts Spannendes macht, sondern nur Pergamente durch die Gegend schubst. Ha“, meinte Mary grinsend, „als hätte er Hogwarts nie verlassen.“
Marlene wurde rot um die Wangen. „Wie auch immer. Lies weiter, Lily.“
Lily wusste sehr wohl, dass Marlene schnell das Thema wechseln wollte und half ihrer Freundin ausnahmsweise, ansonsten könnte es sehr gut passieren, dass Mary und Marlene sich noch unendlich ankabbeln würden. „Wir hoffen sehr, dass die Eule, die dir den Brief gebracht hat, nicht einfach weggeflogen ist, denn – Überraschung – wir haben sie dir zum Geburtstag gekauft! Was?“ Lily blickte irritiert auf und traf die großen, goldenen Augen des kleinen Vogels, der mit schiefgelegtem Kopf auf dem Tisch saß und mit dem Schnabel klackerte. „Du sollst mir gehören?“, fragte Lily irritiert und die Eule hüpfte etwas näher, als hätte sie sie verstanden.
Lily streckte einen Finger aus und der kleine Vogel knabberte daran. Es zwickte und kitzelte und Lily musste instinktiv grinsen. „Na? Du bist ja ein niedliches Kerlchen.“
„Hast du schon einen Namen?“, fragte Marlene, die mit großen Augen auf das weiche gefiederte Tier blickte, als könnte sie kaum glauben, dass eine Eule in der Großen Halle von Hogwarts sitzen könnte – die einhundert anderen Vögel komplett ignorierend, die gerade zurück zur verzauberten Decke flogen.
„Oh. Richtig – keine Ahnung“, gab Lily ein wenig überfordert zu. Sie entschied sich, den Brief ihrer Eltern weiterzulesen, in der Hoffnung, entweder einen Namen zu finden oder wenigstens mehr Zeit zum Nachdenken zu ergattern. „Es ist so schwierig mit dir im Kontakt zu bleiben, wenn du so weit von Zuhause weg bist und keine normalen Briefe schicken oder einfach mal anrufen kannst – gibt es denn keine Telefonzelle in Hogwarts? Oder zumindest ein Münztelefon beim Schulleiter? Vielleicht sollte er mal über ein paar moderne Neuerungen nachdenken, meinst du nicht?“
Mary schnaubte belustigt. „Ja, klar, als ob die magische Welt irgendwas machen würde, damit es muggelgeborene leichter haben.“
„Jedenfalls haben wir uns beschlossen, dass du diese kleine Eule haben sollst, damit du uns immer schreiben kannst, wenn du möchtest und wir dir dann auch direkt antworten können. Die anderen Vögel sind immer direkt wieder abgehauen und wir hatten Schwierigkeiten, einen Ersatz aufzutreiben. Das sollte das Problem endlich lösen!“ Lily blickte auf, traf die goldenen Augen der Eule und wusste es dann. „Ich glaube, ich werde dich Pallas nennen.“
„Pallas?“, fragte Marlene irritiert klingend. „Was soll das denn für ein Name sein?“
„Ein mythologischer“, war alles, was Lily antwortete. Die goldenen Augen erinnerten sie an die griechische Göttin Athene und wenn sie sich richtig erinnerte, hatte diese den Nebennamen Pallas. Passend, wie sie fand, denn Athenes Markenzeichen war ebenfalls die Eule. Als wäre dieser kleine Vogel für sie bestimmt.
„Es ist süß“, gab Mary zu, die vorsichtig ebenfalls einen Finger ausstreckte, um Pallas´ weiches Gefieder zu streicheln. Die Eule hüpfte auf der Stelle herum, damit sie Mary ansehen konnte, legte den Kopf schief und gab ein leises, kaum wahrzunehmendes Geräusch von sich, wahrscheinlich eine Art Schuhu. Pallas wirkte überglücklich mit all der Aufmerksamkeit, als schließlich auch Marlene damit begann, die samtenen Federn an ihrem Rücken zu streichen. „Steht da noch mehr?“, fragte Mary schließlich, nachdem sie alle die kleine Eule ausgiebig gestreichelt hatten.
„Ja, Moment.“ Lily nahm den Rest des Briefs in Angriff. „Kümmere dich gut um das kleine Ding, gib ihr genug Futter und Wasser und mach auch ihre Ausscheidungen weg, verstanden? Wenn wir erfahren, dass du dich nicht ordentlich sorgst, dann müssen wir sie wieder wegnehmen.“
„Ich glaube, deine Eltern wissen nicht, dass die Hauselfen das übernehmen“, sagte Marlene.
„Meine Eltern wissen auch gar nicht, dass es Hauselfen überhaupt gibt“, erinnerte Lily sie. „Egal. Dein Vater und ich wünschen dir einen wunderbaren Geburtstag und wir hoffen sehr, dass dir unser Geschenk gefällt! Wir werden dir noch einen Reisekäfig hinterherschicken, nachdem wir herausgefunden haben, wie wir so ein großes Paket verschicken sollen. Bis dahin musst du gut auf dein neues Haustier achtgeben, ja? Alles Liebe, Lilylein.“
Marlene kicherte. „Lilylein“, flüsterte sie mit einem diabolischem Glitzern in den Augen.
„Wenn du das auch nur einer Menschenseele erzählst, dann hexe ich dir Haare an die Zähne“, drohte Lily, die sehr wohl wusste, dass Marlene sicher scharf darauf gewesen wäre, diesen peinlichen Spitznamen ihrer Eltern an Idioten wie Potter und Black weiterzugeben.
„Na schön“, murrte sie. „Spielverderberin.“
„Warte, da steht noch was“, sagte Mary, die sich über Lilys Schulter gebeugt hatte. Sie rückte Lilys Hand beiseite, die den Brief festgehalten hatte und enthüllte noch ein paar Zeilen, die so aussahen, als wären sie auf die letzte Minute angeschmiert worden. „Na los, lies vor!“
„Okay, okay!“ Lily warf Mary einen genervten Blick zu, der mit einem Augenrollen beantwortet wurde, ehe sie den letzten Rest des Briefes las. „Hallo Lily. Alles Gute zum Geburtstag. Vielleicht wird es dich interessieren, dass ich als erstes Mädchen aus meiner Klassenstufe jetzt einen festen Freund habe. Sein Name ist Trevor und er hat mich auf ein Date in ein Museum eingeladen. Er ist sehr gebildet und kultiviert. Ich hoffe, du hast einen angenehmen Geburtstag. Ich wollte nichts einer Eule anvertrauen, deswegen habe ich kein Geschenk für dich, aber das stört dich sicherlich nicht. Bis bald. Petunia Evans.“
„Wow.“ Mary lehnte sich zurück, wobei Pallas ihr einen entsetzten Blick zuwarf, weil sie damit nicht mehr in Streichelnähe war.
Die Eule ließ sich das gar nicht gefallen und hüfte prompt auf die andere Seite des Tisches auf Marlenes Hand zu. Mit dem Schnabel pickte sie an ihrem Handrücken.
„Aua“, sagte diese. „Was soll das?“
Pallas starrte sie an.
„Soll ich dich streicheln?“, fragte Marlene.
Ein leiser Schuhu entkam ihr.
Marlene lachte. „Deine Eule ist ganz schön schlau.“ Sie fing an mit dem Finger über Pallas´ Federn zu streichen.
„Hast du überhaupt zugehört?“, fragte Mary mit zusammengezogenen Brauen. „Lilys Schwester hat ihr zum Geburtstag gratuliert. So, wie es aussieht, auch noch freiwillig!“
„Tuni und ich verstehen uns wieder besser“ sagte Lily rasch. „Wir haben an Weihnachten sogar miteinander gelacht.“ Sie erinnerte sich zurück an die Ferien, an das zerstörte Glas mit Orangensaft und Petunia, die in der Küchentür stand und sich entschuldigte. Petunia, die wusste, was das Zauberergefängnis war. „Ich glaube, wir sind wirklich auf dem Weg der Besserung!“ Zumindest hoffte sie das inständig. Es war ihr gänzlich egal, wenn ihre Schwester ihr keine Geschenke machte oder ausschweifende Geburtstagswünsche schickte. Es reichte ihr, wenn sie mit ihr redete, als wäre sie wirklich nur das – eine Schwester, die auf eine andere Schule ging.
„Es klang aber nicht so, als würde Tuni sich sonderlich dafür interessieren, dass es dein Geburtstag war. Sie hat mehr über sich geschrieben“, sagte Mary.
Lily spürte ein unangenehmes Ziehen in ihrer Magengegend. Natürlich war ihr das auch aufgefallen, natürlich hatte sie bemerkt, dass Petunia noch immer nicht darüber redete, was Lily war – eine Hexe – und stattdessen die Taktik gewechselt hatte. „Das ist normal“, erwiderte sie, die Bitterkeit der Lüge brannte auf ihren Lippen. „Petunia macht sich nicht viel aus Geburtstagen.“
„Es sei denn, es ist ihr eigener“, entgegnete Mary mit harter Stimme. „Sie wollte doch, dass die ganze Woche zu ihren Ehren gefeiert wurde.“
„Das war einmal vor drei Jahren“, sagte Lily verteidigend. „Tuni ist erwachsener geworden.“
Mary machte ein Geräusch, dass deutlich zeigte, dass sie Lily nicht glaubte, aber Lily wollte nicht mit ihrer Freundin zanken. Immerhin, so sehr es sie auch schmerzte, es zuzugeben, wusste sie, dass Mary Recht hatte. Sie selbst bezweifelte stark, dass ihre Schwester erwachsen geworden war, wenn der Frieden, den sie sich gerade aufgebaut hatten, nur dadurch angehalten hatte, dass Lilys Abreise kurz bevor gestanden hatte. Was würde Petunia tun und sagen, sobald sie am Ende des Schuljahres wieder nach Hause kehren würde?
Lily faltete den Brief zusammen. Das warme Gefühl, das sich in ihr ausgebreitet hatte, als sie die Geburtstagswünsche ihrer Eltern und ihrer Schwester gelesen hatte, war nun fast verschwunden. Wie jedes Mal, wenn sie darüber nachdachte, dass ihre Schwerster sie für ihre Magie beneidete und – sie mochte es kaum denken – hasste.
Der Brief verschwand in ihrer Tasche, die am Boden stand und Lily schob jegliche Gedanken an Petunia beiseite. Sie wollte die guten Erinnerungen an Weihnachten nicht dadurch ruinieren, dass sie Petunia erneut in schlechtes Licht tauchte, also schob sie ihre Schwester vorerst in die hinterste Ecke ihres Kopfes. Sie blickte zu Pallas, die sich weiterhin von Marlene streicheln und mit kleinen Stücken Wurst füttern ließ.
„Hast du mich etwa jetzt schon verraten?“, fragte sie die Eule, die sie nur mit großen Augen anblickte. Lily seufzte. „Schon verstanden. Mit Essen gewinnt man also dein Herz.“
Marlene grinste sie über Pallas´ weichen Kopf hinweg an. „Sieht so aus, als hätten deine Eltern eigentlich mir eine Eule geschenkt.“
„Dann kannst du sicherlich auch den Dreck wegmachen, den sie verursachen wird“, entgegnete Lily lächelnd.
„Bei genauerer Überlegung …“
Was genau Marlenes genauere Überlegung war, erfuhr Lily nicht mehr, denn in dem Moment kamen zwei weitere Personen an ihren Tisch gelaufen, die mit lauten Stimmen: „Alles Gute zum Geburtstag, Lily!“, riefen. Es waren Emmeline und Dorcas, die mit ihren Ravenclaw-Krawatten von einigen Gryffindor-Schülern kritisch beäugt wurden, als wären sie geheime Spione, die ihre Hausgeheimnisse klauen wollten.
Emmeline ließ sich neben Mary nieder, während Dorcas um den Tisch joggte und neben Marlene auf einen Sitz fiel. Die beiden Mädchen grinsten. „Wie fühlt es sich so an?“, fragte Dorcas.
„Dreizehn“, fügte Emmeline an. „Du musst dich unfassbar alt und weise fühlen.“
„Auf jeden Fall“, erwiderte Lily lachend. „Ich kann mich kaum noch an meine unsinnigen, zwölfjährigen Gedanken von vor sechzehn Stunden erinnern.“
Emmeline nickte langsam. „Es muss schön sein, so viel schlauer als der Rest zu sein.“
„Es ist aber auch wahnsinnig anstrengend“, meinte Lily. „Immer kommen alle mit ihren Probleme zu mir.“
„Zum Beispiel?“, schnaubte Dorcas belustigt, die ebenfalls dazu übergegangen war, Pallas zu streicheln.
Die kleine Eule ging regelrecht in all der Aufmerksamkeit unter. Von allen Seiten wurde sie mit Kleinigkeiten gefüttert. Pallas schuhute glücklich und hüpfte auf der Stelle, wie ein lebendig gewordener Flummi.
„Erst heute Morgen musste ich meinen weniger intelligenten Klassenkameradinnen einen Brief vorlesen, weil – aua, okay, tut mir leid!“, rief sie aus, als Mary ihr gegen den Oberarm boxte. „Eigentlich fühle ich mich kaum anders als zuvor.“
„Das kommt bestimmt noch. Als jemand, der ebenfalls älter und weiser als die meisten ist“, sagte Dorcas, wobei sie Emmeline einen vielsagenden Blick zuwarf, „verstehe ich nur zu gut, wie es ist, anders zu sein.“
Emmeline verdrehte die Augen. „Jetzt geht das wieder los.“
„Wir älteren Mädchen müssen zusammenhalten“, führte Dorcas fort, wobei sie Emmelines Kommentar überging. „Die anderen verstehen einfach nicht, wie es ist, älter zu sein und damit soviel mehr Verantwortung zu tragen.“
„Was heißt hier Verantwortung“, unterbrach Emmeline sie. „Du schaffst es ja nicht einmal deine schmutzigen T-Shirts aufzuheben.“
Marlene kicherte hinter einer Hand, während Dorcas leicht das Kinn in die Höhe hob. Ihre dunklen Locken wippten bei jeder Bewegung auf und ab. „Ich tue so, als hätte ich deinen neidischen Kommentar überhört.“
„Wie auch immer. Was hast du bekommen, Lily?“, fragte Emmeline neugierig.
„Sie“, erwiderte sie grinsend und deutete auf die glückliche Pallas, die sich in Marlenes Hand drückte.
„Ohhhh, ernsthaft? Oh, sie ist so süß“, meinte Dorcas.
„Meine Eltern haben sie mir geschickt“, erklärte Lily. „Sie sind Muggel und wussten nicht, wie sie sonst mit mir im Kontakt bleiben sollen, also haben sie mir eine Eule gekauft. Auch wenn ich nicht weiß, wie sie überhaupt an eine gekommen sind. Ich glaube nicht, dass sie allein die Winkelgasse kommen.“
„Kennen sie andere magische Leute?“, fragte Mary, die jetzt ebenfalls nachdenklich dreinblickte. „Meine Mum ist auch mal allein in die Winkelgasse gegangen, weil sie vor dem Tropfenden Kessel darauf gewartet hat, dass jemand vorbeikam, der wie ein Zauberer aussah, der sie dann reingelassen hat.“
„Hm. Vielleicht“, gab Lily zu. „Ich bin nicht sicher, das einzig andere magische Kind in meiner Nähe wäre Severus, aber ich glaube nicht, dass meine Mum seine Mum sonderlich leiden kann.“
Als hätte er seinen Namen durch die ganze Halle hinweg gehört, hob Severus Snape auf der anderen Seite den Kopf, traf Lilys Blick und lächelte. Er stand auf und schob sich mit seinem leicht schlurfenden Gang durch die Tische, bis er vor Lily stehen blieb. Für die anderen am Gryffindor-Tisch hatte er zwar keinen Blick über, aber sein Lächeln fühlte sich echt an, als er sagte: „Alles Gute, Lily“, und dann ein kleines, in silbernes Papier gewickeltes Päckchen aus seiner Umhangtasche zog. „Kannst es ruhig später aufmachen“, murmelte er, einen raschen Seitenblick auf Mary werfend, die das Geschenk neugierig taxierte.
„Oh, sei nicht unsinnig, Sev“, sagte Lily strahlend und rutschte ein wenig näher an Mary heran. „Komm schon, setz dich zu uns!“
Severus verkeilte seine Finger ineinander. „Ich weiß nicht“, murrte er. „Eigentlich wollte ich …“ Er ließ den Rest ungesagt, blickte aber für einen Augenblick über die Schulter.
Lily folgte seinem Blick und entdeckte die Gesichter von Ennis Mulciber und Nestor Avery am Slytherin-Tisch, die ihren Freund beobachteten. Sie reckte das Kinn. „Kommt nicht in Frage“, sagte sie und tat so, als hätte sie nicht gesehen, zu wem er lieber zurückkehren wollte. Sie zog an seinem Ärmel und zwang ihn damit, sich am Tisch niederzulassen. „Es ist mein Geburtstag, da kannst du auch mal bei mir sitzen. Guck doch, meine Eltern haben mir eine Eule geschenkt!“
Seine Augen wurden etwas größer, als er das kleine Geschöpf betrachtete, dann entspannten sich seine Schultern. „Das ist sehr nett von ihnen“, sagte er.
In ihren Mundwinkeln zuckte es. Das silberne Papier knisterte in ihren Fingern, als sie an einer Ecke riss.
„Lily!“, sagte Severus entsetzt.
Sie grinste ihn allerdings nur auf. „Nichts da“, meinte sie. „Ich muss sehen, was du mir gekauft hast.“
Seine hellen, blassen Wangen wurden eine Nuance dunkler und er wendete den Blick ab, wobei er sichtlich darauf achtete, niemandem sonst in die Augen zu sehen. Severus murmelte etwas – zumindest ging Lily davon aus, denn seine Lippen bewegten sich – aber sie verstand nicht was.
Unter dem silbernen Papier lag eine kleine Schachtel aus schwarzem Stoff. Ihr Herz setzte einen Schlag aus. Sie hoffte, auch wenn es seltsam klang, dass er ihr keinen Schmuck gekauft hatte, aber dann schalt sie sich selbst dafür. Sie wusste nur zu gut, dass Severus nicht genug Geld für sowas hatte, ohne es irgendwie böse zu meinen. Sie selbst hatte ja auch nicht Unmengen an Geld, das sie für so Nichtigkeiten verprassen konnte, auch wenn ihre Familie im Vergleich zu der von Severus fast schon vermögend war. Bevor sie weiter darüber nachdenken konnte, öffnete sie die Schachtel.
Passend zum silbernen Papier glänzte ein silbernes Messer auf dem schwarzen Samt. Die Klinge spiegelte Lilys eigenes Gesicht ein wenig verzerrt wider und der Griff war schlank und schlicht, lediglich mit einem winzigen durchsichtigen Stein besetzt, der sicherlich kein Diamant war, aber trotzdem wunderschön aussah.
Severus´ Wangen wurden noch dunkler, als nicht nur Lily sondern auch all ihre Freundinnen mit großen Augen das Messer anschauten, das im Licht der hunderten Kerzen glänzte und glitzere. „Du hast dich darüber beschwert, dass dein Messer für Zaubertränke so stumpf ist“, sagte er leise, ohne den Blick zu heben. „Deswegen hab ich gedacht, du kannst vielleicht ein neues gebrauchen …“
„Oh, Sev, das ist ein wunderbares Geschenk! Vielen, vielen Dank!“ Lily unterdrückte den Drang, ihn seitlich zu umarmen. Nicht nur, dass er körperlichen Kontakt nicht wirklich mochte, vor den Augen all ihrer Freundinnen wäre es ihm sicher noch unangenehmer. Sie drückte den Deckel wieder auf die Schachtel, legte sie vorsichtig auf den Rest vom silbernen Papier und strahlte ihren besten Freund an.
Sevs Mundwinkel zuckten. „Keine Ursache, Lily. Vielleicht …“
„Wir sollten los zum Unterricht, oder?“, unterbrach Dorcas ihn. „Wir haben noch zehn Minuten.“
„Oh. Oh Merlin, schon so spät?“ Lily hätte vor Schreck fast ihren Krug mit Saft umgestoßen. Sie schnappte sich die Schachtel und legte sie in ihre Tische, direkt auf den Brief ihrer Eltern. Dann hielt sie inne. „Was mach ich denn jetzt mit Pallas?“
„Wie meinst du das?“ Marlene blickte sie irritiert an, Pallas auf einer ihrer Hände, während die Eule mit dem Schnabel nach ihren blonden Locken schnappte. „Sie fliegt in die Eulerei, oder nicht?“
„Weiß sie denn, wo die Eulerei ist?“, fragte Mary, die, genau wie Lily, ein wenig besorgt dreinblickte. „Vielleicht sollten wir ihr zeigen, wo das ist und wo sie Fressen herbekommt, ansonsten …“
Severus schnaubte. „Die Eulen an Hogwarts sind schlau genug, um solche Sachen allein herauszufinden, Macdonalds. Lass sie einfach losfliegen.“
„Aber sie ist so klein!“, protestierte Lily, streckte die Hand aus und beobachtete gerührt, wie Pallas von Marlenes Hand auf ihre eigene hüpfte. Die Krallen an den Beinen der Eule kratzten zwar unangenehm auf ihrer Haut, aber der goldenen Blick in ihren Augen machte es wieder wett. „Vielleicht sollte ich sie lieber mitnehmen.“
Dorcas lachte mit halbvollem Mund. „In den Unterricht?“ Sie nahm sich noch mehr von dem Toast, der auf Marlenes Teller lag. „Ich glaube, da hätten die meisten Lehrer was gegen.“
„Lass sie einfach fliegen, Lily“, meinte Severus, der die Hände tief in den Taschen seines Umhangs vergraben hatte. „Komm schon, wir müssen los. Zaubertränke.“
„Aber …“
„Okay, wir machen es so“, sagte Marlene, die um den Tisch herumgegangen und auf Lilys Seite angekommen war. „Ich bringe Pallas zur Eulerei und ihr sagt Slughorn, ich würde zu spät kommen, weil ich meinen Kessel im Schlafsaal vergessen habe.“
„Marlene“, erwiderte Dorcas langsam. „Dir ist bewusst, dass alle Kessel im Kerker stehen, ja?“
Mit einer wegwerfenden Handbewegung wischte Marlene Dorcas´ Antwort beiseite. „Egal, lass dir was einfallen.“
„Ich habe jetzt überhaupt kein Zaubertränke“, lachte das andere Mädchen.
„Genau, wir haben Zauberkunst“, fügte Emmeline an. „Für das wir schon fast zu spät sind.“
Als Lily sich umsah, fiel ihr auf, dass die Große Halle nur noch spärlich mit älteren Schülern besetzt war. Der Lehrertisch war fast geleert und all ihre Klassenkameraden waren bereits verschwunden, lediglich die Überreste vom Frühstück zeichneten sich an den Haustischen ab. Es war unschwer zu erkennen, wo Potter und Black gesessen hatten, dachte sie ein wenig angewidert, als sie einen Haufen an Tellern entdeckte, die mit Ketchup und Ölresten vollgeschmiert waren. Wenn ihre Mutter sehen würde, dass sie den Essenstisch so hinterließ, dann würde Lily eine Standpauke erwarten, die sich gewaschen hatte. Manchmal war es kaum zu glauben, dass Potter und Black aus gutem Hause kamen und eigentlich mit Manieren aufgewachsen waren, so kindisch und unsinnig sie sich die meiste Zeit verhielten.
„Ich bringe Pallas in die Eulerei“, sagte Lily, als sie sich wieder ihren Freunden zugewandt hatte. „Mary, kannst du –“
„Sicher“, erwiderte Mary. „Slughorn liebt dich doch eh, der wird dir das verzeihen.“
Sie gab zwar nur ungerne zu, dass das stimmte, aber die Wahrheit verleumden wollte sie auch nicht. „Richtig. Ich werd´ mich beeilen!“
„Ich komm mit dir“, sagte Severus leise, aber bestimmt. „Mir wird er es auch durchgehen lassen“, fügte er auf Lilys protestiert geöffneten Mund hinzu. Er lächelte schmal. „Hier, ich nehm deine Tasche.“
Lily bekam die rasch getauschten Seitenblicke zwischen Dorcas, Emmeline und Marlene sehr wohl mit, entschied sich aber dazu, sie zu ignorieren. Sollten sie doch wispern und kichern, sie wusste, was die Wahrheit war. Außerdem war Severus nur nett zu ihr, das hieß eh nichts. Es war ihr Geburtstag, fügte sie bestimmt in Gedanken hinzu. „Danke, Sev. Dann bis später!“
„Viel Spaß!“, rief Emmeline ihnen hinterher, als Severus und Lily den Gryffindor-Tisch entlang liefen. Kichern und Schnauben hallte zu ihnen, während die Mädchen ihre Sachen ebenfalls einpackten.
Die beiden Zweitklässler huschten aus der Großen Halle und hinaus in den Innenhof, wo ihnen glitzernder, weißer Schnee und eisige Januarluft entgegenwehte. Pallas plusterte sich auf und drückte dann ihren kleinen Körper gegen Lilys Umhang. Lily war sich nicht sicher, ob Eulen wirklich kalt wurde, so waren sie doch eigentlich nachtaktiv und hatten dichtes Gefieder, aber sie warf trotzdem ein Stück von dem weiten Stoff über ihre neue Gefährtin.
Sie hatten den Innenhof gerade hinter sich gelassen und waren in Richtung des Westturms gelaufen, als Severus ein wenig langsamer wurde und schließlich sagte: „Dem Tier ist nicht kalt.“
Lily stockte. „Was?“
Er deutete mit einem Finger auf Pallas, deren plüschiger Kopf unter Lilys Umhang hervorlugte. „Deinem Tier. Dem ist nicht kalt. Eulen sind Kälte gewohnt. Es ist unsinnig, sie zudecken zu wollen.“
Ein wenig geschockt über Severus´ Worte, öffnete Lily den Mund, schloss ihn wieder, öffnete ihn ein weiteres Mal und blickte ihren besten Freund an, als hätte er sie gerade als dumm bezeichnet. „Sie ist noch klein“, erwiderte sie und, als hätte Pallas verstanden, was gesagt wurde, spürte, wie ihre Eule sich tiefer in den Stoff grub, die Krallen scharf an ihrem Unterarm. Es tat nicht weh, dachte sie, aber es war ein Gefühl, an welches sie sich gewöhnen musste.
„Na und“, meinte Severus achselzuckend. „Eulen wird nicht kalt, also ist es unsinnig, was du da machst.“
Schnaubend blickte sie an Severus vorbei. „Das ist mir egal. Du musst auch nicht mitkommen, wenn du denkst, es ist so unsinnig, sich für ein kleines Tier zu sorgen.“ Sie streckte eine Hand aus und erwartete das Gewicht ihrer Tasche darauf.
Es blieb aus.
Nach einigen unangenehm stillen Momenten ertönte ein leises Seufzen. „So war es nicht gemeint“, murmelte Sev.
„Was hast du dann gemeint?“, fragte Lily mit scharfer Stimme, den Kopf zu ihm wirbelnd, wobei ihr roter Pferdeschwanz wie eine Peitsche hinterher schwang.
Severus blickte sie an, die Finger im Schulterriemen von Lilys Tasche vergraben. „Nichts“, erwiderte er murmelnd, „vergiss es einfach.“
„Wenn es dir nicht passt, dass ich mich um meine neue Eule kümmere, dann kannst du gerne vorgehen und Slughorn sagen, was ich Unsinniges tue“, sagte Lily. Sie sollte es nicht, aber irgendwie genoss sie es, dass er ihren Blick mied, während sie ihn mit feurigen Augen ansah. „Wieso bist du überhaupt mitgekommen, wenn du denkst, ich bin dumm?“
„Das habe ich nie gesagt“, entgegnete er säuerlich klingend.
Als hätte er das Recht darauf, dachte sie bitter. „Vielleicht nicht, aber du hast es gedacht“, schoss sie zurück. „Und ich weiß nicht, warum du dann überhaupt hier bist. Sag es mir, Sev, ich will es gerne verstehen.“
Er schwieg, während er an ihr vorbei auf den Boden starrte, seine blassen Wangen mit kläglicher Röte gefüllt, seine dünnen Lippen zusammengepresst. Die dunklen Haare fielen ihm fast wie ein Vorhang über die Augen, sodass Lily kaum seine zittrigen Pupillen sehen konnte. „Weil“, fing er mit zerknirschter Stimme an, „ich Zeit mit dir verbringen wollte. Nur dir“, fügte er an, als Lily die Augenbrauen zusammenzog.
„Wir verbringen ständig Zeit miteinander, Sev“, erinnerte sie ihn. Sie hatten doch erst gestern zusammen in der Bibliothek gelernt, oder nicht? Sie verstand nicht, worauf er hinauswollte.
„Aber nie allein“, murrte er, wobei er noch immer nicht den Mumm hatte, sie auch anzublicken. Sein dunkles Paar Augen war fest auf den Boden hinter ihr gerichtet, als würden dort die Antworten auf all die Fragen stehen, die Lily im Kopf schwirrten.
Tiefe Furchen gruben sich in ihre Stirn. „Ich verstehe nicht, was du meinst“, sagte sie wahrheitsgemäß.
Severus seufzte. „Es ist – ich meine, wir sind nie allein. Immer sind deine – Freundinnen dabei.“ Das Wort Freundinnen sagte er, als wäre es etwas Abstoßendes, etwas, vor dem man sich in der Dunkelheit fürchten musste. „Jedes Mal, wenn ich mit dir lernen will oder wenn ich mit dir beim Mittagessen sitzen will, ist irgendjemand anderes dabei.“
Lily musste sich zusammenreißen, nicht zu lachen. „Das ist dein Problem?“, fragte sie mit ungläubiger Stimme. „Und dir ist nie in den Sinn gekommen, mich einfach mal zu fragen, ob wir nur was zu zweit machen können? Ich dachte, du bist mein bester Freund, der mit mir reden kann, wenn ihm was auf dem Herzen liegt. Gott, Sev“, sie ignorierte, wie er zusammenzuckte, als hätte sie ihm eine Ohrfeige verpasste, „irgendwann wirst du akzeptieren müssen, dass ich auch andere Freunde habe außer dich.“
Es gab einen Moment der Stille, in der Severus auf den Boden starrte, Lily Severus anstarrte und Pallas wie ein Ball aus Federn in Lilys Armbeuge saß und nicht wusste, was geschah, bevor der Junge schließlich den Blick hob. Er sah nicht mehr an Lily vorbei, sondern traf direkt ihren Blick. Seine dunklen Augen zitterten kaum merklich, als würde es ihm schwerfallen, seiner besten Freundin in die Augen zu sehen, während diese die Augenbrauen hob. „Aber“, fing er an und Lily rüstete sich bereits dafür, sich verteidigen zu müssen, „müssen es denn Leute wie Meadows und Vance sein? Und Macdonald?“
Lily fasste jede Unze an Selbstbeherrschung auf, die sie hatte und presste die Lippen fest aufeinander, bevor sie einen Schritt nach hinten tätigte, weg von Severus, weg von der Art, wie er die Namen ihrer Freunde sprach, weg von dem Zittern in seinem Blick und seiner Stimme. „Was“, sagte sie, ihre eigene Stimme ruhig, aber fest und kühl, „soll das heißen?“
Severus seufzte, als würde er denken, Lily würde sich absichtlich dumm stellen. „Du weißt schon. Sie sind so … laut. Macdonalds hat keine Ahnung von Magie und Meadows und Vance tun so, als wären sie unfehlbar. Die solltest hören, wie sie manchmal reden, wenn sie allein sind, es ist echt …“
„Was soll das werden?“, fragte Lily mit scharfer Stimme, wodurch Sev ein wenig die Augen aufriss und den Mund schloss. „Soweit ich mich erinnern hat, habe ich ebenfalls keine Ahnung von Magie, immerhin sind sowohl Mary als auch ich Muggelgeboren. Oder hast du das vergessen, Sev?“
„Nein!“, rief er sogleich aus. „Nein, so meinte ich das nicht! Ich meine nicht, dass sie – du weißt schon, so nicht. Es ist eher – “
„Ich glaube“, unterbrach sie ihn, „wir hatten dieses Thema bereits, nicht wahr? Ich finde es nicht gut, wenn du meinen Freundinnen gegenüber abweisend und herablassend bist, ob sie dabei sind oder nicht und noch weniger finde ich es gut, dass du so über Mary redest, wenn du wirklich keine Ahnung von ihr hast.“
Eine blasse Röte kroch über sein gesamtes Gesicht und hinterließ ein paar unangenehm aussehnende Flecken auf seiner Haut. Severus sah aus, als würde er an einem schlimmen Fieber leiden. „Lily, so meine ich das doch überhaupt nicht!“
„Nein, wie meinst du es denn? Du sagst, Mary hätte keine Ahnung von Magie, aber Mary ist genauso weit wie ich, was Magie angeht. Also, was willst du aussagen, Sev? Was willst du sagen?“ Sie musste sich zurückhalten, um nicht laut zu werden oder einen der vielen Zauber zu verwenden, die sie bisher gelernt hatte. Sie konnte nicht glauben, was sie dort hörte, noch konnte sie glauben, dass er sowas in ihrer Gegenwart sagen würde. Es war ihr Geburtstag, um Gottes Willen, und trotzdem hatte Severus nichts Besseres im Kopf, als ihre Freundinnen zu kritisieren. Lily wütete in ihren eigenen Gedanken. „Wenn du so reden willst, dann möchte ich, dass du jetzt gehst.“
Erneut streckte sie die Hand aus.
Severus starrte sie an.
Sie wartete, die Gedanken in Flammen gesetzt und ein wütendes Glühen in ihren Augen, während ihr bester Freund vor ihr stand, als würde er nicht verstehen, wieso sie reagierte, wie sie es tat. Manchmal konnte sie nicht glauben, dass er sowas sagen würde.
„So meinte ich es nicht“, murmelte er erneut.
„Dann erklär mir, was du gemeint hast“, verlangte Lily, „oder lass mich für heute in Ruhe.“
„Ich“, fing er an, stockte, schloss den Mund. Einmal mehr öffnete er die Lippen, versuchte zu reden, versagte aber und blieb ruhig. Es verging eine mehr als unangenehme Minute. Schließlich sagte Severus: „Es war nicht als Angriff gemeint. Ich – es irritiert mich manchmal nur, wie sehr Macdo-“, er räusperte sich vernehmlich, „ich meine Mary zurückliegt. Du hast Recht, sie hat mit dir angefangen, aber du wesentlich weiter als sie.“
Lily reckte das Kinn in die Höhe. „Warum bietest du Mary dann nicht an ihr Nachhilfe zu geben, wenn es dich so stört?“, fragte sie kühl. „Nicht jeder kann ein Zaubertränkegenie sein, weißt du.“
Ein Schnauben entkam ihm. „Das habe ich nie behauptet, Lily.“
„Du tust aber so.“
„Tu ich nicht. Ich sage dir nur, dass du auf einem anderen Level bist als die Leute, mit denen du abhängst.“
„Das bist du ebenso.“
Severus blickte sie erstaunt an. „Was soll das denn heißen?“
„Ach?“, fragte sie und konnte die Höhne nicht ganz aus ihrer Stimme verbannen. „Willst du mir etwa sagen, du bist auf dem gleichen Level wie Avery, Mulciber oder die anderen Slytherins, mit denen du befreundet bist? Wir wissen beide, dass du dich nicht auf deren Level hinablassen musst und trotzdem tust du es.“
Ein wenig der fleckigen Röte verdunkelte sich. „Du weißt nicht, wovon du redest, Lily.“
„Dann weißt du auch nicht, wovon du redest, wenn du meine Freunde kritisierst und beleidigst, also würde ich es in Zukunft vorziehen, wenn du das nicht mehr tun würdest.“ Sie funkelte ihren besten Freund an, wartete und wartete auf eine Reaktion und als keine kam, seufzte sie. „Wars das dann? Können wir weiter? Ich wollte zumindest noch einen Teil des Unterrichts mitbekommen.“
Severus bewegte sich im ersten Moment nicht, als Lily an ihm vorbeiging und sie war drauf und dran, ihre Tasche aus seinem Griff zu ziehen und ohne ihn zur Eulerei zu gehen, als er endlich die Füße bewegte und Lily langsam, aber sicher folgte. „Ich will nicht mit dir streiten“, sagte er, zwei Schritte hinter ihr.
„Ich auch nicht, aber manchmal machst du es mir sehr schwer.“
„Tut mir leid“, murrte er. „Ich – deine Eule ist wirklich süß.“
Lily biss sich auf die Innenseite der Wange. „Ist sie.“
„Ich wollte deine Freunde nicht beleidigen.“
„Danke“, sagte sie.
„Vielleicht können wir trotzdem was allein machen“, fügte er an.
„Vielleicht“, gab sie zurück.
Der Rest des Weges war mit Stille und Schweigen gepflastert, ruhige Zwillinge, die sie bis zur Eulerei führten, einem großen Turm im Westen des Schlosses. Hunderte Fenster ohne Scheiben waren in den Stein gehauen, sodass es zugig und kühl war. Der Boden war mit Körnern, kleinen Knochen und Dreck beschmutzt, und aus in den Turm gefressenen Kuhlen konnte man gelbliche Augen entdecken, die die beiden Zweitklässler beobachteten. Dutzende Eulen saßen auf den Fensterbänken, hatten sich tief in die Schatten des Turms gepresst oder verschlangen Nagetiere beim lebendigen Leib, Eulen, die alle wesentlich größer als Pallas waren.
Lily fühlte sich im ersten Moment nicht sehr wohl damit, ihre neue Eule hier allein zu lassen, doch Pallas schien andere Pläne zu haben. Kaum hatten sie eine der steinernen Treppen erklommen und eine höhere Etage des Turms erreicht, hüpfte der kleine Vogel aus ihrem Umhang, flog zu einem mit klammem Stroh ausgelegtem Nest und klackerte mit dem Schnabel, als sie sich niederließ. „Gefällt es dir hier?“, fragte Lily leise, sich der Blicke der anderen Eulen sehr wohl bewusst. Sie hatte das Gefühl, als würden die anderen Vögel sie misstrauisch betrachten.
Pallas klackte erneut mit dem Schnabel und als Lily vorsichtig eine Hand ausstreckte, reckte sie ihren Kopf dagegen, um sich streicheln zu lassen, bevor der Vogel sich tiefer in ihr neues Nest zurückzog. Im Schatten sah sie noch kleiner aus.
„Na schön“, murmelte Lily. „Ich komme so schnell wie möglich vorbei, versprochen, und dann bekommst du ein paar von diesen Eulenkeksen, die jeder immer hat, ja? Und wenn es dir hier doch nicht gefallen sollte, dann musst du bei mir im Schlafsaal wohnen, verstanden? Mary und Marlene haben bestimmt nichts dagegen und ich würde mich dann auch ein bisschen besser fühlen, wenn ich wüsste, du wärst die ganze Zeit bei mir.“
Die Eule gab zwar keinen Laut von sich, schloss aber die Augen, sodass sie fast gänzlich mit den Schatten verschmolz.
Lily seufzte. Sie wusste, Severus starrte sie an, aber sie wollte sich nicht umdrehen. Stattdessen sah sie ihrer neuen Gefährtin dabei zu, wie sie in ihrer Höhle einschlief, kleine braune Federn, die sich immer wieder aufplusterten, wenn Pallas atmete und der Glanz ihres Schnabels, der das wenige Licht der Eulerei wie ein eierschalenfarbener Spiegel auffing. Es hatte etwas hypnotisierendes, fand Lily. Es war einfach, die Zeit zu vergessen und einfach nur in dem zugigen Turm zu stehen und so zu tun, als wäre nichts falsch mit Severus und ihr, als wäre er nicht eifersüchtig auf jede andere Freundschaft und als würde Lily sich nicht vor einigen vor seinen Freunden fürchten, wenn sie ihr giftige Blicke in den Korridoren zuwarfen.
Lily wusste nicht, wie sie damit umgehen sollte, deswegen tat sie das, was ihr am besten erschien: Sie ignorierte, dass etwas vorgefallen war.
„Okay“, sagte sie mit etwas hektischer Stimme und drehte sich zu Severus um. „Lass uns zurückgehen, bevor ich es mir anders überlege und Pallas in meiner Tasche verstecke.“
Severus blickte sie einen Augenblick an, als wäre sie vor seinen Augen zum Geist geworden, dann zuckte sein Mundwinkel. „Slughorn würde es bestimmt durchgehen lassen.“ Er schulterte ihre Tasche und schenkte ihr ein Lächeln.
Lilys Magen vollführte einen Purzelbaum. Vergessen war der Streit und stattdessen konnte sie es kaum erwarten, Severus´ Geschenk in der Zaubertrankstunde auszuprobieren. Sie hoffe, dass sie beide einfach vergessen würden, was passiert war, nicht mehr darüber nachdachten und nie wieder darüber reden mussten.
***
Professor Slughorn nahm kaum Notiz davon, dass Lily und Severus fast die erste Hälfte der Stunde verpasst hatten, als sie das Klassenzimmer schließlich betraten. Er huschte sie lediglich zu ihren Tischen, wo sie sich, unter den zweifelhaften Blicken von Potter und Black, niederließen und ihre Utensilien auspackten. Lily legte das Kästchen mit dem neuen Messer vor sich, schob es mit einem Finger gerade und schenkte Severus ein Lächeln, bevor sie sich nach vorne wandte.
„Wie ich angefangen hatte zu erklären“, sagte Professor Slughorn mit glänzenden Augen und zitterndem Schnurrbart, „zählt der heutige Trank zu den wichtigsten, die man in seiner Ausbildung lernen sollte. Nur eine falsche Zutat, Merlin, nur die falsche Reihenfolge von Zutaten reicht schon aus, damit die Effekte drastisch verändert werden. Nun, die Anleitung steht in Ihren Büchern auf Seite 113. Verlieren wir nicht noch mehr Zeit und fangen an, vielleicht werden einige von Ihnen noch vor dem Klingeln fertig.“ Slughorn lächelte, bevor er sich niederließ.
Es dauerte ein paar Momente, bis der letzte in der Klasse mitbekommen hatte, dass Slughorn nicht mehr redete und in der Zeit, in der auch der letzte sein Buch auf der richtige Seite angefangen hatte, war Severus bereits dazu übergegangen, die Zutaten, die er bereits parat hatte, in die richtige Reihenfolge zu legen.
Lily hingegen war eine der wenigen, die direkt aufstanden und zum Zutatenschrank auf der anderen Seite des Klassenzimmers lief, um direkt alles auf ihrem Tisch zu versammeln. Leider hatte nicht nur sie diese Idee.
„Evans“, sagte Potter mit einem schiefen Grinsen, bevor er sich mit einer Hand durch die Haare fuhr. „Ich konnte nicht anders, als mitzubekommen, dass du dich verspätet hast. Du und Snape“, fügte er an.
„Wie aufmerksam von dir“, gab sie zurück.
„Weißt du, wenn er irgendwas getan hat, um dich aufzuhalten, dann kannst du – “
„Musst du mit mir reden?“, unterbrach Lily ihn mit kühler Stimme. „Ich versuche nur meine Zutaten zusammen zu sammeln und eigentlich solltest du das Gleiche tun.“
James sah sie einen Moment überrascht an, dann kehrte ein neckisches Grinsen auf sein Gesicht zurück. „Ich habe mich lediglich gewundert, wieso du an deinem Geburtstag dein Lieblingsfach versäumen würdest“, sagte er. „Das ist alles.“
Lily hob eine Augenbraue. „Wer hat dir gesagt, dass ich Geburtstag habe?“ Sie versuchte den Augenkontakt zu vermeiden, aber James machte es ihr nicht einfach.
Er lehnte an der Wand neben dem Schrank, die Arme lose vor der Brust verschränkt, drei der obersten Knöpfe seines Hemdes geöffnet. Es war nicht zu übersehen, dass er versucht lässig wirken wollte. „Wer sagt, dass es mir jemand gesagt hat?“, stellte er die Gegenfrage.
„Du bist nicht der Typ, der sich an Geburtstage erinnert“, sagte sie, bevor sie die letzte ihrer Zutaten griff, sie sich unter den Arm klemmte und sich umdrehte.
„Autsch“, gab er zurück. „Und dabei dachte ich, dass ich letztes Jahr einen guten Eindruck auf dich gemacht habe.“
Lily schnaubte. „Wohl kaum.“ Sie fing an zurück zu ihrem Tisch zu laufen.
„Dann muss ich mich also wieder ins Zeug legen, huh? Jedenfalls, alles Gute, Evans. Hoffe, deine Schwester hat dieses Mal an dich gedacht.“
Als Lily sich überrascht zurück zum Zutatenschrank drehte, hatte James sich bereits mit dem Rücken zu ihr in dessen Eingang gestellt und fuhr mit einer Hand die vielen Phiolen ab, die in einer Reihe standen. Sie presste die Lippen zusammen und zwang sich, sich zurück zu ihrem Tisch zu begeben. Es sollte sie nicht überraschen, dass Potter sich daran erinnert hatte, dass ihre Schwester ihr letztes Jahr keine Geburtstagsgrüße überreicht hatte, immerhin war er es gewesen, der sie aufgemuntert hatte, aber trotzdem verpasste es Lily einen bitteren Geschmack im Mund, zu wissen, dass er sich nach dem ganzen Jahr und den zahlreichen Streitereien, die die beiden hatten, immernoch an das exakte Datum erinnerte, an dem es passiert war.
Sie schüttelte vehement den Kopf. Sicherlich hatte er einen ihrer Freunde gefragt, weil er sich nicht von allein erinnern konnte. Vielleicht hatte Remus es ihm gesagt, dachte sie, bevor sie sich neben Severus niederließ, der bereits seinen Kessel zum Kochen gebracht hatte. Sie ließ ihre gesammelten Zutaten auf den Tisch fallen, zog ihr Buch etwas näher und holte dann ihr neues Messer aus der Verpackung.
Beim Mittagessen verabschiedete Lily sich von Severus, versprach ihm aber gleichzeitig, dass sie zum Abend zusammen essen würden. Er ging zwar mit gesenkten Schultern, aber gehobenen Mundwinkeln zum Slytherintisch, wo er direkt von Avery in die Mitte der Slytherinschüler gezogen wurde, die Lily oftmals gehässige Kommentare hinterherwarfen, wenn sie ihnen allein begegnete. Sie versuchte nicht daran zu denken, was sie über sie sagten, während Severus sich seinen Teller befüllte.
Als sie sich neben Marlene setzte, fragte diese: „James will wissen, ob wir wieder eine Party feiern.“
Lily legte die Stirn in Falten. „Eine Party?“
„Für deinen Geburtstag, duh“, sagte Mary. „Immerhin haben wir auch letztes Jahr gefeiert.“
„Ich glaube, dieses Jahr verzichten wir“, entgegnete Lily langsam, den Blick demonstrativ nicht ans andere Ende des Tisches gerichtet, an dem sie Potter und seine Bande vermutete. „Ich hab zu viele Hausaufgaben über, als dass ich mit gutem Gewissen eine Party feiern könnte.“ Sie lud sich ein paar dampfende Kartoffeln auf ihren Teller, dann fügte sie an: „Außerdem ist dreizehn keine wirklich feierbare Zahl, oder?“
„Da ist was dran“, entgegnete Marlene. „Dreizehn ist immerhin die Unglückszahl.“
„Oh bitte“, sagte Mary, „das ist doch nur Aberglaube.“
Marlene schnaubte. „Nein, wirklich. Es gibt dutzende Beweise, dass die Dreizehn Unglück bringt und auch bei vielen magischen Dingen vermieden werden sollte. Wusstest du, dass man manche Tränke nicht beenden sollte, wenn es der dreizehnte Tag eines Monats ist, weil die Wirkung sonst vergiftet wird? Außerdem gibt es einige Verwünschungen, die an Effekt verlieren, wenn sie am Dreizehnten genutzt werden.“
„Ich glaub dir kein Wort“, erwiderte Mary unbeeindruckt.
„Du gehst auf eine magische Zauberschule und hast gelernt, wie man einen Igel in ein Nähkissen verwandelt, aber dass die Dreizehn tatsächlich Unglück bringt, ist dir dann nicht glaubhaft genug?“, fragte Marlene.
Lily lachte. „Da ist was dran.“
„Ach komm schon“, meinte Mary, wedelte mit ihrer Gabel in Marlenes Richtung und sagte: „Du musst selber zugeben, dass es absolut an den Haaren herbeigezogen klingt. Ich meine, Zaubertränke verlieren an Wirkung und Verwünschungen gehen schief? Dann müsste Lily ja jetzt ein ganzes Jahr lang lieber keine Tränke mehr brauen, immerhin ist sie selbst die unglückliche Dreizehn.“ Mary schüttelte den Kopf. „Nein, Danke. Ich glaube ja vieles, aber das nicht.“
Marlene zuckte mit den Schultern. „Ich werde dich daran erinnern, dass du das gesagt hast, wenn dir der nächste Zaubertrank misslingt.“
„Wenn das tatsächlich der Fall wäre“, meinte Mary, steckte sich ein Stück Brot in den Mund und redete weiter, während sie kaute, „dann hätten wir an jedem dreizehnten der vergangenen Jahres keinen Unterricht haben sollen, oder nicht? Ich meine, wie stehen denn die Chancen, dass diese Dinge an einer ganzen magischen Schule nicht passieren?“
„Keine Ahnung“, gab Marlene zurück, „ich kann dir nur erzählen, was mir mein Bruder erzählt hat.“
„Dein Bruder?“, fragte Lily. „Und du bist nie auf die Idee gekommen, dass er dich nur veräppelt hat?“
Marlene öffnete den Mund, höchstwahrscheinlich, um zu protestieren oder eine schnippische Antwort zu geben, aber kein Laut entkam ihr. Sie schloss den Mund wieder, zog die Brauen zusammen, lehnte sich zurück. „Warte, das würde tatsächlich einiges erklären“, erwiderte sie langsam. „Oh, dieser kleine – “
Mary lachte lauthals auf. „Sag mir nicht, du bist die ganze Zeit auf so eine alberne Lüge hereingefallen!“
Eine sanfte Röte kroch in Marlenes Wangen, bevor sie die Arme verschränkte. „Ich – ich habe es natürlich hinterfragt“, sagte sie schnell. „Aber ich meine, ich war erst sieben, als er mir davon erzählt hat, natürlich hab ich ihm geglaubt. Das wird er noch bereuen“, fügte sie murmelnd hinzu. „Ich werde herausfinden, wie man Flüche per Post verschickt und werde ihm einen Popelfluch per Eule zukommen lassen.“
Lily schüttelte grinsend den Kopf. „Trotzdem will ich keine Party.“
„Ach komm schon, Lily“, maulte Mary. „Sei kein Spielverderber!“
„Bin ich das Geburtstagskind oder du?“
„Du, aber –“
„Ah, kein Aber. Ich hab Geburtstag.“
„Unfair“, grummelte Mary.
„Wir können zu deinem Geburtstag eine Party feiern“, schlug Lily vor.
Mary setzte einen entsetzten Gesichtsausdruck auf. „Der ist erst im Oktober!“
„Dann bleibt dir ja genug Zeit, um die beste Party zu planen, die Gryffindor je gefeiert hat, oder?“, erwiderte Lily grinsend.
„Du bist eine richtig gemeine Freundin, weißt du das? Absolut böse. Ich weiß nicht, wie ich mit dir befreundet sein kann. Ich glaube, ich muss McGonagall bitten, mich in einen anderen Schlafsaal zu stecken.“
Lily stach eine Kartoffel mit ihrer Gabel auf. „Oh, wie werde ich nur darüber hinwegkommen“, sagte sie mit monotoner Stimme. „Ich werde wohl auf ewig traurig sein.“
Mary schnaubte. „Besser ist das. Du weißt gar nicht, was du mit mir verpasst, Evans. Ich bin eine einzigartige Partygesellschaft und außerdem urkomisch.“
„Nicht zu vergessen unordentlich“, fügte Marlene hinzu, woraufhin Mary sie mit einer zusammengeknüllten Serviette abwarf. „Hey!“
„Wer lässt denn ihre Umhänge immer liegen, wenn sie abends ins Bett geht?“
Marlene streckte ihr die Zunge raus.
„Wie erwachsen“, sagte Mary.
Lily lachte. „Vielleicht sollte ich mir lieber einen anderen Schlafsaal suchen.“
„Nichts da“, meinte Marlene. „Du kannst mich nicht mit ihr allein lassen.“ Eine weitere Serviette flog über den Tisch, der Marlene dieses Mal reflexartig auswich. „Siehst du? Gemeingefährlich.“
Trotz Marys Proteste, wurde keine Party zu Lilys Ehren gefeiert. Das Abendessen verbrachte sie mit Severus, wo er ihr von einem unausgeglichenen Zaubertrankrezept erzählte, das er in ihren Schulbuch entdeckt hatte, bevor sie sich für den Rest des Abends mit den anderen Mädchen im Schlafsaal zurückzog. Marlene hatte einen kleinen Turm an Küchlein, Schokolade und Gebäck aus der Küche besorgt, während Dorcas und Emmeline ihre Sets von Zauberschnippschnapp mitgebracht hatten. Alle paar Minuten explodierte eine Karte und versengte den Mädchen beinahe die Augenbrauen. Es wurden Kekse gegessen und Kürbissaft getrunken, Marlene versuchte alle davon zu überzeugen, dass sie ihre eigene Quidditchmannschaft gründen sollten und Emmeline zeigte Lily, wie man sich mit einem Zauberspruch die Haare färbte.
Mit der Erlaubnis von Alice Fortescue, der Vertrauensschülerin, durften Emmeline und Dorcas die Nacht bei ihnen im Schlafsaal verbringen, mit dem Versprechen, dass sie am nächsten Tag keinen Unterricht versäumen würden. Auch wenn Mary dabei die Finger hinter dem Rücken gekreuzt hatte, hatten alle hoch und heilig versprochen, dass sie keinen Unfug anstellen würden.
„Ich war auch mal in der zweiten Klasse“, hatte Alice gesagt, als sie den Schlafsaal verlassen hatte. „Ich weiß, wenn jemand die Finger gekreuzt hat.“ Statt Emmeline und Dorcas rauszuwerfen, hatte Alice nur gezwinkert und sie dann allein gelassen.
„Eure Vertrauensschülerin ist so viel cooler als unsere“, sagte Dorcas, die es sich auf Marlenes Bett gemütlich gemacht hatte. Ihre Schuhe lagen in einer Ecke, ihr Umhang war unachtsam zusammengeknüllt worden und ein paar Krümel steckten in ihren dicken Locken. „Wenn wir auch nur eine Sekunde nach der Nachtruhe noch reden, dann droht sie uns sofort damit, Punkte abzuziehen und Professor Flitwick zu benachrichtigen.“
„Sie ist total die Spielverderberin“, stimmte Emmeline zu. Sie hatte sich ein paar Kissen zusammengesucht und sich auf dem Boden neben Marys Bett eine kuschelige Höhle gebaut, während sie gelangweilt mit dem Zauberstab in einer Hand wedelte und dabei ab und an die Farbe ihrer Socken änderte.
„Ich hoffe, ich werde niemals Vertrauensschüler“, meinte Mary den Mund voller Schokolade. „Dann müsste ich mich an die ganzen Regeln halten und könnte nicht mal mit meinen Freunden Partys feiern. Natürlich“, fügte sie übertrieben laut hinzu, damit Lily sie im Badezimmer auch deutlich hören konnte, „kann ich das jetzt auch nicht.“
Lily verdrehte die Augen im Spiegel, die Finger damit beschäftigt, ihre Haare zu einem Flechtzopf zu binden. „Hoffentlich ernennt Professor McGonagall mich zur Vertrauensschülerin, damit ich dir auch in Zukunft deinen Traum von unendlichen Partys ruinieren kann“, meinte sie.
Ein Kissen flog durch die offene Tür und rutschte über die Fliesen.
„Also so wirst du es nie ins Quidditchteam schaffen“, kommentierte Dorcas, woraufhin ein dumpfes Geräusch ertönte. „Hey!“
„Willst du das noch mal sagen?“, fragte Mary unschuldig klingend.
„Du – Na warte!“
Lily riskierte einen Blick in ihren Schlafsaal, in dem plötzlich Kissen, Schuhe und zusammengeknüllte T-Shirts durch die Luft flogen. „Oh Gott“, sagte sie, wich einem Geschoss aus, das beinahe ihr Gesicht getroffen hätte und zog dann ihren Zauberstab.
„Hey, keine Magie!“, sagte Marlene mit erhobenem Kissen. „Ich warne dich, Evans.“
„Was willst du tun, McKinnon?“, erwiderte Lily grinsend.
Marlene antwortete nicht, sondern pfefferte das Kissen in Lilys Richtung, welches sie direkt in den Bauch traf. Bevor Lily zurückwerfen konnte, rollte sie sich von ihrem Bett und nahm hinter dem Pfosten Deckung. „Keine Magie“, sagte sie erneut.
Lily steckte ihren Zauberstab ein, schnappte sich das Kissen und ließ es in hohem Bogen durch den Raum fliegen, bevor es an der Wand über Emmelines Kopf einschlug und langsam zu Boden glitt.
„Wow“, sagte Emmeline. „Das bedeutet Krieg.“
Für die kommenden vierzig Minuten gab es keine ruhige Minute mehr im Schlafsaal der Mädchen. Den einen Moment flogen Kissen und T-Shirts durch die Luft, als hätte ein fehlgeleiteter Schwebezauber den Raum im Griff, den nächsten Moment lagen die fünf Mädchen lachend und Gebäck essend auf dem Boden, Emmelines Sammlung an Hexenwochenheften vor sich aufgeschlagen, während sie die Quizze lösten, die herausfinden sollten, wer von ihnen Minister für Magie werden würde.
Lily war froh, dass ihre Freundinnen sich dazu entschieden hatten, den Tag und den Abend mit ihr zu verbringen und obwohl eine leise Stimme in ihrem Kopf ihr erzählte, dass das genau das war, was Severus noch Stunden zuvor gemeint hatte, versuchte sie nicht daran zu denken, dass sie auch ohne ihren besten Freund mehr als genug Spaß hatte. Er wäre sowieso nicht im Mädchenschlafsaal erlaubt, sagte sie sich, während Dorcas und Marlene darüber diskutierten, wer dieses Jahr den Quidditchpokal gewinnen würde. Dorcas war fest davon überzeugt, dass es Hufflepuff war, Marlene allerdings war durch und durch ein Gryffindor-Fan.
„Bitte, Hufflepuff hat zwei gute Spieler, Gryffindor hat ein ganzes Team!“, sagte Marlene.
„Das sagst du nur, weil Potter jetzt im Team ist“, erwiderte Dorcas mit einem gewinnenden Grinsen.
Marlene verzog das Gesicht. „Was soll das denn heißen?“
„Es ist doch klar, dass du in ihn verknallt bist.“
„Bin ich nicht!“
„Wohl!“
„Nein!“, sagte Marlene schockiert klingend.
„Und warum willst du dann ständig bei seinen blöden Streichen mitmachen?“ Dorcas setzte einen Gesichtsausdruck auf, der so aussah, als hätte sie gerade eine besonders schwierige Partie Schach gewonnen.
„Ganz sicher nicht, weil ich in ihn verknallt bin“, erwiderte Marlene, die wiederrum so aussah, als hätte man sie gerade übel beleidigt. Lily konnte das gut nachvollziehen. „Die meisten seiner Streiche sind wirklich witzig, aber ich finde immer noch, dass ihm das gewisse Etwas dabei fehlt. Und die beiden hier“, sie deutete mit dem Daumen erst auf Lily, dann auf Mary, die vertieft in ein Hexenwochenquiz war, „würden nie mit mir irgendwelche Streiche spielen wollen.“
Lily stützte sich auf die Ellenbogen. „Ich habe bereits Streiche mit dir gespielt“, erinnerte sie Marlene. „Oder hast du das mit dem Plappertrank schon wieder vergessen?“
„Das war einmal“, maulte Marlene. „In der Zwischenzeit haben James und die anderen schon ein Dutzend Streiche gespielt.“
„Qualität über Quantität, weißt du“, sagte Emmeline. „Wir könnten auch alle zwei Stunde ein paar Dungbomben in die Kerker werfen und es einen Streich nennen, aber dann würde uns niemand mehr ernst nehmen. Wir müssen, wenn wir etwas auf die Beine stellen wollen, Zeit und Arbeit investieren, damit die Jungs auch merken, dass wir ernstzunehmende Gegner sind.“
Lily unterdrückte ein Stöhnen. „Brings sie nicht auf dumme Ideen.“
Emmeline grinste. „Aber nicht doch. Ich will nur, dass wir alle auf derselben Seite sind. Außerdem“, fügte sie an, ein neckisches Grinsen an ihren Lippen, das bis zu ihren Augen zog, „hast du selbst zugegeben, dass es dir Spaß gemacht hat, die Jungs reinzulegen.“
Röte und Hitze kroch in Lilys Wangen. „Hab ich, aber –“
„Dann ist es beschlossen!“, übertönte Emmeline sie. „Wir müssen nur einen weiteren, genialen Plan haben, mit dem wir die Jungs austricksen können.“ Sie machte ein wegwerfende Handbewegung in Marlenes Richtung. „Und danach wird James Potter sicher auf Knien vor dir betteln und dich anflehen, ihm und seiner Bande zu helfen.“
Marlene schnaubte. „Das will ich sehen.“
„Warum willst du James Potter auf Knien sehen?“, fragte Mary, als sie wieder von der Zeitschrift aufblickte, offensichtlich komplett ahnungslos, was gerade über ihren und Lilys Kopf hinweg entschieden wurde. „Ist das wieder so ein komischer Zaubererbrauch, den ich nicht verstehe?“
„Ganz und gar nicht, Mary, ganz und gar nicht“, entgegnete Dorcas. Mit einer raschen Handbewegung entriss sie Mary die Zeitschrift und warf einen Blick auf das Quiz, welches sie gelöst hatte. „Welcher Zauberer ist mein Seelenverwandter?“, las sie mit zusammengezogenen Brauen vor. „Ew, Mary, ernsthaft?“
Es war bewundernswert, dass Mary nicht rot anlief oder beschämt den Blick zur Seite warf, sondern lediglich das Kinn trotzig anhob und Dorcas in die Augen blickte. „Ja, was denn? Ihr redet doch auch die ganze Zeit über Jungs, oder?“
Dorcas´ Wangen allerdings wurden dunkel. „Das ist nicht – ich meine, das kann man doch nicht vergleichen.“ Sie legte die Zeitung beiseite.
Mary lachte auf, ehe sie einen Arm um Dorcas´ Schulter warf. „Natürlich kann man das nicht. Außerdem sind so Quizze eh nur gut, um die Zeit totzuschlagen.“
„Das heißt“, sagte Marlene, die die Ausgabe der Hexenwoche aufgehoben hatte, „du glaubst nicht daran, irgendwann einen Quidditch-Kapitän zu heiraten?“
„Bloß nicht“, schnaubte sie, wobei sie Marlene dabei nicht in die Augen sah. „Quidditchspieler sind alle viel zu sehr mit ihrem eigenen Ego beschäftigt.“
„Hört, hört“, sagte Lily, die unweigerlich an James Potter denken musste. Es schüttelte sie.
Mary ließ den Kopf auf ihr Kissen fallen. „Wenn ich jemals daten sollte, dann sicherlich niemanden, den ich kenne, seit sie zehn sind“, sagte sie. „Und falls ich jemals auch nur ansatzweise Interesse an irgendeinem der Jungs zeigen sollte, dann möchte ich, dass ihr mich alle gleichzeitig mit einem Kitzelfluch belegt, kapiert?“
***
Es schien immer dann zu passieren, wenn Lily mit Severus am Slytherin-Tisch aß. Um den kindischen, eifersüchtigen Tendenzen ihres besten Freundes etwas entgegenzugehen, hatte Lily sich entschieden, einen weiteren Morgen mit ihm beim Frühstück zu verbringen, damit er bemerkte, dass sie es nicht vergessen und ihn nicht vergrauen wollte. Sie hatte Pallas, die mit den anderen Posteulen in die Große Halle geflogen war, gerade mit einem Stück Toast gefüttert, als ein Raunen durch die Halle ging. Sie blickte auf.
„Was ist los?“, fragte sie an Severus gewandt, der jedoch nur mit den Schultern zuckte. Schüler um sie herum waren mit den Köpfen über Ausgaben des Tagespropheten gesteckt, tuschelten und flüsterten aufgeregt und selbst die anwesenden Lehrer hatten sich dicht über die Zeitung gebeugt und diskutierten die neusten Schlagzeilen.
Lily wurde schlagartig eiskalt. Immer, so schien es, wenn das passierte, dann berichtete der Prophet über einen weiteren Angriff auf Muggel. Die Kuppen ihrer Finger wurden eisig und als sie versuchte, einen Blick auf die Zeitung ihres Sitznachbars zu werfen, zischte dieser auf.
„Komm mir nicht zu nahe“, sagte er.
„Tut mir leid, ich –“, vergeblich wollte sie auf die Zeitung deuten, die neben ihm lag.
Der ältere Junge betrachtete sie mit einer Mischung aus Abneigung und Ekel in den Augen. „Willst wohl wissen, wer´s diesmal war, huh? Willst wissen, ob ein paar deiner Muggelfreunde dranglauben mussten, eh?“ Als er grinste, zeigte er eine Reihe von spitzen Zähnen, die Lily einen Schauer über den Rücken schickten. „Nimm halt.“ Mit der Hand schob er Lily den Tagespropheten hin, bevor er sich abrupt erhob und am Slytherintisch vorbei stolzierte.
Nervosität baute sich in ihr auf, als sie vorsichtig nach dem Propheten griff.
„Lily“, fing Severus ihr gegenüber an, aber sie achtete nicht auf ihn.
Die Schlagzeile brannte sich wie eine Leuchtreklame in ihre Augen, verbannte alles andere aus ihrem Sichtfeld. Lily sah nur noch rot. Nur noch das große Bild eines verbrannten Hauses, um das die Flammen noch immer wie lebendige Kreaturen schlangen, während einige Menschen davor kauerten, weinten oder zitterten. In unschuldigen, großen Buchstaben stand dort geschrieben: Drei Dutzend Tote bei Feuer in Worcester. Auroren beschuldigen schwarze Magie.
In den frühen Morgenstunden wurde die Aurorenzentrale benachrichtig. Ein Feuer sei in einer kleinen Stadt in England ausgebrochen, die Einsatzkräfte der Muggel konnten sie beim besten Willen nicht löschen. Als die Auroren nur wenige Minuten später in Worcester eintrafen, wussten sie sofort, womit sie es zu tun hatten.
Ein Feindfeuer hatte mehrere Muggelwohnhäuser verschlungen und laut den zuständigen Feuerwehrleuten (so nennen sich Muggel, die Feuer löschen) brannte es bereits seit mehreren Stunden. Selbst für die renommierten Auroren unseres Ministeriums war es einiges an Arbeit, das Feindfeuer zu löschen, doch nach etlichen Stunden an Arbeit, war es vollbracht. Zwar gab es bereits mehrere Muggelfamilien zu beklagen, die das Feuer nicht überlebt hatten, allerdings ist es den Auroren zu verdanken, dass nicht die ganze Stadt in Flammen untergegangen ist.
Einer der Auroren hat unserem Reporter des Tagespropheten das zu sagen: „Das war kein Unfall. Feindfeuer ist immens dunkle Magie, man braucht tiefe negative Gefühle, um es überhaupt zu beschwören. Ich fürchte, wir haben es hier mit den gleichen Leuten zu tun, die bereits letztes Jahr Muggel und Muggelgeborenen angegriffen haben.“
Wer genau das Feindfeuer gelegt hat, ist nicht bekannt, das Ministerium hält seine Bürger allerdings an, alles Verdächtige sofort zu melden. Die zuständigen …
Das Papier knisterte unter ihrer Haut. Lilys Finger krallten sich so fest in die Ausgabe des Propheten, dass tiefe Falten über die gesamte Seite zogen. Ihre Hände zitterten.
„Worcester“, sagte sie leise, schmeckte den Namen, um zu überprüfen, dass er wirklich echt war. Dass sie sich nicht nur verlesen hatte. „Worcester“, sagte sie erneut. „Das ist …“
„Nicht weit von uns“, endete Severus leise. „Nicht weit von Cokesworth.“ Er betrachtete Lily mit zusammengezogenen Augenbrauen, Strähnen seiner schwarzen Haare hingen ihm über die dunklen Augen, mit denen er versuchte, ihren Blick aufzufangen. „Lily, deinen Eltern geht es gut.“
„Woher willst du das wissen?“, fragte sie, ihre Stimme zu laut, zu schrill, zu panisch für ihren Mund. Sie deutete mit einem zuckenden Finger auf den Propheten. „Woher willst du wissen, dass diese – diese Leute nicht einen Abstecher nach Cokesworth gemacht haben, nachdem sie das Feuer gelegt haben? Woher – “, sie stockte, die drückende Realisation dessen, was sie gesagt hatte, in ihrer Kehle.
Es war sehr gut möglich, dass die schwarzen Magier ein Feuer in Worcester gelegt hatten, im Schatten der Nacht ein paar Städte weiter gereist waren und dann Muggel in Cokesworth umgebracht hatten. Das Ministerium würde offensichtlich nur über das große, verheerende Feuer berichten und ein paar mögliche Tote nicht für weiter wichtig halten. Immerhin … immerhin waren es doch nur Muggel, nicht wahr?
„Lily“, versuchte Severus es erneut, aber kaum hatte seine kalte Hand ihre berührt, zuckte sie so heftig zurück, dass sie eine Karaffe mit Kürbissaft umstieß, die mit einem lauten Scheppern vom Tisch fiel und auf den Steinplatten zersprang.
Die orangerote Flüssigkeit breitete sich auf dem Marmor aus. Lily wurde schlecht. Sie sprang auf, wobei sie ihr Geschirr heftig zum Klirren brachte, warf die Zeitung von sich und wollte in Richtung Ausgang laufen, aber Severus hatte ebenso schnell reagiert, wie sie. Seine Finger schlangen sich um ihr Handgelenk.
„Beruhige dich, Lily, niemand hat –“
„Lass mich los!“, kreischte sie, woraufhin die kühle Berührung seiner Haut sofort von ihrer verschwand. Einen Moment lang war sie überrascht von sich selbst, überrascht, dass ihre Stimme so laut werden konnte, dann drehte sie sich auf dem Absatz um und sprintete über den Stein.
Sie verließ die große Halle, wobei sie vage mitbekam, wie mehrere Leute ihren Namen riefen – oder vielleicht riefen ihr auch Leute hinterher, dass sie schneller laufen sollte, dass sie verschwinden und nicht wiederkommen sollte. Sie war magisch, sie war eine Hexe und doch … und doch fühlte sie sich fehl am Platz, während sie die Treppe in der Eingangshalle hinauflief und schließlich im Korridor im ersten Stock stehen blieb. Gleißendes Sonnenlicht ergoss sich durch eines der Fenster, auf dessen Fensterbank sie sich zurückzog.
In ihrem Kopf wirbelte es, einhundert Gedanken versuchten als erstes gedacht zu werden, sodass Lily die Augen schließen und ihre Handballen darüber legen musste. Es schrie in ihr. Alles schrie in ihr, dass sie nicht wusste, ob ihre Eltern tot waren. Sie wusste nicht, ob ihre Mutter noch Leben war und gerade die letzten Teller in die Spüle stellte, sie wusste nicht, ob ihre Schwester am Leben und in der Schule war, wo sie sich mit ihren Freundinnen über den letzten Tratsch unterhielt. War ihr Vater bei der Arbeit und genoss den ersten Sonnenschein des neuen Jahres oder lag er kalt und leblos am Boden, Spuren von schwarzer Magie auf seiner Haut.
Ihr Magen rebellierte. Ein wässriges, heißes Gefühl breitete sich in ihrem Mund aus und einen Moment später übergab sie sich zur Seite weg. Sie würgte und es platschte und Tränen stiegen ihr in die Augen.
„Oh Merlin“, murmelte jemand. „Kein Problem, Lily, alles ist okay.“
Die Stimme konnte sie vage Alice Fortescue, der Vertrauensschülerin zuordnen, aber Lily hatte weder die Kraft noch die Willensstärke ihre Augen zu öffnen. Stattdessen drückte sie sich noch mehr zur Kugel zusammen. Aggressive Schluchzen durchzuckten ihren Körper, während Tränen ihre Wangen benetzten. Lily weinte so heftig, dass sie kaum Atem bekam. Sie wollte zu ihrer Mutter.
Sie wollte einfach nur zu ihrer Mutter.
„Shh“, hörte sie die beruhigende Stimme von Alice an ihrer Seite. „Alles gut, Lily, alles gut.“ Vorsichtig berührte eine warme Hand sie am Rücken und, als sie nicht zurück- oder zusammenzuckte, fing an, langsame Kreise auf ihrer Haut zu malen. „Evanesco.“
Lily wusste nicht, was Alice für einen Zauberspruch benutzt hatte, aber er hatte nicht geholfen, damit sie sich besser fühlte. Wozu war Magie überhaupt gut, wenn sie nur für böse Zwecke genutzt wurde und nicht einmal ihre schlechten Gefühle verbannen konnte? Lily unterdrückte ein Schluchzen. Waren ihre Eltern noch am Leben?
„Hier, nimm das.“ Alice sprach beruhigend und langsam mit ihr, sodass Lily die Augen öffnete.
Ein Taschentuch steckte zwischen Alice´ schmalen Fingern.
„Nimm schon“, sagte sie geduldig.
Lily griff zu. „D-D-Danke“, murmelte sie, wandte den Blick ab, als sie Alice´ besorgte Augen bemerkte.
„Kein Problem.“ Sie wartete, bis Lily sich die Augen und die Nase gesäubert hatte, dann fragte sie: „Ist es wegen des Artikels im Propheten?“
Sie hatte kaum die Kraft zu reden, deswegen nickte sie nur. Als sie versuchte den Mund zu öffnen, entkam ihr lediglich ein kläglicher Laut, der zu sehr nach einem Schluchzer klang, als dass sie es ein weiteres Mal versuchte.
Alice nickte verstehend. Ihre Hand malte weiterhin Kreise auf Lilys Rücken. „Weißt du, ich bin in einer Muggelkleinstadt aufgewachsen, zusammen mit meinen Eltern und Großeltern. Wir haben in einem riesigen Haus gewohnt und bevor ich nach Hogwarts gekommen bin, konnte ich ständig Freunde aus der Schule mitbringen. Mum hat uns dann Kekse gebackten und wir durften den ganzen Tag im Garten spielen. Meine Oma hat den besten Nudelauflauf gemacht, den es auf der Welt gibt und sie hat immer so viel gemacht, dass alle meine Freunde zweite Portionen bekommen haben. Wenn man es so will, bin ich eigentlich als Muggel aufgewachsen.“ Sie lachte kurz auf. „Natürlich ist das kein wirklicher Vergleich, aber so habe ich mich manchmal gefühlt. Meine Familie hat zwar Magie benutzt, aber sie haben so viele Sachen auf dem Muggelweg erledigt, dass es manchmal ganz schön verwirrend war. Du glaubst nicht, wie komisch es ist, mit deiner Schulfreundin zu telefonieren, während dein Dad neben dir mit einem Zauberspruch die Topfpflanzen dazu bringt, sich selbst Wasser zu holen.“
Lily wollte wirklich darüber lachen, aber ihr Magen fühlte sich an, als würde ein Zentaur mit seinen Hufen darauf herumtrampeln. Sie gab ein Geräusch von sich, das sie selbst nicht ganz bestimmen konnte.
Alice hingehen lächelte. „Ja, ich weiß“, erwiderte die Vertrauensschülerin. „Es ist unsinnig, ich weiß, aber manchmal frage ich mich, wie mein Leben wohl gelaufen wäre, wenn ich keine Magie gehabt hätte.“ Auf Lily überraschten Blick hin zuckte sie mit den Schultern. „Ich meine, versteh mich nicht falsch, ich liebe Magie und ich vermute mal, du siehst das genauso“, sie wartete nicht, bis Lily nickte, „aber so viele Probleme wie Magie auch löst, allein die Existenz erschafft doch nur neue, nicht wahr? Als Muggel hätte ich wahrscheinlich genauso viele Probleme, aber … ich weiß nicht. Magie fühlt sich manchmal an, als würde es mir mehr Sorge bereiten, als dass es sie beseitigt, verstehst du?“ Alice lächelte erneut, bevor sie die Augenbrauen näher zusammenzog. „Erzähl das aber nicht Frank, okay? Er redet ständig davon, wie ungeduldig er darauf ist, seinen eigenen Kindern die Magie beizubringen, das will ich ihm nicht kaputt machen.“
„Versprochen“, meinte Lily leise, überrascht, dass sie es überhaupt geschafft hatte, zu reden. Ihre Stimme klang ein wenig rau, als hätte sie ein paar Stunden lang nichts gesagt, aber dennoch klang sie noch nach ihr. Auch nach allem, was passiert war, war Lily immer noch sie selbst. „Manchmal weiß ich nicht, ob es nicht ein Fehler war, herzukommen“, gab sie nach einer Pause zu. „Nach Hogwarts, meine ich.“
„Ich weiß, was du meinst, Lily, und lass mich dir direkt eines sagen: Hogwarts ist genauso für dich da, wie es für die Reinblüter und ihre seltsamen Familien da ist. Ich meine, wenn wir es mal ganz direkt betrachten, dann gibt es mehr Halbblüter und Muggelgeborenen an Hogwarts als Reinblüter.“ Sie grinste, wobei ein verschmitzter Glanz in ihre Augen trat, den Lily schon so oft bei Marlene gesehen hatte. „Wenn es hart auf hart kommt, dann können wir die Reinblüter gemeinsam bezwingen, nicht wahr?“
Lily schnaubte belustigt, Spuren von Tränen auf ihren Wangen. Sie schmeckte entfernt Salz, als sie sich über die Lippen leckte. „Ja, wahrscheinlich. Aber lass das bloß nicht so arrogante Trottel wie Black und Potter hören.“
Alice´ Blick wurde ein wenig sanfter. „Sie sind nicht ganz so schlimm, wie du vielleicht denkst, Lily. Zumindest nicht so, wie viele der Reinblüter sind.“ Alice klopfte Lily auf die Schulter, dann fügte sie an: „Komm, der Unterricht geht bald los.“
Sie war drauf und dran Alice zu folgen, als sie an einem weiteren Fenster vorbeikamen, das den Blick auf die sonnenbeschienenen Ländereien freigab. Der Frühling kehrte zurück in die Welt und es sollte ein herrlicher Tag sein, aber alles, woran Lily plötzlich denken konnte, war, dass sie nicht wusste, ob ihre Eltern noch am Leben waren. Ob sie ihre Mutter je wieder sehen würde.
„Lily?“ Alice´ Stimme erreichte kaum ihre Ohren. Ohne es bemerken, war die Vertrauensschülerin weitergelaufen, während Lily am Fenster stehen geblieben war. „Lily, alles okay?“
„Ich …“, fing sie an, nicht wissend, wie sie sagen sollte, was sie dachte, nicht wissend, ob sie es damit real machte, wenn sie es aussprach. Sie wollte wissen, was passiert war, aber vielleicht war die Ungewissheit ein Segen. Vielleicht war es besser, wenn sie es nicht wusste, wenn sie nicht wusste, ob ihre Eltern lebten, ob sie nicht wusste, ob ihre Mutter noch zuhause war, denn wenn sie es nicht wusste, dann lebten sie in ihren Gedanken und Lily musste nicht schreien.
Eine Hand legte sich auf ihren Unterarm. „Komm mit, Lily. Ich bring dich zu Professor McGonagall, ja?“
Lily wollte protestieren, wollte ihr sagen, dass sie das nicht musste, aber ihre Beine bewegten sich von selbst. Sie folgte Alice den Korridor entlang, folgte ihr die Reihen an Fenster, Portraits und Statuen entlang, bis sie schließlich vor einer unscheinbaren Holztür standen. Es gab keine Indikatoren dafür, dass sich Professor McGonagall dahinter verbergen würde, aber kaum hatte Alice eine Hand gehoben und an der Tür geklopft, schwang die massive Holztür nach innen auf.
Der Raum dahinter war geräumig, mit einem schicken Schreibtisch, an welchem die strenge Hexe bereits saß. Ein Fenster in ihrem Rücken zeigte auf den schwarzen See. Ein kleiner goldene Apparat, den Lily als Spickoskop erkannte, stand auf dem Schreibtisch, daneben ein Dutzend an schweren, ledergebundenen Büchern. Ein leerer Käfig hing von der Decke links hinter McGonagall und an der Wand daneben bedeckte ein riesiger Wandteppich den Stein. Die andere Wand war mit einem Kaminsims geschmückt, auf dem ein paar gerahmte Fotografien standen, sowie ein goldener Pokal und eine glänzende Medaille. Lily konnte nicht erkennen, wofür beide Trophäen waren.
„Miss Fortescue, Miss Evans“, sagte die Professorin knapp. „Was kann ich für sie tun?“
Alice wartete, bis Lily von selbst redete, aber Lily, die nicht wusste, wie sie den Mund öffnete, verblieb verstummt. Ein lautloses Seufzen entkam ihr. „Tut mir leid, dass wir Sie stören, Professor, aber ich fürchte, Lily wurde durch die heutige Schlagzeile im Tagespropheten sehr aufgewühlt.“
Der strenge Blick verließ McGonagalls Augen, stattdessen kehrte etwas ein, dass Lily fast schon als sanft bezeichnen würde. Die Hexe am Tisch nickte. „Vielen Dank, Miss Fortescue, Sie dürfen gehen. Seien Sie so gut und teilen Sie Professor Flitwick mit, dass Miss Evans es nicht zu seinem Unterricht schaffen wird.“
„Dankeschön, Professor“, erwiderte Alice, schenkte Lily ein aufmunterndes Lächeln, legte ihr noch für einen Augenblick die Hand auf die Schulter, bevor sie kehrt machte und das Büro verließ. Ihre Schritte hallten noch für einige Sekunden nach, dann fiel die Tür von allein zurück in ihre Angeln.
„Setzen Sie sich, Miss Evans. Nehmen Sie sich ein Gebäckstück.“ McGonagall schob eine handelsübliche Gebäckdose über den Tisch, während sie Lily mit aufmerksamen Augen beobachtete. Sie wartete, bis Lily sich auf den Stuhl vor dem Schreibtisch gesetzt hatte, faltete die Hände vor sich zusammen und fragte dann: „Wenn ich mich richtig erinnere, kommen Sie nicht aus Worcester, nicht wahr?“
Überrascht hob Lily die Augenbrauen an. „Ich – Nein, Professor. Aber - Aber Worcester ist nicht weit von meiner Heimat entfernt, wissen Sie, deswegen dachte ich –“
„Es gab keine Berichte darüber, dass irgendetwas in Cokesworth oder in der Nähe vorgefallen ist“, sagte Professor McGonagall, als Lily nicht weiterredete. Obwohl ihr Gesicht streng wirkte, waren ihre Augen sanft. Im Licht der einfallenden Sonne sah es fast so aus, als würde sie Lily anlächeln.
„Ich weiß, Professor“, antwortete sie rasch. „Es ist dumm, wirklich, ich habe nicht – ich dachte nur, als ich den Namen gelesen habe. Ich hab Panik bekommen“, schloss sie leise, sich bewusst, wie dümmlich sie vor der älteren Hexe klang. Wie kindisch und unlogisch sie doch klang. „Tut mir leid, Professor.“
Professor McGonagall betrachtete Lily für einen weiteren, viel zu langen Augenblick, dann schob sie die Gebäckdose ein wenig näher an sie heran. „Nehmen Sie sich einen Keks, Miss Evans.“
„Ich – Dankeschön.“ Lily griff zu, hatte aber keinen Appetit. Noch immer rumorte ihr Magen, noch immer fühlte sich der Inhalt so an, als würde er jeden Moment entkommen wollen. Selbst unter dem strengen Blick ihrer Hauslehrerin hatte Lily das Gefühl, dass sie in Ungewissheit lebte. Auch wenn Professor McGonagall sagte, dass das Ministerium keine Berichte über einen Angriff in Cokesworth hatte, so konnte sie nicht anders, als zu denken … als zu denken, dass auch ihre Hauslehrerin nicht alles wissen konnte.
Professor McGonagall nickte, bevor sie sich erhob. „Besitzt Ihr Haus einen Kamin?“, fragte sie.
Lily runzelte die Stirn. „Ja“, erwiderte sie. „Aber meine Eltern haben keinen –“
„Warten Sie einen Moment“, wies McGonagall sie an, bevor sie an Lily vorbei zu ihrem eigenen Kamin ging. Sie zückte ihren Zauberstab, sagte aber keine Zauberformel, murmelte auch keinen Spruch oder irgendeine Inkantation. Stattdessen entflammte das Rost in der Mitte und die orangeroten Flammen, die für den Bruchteil einer Sekunde den Stein emporleckten, verwandelten sich in smaragdgrünes Feuer. Professor McGonagall deutete mit ihrem Zauberstab ein weiteres Mal in die Flammen, dieses Mal veränderte sich ihre Farbe allerdings nicht. Wenn Lily nicht wüsste, wie mächtig ihre Hauslehrerin war, dann würde sie fast vermuten, dass was auch immer sie vorhatte, fehlgeschlagen war.
McGonagall griff sie nach einer kleinen Dose, die auf dem Kaminsims stand. Im Inneren der Dose glänzte eine Art graues Pulver, das Lily nicht kannte, welches aber vage wie Asche aussah. Ihre Lehrerin warf eine Handvoll davon in die Flammen, die für einen Augenblick heller brannten, dann wieder in sich zusammensackten. Ihre Professorin deutete mit dem Stab auf das grüne Feuer, vollführte eine schlingende Handbewegung, die Lily kaum mit den Augen verfolgen konnte, ehe etwas Silbriges aus dem Ende des Stabs entsprang und in die Flammen flog. Es sah aus, wie ein Ball aus Dunst und Nebel, bevor dieser wieder verschwand.
„Professor, was – “
„Einen Augenblick noch, Miss Evans.“
Es war seltsam, fand Lily, in den Kamin zu starren, während in ihrem Kopf ein Dutzend Fragen hausierten, die alle eine Antwort verlangten. Professor McGonagall hatte ihren Stab in ihrem Ärmel verschwinden lassen, während sie wartete und obwohl Lily nicht wusste, worauf sie warteten, wollte sie nicht erneut fragen. McGonagall konnte angsteinflößend sein, wenn sie wollte und Lily hatte genug um die Ohren. Am liebsten würde sie sich in ihrem Bett verkriechen, die Augen zusammenpressen, in der Hoffnung, dass, wenn sie sie wieder öffnete, der Tag von vorne losgehen würde, ganz ohne Tagespropheten, ganz ohne schreckliche Tode und ohne die unbeantwortete Frage in ihr, ob sie ihre Eltern wieder sehen würde.
„Miss Evans, wenn Sie sich erheben würden.“ Professor McGonagall betrachtete sie abwartend, aber geduldig. Das grüne Feuer hinter ihr hatte sich nicht verändert.
Lily stand mit etwas wackligen Beinen auf. Sie wusste nicht, was sie erwarten sollte, aber hoffte darauf, dass ihre Hauslehrerin sie nicht bestrafen würde, auch wenn sie bisher keine Anzeichen gemacht hatte. Oh, dachte sie missmutig. Vielleicht hatte sie von der kaputten Saftkaraffe gehört und würde Lily jetzt dazu verdonnern, eine neue zu besorgen. Lily krallte die Finger in den Stoff ihres Umhangs, hoffte, dass sie einfach hindurchfallen würde.
„Kommen Sie“, sagte McGonagall, bevor sie einen Schritt zur Seite tat und mit der Hand vor den Kamin deutete. „Ich werde Ihnen ein wenig Privatsphäre gönnen. Sobald Sie fertig sind, können Sie in ihren Gemeinschaftsraum zurückkehren.“ Etwas, das Lily fast als Lächeln bezeichnen würde, erschien auf McGonagalls Lippen, ehe sie Lily den Vortritt ließ, in Richtung der Tür schritt und einen Augenblick später dahinter verschwand, eine irritierte und verwirrte Lily zurücklassend.
Was sollte sie bitte allein mit dem Kamin anfangen, fragte sie sich gerade, als einige Funken aus den Flammen in ihre Richtung stoben. Sie schrie auf, bevor sie sich daran hindern konnte. Im Kamin saßen nicht mehr nur die smaragdgrünen Flammen, sondern etwas anderes. Lily schlug die Hände vor dem Mund zusammen. Es war kein Etwas in den Flammen, sondern Jemand. Jemand, den Lily sehr gut kannte.
„Mum?“, fragte sie mit benetzter Stimme.
Inmitten der grünen Flammen, die wild loderten und den Stein hinauf und hinab leckten, erkannte Lily den Kopf ihrer Mutter, aus Feuer und Asche und Kohle geformt. „Lily?“
Sie zuckte zurück, als das Feuer sprach.
„Lily, bist du da? Ich – oh, das ist wirklich seltsam. Lily, Schatz, kannst du mich hören? Lily?“
„Mum?“, fragte sie erneut und ging einen vorsichtigen Schritt auf den Kamin zu. Ohne es zu wollen, fiel sie vor den Flammen auf die Knie. „Mum, bist du das? Bist das – bist du das wirklich?“
„Lily?“ Der Kopf ihrer Mutter drehte sich im Feuer, ehe ihre Augen Lilys fanden. „Oh, Liebling, da bist da ja! Du bist ja wirklich hier! Ich – oh, meine Güte, ist das ein seltsames Gefühl.“ Ihre Mutter lachte auf. „Einen Moment bin ich dabei, meinen neuen Katalog zu durchblättern und im nächsten erscheint dieses seltsam silberne Ding im Wohnzimmer und weist mich an, meinen Kopf in den Kamin zu stecken.“ Erneut lachte sie.
„Du“, fing Lily an, brach ab, als sie merkte, wie ihre Stimme brach. Sie atmete tief ein, kümmerte sich nicht darum, dass sie heiße Luft in sich sog, kümmerte sich auch nicht um die Tränen, die erneut ihre Wangen benetzten. „Du lebst“, brachte sie schließlich heraus, unsicher, ob sie träumte oder wirklich auf McGonagalls Boden hockte und mit dem Kopf ihrer Mutter im Kamin redete.
„Natürlich, Liebling, warum sollte ich denn nicht leben?“, fragte ihre Mum irritiert. „Schatz, was ist denn los?“
„Ich hab – das mit dem Feuer – in Worcester – und ich“, ihre Stimme versagte erneut. Plötzlich fühlte sie sich dumm. Kindisch und unsinnig, dass sie überhaupt daran gedacht hatte. Natürlich ging es ihrer Mutter gut, warum sollte es auch nicht? Sie war ihre Mutter und Worcester war dutzende Meilen entfernt von Cokesworth. Natürlich ging es ihr gut. Natürlich lebte sie. Natürlich.
Die Falten auf der Stirn ihrer Mutter verschwanden und ein sanfter Ausdruck trat in ihre Feuer-Augen. „Oh Liebling“, sagte sie leise. „Mir geht es gut, Schatz, deinem Vater geht es auch gut und Petunia natürlich auch. Uns ist nichts passiert, versprochen. Es war zwar ein Schock das zu lesen, aber ich verspreche dir, uns geht es gut. Ach, Liebling, wie hast du überhaupt davon erfahren?“
„Tagesprophet“, würgte Lily hervor. „Tut mir leid, ich hab das gelesen und mein Kopf, ich – ich hab nicht nachgedacht, oder zu viel nachgedacht und oh Gott, es tut mir leid, Mum, ich wollte dir keinen Schrecken einjagen.“
„Lily“, sagte ihre Mutter langsam. „Das ist doch nicht schlimm, mein Schatz, wirklich. Du hast mir doch keinen Schrecken eingejagt. Wenn dann bin ich mehr überrascht davon, dass ich mit dir reden kann, während ich auf dem Wohnzimmerboden hocke und in den Kamin rede. Wie funktioniert das überhaupt?“
„Ich weiß nicht“, meinte Lily, die plötzlich kein Lachen und kein Weinen mehr zurückhalten konnte. „Professor McGonagall hat das irgendwie arrangiert. Das silberne Ding, ich glaub, das kam auch von ihr.“
Ihre Mutter seufzte. „Zaubern müsste man können. Aber ich glaube, in Zukunft würde ich Briefe trotzdem bevorzugen“, meinte sie mit einem Lächeln. „Davon tun mir die Knie nicht so weh und ich hab nicht das Gefühl, meinen Kopf zu verlieren.“
Lily lachte, bevor sie erneut schluchzte und dann wieder lachte. „Ich bin froh, dass es dir gut geht, Mum“, sagte sie leise.
„Ich bin auch froh, dass es dir gut, mein Liebling.“
Chapter 27: 27. Jahr 2: Die Schlange und ihre Schafe
Chapter Text
Der klägliche Schrei eines Hauselfen hallte durch die Hallen, verebbte jedoch so schnell, wie er gekommen war. Die Anwesenden blickten kaum von ihren Unterhaltungen auf, ließen dabei nicht einmal durchdringen, dass die die Misshandlung des magischen Wesens mitbekommen hatten. Ein weiterer Schrei ertönte, gefolgt vom unmissverständlichen Klirren von Glas auf Stein.
„Wer hätte gedacht, dass solch unfähige Kreaturen im Malfoy Manor arbeiten“, sagte Bellatrix, die genüsslich an einem Glas mit Feenwein nippte und dabei dunklen Lippenstift an den Glasrand schmierte. „Bei dir würde es solches Benehmen nicht geben, nicht wahr, Tante? Du würdest kurzen Prozess mit denen machen, so wie mit Kreachers Mutter.“ Bellatrix fuhr mit einem ihrer langen Nägel an ihrem Hals entlang und machte ein würgendes Geräusch, bevor sie ihre Tante Walburga angrinste.
Walburga schnaubte ungehalten. Sie hatte sich für den Abend in ihre besten Roben geworfen, samtig schwarz mit eingestickten schwarzen Rosen darauf, mit einem hochgestellten Kragen, der ihren Hals länger wirken ließ und einem enggeschnürten Korsett, bei dem sie sich sicher war, einige obszöne Gedanken ausgelöst zu haben. Kreacher hatte ihre Haare in einen aufwendigen Turm frisiert, sowie feines Make-Up aufgetragen, sodass Walburga fast geglaubt hatte, in einen falschen Spiegel geschaut zu haben. Obwohl sie nun schon weit über fünfzig war, hatte Kreacher es geschafft, dass sie sich wie eine frisch vermählte Zwanzigjährige fühlte.
„Kreachers Mutter war alt, nicht unfähig, Bella“, erwiderte sie, die Finger fest um ein unangerührtes Glas mit Feuerwhisky geschlungen. „Ich töte meine Hauselfen nicht, nur weil mir danach ist.“
Bella grinste, wobei sie eine ganze Reihe an weißen Zähnen zeigte, von denen einige mit ihrem dunklen Lippenstift versehen waren. Wenn Walburga eine bessere Tante wäre, dann würde sie ihre Nichte darauf hinweisen. „Ah, aber zumindest hast du deine Hauselfen besser im Griff, nicht so wie Abraxas. Kreacher würde nie auch nur einen Tropfen vergießen.“
„Ein Hauself spiegelt in vielen Fällen seinen Meister wider“, entgegnete Walburga, wobei sie nicht umhin konnte, als ihrer Nichte in diesem Punkt zumindest Recht zu geben. „Ich gehe schwer davon aus, dass Abraxas so beschäftigt ist, dass er sich nicht persönlich um seine Bediensteten kümmern kann.“
Während Belle nickte, fielen ihre schweren, dicken Locken über ihre Schulter, die sie mit einem nebensächlichen Wischen ihrer Hand wieder auf ihren Rücken beförderte. „Da ist wohl was dran. Es ist wohl kein besonders einfacher Job, wenn man versucht, das Ministerium von innen heraus in die Hände zu bekommen.“
Walburga lächelte. „Er ist ja bald nicht mehr allein, wenn ich den Quellen trauen darf. Rabastan und Rodolphus haben sich Stellen im Zaubergamot gesichert, nicht wahr?“
Wenn Bellatrix irgendwelche Gefühle für ihren Verlobten hatte, dann wusste sie, wie man diese verbarg. „Richtig, richtig, wobei natürlich keiner von denen allein reingekommen wäre. Das haben wir Cervantes zu verdanken. Und natürlich Onkel Orion“, fügte sie mit einem blitzenden Lächeln an. „Eine Schande, dass er heute nicht dabei sein konnte.“
„Mein Ehemann ist ebenfalls schwer beschäftigt“, antwortete Walburga, wobei sie es nicht verhindern konnte, dass es wie einstudiert klang. „Er sendet uns allen seine besten Grüße und hofft, wir können einen ertragreichen Abend genießen, während er in seiner Arbeit vergeht. Ich bin sicher, Kreacher leistet ihm gute Gesellschaft.“
Die andere Frau machte keinerlei Anzeichen, dass sie ihrer Tante Glauben schenkte. „Was genau macht er denn überhaupt?“, fragte sie beiläufig klingend, wobei sie das hungrige Glänzen aus den beschatteten Augen nicht verbannen konnte. „Ich bin mir nicht sicher, dass mir bisher jemand sagen konnte, worin genau Orions Job besteht.“
Walburga betrachtete ihre Nichte mit einem kühlen Blick, ihre Fingern schlangen sich fester um das Glas. Sie reckte das Kinn, wobei die teure, edelsteinbesetzte Kette an ihrem Hals klimperte und die Lichtstrahlen des Kronleuchters auffing. „Mein Mann“, sagte sie, die Stimme ruhig und eisig, „ist ein wichtiges Mitglied in den Reihen der Heiligen Achtundzwanzig, Bellatrix, das solltest du wissen. Er ist für viele Dinge verantwortlich, letztendlich auch für die Instandhaltung unserer aller Familien. Oder hast du bereits vergessen, dass er derjenige war, der Rodolphus und dich für die Ehe auserkoren hat, genauso, wie er es mit deiner Schwester getan hat.“ Die Worte klebten wie gefrorenes Blut in ihrem Rachen. Seit die zweite Tochter ihres Bruders aus dem Stammbaum entfernt wurde, hatte keiner der Anwesenden auch nur ein Wort über die verbannte Hexe verloren. Nicht einmal der Name wurde gesprochen, geschweige denn geflüstert oder gedacht. Sofern es Walburga nunmehr interessierte, hatte ihr Bruder nur zwei Kinder, Bellatrix und Narzissa, die ihren Eltern in gutem Beispiel folgten. „Lucius und Narzissa werden Haus Malfoy und Haus Black gute Dienste erweisen, Bellatrix.“
Der hungrige Ausdruck verschwand aus ihren Augen. Stattdessen sah die dunkelhaarige Hexe für einen Moment so aus, als hätte man sie mit einem schweren Fluch belegt. „Selbstverständlich werden sie das“, entgegnete Bella gefährlich leise klingend. „Ich bin mir sicher, dass meine Schwester nur das Beste für die Familie im Sinn hat.“
Selbst wenn Walburga eine Antwort parat gehabt hätte, wäre sie nicht mehr dazu gekommen, diese auch auszusprechen, denn in diesem Moment öffneten sich die prächtigen Türen von Malfoy Manors Speisesaal. Eine Reihe an Hauselfen in sauberen Hemden und Krawatten standen hinter den Türen, bereit, den Gästen die Gläser neu aufzufüllen oder sie zu ihren Plätzen zu geleiten. In der Mitte der Hauselfen stand die hochgewachsene, weißblonde Gestalt von Abraxas Malfoy. Mit den dunklen, intelligenten Augen betrachtete er seine Gäste für einen Moment.
„Ich muss mich für die Verzögerung entschuldigen“, sagte er, seine Stimme weich wie Samt. „Ich hoffe, der kleine Zwischenfall hat euch allen nicht den Appetit verdorben. Kommt, setzt euch, meine lieben Freunde.“
Bellatrix schnaubte leise, sagte aber nichts, sondern folgte ihrer Tante in den Speisesaal der Malfoys. Ein Tisch, der Walburga an die Haustische von Hogwarts erinnerte, nahm den Großteils des Raumes ein, der so extravagant geschmückt war, dass man beinahe glauben konnte, in einen der alten Paläste getreten zu sein. Gold zierte die Wände und die vielen Kronleuchter, während Statuen aus Marmor und Elfenbein zwischen den hohen, glatten Säulen standen. Portraits von verstorbenen Familienmitgliedern und Bouquets mit gepflegten Blumen nahmen die freien Plätze an den Wänden ein, während zwischendurch das durchscheinende Glas von polierten Fenstern in den geräumigen Garten der Malfoys zeigte. Weitere Statuen zierten den Rasen und hier und da blitzten die bläulich-schimmernden Federn eines Pfaus auf.
Es war Walburga ein Rätsel, was Abraxas so an diesen Vögeln fand, dass er sie frei auf seinem Anwesen leben ließ, aber sie hatte auch nie den Drang verspürt, nachzufragen.
Sie ließ sich von einem Hauself an ihren Platz geleiten, nahe des Kopfes des Tisches, nur zwei Sitze entfernt von Abraxas, der vor seinem verzierten Stuhl stand und darauf wartete, dass alle Platz genommen hatten. Direkt neben Walburga nahm ihr Bruder Cygnus Platz, ihnen gegenüber saßen Druella und Bellatrix, daneben Lucius, Abraxas´ Sohn und Narzissas Ehemann, sowie Rodolphus und Rabastan Lestrange. Den gesamten Tisch entlang entdeckte Walburga bekannte Gesichter von Mitgliedern der Achtundzwanzig, darunter Cervantes Mulciber, der auf Cygnus und Druellas Weihnachtsfeier vor einem Jahr bloßgestellt wurde, sowie Daralis Fawley und Perelope Avery, die Walburga schon seit geraumer Zeit ein Dorn im Auge waren.
Als der letzte Nachzügler eingetroffen und sich gesetzt hatte, wurde jedem Anwesenden der freibleibende Platz an Abraxas´ Seite bewusst. Es war, als würde ein Puzzleteil fehlen. Walburga blickte den Tisch hinauf und hinab, wurde aber nicht schlau daraus, für wen dieser Platz denn reserviert sein könnte. Anmerken ließ sie sich davon nichts. Mit kühler, berechnender Miene saß sie auf ihrem Stuhl, den Rücken fest durchgedrückt, sodass sie die samtene Lehne nicht berührte, die Finger sorgfältig vor ihrem goldenen Teller gefaltet, ein Glas mit brennendem Feuerwhisky neben ihrer Hand. Alles war an seinem Platz, alles war so, wie es bei einem Treffen der Achtundzwanzig sein sollte und dennoch – ein Stuhl blieb leer.
Abraxas breitete die Arme aus. „Ich bin überaus gerührt, dass ihr es alle zu diesem kleinen Zusammentreffen geschafft hat“, sagte er mit samtiger Stimme. „Wie viele von euch bereits wissen, gehen derzeit ein paar Unruhen in unserer magischen Welt vor. Das Ministerium, allen voran Ministerin Jenkins und ihre vertraute Aurorenzentrale, haben dunkle Magie im Visier.“ Abraxas zeigte allen ein schmales Lächeln. „Dunkle Magie, Helle Magie. Humbug, wenn ihr mich fragt. Magie ist nicht gut oder böse, Magie ist nicht ein Zweck zum Mittel. Magie ist ein Teil von uns, meine Freunde, ein Teil, seit wir geboren wurden. Es ist unser Geburtsrecht, Magie zu wirken und einen Zauberstab zu halten und doch“, er ließ eine dramatische Pause, bevor er Luft holte und leiser fortfuhr, „und doch, lassen wir zu, dass wir in den Schatten leben, verdeckt unter den magielosen Menschen. Viele, mich eingeschlossen, sehen darin keine Fairness.“
Ein Raunen ging durch die Menge, als ein Großteil der Anwesenden murmelnd zustimmte. Walburga hielt sich zurück. Sie musste sich nicht der Meute anschließen, um dem Anführer zu gefallen, sie musste keine Sympathiepunkte bei Abraxas sammeln.
„Reines Blut“, fuhr Abraxas fort, als sich die Anwesenden beruhigt hat, „ist das einzige, dass heutzutage noch einen Standpunkt in der Welt hat. Meine Freunde, wir sind eine aussterbende Rasse. Wir sind Menschen, Zauberer und Hexen mit dem reinsten Blut, dass es unter unsersgleichen gibt und wir sind eine Minderheit geworden. Halb-Blüter“, spuckte er. „Schlammblüter. Unser magisches Geschenk wird mit Füßen getreten, in dem es mit den magielosen Muggeln geteilt wird und die daraus resultierenden Abkömmlinge sind der Grund, wieso wir mit einem reinen Blut Gesegneten immer mehr in den Untergrund getrieben werden. Seit Jahrhunderten wird alles dafür getan, dass der Name Malfoy mit reinem Blut verbunden ist und dasselbe gilt für die Blacks“, mit einem langsamen Nicken deutete er auf Walburga und ihren Bruder, „die Lestranges, Avery, Fawley. Wir sammeln uns in unseren Gruppen zusammen, um unser Geschenk des reinen Blutes zu schützen und damit nicht nur unser Blut sauber zu halten, sondern auch unsere Magie. Denn nur die Menschen mit reinem Blut können jene tiefen Abgründe und Geheimnisse der Magie erkunden, die den anderen verwehrt bleiben. Nur wir können dafür sorgen, dass sich das magische Blut nicht zu sehr mit dem Schlamm vermischt und irgendwann nicht mehr von ihm unterschieden werden kann.“
Abraxas ließ eine Pause, in der er seine Gäste betrachtete, die sich miteinander unterhielten, flüsterten, das Gesagte weitergaben und unterstützten. Mit gefalteten Händen ließ er seinen dunklen Blick durch den Raum schweifen. „Deswegen ist es mir nun auch eine große Freude“, sagte er, wodurch er die ausgebrochenen Gespräche mit einer eisigen Dissonanz in der Stimme unterbrach, „euch einen Mann von solch reinem Blut vorzustellen, dass selbst einige von uns daneben erblassen. Bitte, ich möchte dass ihr alle Lord Voldemort begrüßt, Nachfahre von Salazar Slytherin und Ehrengast auf Malfoy Manor.“
Kollektiv wurde der Atem im Raum angehalten, als sich die weiten Türen in der Halle ein weiteres Mal öffneten. Im Rahmen stand ein Mann. Kein Mann, verbesserte Walburga sich in Gedanken, die den Kopf ein wenig recken musste, um ihn gut zu erkennen. Ein Anführer.
Lord Voldemort betrat mit langsamen Schritten den Speisesaal. Seine Füße, die in glänzenden Schuhen steckten, schienen lautlos über den Boden zu gleiten, während der Saum seines Umhangs über den teuren Marmor schliff. Dunkles Haar und gräulich-blasse Haut, dazu beinahe schwarze Augen und ein gutaussehendes, markantes Gesicht waren das Erste, was auffiel, wenn man Voldemort betrachtete, erst danach wurde man sich der Ausstrahlung bewusst, die er hatte. Als würde die Erde zwischen dem Himmel zerbersten und was aus den Rissen gekrochen war, war Voldemort. Zwischen seinen langen Fingern drehte er einen aus schwarzem Holz geschnitzten Zauberstab hin und her, während alte, vergessene Magie aus jeder seiner Poren zu sickern schien. Mit einem Mal war die Luft im Raum dick und matt, das Atmen wurde schwieriger.
Dunkel waren seine Augen, aber es war nichts im Vergleich zu der Magie, die von ihm ausging. Schwarz, nur so konnte Walburga sie beschreiben. Das war schwarze Magie, die dunkelste, schwärzeste Magie, die sie je gespürt hatte. Voldemort schritt am Tisch entlang, bis er schließlich neben Abraxas stehen blieb.
Neben Voldemort wirkte Abraxas nicht mehr wie der geborene Anführer.
Neben Voldemort wirkte Abraxas plötzlich klein und unbedeutend. Wie eine Kakerlake unter dem teuren Absatz, den Voldemort trug. Es schien, als könnte der Neuankömmling sie alle zerquetschen und müsste dafür keinen Finger krümmen.
Trotz ihrer Affinität mit Magie, dunkel wie auch hell, alt wie auch vergessen, musste Walburga schlucken.
„Diese warme Ankündigung ehrt mich“, sagte Lord Voldemort mit einer Stimme, die es Walburga eiskalt den Rücken hinabliefen ließ. Sie war hoch und kühl, Gletschereis auf dem weiten Ozean, und sie versprach, dass Voldemort nicht hier war, um zu reden. Voldemort handelte. Voldemort plante und führte Pläne durch. Voldemort hatte keine Zeit zu reden. „Es ist mir eine Ehre, mich in Gegenwart so vieler Hexen und Zauberer zu befinden, die stolz darauf sind, reines Blut zu besitzen und es mit allen Mitteln am Leben halten wollen. Nichts anderes habe ich ebenfalls im Sinn. Wir teilen uns ein Ziel, ihr und ich, und ich hoffe, dass ich auf die Unterstützung von den anwesenden Hexen und anwesenden Zauberern zählen kann, wenn es darum geht, unsere kostbare Reinheit zu beschützen.“
Jedes Wort war kalkuliert, das bemerkte Walburga sofort. Es war ihr nicht fremd, so zu reden, als hätte sie die nächsten zehn Schritte ihres Gegenübers bereits einkalkuliert, deswegen war es ihr ein leichtes, herauszufinden, dass Voldemort ebenfalls so sprach. Aber noch etwas anderes steckte in der Stimme des Mannes, der neben Abraxas Platz genommen hatte. Macht, dachte sie. Dann:
Magie.
Voldemort strahlte Magie aus, in der Art, wie er die Hände bewegte, über den Blick, den er durch den Raum warf, bis zu dem Klang seiner Stimme. Magie, das war es, woraus Voldemort gemacht war, das war es, was er ausstrahlte. Magie war es, was in seinen Adern floss. Magie war sein Körper und Magie war sein Wille.
„Kommt“, sagte Abraxas. „Kommt, lasst uns Essen.“
„Mit Vergnügen“, antwortete Voldemort, den Kopf so leicht gebeugt, dass er Abraxas Respekt zollte, aber nicht so weit gebeugt, dass er sich Blöße gab. Perfekt kalkuliert, perfekt ausgeführt.
Speisen aus den exquisitesten, teuersten Zutaten erschienen auf dem Tisch, als der Kopf der Malfoys sich endlich niederließ. Dutzende Braten, cremige Saucen, eine unendliche Menge an Gemüse, darunter Dinge, die selbst Walburga noch nie gesehen hatte. Abraxas hatte alle Register gezogen, um seinen besonderen Gast zu ehren, so schien es, denn kaum waren die Speisen erschienen, ertönte leise Melodie aus den Ecken des Raumes und im nächsten Moment erschien ein Quartett aus Geistern, die durch die Wände geschwebt waren. Statt wie üblich schrecklich kreischende Geräusche von sich zu geben, wenn Geister musizierten, spielten diese die sanftesten und schönsten Töne, die Walburga je vernommen hatte.
Voldemort war, wenn Walburga das erkennen konnte, nicht sonderlich beeindruckt mit der gesamten Aufmachung. Zwischen seinen langen Fingern sahen die goldenen Bestecke unproportioniert klein aus und obwohl er sich einige Speisen auf den Teller gelegt hatte, schien er nicht versessen darauf, auch von ihnen zu kosten. Vielmehr beleuchtete er den Saal, sah sich die Anwesenden an, hielt den Blick mal länger, mal kürzer auf jemanden gerichtet.
Walburga realisierte, was er tat, als er schließlich den Blick auf Lucius Malfoy richtete, der ihm fast gegenüber saß, der alles tat, um dem Mann mit der bleichen Haut nicht in die Augen sehen zu müssen und sich deswegen ein großes Stück Fasan in den Mund schob. Lucius kaute, kaute und schluckte, bevor er zu seinem Glas mit Feenwein griff und den Rest mit einem großzügigen Schluck hinunterspülte.
Lucius hatte vom selben Tablett genommen wie Voldemort.
Als es klar wurde, dass Lucius atmete, nahm auch Voldemort seinen ersten Bissen.
Nur mächtige Männer fürchteten sich vor Gift in ihrem Essen. Mächtige Männer.
Und Feiglinge.
Walburga wusste noch nicht, wie sie Voldemort kategorisieren sollte.
Das Essen nahm einen sehr gewohnten Verlauf, trotz der Umstände, dass ein Geisterquartett in den Wänden spielte und ein mächtiger Nachfahre Slytherins unter ihnen saß. Niemand traute sich, Voldemort anzusprechen niemand traute sich überhaupt, lang genug in seine Richtung zu sehen, aus Angst, ihre Augen würden sich treffen. Niemand, so stellte Walburga fest, bis auf Bellatrix.
Ihre Nichte tat den gesamten Abend nichts anderes, als Voldemort mit ihren Augen zu taxieren, sein scharfes Kinn zu beobachten, während er mit gesenktem Blick kaute, seine Finger anzusehen, während er sein Glas anhob. Sie stierte mit unkonventionellem und desaströsen Hunger auf den Mann vor ihr, dass Walburga befürchtete, Bella würde etwas Unüberlegtes tun, um dessen Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen.
Walburga wollte ihrer Nichte gerade einen warnenden Blick zuwerfen, als Voldemorts eisige Stimme die Stille zerschnitt. „Man hat mir gesagt, dass Oberhaupt der Familie Black wäre heute ebenfalls zu Gast“, sagte er, nicht direkt an Abraxas gewandt. „Sag, wo ist er?“
„Ich fürchte Orion hat es nicht geschafft, persönlich zu erscheinen, mein Lord“, erwiderte Abraxas mit geneigtem Kopf. „Seine Frau allerdings ist hier, Walburga Black.“
Der Raum neigte sich zur Seite, als Voldemort sich Walburga zuwandte. Für einen Augenblick verlor das Feuer an Hitze, verlor die Welt an Materie, verlor Alles an Nichts. Walburga atmete ein. „Ich fühle mich zutiefst geehrt, eure Bekanntschaft zu machen“, sagte sie mit fester Stimme.
„Nicht doch“, entgegnete Voldemort sanft. „Die Freude ist auf meiner Seite, Mrs. Black. Wie Ihr vielleicht wisst, bin ich selbst ein Nachfahre von Slytherin, dem wohl einzigartigsten Zauberer, den die Geschichte hervorgebracht hat und deswegen, ich hoffe, Ihr könnt mir meine Neugierde verzeihen, war ich mehr erpicht darauf, andere Nachfahren des großen Salazar zu treffen. Ich kann nur sagen, dass man mir gesagt hat, die Blacks wären eine mächtige Familie, aber man hat mir nie gesagt, sie wären genauso schön.“ Voldemort neigte seinen Kelch mit Wein in ihre Richtung, bevor er einen Schluck daraus nahm.
Walburga war Charmeure gewohnt, die versuchten, sich in ihre guten Bücher zu schleichen und noch mehr war sie es gewohnt, dass man ihr Komplimente machte, um sie für eine Sache zu gewinnen, mit der sie nichts zu tun haben wollte. Aber Voldemort war kein Charmeur. Voldemort war kein Connaisseur der süßen Worte und der Schmeicheleien. Er wollte sie nicht einlullen, wollte nicht ihre Ärmel hinaufkriechen, um seinen Geruch in ihre Haut zu pflanzen.
Voldemort wollte Macht. Und Walburga hatte Macht.
„Ihr schmeichelt mir“, sagte sie deswegen. Walburga war es gewohnt, dass Männer um sie buhlten, deswegen hatte sie keine Schwierigkeiten damit, ihre Stimme eben zu halten. „Unsere Nachfahrschaft zu Slytherin ist mittlerweile ein wenig in Vergessenheit geraten, befürchte ich. Wir Blacks haben uns unseren eigenen Namen gemacht, wir haben der magischen Welt gezeigt, dass in uns nicht nur Gründerblut fließt. Nur selten nutzen wir noch unsere Verbindung zu Slytherin, um uns Gehör zu verschaffen.“
Der Versuch, Voldemort aus der Reserve zu locken, scheiterte noch bevor er angefangen hatte. Der blasse Mann ließ lediglich ein kühles, hohes Lachen von sich, bevor er erwiderte: „Eine Einstellung, die ich nur allzu gut nachvollziehen kann. Ich müsste lügen, wenn ich sagen würde, dass ich mein Erbe nicht schätze und auch nutzen würde, um zu bekommen, was mir zusteht.“ Er neigte kaum merklich den Kopf, wobei er die gesamte Zeit an Cygnus vorbei sah. Dem anderen Black schenkte er keine Aufmerksamkeit. „Ich vermute, ich will einfach nicht, dass die Menschen vergessen, wer ich wirklich bin.“
„Ich bin mir sicher, dass das nicht der Fall sein wird“, sagte Walburga.
Voldemorts dünne Lippen verzogen sich zu einem Lächeln, das Walburga das Mark gefrieren ließ. „Oh, dessen bin ich mir ebenfalls sicher, Mrs. Black. Dessen bin ich mir mehr als sicher. Der Name Slytherin wird nicht erneut in Vergessenheit geraten, dafür werde ich höchstpersönlich sorgen.“
Für einen unangenehmen, viel zu langen Moment blieb es still im Saal. Der Atem steckte Walburga in der Kehle fest und sie wagte es nicht, den Blick von Voldemorts dunklen Augen zu wenden, nicht aus Angst, er würde sie verfluchen, sondern aus dem einfachen Grund, dass sie sich keine Blöße zeigen würde. Sie war das Oberhaupt der Familie Black, sie war es, die die Fäden zog, in ihrer Hand lag die Magie, um eine neue Generation heranwachsen zu lassen. Die Achtundzwanzig unterschätzten sie oftmals, weil sie eine Frau war, weil sie einen mächtigen Zauberer zum Mann hatte, aber sie würde denselben Fehler nicht erneut machen, den sie oft tat: Sie würde nicht kleinbeigeben und sich erneut auf eine Ebene drücken lassen, auf die sie nicht gehörte.
„Mein Lord.“ Die hastige Stimme Bellatrix´ unterbrach die Stille, wodurch sie Voldemort dazu veranlasste, seinen Blick als erstes abzuwenden.
Walburga erlaubte sich, zu atmen, als sein dunkler Blick ihren verlassen hatte, bevor sie ebenfalls zu ihrer Nichte sah, die sich über ihren Platz beugte, sodass einige ihrer dicken Locken auf ihren Teller fielen.
„Mein Lord“, wiederholte sie, „bitte, ich muss fragen: Was sind Eure Pläne, um der Zaubererwelt endlich die Augen zu öffnen?“ Bellatrix bleckte die Zähne, als sie den Mann sich gegenüber mit hungrigen Augen betrachtete. „Sicherlich können wir nicht zulassen, dass Schlammblüter weiterhin unsere Magie stehlen, nicht wahr?“
Bellatrix´ Mutter packte nach ihrem Arm und zog sie zurück. „Verzeiht ihr, mein Lord“, sagte Druella hastig. „Meine Tochter weiß nicht, wann sie am besten den Mund halten soll.“
Voldemort allerdings schien sich nicht daran zu stören. Einer seiner äußerst scharfen Augenbrauen war in die Höhe gewandert, wodurch sie eine deutliche Kohärenz zu seinem gepflegten, einschüchternden Aussehen bildete. Einer seiner Mundwinkel zuckte kurzzeitig, bevor er sagte: „Ich habe nicht vor, den Schlammblütern weiterhin Zugriff auf unsere Magie zu gewähren. Sie werden dafür bestraft werden, dass sie es gewagt haben, von uns zu stehlen, unsere magischen Positionen eingenommen haben und uns aus unseren eigenen Heimen vertrieben haben, keine Sorge. Aber“, fügte er an, wodurch er Bella dazu veranlasste, erneut vorzurutschen, „ich habe nicht vor, sie alle zu beseitigen.“
„Mein Lord?“ Abraxas betrachtete Voldemort mit einem irritierten Ausdruck auf dem Gesicht, wodurch die feine silberne Narbe an seinem Mund hervorstach. „Ich fürchte, ich verstehe nicht.“
„Natürlich“, erwiderte Voldemort kühl lächelnd, „verzeiht, manchmal vergesse ich, dass nicht jeder wie ich denkt.“
Als hätte Voldemort ihn mit einem Stupor belegt, starrte Abraxas den Mann neben sich an, die Augen zusammengekniffen, der Mund zu einer solch feinen Linie gepresst, dass er fast durchsichtig wirkte. Walburga konnte sich nicht daran erinnern, wann jemand Abraxas das letzte Mal so eine Retoure gegeben hatte. Sie musste zugeben, sie war beeindruckt.
„Eine Welt in der nur die reinsten der Familie leben und nur die reinste der Magie regiert, wäre eine kleine Welt“, fuhr Voldemort ungehindert fort, der entweder nicht mitbekommen hatte, was er Abraxas damit gesagt hatte, oder der sich dem Effekt seiner Worte sehr wohl bewusst war. „Wir sind mächtig, keine Frage, aber wir sind wenige. Und, selbstverständlich könnt ihr dagegen sein, aber ich denke, es sollte auch dabei bleiben. Wir sollten unser reines Blut nicht mit jedem teilen, nicht zu viel Macht verteilen, damit sie nicht gegen uns verwendet werden kann. Doch braucht nicht jede gute Welt, die von den Mächtigen regiert wird, ein Fußvolk? Brauchen wir nicht alle jemanden, der die Arbeit für uns erledigt? Braucht Euer schönes Anwesen nicht Bedienstete, die das Essen zubereiten?“ Voldemort lächelte Abraxas zu, als würde er ihm ein Kompliment für das kaum angerührte Mahl machen wollen, dass mittlerweile erkaltet auf seinem Teller lag. „Schlammblüter und Muggel einerlei könnten sich auch ohne Magie noch als nützlich erweisen, nicht wahr? Sie können putzen und kochen, waschen und pflegen, damit wir uns in der Zukunft auf das konzentrieren, was wirklich wichtig ist, nicht wahr, Abraxas?“
Zum zweiten Mal in kurzer Zeit blickte Abraxas drein, als hätte man ihn verflucht. „Sehr wohl, mein Lord. Das ist sehr weise“, brachte er hastig heraus.
„Nicht doch“, erwiderte Voldemort mit sanfter Stimme. „Es ist ein einfaches Vorausdenken. Ein Instinkt, möchte ich fast sagen.“
Bellatrix, törichte, naive Bellatrix, konnte sich nicht daran hindern und schnaubte belustigt.
Anstatt den Zorn der Männer auf sich zu ziehen, anstatt das Voldemort ihr einen tödlichen Blick zuwarf, wandte er ihr in einer langsamen Bewegung den Kopf zu, nickte ihr zu und sagte: „Ich hoffe, ich konnte Ihre Neugier stillen, junge Frau.“
„Oh, absolut, mein Lord“, antwortete Bellatrix enthusiastisch. „Und, nur damit es klar ist, ich stimme voll und ganz zu. Schlammblüter müssen wissen, wo ihr Platz in der Welt ist, und ich kann es kaum erwarten, bis die zeit gekommen ist, in der wir handeln.“
„Ein wenig Geduld muss noch gepflegt werden, befürchte ich“, sagte Voldemort. „Aber wenn der Tag dann endlich eintrifft, dann werde ich sicherstellen, dann Ihr an meiner Seite stehen werdet.“ Er neigte ihr den Kopf zu.
Walburga war sich sicher, dass ihre Nichte errötete, bevor sie sich von ihrer Mutter erneut zurückziehen ließ. Sie wusste nicht, ob sie der Verwegenheit ihrer Nichte zustimmen konnte, so erschien Voldemort bisher doch eher wie jemand, der sehr gut seine Worte nutzen konnte, der wusste, wie man eine mächtige Ausstrahlung nutzte, um die Massen zu bewegen, aber sie würde erst dann von seiner Qualität und seinen Plänen überzeugt sein, wenn sie sie ausgeführt sehen würde. Sie hatte schon oft gesehen, wie darüber geredet wurde, dass etwas gegen die wachsende Population der Schlammblüter unternommen werden musste und doch war es immer nur eins gewesen: Leere Worte bei sich leerenden Gläsern.
Wenn es eines gab, dass sie in den letzten Jahren als Matriarchin des Hauses Blacks gelernt hatte, dann, dass sie nicht jedem dahergelaufenen Reinblüter folgen würden, der einen revolutionären Plan an den Tag legte. Die Familie Black war alt und edel und sie würde nicht zulassen, dass sie nicht mehr als Fußsoldaten für jemanden waren, der von sich behauptete, Salazar Slytherins Erbe in sich zu tragen. Blacks waren nicht zum Folgen geboren.
Blacks waren Anführer.
„Ah“, sagte Voldemort. „Ich habe doch vergessen, meine liebe Freundin Nagini zu uns zu rufen, damit sie uns bei diesem köstlichen Mahl beiwohnen kann. Ihr habt doch sicher nichts dagegen, nicht wahr?“ Voldemort wartete nicht, ob jemand tatsächlich etwas dagegen haben oder ob jemand tatsächlich den Mumm haben würde, es auch auszusprechen. Er sprach weiter – oder zumindest erschien es so. Obwohl er die Lippen bewegte und obwohl Geräusche seinen Mund verließen, war Walburga sich nicht sicher, welcher Sprache sie angehörten. Es waren zusammenhangslose Laute und Zischen, heiseres Raspeln und noch mehr Zischen, bevor er den Mund schloss und abwartete. Ob er die wilden Blicke der Anwesenden bemerkte oder sich einfach nicht dafür interessierte, konnte Walburga nicht sagen.
„Soll ich vielleicht –“, fing Abraxas nach einem Augenblick der Stille vorsichtig an, unterbrach sich jedoch genauso schnell wieder, als ein dumpfes, schleifendes Geräusch ertönte.
Voldemort setzte ein kaum erkennbares Lächeln auf; im Schein des Kerzenlichts der hoch hängenden Kronleuchtern sah es für einen Moment so aus, als würde er Walburga einen kalkulierten Blick zuwerfen, doch einen Wimpernschlag später waren seine Augen wieder auf die Türen gerichtet, durch die auch er getreten war.
Am Ende des Tisches, nahe der Wand, ertönte ein leises, panisches Quieken, dann schrie ein bulliger Mann auf, erhob sich so rasant, dass sein Stuhl nach hinten fiel und zückte seinen Zauberstab.
Voldemort schnalzte leise mit der Zunge. „Na, na, kein Grund zur Panik, meine Freunde. Nagini ist nicht hier, um jemandem von euch etwas anzutun. Nagini ist ein Gast.“
Gerade als Walburga sich fragte, ob vielleicht jemand in einem Unsichtbarkeitsumhang eingetreten war, spürte sie etwas eisiges und schweres über ihren Schuh gleiten, der sie dazu veranlasste, ebenfalls nach hinten zu rücken. Ihr Atem verging sich in der Brust, als sie noch einen letzten Blick auf einen baumstammdicken Körper werfen konnte, der unter dem Tisch entlangglitt, bevor ein spitz zulaufender Schwanz ihren Knöchel streifte.
Nur einen Augenblick später erhob sich eine mannshohe Schlange neben Voldemort, die zu Schlitzen verengten Augen auf den Braten auf dem Tisch gerichtet. Ihre Zunge glitt hervor, spaltete lautlos die Luft, ehe sie wieder verschwand. Voldemort hob in einer fast schon lässigen Bewegung die Hand, um der riesigen Schlange den Kopf zu tätscheln. „Ich hoffe doch, es ist okay, dass ich meine liebe Nagini mitgebracht habe. Sie ist schnell einsam, müsst ihr wissen. Abraxas, wenn Ihr gestattet?“
Abraxas schien seine eigene Zunge verschluckt zu haben.
Voldemort lächelte, als er beobachtete, wie die Schlange sich vorbeugte, den Kiefer aushakte und den restlichen Braten mit einem Mal verschlang.
Walburgas Herz klopfte ihr bis den Kehlkopf und wenn sie es nicht mit den eigenen Augen sehen würde, wenn sie es nicht mit den eigenen Oren gehört hätte, dann würde sie nun glauben, Voldemort würde ihnen allen einen Streich spielen. Sie krallte ihre Hand in die Tischdecke, riss mit ihren spitzen Nägeln ein Loch in den Stoff und ließ den Blick nicht von der massiven Schlange, die Voldemorts Ruf gefolgt war.
Und da erkannte sie es.
Da erkannte sie, was er getan hatte.
Voldemort hatte mit der Schlange gesprochen.
Er war – er musste ein Parselmund sein.
Als würde er eine Eule streicheln, als würde Voldemort mit den Fingern durch das sanfte Fell einer zutraulichen Katze fahren, strich er behutsam über die schuppige schwarz-grüne Haut der Schlange, die sich auf Tischplattenhöhe neben ihm befand und noch damit beschäftigt war, den Braten zu verspeisen. „Was für eine wunderbare Möglichkeit, für die herzliche Einladung zu bedanken“, sagte er mit sanftem Unterton. „Nagini und ich fühlen uns sehr geehrt, dass Ihr uns dabei haben wollt.“
Walburga schluckte den dicken Kloß hinunter, der sich in ihrer Kehle bildete. Sie versuchte nicht daran zu denken, dass nur wenige Fuß von ihr entfernt eine massive Schlange lag, die sie mit einem Mal verschlingen könnte und sie versuchte noch weniger daran zu denken, dass Voldemort die Schlange dann beschworen hatte, als sie gedacht hatte, dass sie nicht wusste, ob sie glauben sollte, was er behauptete.
War es Zufall? Oder hatte Voldemort in ihren Kopf geblickt und den richtigen Moment abgewartet?
Was es war, war nicht weiter wichtig. Wichtig war, dass es ein Beweis für Voldemorts Behauptung war. Auch wenn niemand offen einen Zweifel bekundet hatte, so hatte Voldemort direkt jedwede Bedenken mit einer einzigen Handlung ertränkt. Er hatte die Sprache der Schlangen genutzt, eine Fähigkeit, die Salazar Slytherin an jene vererbt hat, die seinem Blute entsprachen, eine Fähigkeit, die selbst unter den Blacks seit Jahrhunderten nicht mehr aufgetaucht war.
Es bestärkte, was Voldemort bereits offenbart und was in der Luft gelegen hatte.
Ein Krieg stand bevor.
Voldemort war der Anführer,
und alle Reinblüter, auch die Blacks, würden seine Fußsoldaten sein.
Chapter 28: 28. Jahr 2: Nächtliches Streunern
Chapter Text
„Ich hab das Gefühl, wir brechen gerade jede Schulregel, die jemals aufgestellt wurde“, sagte James aufgeregt klingend.
„Mach dir nicht gleich ins Nachthemd, du Kleinkrimineller“, entgegnete Sirius augenrollend. „Solange nachts im Schloss herumgeistern nicht zu Vandalismus, schwarzer Magie und dem Mitbringen von als gefährlich eingestuften magischen Wesen gehört, haben wir noch ein paar Regeln vor uns.“
„Ich bin überrascht, dass du überhaupt so viele Regeln kennst“, meinte Remus im Flüsterton hinter ihm.
Sirius drehte sich grinsend um. „Das hab ich meinem guten Kumpel Filch zu verdanken. Wenn er mich nicht die Schulregeln hätte abschreiben lassen, dann wüsste ich immer noch nicht, dass man keine Dungbomben in die Kerker werfen dürfte.“
„Weil dich das ja auch davon abhält“, murmelte Peter.
„Selbstverständlich tut es das nicht, Pete, ich bin ein gefährlicher und wahnsinnig gerissener Zauberer“, antwortete Sirius, bevor er sich wieder nach vorne drehte. „Aber solange Filch jetzt glaubt, ich hätte aus meinen Fehlern gelernt …“
„Wenn wir doch nur so glücklich wären“, sagte Remus leise, aber Sirius ignorierte ihn.
Das Schloss war kalt und ausgestorben. Außer der Fetten Dame, die sie bei ihrem nächtlichen Ausbruch geweckt hatten, hatten sie bisher niemanden gesehen, der sie hätte verpfeifen können. Um ihre Zeit auch sinnvoll nutzen zu können, hatten sich die vier Rumtreiber ein weiteres Mal aufgemacht, um die Hallen und Gänge von Hogwarts des Nachts zu untersuchen, bewaffnet mit Pergament und Federkiel, damit sie auch all ihre Entdeckungen aufschreiben konnten.
Sirius konnte es kaum erwarten. Seine Hände zitterten und er konnte sich kaum ruhig halten; es juckte ihn überall, dass er endlich einen geheimen Raum oder Gang finden würde, mit denen sie es den Slytherins heimzahlen konnte, die beim letzten Quidditchspiel Ravenclaw so sehr in den Boden gestampft hatten, dass sie nun an erster Stelle der Punktetabelle standen. Gryffindor musste nun die nächsten beiden Spiele haushoch gewinnen, damit sie überhaupt noch eine Chance auf den Quidditch-Pokal hatten und Sirius war sich sicher, dass James es sich selbst vorwerfen würde, wenn sie es nicht schaffen würden. Der Junge war viel zu besessen von Quidditch, als dass es gut für ihn wäre.
In der Dunkelheit der Nacht, war es aufregender und atemberaubender denn je, durch die lichtlosen Korridore zu schleichen, vorsichtig in die Entfernung zu spähen, ob dort eine leuchtende Zauberstabspitze brannte oder nach Schritten zu lauschen, die im Echo ihres eigenen Atems untergehen würden. Sirius war aufgeregt wie noch nie, noch aufgeregter, als er letztes Jahr beim ersten Halloween-Fest war. Er war sich sicher, dass sie diese Nacht fündig werden und damit das Schloss noch besser kennenlernen würden.
Er konnte es in seinem Blut spüren, in der Art, wie sein Puls gegen seine Haut drückte.
Sicher spürte James es auch, der mit eiligen Schritten vor ihnen lief und den Weg sicherte. Er hatte den Zauberstab in der einen und den Federkiel in der anderen Hand, während er ein hastig zusammengefaltetes Stück Pergament in die Tasche seines Umhangs gestopft hatte. Immer, wenn sie um eine Ecke gehen musste, ließ er sie alle anhalten, bevor er als erstes vorsichtig um die Wand spähte, damit sie nicht in einen Vertrauensschüler oder Mrs. Norris liefen, die, in Sirius´ Meinung, unnötigerweise nachts die Korridore patrouillierten.
„Vorsicht“, zischte James, ehe sie alle in ihren Schritten stockten. „Ich hab was gehört.“
Sirius spitze die Ohren, konnte aber nichts, außer ihrem eigenen Atem vernehmen. „Ich hör nic-“, weiter kam er nicht, denn eine Hand drückte ihm den Mund zu.
„Psst“, murrte Remus in sein Ohr, der ihm die Hand auf den Mund gelegt hatte. „Ich höre es auch. Schritte.“
Ein unverständliches Brummen entkam Sirius´ Kehle, als er erwidern wollte, dass er immer noch nichts gehört hatte, aber Remus ließ ihn mit einem Blick verstummen.
„Werwolf-Gehör“, sagte der Junge, bevor er ein rasches Grinsen zeigte. „Die Schritte sind unter uns.“
„Praktisch“, hauchte James beeindruckt klingend. „Aber ich hab sie auf dieser Ebene gehört. Sie kommen auf uns zu.“
„Mist“, murmelte Peter, bevor er an Remus´ Umhang zog. „Da!“ Mit dem ausgestreckten Arm deutete er auf das Ende des Gangs, aus dem sie gerade gekommen waren. Hinter der Decke, kaum zu sehen im Mondlicht, wanderte ein schmaler, gelblicher Fleck über den Boden, der mit jeder verstrichenen Sekunde größer wurde.
„Verdammt“, brummte James.
Sirius wischte Remus´ Hand endlich von seinen Mund. „Da rein“, sagte er leise.
„Zu auffällig“, erwiderte James kopfschüttelnd, als er Sirius´ Blick zum Klassenzimmer gefolgt war. „Wenn das ein Vertrauensschüler ist, gucken die da doch sofort nach.“
„Moment“, Remus zückte seinen Zauberstab, bevor er damit auf die Tür des Klassenzimmers zeigte. „Rein, schnell.“
„Hast du nicht gehört, was ich –“, fing James an, wurde aber von Remus unterbrochen.
„Rein da“, zischte er in einer Weise, die keine Widerworte zuließ.
James ließ die Schultern sinken, bevor er sich seinem Schicksal ergab und in den Klassenraum lief. „Wenn wir erwischt werden, dann schieb ich die Schuld auf dich, Lupin“, flüsterte er, als Remus hinter ihm die Tür schloss.
„Schon klar“, murmelte Remus. „Sieh zu und lerne, Potter.“ Den Stab richtete er auf die gerade geschlossene Tür, dann sagte er: „Duro!“ Ein kaum erkennbares gräuliches Licht verließ Remus´ Zauberstab, traf auf die Tür und – bewirkte augenscheinlich rein gar nichts.
„Ich bin beeindruckt“, sagte Sirius trocken.
„Klappe“, entgegnete Remus. „Wenn ihr in Zauberkunst aufgepasst hättet, dann wüsstet ihr, was dieser Zauber tut.“
„Ich habe bessere Dinge zu, als Flitwick zuzuhören“, meinte Sirius. „Außerdem kann der Zauber nicht so großartig sein, wenn –“, er verstummte, als eine Stimme vor der Tür zu hören war.
„Was zum – Alohomora.“
Sirius hielt den Atem an und drückte sich von der Tür weg, während Remus gänzlich gelassen wirkte. Er warf ihm einen irritierten Blick zu, doch sein Klassenkamerad grinste nur.
„Warum geht diese Tür nicht auf?“, ertönte die genervte Stimme eines Vertrauensschülers auf der anderen Seite. „Alohomora!“ Stille. Nur ihr Atem in der Luft. Dann: „Oh. Verstehe.“ Der Schüler auf dem Gang ließ einen tiefen Seufzer von sich, bevor sie hören konnten, wie er weiterlief. Das Echo seiner Schritte verklang so schnell, wie es gekommen war.
„Wie hast du das gemacht?“, hauchte Peter beeindruckt, der sich zur Tür vorgeschlichen hatte. Er rüttelte am Türgriff, doch nichts bewegte. „Die bewegt sich ja kein Stück!“
Remus lächelte selbstgefällig, was Sirius dazu veranlasste, zu schnauben. „Finite“, sagte der Junge mit dem Zauberstab auf die Tür gerichtet. „Ein Versteinerungs-Zauber“, erkläre er dann. „Den hat Flitwick in der letzten Stunde kurz erwähnt und ich hab mich dann ein wenig schlau gemacht. Ziemlich praktisch, um Gegenstände wie Stein wirken zu lassen und Vertrauensschüler im Glauben zu lassen, sie wäre gerade auf eine Trick-Tür reingefallen.“
„Genial“, sagte James, der Remus auf die Schulter klopfte. „Es tut mir leid, dass ich jemals an dir gezweifelt habe, mein Freund.“
„Vergeben und vergessen.“
„Es ist also doch praktisch, ab und an im Unterricht aufzupassen“, erwiderte Sirius, bevor er Remus gegen die Schulter boxte. „Aber solange ich dich habe, muss ich mich nicht selbst dazu zwingen, nicht wahr?“
Remus warf ihm einen missbilligenden Blick zu. „Vielleicht helfe ich dir nächstes Mal einfach nicht mehr bei deinem Aufsatz, wenn du ihn wieder bis zur letzten Minute aufgeschoben hast“, meinte er achselzuckend.
„Ah, aber wer würde dann für dich die Zaubertrankhausaufgaben lösen?“, fragte Sirius neckend und sah sich bereits als Gewinner der Unterhaltung, als Remus´ Lippen sich zu einem diebischen Grinsen formten.
„James würde mir helfen“, sagte er süßlich. „Und Lily natürlich.“
Sirius spürte, wie seine Wangen heiß wurden. „Verräter“, murmelte er in James´ Richtung, der so dreinschaute, als hätte er keine Ahnung, was überhaupt passiert wäre.
Die Rumtreiber verließen auf Zehenspitzen das Klassenzimmer, wobei sie darauf achteten, die Tür nicht allzu laut in die Angeln fallen zu lassen. James ging erneut an der Spitze und, an der Ecke, winkte er sie freudig weiter. „Freie Fahrt“, sagte er.
„Freie Fahrt?“, erwiderte Sirius zweifelnd. „Was soll das denn bedeuten?“
„Ein Muggelspruch“, meinte James grinsend. „Hab ich bei Evans aufgeschnappt.“
Sirius verdrehte die Augen, aber sagte nichts. Was auch immer James und Evans´ Beziehung zur Zeit war, manchmal war Sirius sich sicher, dass er es gar nicht wissen wollte. Entweder die beiden unterhielten sich höflich auf dem Weg zum Klassenzimmer miteinander, als wären sie allerbestens Bekannte, die sich zufällig begegneten, oder sie schrien einander über den halben Gemeinschaftsraum an, sodass Frank drohen musste, ihnen beiden Nachsitzen aufzubrummen. Es gab kein dazwischen bei diesen beiden. Sirius wurde nicht schlau aus James und Evans. Hoffentlich musste er das auch nie.
Der Weg vom vierten in den dritten Stock war ereignislos. Eine Rüstung, die am Ende der Treppe lauthals gequietscht hatte, hätte Remus fast vor Schreck die Stufen runterfallen lassen, hätte James ihn nicht am Kragen gepackt und einmal war sich Sirius sicher, dass er den geisterhaften Schleier der Grauen Dame gesehen hatte, die durch die Wand verschwunden war, ansonsten waren sie erneut vollkommen allein.
„Sind die Schritte noch zu hören?“, fragte James leise. „Die, die du oben gehört hast?“
Remus, der erst die Stirn gerunzelt hatte, hielt jetzt inne und lauschte. Für Sirius war es totenstill, aber dann wiederum hatte er auch kein Wolfgehör. „Schritte nicht mehr“, sagte Remus langsam. „Dafür … ich bin nicht sicher, was es ist, aber jemand ist auf jeden Fall auf dem Gang. Ich glaube, hinter der Ecke.“
„Sollen wir uns das ansehen?“, flüsterte Sirius.
„Was, wenn es schon wieder ein Vertrauensschüler ist?“, erwiderte Peter leise.
„Wenn wir runter in die Kerker wollen, dann müsse wir da aber lang“, meinte James. „Ansonsten war die ganze Aktion nutzlos.“
„Warum müssen wir in die Kerker?“
„Um Geheimgänge zu finden, damit wir es den Schlangen heimzahlen können. Duh.“
„Nein, ich meinte, warum müssen wir heute unbedingt in die Kerker? Das Schloss hat mehr Etagen, weißt du. Wir können auch einfach diese Ebene durchsuchen“, entgegnete Peter.
James blickte ihn für einen Moment an, als hätte er den Verstand verloren, dann hellte sich seine gesamte Miene auf. „Ha! Genialer Einfall, Pete.“
Peter betrachtete ihn mit einem unbeeindruckten Gesicht. „Sag mir nicht, dass du nicht selbst darauf gekommen bist, James.“ Kaum merklich schüttelte er den Kopf. „Und alle sagen, du wärst der Schlaue …“
„Hey, ich bin schlau!“, meinte James beleidigt klingend.
„Klar, Kumpel, aber Pete hat Recht“, erwiderte Sirius und klopfte seinem besten Freund auf die Schulter. „Das war schon echt dumm.“
„Leise“, zischte Remus sie plötzlich an. „Ihr verratet uns noch, wenn ihr weiter so –“
„Ich hab euch schon längst gehört“, ertönte eine leicht nasal klingende Mädchenstimme. Sie kam von hinter der Ecke. „Was machst du schon wieder so spät aus dem Bett, Sirius?“
Sirius war sich nicht sicher, ob er es sich einbildete, aber die Stimme … die Art, wie sie sprach und die leicht hochgestochene Weise, die Wörter zu ziehen, die kam ihm sehr bekannt vor. Er runzelte die Stirn und fragte: „Zissy?“
„Nutz nicht diesen schrecklichen Namen, Sirius“, erwiderte seine Cousine, bevor sie tatsächlich um die Ecke kam, einen langen Mantel um die Beine schlagend, die hellblonden Haare unordentlich zusammengebunden, sodass sie wie ein dicker Knoten auf ihrer Schulter lagen. Schatten lagen unter ihren Augen, die selbst im wenigen Mondlicht gräulich-weiß glänzten. „Was macht ihr hier?“
„Was machst du hier?“, stellte Sirius die Gegenfrage. „Es ist mitten in der Nacht.“
„Wirklich? Das wäre mir gar nicht aufgefallen“, sagte sie gestochen scharf. Sie warf einen kühlen Blick auf Sirius und seine Freunde, die sich hinter ihm aufhielten. „Geht zurück in euren Schlafsaal oder ich verpfeife euch an Filch.“
„Wo warst du?“
Narzissa verengte die Augenbrauen, bevor sie einige Schritte vor ihnen stehenblieb. „Wer sagt, dass ich irgendwo war? Ich konnte nicht schlafen, also bin ich –“
„Durch den Matsch gelaufen?“, unterbrach Sirius sie und deutete mit dem Finger auf ihre Stiefel, die unter dem Mantel hervorlugten und in der Tat matschige Abdrücke auf dem Stein hinterlassen hatten.
Ihre Miene verhärtete sich noch mehr. „Ist es verboten, draußen einen Spaziergang zu machen?“, fragte sie mit eisiger Kälte in der Stimme. „Oder dürfen das nur freche kleine Zweitklässler machen, die denken, die ganze Schule wäre ihr Spielplatz?“
Mit der Antwort hatte Sirius nicht gerechnet. Er öffnete den Mund, aber wusste nicht, was er sagen sollte, also schloss er ihn wieder.
Narzissa presste die Lippen zusammen. „Dachte ich mir. Jetzt zurück mit euch, oder –“
„Zissa, du hast deinen Schal vergessen! Zissa? Wo bist du hin?“ Eine weitere Stimme ertönte hinter der Ecke, dazu Schritte, die eilig näher kamen.
„Wie viele Leute können bitte in einer Nacht im Schloss herumwandern?“, murmelte James hinter Sirius, als Narzissa sich zu der Stimme umgedreht hatte.
„Verschwindet!“, zischte die ältere Slytherin sie an. „Verschwindet sofort!“
Sirius runzelte die Stirn. „Wieso?“ Er wollte wissen, mit wem seine Cousine sich nachts traf, dass er es nicht herausfinden durfte. Der Stimme nach zu urteilen war es wahrscheinlich keine heimliche Affäre, auch wenn er es ihr gönnen würde. Zumindest so viel konnte er zugeben, auch wenn Narzissa nicht unbedingt seine Lieblingscousine war, so hatte er mehr Sympathie für sie übrig als für ihren schleimigen Ehemann Lucius.
Narzissa wandte ihnen den Kopf zu, bevor sie in einer schnellen Bewegung ihren Zauberstab zückte und auf sie richtete. Es war so schnell geschehen, dass Sirius kaum mitbekommen hatte, was passiert war, allerdings hatte ihn jemand sofort an der Schulter zurückgezogen, bevor er Remus´ Stimme nah seines Ohres vernommen hatte. „Das würde ich mir zweimal überlegen“, sagte Remus. Sein warmer Atem schickte einen Schauer Sirius´ Rücken hinab.
„Du kleiner –“, fing sie an, unterbrach sich aber. „Verschwindet einfach und wir vergessen alle, dass wir uns gesehen haben, kapiert?“
Die andere Stimme rief erneut: „Zissa?“, in die Stille und Sirius fragte sich sogleich, wer denn so dumm sein könnte, mitten in der Nacht lauthals durchs Schloss zu rufen. Wollte diese Person denn gefunden werden?
„Wer ist das?“, fragte James.
„Das geht dich nichts an“, erwiderte Narzissa leise. „Haut ab.“
Selbst wenn sie jetzt noch Narzissas Privatsphäre respektieren wollten, war es bereits zu spät, um sich umzudrehen und den gesamten Gang zurückzulaufen. Nur einen Augenblick später stolperte ein Mädchen mit kurzen braunen Haaren um die Ecke, die einen breiten, schwarzen Wollschal in der Hand hielt und mit ihrem glänzenden Vertrauensschülerabzeichen alle Augen auf sich zog. Die roten Streifen auf der Krawatte waren nur das letzte Indiz dafür, dass Narzissa alles getan hätte, um nicht mit ihr gesehen zu werden.
„Alice?“, fragten Sirius und James zugleich, die Münder offen hängend, während sie Gryffindors-Vertrauensschülerin beobachteten, die sich an der Wand festgehalten hatte, um nicht wegzurutschen.
„Oh.“
„Was zum – was machst du hier? Und seit wann nennst du meine Cousine bitte Zissa?“, verlangte Sirius zu wissen, wobei er prompt vergaß, dass Alice die einzige von ihnen war, die die Erlaubnis dazu hatte, nachts in den Schlossgängen zu sein.
Er rechnete es Alice hoch an, dass sie nicht rot wurde oder nach einer Entschuldigung japste.
Alice hob eine Augenbraue an, ehe sie Narzissa den Schal überreichte. „Ich wusste nicht, dass es verboten ist, Freunde außerhalb der Häuser zu haben, Sirius“, entgegnete Alice kühl klingend. „Zumal es mir nicht entgangen ist, dass ihr euch erneut außerhalb der Speerstunde in den Gängen aufhaltet. Möchtest du dich dazu auch äußern, Sirius?“
Sirius spürte, wie ihm das Blut aus dem Gesicht lief. „Ähm.“
Ein schmales Lächeln erschien auf ihren Lippen. „Das dachte ich mir fast.“
„Ich versteh immer noch nichts“, sagte James. „Warum triffst du dich mit einer Slytherin?“ Das letzte Wort sagte er besonders leise, als würde James hoffen, Narzissa würde ihn nicht hören, obwohl sie kaum drei Schritte von ihnen entfernt stand.
Narzissa warf James einen giftigen Blick zu. „Genau wegen solcher Bemerkungen“, zischte sie. „Ich bin keine bösartige Schlange, weißt du?“
James hatte immerhin den Anstand, nicht rot zu werden, als er angefeindet wurde, auch wenn es seiner Aussage nicht unbedingt half, dass er halbherzig die Arme verschränkte und den Blick von Narzissa mied. „Du bist aber auch nicht unbedingt nett und freundlich“, erwiderte er murmelnd.
Sirius war sich fast sicher, dass James noch immer schlecht auf Narzissa zu sprechen war, weil sie ihn in seinem ersten Jahr gewarnt hatte, dass er sich seine Familie zum Feind machen würde, sollte er in Gryffindor bleiben. Für Sirius selbst war es klar gewesen, dass Narzissa auf ihre eigene Art und Weise auf ihn aufpassen wollte, während James lediglich das gereckte Kinn und die blondierten Haare gesehen und sich direkt ein Bild gemacht hatte. Sirius seufzte. „Lass gut sein, Potter“, murrte er.
„Ich fürchte, ich verstehe immer noch nicht, wieso ihr euch heimlich in der Nacht trefft“, sagte Remus vorsichtig, wofür er einen weiteren feindlichen Blick von Narzissa erntete.
„Leute in Hogwarts reden“, erwiderte Alice achselzuckend. „Wenn irgendjemand sehen würde, wie wir uns freundlich miteinander unterhalten, dann würden direkt die falschen Ideen entstehen und es wäre dann nur eine Frage der Zeit, bis unsere Familien davon Wind bekommen. Es ist besser für uns beide, wenn wir unsere Freundschaft geheim halten.“
Narzissa schnaubte. „Fortescue glaubt, dass sie mich beschützen würde, wenn wir es geheim halten“, sagte sie. „Sie glaubt, ich wäre den Feindlichkeiten der anderen Häuser nicht gewachsen.“
„Das habe ich nie gesagt“, erwiderte Alice und verdrehte die Augen. „Aber du weißt selbst, dass ich Recht habe, wenn ich nicht will, dass man uns in der Öffentlichkeit sieht. Alle würden sofort den falschen Eindruck bekommen und schon haben wir die ganze Zaubergemeinschaft am Hals, nur weil wir uns nicht gegenseitig verabscheuen.“
„Wie auch immer“, meinte Narzissa, bevor sie sich ihren Schal um den Hals wickelte, wodurch sie plötzlich kleiner und unsicherer wirkte, als sie zuvor war. „Ich werde jetzt zurück in meinen Schlafsaal kehren und hoffentlich niemandem mehr in die Arme laufen. Alice“, sagte sie, nickte der Gryffindor-Vertrauensschülerin zu, „wir sehen uns morgen. Sirius, hör auf nachts rumzulaufen, sonst schreibe ich Tante Walburga.“ Ohne ein weiteres Wort des Abschieds drehte Narzissa sich auf der Stelle um und ließ die Gryffindors zurück.
Als ihre Schritte nicht mehr zu hören waren, verschränkte Alice die Arme vor der Brust. „Es ist nicht sehr einfach für sie, fürchte ich“, sagte sie leise. „Du müsstest eigentlich am besten wissen, dass Zissa in ihrer Familie oftmals leidet, oder?“
Sirius presste die Lippen zusammen. „Falls ja, dann weiß sie es besser zu verstecken“, erwiderte er. „Zissy würde lieber sterben, als sich mit Blutsverräterin abzugeben. Nichts für ungut, Alice.“
Alice betrachtete Sirius einen Augenblick lang, ehe sie den Kopf schüttelte. „Ich schätze, du kennst sie doch nicht so gut, wie ich dachte. Egal.“ Sie drückte den Rücken etwas fester durch, wodurch ihr Vertrauensschülerabzeichen im Mondlicht glänzte. Hinter Sirius trat James ungeduldig auf der Stelle umher. „Eigentlich müsste ich euch jetzt Nachsitzen aufbrummen und Punkte abziehen.“
„Aber?“, fragte James, als Alice nicht weiterredete.
„Aber“, fuhr sie langsam fort, ein seltsames Ziehen in der Stimme, als müsste sie sich selbst zwingen, weiterzureden.
Sirius hatte eine Ahnung, was jetzt kommen würde.
„Es ist Zissa wichtig, dass niemand weiß, dass sie und ich Freunde sind.“ Alice´ Lippen zogen sich nach unten, als sie eine Grimasse aufsetzte. „Es ist nicht meine Idee gewesen, aber ich respektiere es und ich hoffe, dass ihr das auch tun werdet.“
„Aber du bist doch reinblütig“, sagte Peter, der so klang, als hätte ihm diese Bemerkung schon seit Alice´ Erscheinen auf der Zunge gelegen. „Wieso müsst ihr euch dann verstecken?“
Alice lächelte, wobei es nicht nach einem glücklichen Lächeln aussah. „Für Narzissas Familie bin ich nicht reinblütig genug“, sagte sie. „Und jetzt ab in die Betten, na los, sonst muss ich mir das doch noch anders überlegen. Los, ich begleite euch.“
Unter den wachsamen Augen der Vertrauensschülerin, wanderten Sirius, James, Remus und Peter die Stufen hinauf in den siebten Stock, durch das Portrait der Fetten Dame und bis zur Tür ihres Schlafsaals. Als Alice sich sicher war, dass sie auch wirklich in ihren Betten lagen, verschloss sie die Tür hinter sich und alles, was sie von ihr noch hören konnten, waren ihre sanften Schritte auf der Treppe, die hinauf in die anderen Schlafsäle führte.
„Habt ihr das verstanden?“, fragte Peter in die Stille. Lediglich Montys Schnarchen, der sich nicht dadurch beirren ließ, dass geredet wurde, füllte die Luft.
„Nicht unbedingt“, erwiderte James.
„Es ist eigentlich traurig“, meinte Sirius, der an die Decke seines Himmelbetts starrte. Die samtroten Vorhänge sahen in der Dunkelheit wie Blut aus. „Narzissa ist jetzt mit so einem schleimigen Kerl namens Lucius verheiratet.“
„Verheiratet?“, entgegnete Peter ungläubig. „Aber sie ist doch noch nicht mal mit der Schule fertig!“
„Das macht nichts, Pete“, sagte Sirius leise, der die Erinnerung daran noch immer vor Augen hatte. Narzissa in ihrem lavendelfarbenen Kleid, den hochgesteckten, aufwendig frisierten Haaren und einem brillanten Lächeln, dass den ganzen Saal geblendet hatte, wie sie von ihrem Vater Cygnus an Abraxas gegeben wurde, der ihre Hand wiederum in die von Lucius gelegt hatte. Es war ein seltsames Event gewesen, fand er im Nachhinein, voller Leute, die Sirius nicht kannte, mit Hexen und Zauberern, die aussahen, als wären sie das erste Mal auf so einem förmlichen Fest gewesen. Manche von denen hatten schmutzige Schuhe und Dreck auf das teure Marmor gebracht. Er war sich sicher, dass sie nicht Narzissas Gäste gewesen waren. „Als Black hast du keine wirkliche Wahl, wen oder wann du heiratest. Meine andere Cousine, Bellatrix, wurde auch in ihrem siebten Jahr verlobt und direkt nach der Schule verheiratet, Narzissas Hochzeit wurde an Weihnachten vollzogen. Wenn Andy – also, ich meine Andromeda – nicht abgehauen wäre, dann hätte man sie letztes Jahr auch schon verheiratet.“
„Verrückt“, murmelte Peter müde klingend.
„Ist es“, sagte Sirius.
„Das ist bei Reinblütern immer so schon Brauch gewesen“, erwiderte James nachdenklich klingend. „Wobei viele sich in den letzten Jahren dagegen gewehrt haben. Meine Eltern haben lange gewartet, bevor sie geheiratet haben.“
Sirius zuckte mit den Schultern, auch wenn es niemand sehen konnte. „Wie auch immer, weil Narzissa jetzt Teil der Malfoys ist, liegt ein ziemlicher Druck auf ihr, dass sie die Familie weiterhin am Leben hält.“ Er presste die Lippen zusammen. „Die Malfoys sind ziemlich mächtig“, fügte er an. „Wenn ihnen etwas an Narzissas Leben nicht gefallen würde, dann würden sie es ändern lassen, egal, was es kosten würde. Ich bin mir sicher, dass sie nicht davor zurückschrecken würde, ihr eine ungern gesehen Freundschaft zu zerstören.“
„Aber was können sie schon tun?“, ertönte da Remus´ leise Stimme in die Nacht. Als Sirius seinen Kopf in dessen Richtung drehte, sah er das Glänzen in Remus´ Augen, die das Mondlicht reflektierten. „Für mich scheint es so, als würde Narzissa alle Regeln befolgen, die sie zu befolgen hat. Warum darf sie dann nicht mit Alice befreundet sein?“
„Aus dem gleichen Grund, wieso meine Mum mich dafür verflucht, dass ich mich James befreundet bin“, antwortete Sirius. „Blut. Status. Das ist alles, worum sich diese Familien wirklich kehren, da ist es egal, ob du glücklich oder nicht bist. Es ist ein offenes Geheimnis, dass Alice´ Familie ziemlich gut auf Muggel zu sprechen sind und auch unter ihnen leben und nichts dagegen haben, wenn ein Muggel in ihre Familie heiratet. Für ein paar Familien ist das nicht gerade gern gesehen.“
James schnalzte ungeduldig mit der Zunge. „Was kompletter Schwachsinn ist.“
„Natürlich ist es das“, stimmte Sirius ihm zu, dessen Lider langsam schwer wurden.
„Ich meine, niemand, der noch ganz klar denkt, würde denken, Muggelgeborene wären irgendwie schlechter als Reinblüter. Nichts für ungut, aber ich bin mir ziemlich sicher, dass Evans uns alle in Grund und Boden hexen würde, wenn wir sie lange genug nerven. Wir hätten nicht die geringste Chance gegen sie.“
„Soweit würde ich nicht gehen“, meinte Sirius belustigt. „Du versagst vielleicht, aber ich –“
„Du auf jeden Fall“, unterbrach Remus ihn schnaubend. „Lily könnte dich in einen Kakadu verwandeln, bevor du überhaupt den Zauberstab gezückt hast.“
„Oi!“
„Er hat schon Recht“, entgegnete Peter lachend.
„Tolle Freunde seid ihr.“
„Ehrlichkeit währt eben am längsten, Black.“ Remus´ Stimme verklang und zurück blieb nur Montys leises Schnarchen. „Es ist …“, er stockte und Sirius hörte, wie Remus rasch Luft holte, „es ist ziemlich beunruhigend. Die ganze Blut-Sache. Ich kann manchmal nicht ganz glauben, dass es echt ist, dass es wirklich Familien gibt, die diesen ganzen Unsinn glauben und mit eiserner Hand durchführen. Ich meine, es wäre eine Sache, wenn sie es still und leise für sich machen würden, aber ihre Abneigung gegenüber alle, die kein reines Blut haben, geht soweit, dass sie bereits mehrfach versucht haben, den Zaubergamot davon zu überzeugen, eine stärkere Regulierung durchzuführen. Wenn man diesen Leuten erlauben würde, zu tun, was sie wollen, dann würden Muggelgeborenen bald genauso behandelt werden wie Werwölfe oder Riesen.“
„Schwachsinn“, entgegnete James leise. „Das würde niemals passieren, Remus.“
„Woher willst du das wissen? Du bist ein Reinblut, du hattest dein ganzes Leben lang keine Probleme, irgendwas zu bekommen, aber ich wusste bis vor ein paar Jahren nicht einmal, ob mir überhaupt eine Ausbildung gestattet werden würde.“ Remus´ Stimme war lauter geworden als zuvor. Hitziger, aufgeregter.
In der Dunkelheit konnte Sirius gerade so die Umrisse von Remus´ Gesicht ausmachen, wie er an die Decke starrte. Eine seiner Hände war so fest in seine Decke gekrallt, dass weite Falten sich über den Stoff zogen.
„Wenn das Zaubergamot Leute wie Abraxas Malfoy machen lassen würde, dann würde es bald ein Gesetz geben, dass Muggelgeborenen verbietet, nach Hogwarts zu kommen“, fügte er ärgerlich klingend an.
Sirius würde nur zu gerne durch die Nacht tapsen und Remus´ Hand halten, damit der andere Junge sich beruhigen würde. Es war nur allzu gegenwärtig, dass ihn die ganze Sache doch mehr beschäftigte, als Sirius angenommen hatte. „James hat Recht“, sagte Sirius und versuchte so überzeugt wie möglich zu klingen. „Das würden die Leute nicht zulassen. Es gibt zwar genug Typen wie die Malfoys“, meinte er, „aber auch genügend Zauberer und Hexen, die sich dagegenstellen würden.“
„Und wenn es wirklich drauf ankommen würde, dann würden wir diese reinblütigen Arschlöcher schon besiegen“, fügte James an. „Glaub mir Remus, niemand wird zulassen, dass so eine Ungerechtigkeit durchgehen würde.“
Es folgte keine Antwort. In der Dunkelheit konnte Sirius nicht erkennen, ob Remus´ Augen noch geöffnet waren, aber da er zumindest Peters brummendes Schnarchen kurz darauf vernahm, kam er zum Schluss, dass seine Mitbewohner wohl ebenfalls alle bereits schliefen. Sirius drehte sich auf die Seite, schloss die Augen und nahm einen entspannten Atemzug.
Es dauerte nur wenige Minuten, bis Sirius endgültig in den Schlaf driftete, auch wenn er sich sicher war, dass er, bevor er wirklich eingeschlafen war, noch eine Stimme gehört hatte, die sich verdächtig nach Remus anhörte, der in sein Kissen murmelte: „Sie wird doch längst zugelassen, James.“
***
In den nächsten Tagen suchte Sirius nach Anzeichen, dass er sich die ganze Sache nicht eingebildet hatte. Er betrachtete Alice, wenn sie am Frühstück neben Frank saß, er hielt nach seiner Cousine Ausschau, die mit gerecktem Kinn ihre Bücher trug, er versuchte sogar seinen eigenen Unterricht zu schwänzen, damit er die älteren Schüler während ihrer Freistunden beobachten konnte, allerdings hielt Remus ihn davon ab.
„Lass sie“, hatte er nur gesagt. „Du hast doch gesehen, dass es gute Gründe gibt, wieso sie es geheim halten, oder nicht? Ich finde, zumindest das sollten wir respektieren.“ Am Ärmel hatte Remus ihn dann mit zum Zaubertrankunterricht gezogen.
Auch wenn Sirius auf ihn hören wollte, fiel es ihm schwer, sich aus den Angelegenheiten anderer rauszuhalten, besonders dann, wenn er mit ihnen verwandt war. Da er sicherlich Narzissa nicht selbst fragen konnte, was die ganze Sache denn nun wirklich bedeutete, überlegte er, ob er Andromeda einen Brief schreiben und sie fragen sollte, ob sie etwas davon wusste. Sirius musste sich allerdings nur Remus´ enttäuschtes Gesicht vorstellen, um sich selbst davon abzuhalten, sich weiter in die Angelegenheit zu graben. Um seine Gedanken von Narzissa, Alice und dieser ungleichen Freundschaft zu entfernen, tat er etwas, für das James ihm fast die Füße geküsst hätte: Er trainierte vor dem letzten Spiel der Saison mit ihm, damit er es im nächsten Jahr ins Team schaffen konnte.
In der Luft war es einfach, nicht mehr daran zu denken, dass seine regelkonforme Cousine sich nachts rausschlich, um sich mit einer Gryffindor-Schülerin zu treffen und zu tratschen. Wenn er nicht von James vom Besen gestoßen werden wollte, dann musste er sich auf den Quaffel fokussieren, der immer wieder zwischen ihm und den Torstangen hin und her geworfen wurde.
Während James immer wieder versuchte, ein Tor gegen ihn zu erzielen, musste Sirius sich eingestehen, dass er seinen besten Freund ziemlich unterschätzt hatte – das, oder er war einfach nur ein miserable Hüter. Jeder zweite Versuch endete damit, dass Sirius dem Quaffel hinterherstürzen musste, während James lauthals jubelte. Es dauerte nicht lange, bis Sirius vollkommen schweißgebadet und außer Atem war.
„Ich brauch ´ne Auszeit“, keuchte er.
„Merlin, du bist total außer Form“, meinte James, als er mit ihm zu den Tribünen flog. „Du solltest dich meinem morgendlichen Training mal anschließen.“
Sirius schnaubte, bevor er einen ganze Flasche mit Wasser leerte. Nach Atem ringend erwiderte er: „Eher werfe ich mich vom Astronomieturm. Nicht jeder ist so ein Freak wie du, Potter.“
James zuckte mit den Schulter. „Ich halte eben etwas davon, mich fit zu halten.“
„Du bist besessen, das bist du“, entgegnete Sirius, der sich neben James wie der unsportlichste Typ der Welt hielt. Während er seinen eigenen beißenden Schweißgeruch in der Nase hatte, hatte James lediglich ein paar glänzende Tropfen auf der Stirn, die er sich mit dem Ärmel abwischte. „Außerdem glaub ich nicht, dass ich ´n guter Hüter wäre.“
„Ne, wahrscheinlich nicht.“ James grinste. „Das war echt ´ne miese Vorstellung. Aber immerhin musst du nicht als Hüter vorspielen, dafür haben wir ja Monty. Du kannst es als Jäger versuchen, komm, wir tauschen Plätze.“
Bevor Sirius hätte protestieren können, hatte James sich bereits von der Tribüne geworfen und sich kurz vor einer schmerzhaften Bekanntschaft mit dem Boden auf seinen Besen geworfen. Grinsend flog der bebrillte Junge zu den Torstangen. Schnaubend folgte Sirius ihm, den Quaffel unter einen Arm geklemmt. Selbst wenn die beiden allein waren, konnte James es manchmal nicht lassen, als zeigen zu müssen, was er konnte.
Und so ging es weiter: Sirius versuchte Tore zu erzielen, während es für James so aussah, als müsste er sich bei den meisten Versuchen nicht einmal anstrengen, um sie aufzuhalten. James driftete um die drei Ringe herum, während Sirius zu Atem kommen musste. Der Wind zog eisig über ihre Haut, während Sirius sich die klitschnassen Haare aus der Stirn wischen musste.
Wenn es nach James gegangen wäre, dann hätten sie sicherlich noch Stunden weitertrainiert, aber Sirius, der langsam das Gefühl, die Kontrolle über seine Gesäßmuskeln zu verlieren, musste sich wieder auf festen Boden stellen, oder würde in den nächsten Minuten seitlich vom Besen rutschen. Es fühlte sich an, als wären seine Beine über und über mit Blasen bedeckt und seine Finger waren mittlerweile taub vom vielen Quaffel werfen und fangen.
„Das mit dem Team“, keuchte er, als er sich das schweißgetränkte Trikot vom Kopf zog, „überlege ich mir aber noch mal ganz genau.“
James grinste ihn an. Er hatte die Brille zwischen den Fingern, damit er sich mit einem Handtuch übers Gesicht wischen konnte. „Du musst nur ein wenig in Form kommen, mehr nicht. Bei den meisten Versuchen hast du ja sogar die richtige Technik drauf, aber du wirst ungenauer, je frustrierter du wirst.“
Sirius schnaubte, bevor er die Schuhe von den Füßen trat. Sie landeten mit dumpfen Geräuschen auf dem Boden. „Danke für die Kritik, Potter.“
„Sei nicht eingeschnappt, Sirius“, meinte James, ehe er ihm auf die Schulter klopfte, auch wenn Sirius sich nicht sicher war, ob er die Berührung auch spürte.
Sein ganzer Körper war ein einziger Muskelkater.
„Wenn du es schaffen solltest, in den Sommerferien nochmal zu mir zu kommen, dann kann ich mit dir trainieren, damit du auf jeden Fall ins Team kommst.“ James´ Lippen zogen sich erneut nach oben, wodurch er seine glänzenden Zähne zeigte. „Vorausgesetzt natürlich, du kannst bis dahin wieder laufen.“
„Sei froh, dass ich meine Beine grad nicht spüren kann, sonst würde ich dir das dämliche Grinsen aus dem Gesicht wischen.“
„Ha! Das will ich sehen.“
„Pass nur auf –“, Sirius tat einen raschen Schritt nach vorne und wollte nach James´ Schulter greifen, doch sein bester Freund wich ihm geschickt aus.
„Da musst du aber früher aufstehen, Sirius. Mein Angebot steht. Schließ dich gerne meinem Training morgen früh an, dann – hey!“
Während James geredet und gelacht hatte, hatte Sirius seinen Zauberstab unbeachtet aus der Halterung an seinem Arm gezogen und war drauf und dran gewesen, James einen Kitzelfluch aufzuhalsen, wenn ihm der Stab nicht aus den feuchten Fingern gerutscht wäre. „Verdammt“, fluchte er, als das dünne Holz über den Boden rollte und bei seinen muffigen Schuhen liegen blieb.
„Netter Versuch“, meinte James lachend, setzte sich die Brille wieder auf und hob Sirius´ Zauberstab auf. Er reichte ihm ihn. „Ich meine es auch nicht böse, oder so, Sirius, weißt du, ich –“
„Merlin, ich weiß“, unterbrach Sirius ihn brummend, bevor er die Augen verdrehte. „Kümmer dich nicht um mich, Potter.“
James schüttelte den Kopf. „Wenn das doch nur so einfach wäre. Man kann dich ja nicht aus den Augen lassen, ohne dass du wieder etwas anstellst – ohne mich, auch noch. Da muss ich ja fast glauben, du würdest mich nicht mehr lieb haben.“
Sirius ignorierte das Stechen in seiner Brust, als er zu schnell eingeatmet hatte und erwiderte: „Dich werde ich doch eh nicht mehr los. Du bist anhänglicher als Kreacher, wenn es darum geht, meiner Mutter den Tee zu servieren.“
„Widerliche Vorstellung“, meinte James, ehe er sich ein Handtuch über die Schulter warf. „Na los, Duschen. Danach gibt’s Mittag. Du brauchst genügend Proteine, wenn du eine Chance aufs Team haben willst.“
Murrend folgte Sirius James in die Duschräume. „Hoffentlich rutsch ich aus und brech mir ein Bein“, murmelte er, als das Wasser ansprang und James ihn nicht mehr hören konnte.
***
Zwei Wochen später fanden sich Sirius und seine Kumpanen erneut in einem stockfinsteren Gang wider. Sie hatten versucht, sich an Alice´ Warnung zu halten und nicht in der Nacht durchs Schloss zu laufen, aber der Ruf der Freiheit war einfach zu mächtig gewesen, als dass sie es hätten ignorieren können. Selbst Remus, der nach einer weiteren Werwolfsverwandlung noch immer ein wenig blass um die Nase war, hatte es nicht abwarten können, bis sie wieder ein paar Regeln brechen würden. Wahrscheinlich würde Madam Pomfrey ihn mit einem Klebezauber ans Bett fesseln, wenn sie wüsste, dass er sich nicht an ihre verschriebene Bettruhe hielt.
Diese Nacht hatten sie wesentlich mehr Glück: Keine Vertrauensschüler liefen ihnen über den Weg und mussten mit falschen Türen abgelenkt werden und auch von Narzissa und Alice war keine Spur. Das Schloss war ruhig, der Mond war kaum zu sehen und eine geheimnisvolle Atmosphäre lag über den stillen Gängen, in denen lediglich vier Zweitklässler ihr Unwesen trieben.
Sie befanden sich an derselben Stelle, an der sie letztes Mal in Narzissa gelaufen waren, als Remus plötzlich innehielt. „Wartet“, sagte er leise.
„Was ist? Vertrauensschüler?“ James hatte sofort seinen Stab gezückt und ihn willkürlich in eine Richtung gehalten, als würde er erwarten, jeden Moment von einem Bataillon von Schülern attackiert zu werden.
Sirius verdrehte die Augen.
„Nein, ich – bin nicht sicher“, erwiderte Remus langsam. „Ich höre etwas, aber keine Schritte.“
„Stimmen?“, fragte Peter.
„Nein, eher ein – ein Zischen, glaube ich.“
„Zischen?“, meinte Sirius. „Bist du sicher, dass Pete nicht wieder einen fahren lassen hat?“
„Hab ich überhaupt nicht!“, entgegnete Peter, dessen Gesicht puterrot angelaufen war.
Sirius lachte, bevor er sich selbst stoppte, um sie nicht zu verraten. „War nur ein Witz, Pete, beruhige dich.“
Peter murmelte etwas Unverständliches.
„Ich weiß ja nicht, Remus“, sagte James, ehe er seinen Stab wieder sinken ließ. „Ich höre nichts.“
„Wer hat hier das Wolfsgehör?“
„Okay, schon gut, tut mir leid. Aber – bist du sicher? Hörst du es immer noch?“
Remus kniff die Augen zusammen und lauschte. Seine Stirn lag in tiefen Falten, die ihn wesentlich älter als zwölf aussehen ließen. „Nein“, murmelte er schließlich. „Vielleicht hab ich es mir wirklich eingebildet.“
Vorsichtig klopfte Sirius ihm auf die Schulter. „Sicher, dass du nicht immer noch müde bist?“
„Sicher“, erwiderte Remus brummend und schüttelte seine Hand ab. „Mir geht’s bestens, danke.“
James fing Sirius´ zweifelnden Blick auf, aber sagte nichts. Sie waren es mittlerweile alle gewohnt, dass Remus manchmal Dinge sagte, die er nicht so meinte, wenn die Verwandlung an ihm nagte, ob davor oder danach war dabei egal.
„Lasst uns weitergehen“, murmelte Peter, der das Ende des Ganges im Visier hatte. „Es ist mir nicht so geheuer, wenn wir zu lange an einer Stelle bleiben.“
„Guter Vorschlag“, sagte James, verstaute seinen Stab wieder in der Tasche und ging dann weiter, Peter auf den Fersen.
Sirius folgte ihm, blieb dann stehen und drehte sich um, als Remus keine Anzeichen machte, ihnen zu folgen. „Remus?“
„Mir geht’s wirklich gut“, erwiderte der andere Junge. „Ich – ich bilde mir nichts ein.“
„Das wissen wir“, sagte Sirius mit sanfter Stimme, ehe er einen Schritt auf ihn zuging. „Okay? Wir wissen das doch, Rem.“
Remus verzog das Gesicht zu einer Grimasse. „Rem?“
„Auch nicht gut?“, fragte Sirius grinsend. „Komm schon, Remu hat dir nicht gefallen und Rem auch nicht? Noch mehr Buchstaben kann ich nicht wegnehmen, Re.“
„Du kannst auch einfach meinen Namen nutzen, Sirius. Siehst du? Ganz einfach. Sirius. Nicht Siri.“
„Gegen Sir hätte ich aber nichts einzuwenden“, meinte er mit einer hochgezogenen Augenbraue, die Remus dazu veranlasste, mit den Augen zu rollen.
„Keine Spitznamen“, sagte er. „Und jetzt weiter, bevor James uns zurücklässt.“
„Ich finde schon noch einen Namen für dich, Rem.“
„Aus“, erwiderte Remus mit scharfer Stimme, in der aber das versteckte Grinsen deutlich zu hören war.
„Ich bin doch kein Hund.“
„Aber vielleicht muss ich dich wie einen trainieren, wenn du nicht hören willst.“
„Wow okay, ich wusste nicht, dass es dir so wichtig ist. Rem. Gut, keinen Spitznamen mehr. Bis mir ein besserer einfällt, natürlich.“
„Du bist wirklich unverbesserlich, Sirius.“
„Das höre ich oft.“
„Ja, von mir“, brummte Remus lachend.
Die beiden schlossen zu ihren anderen Freunden auf, die an der Treppe in den dritten Stock auf sie gewartet hatten. James fragte nicht, warum sie so lange gebraucht hatten, was Sirius ihm sehr hoch anrechnete, Peter allerdings warf fragenden Blicke zwischen ihnen hin und her, auf die er keine Antwort erhielt. Sirius zuckte mit den Schultern; Remus schüttelte kaum merklich den Kopf.
„Na schön, habt eben Geheimnisse vor uns“, murrte er.
„Oh Pete“, erwiderte Sirius.
„Lass gut sein“, meinte James grinsend. „Wir haben ein Schloss zu erkunden!“
James´ Enthusiasmus konnte man nicht bremsen, egal, wie sehr man es auch versuchen würde. Sobald sich der Junge ein Ziel gesetzt hatte, würde er unerträglich darauf hinarbeiten, ob es für andere – meistens Sirius – nervenraubend war oder nicht. Es erinnerte ihn an den Anfang des Jahres zurück, als James nicht einmal schlafen wollte, um für die Auswahlspiele zu trainieren oder als er stundenlang Bücher für ihren Halloweenstreich gewälzt hatte. Manchmal war sich Sirius nicht sicher, ob nicht doch zwei Versionen von James existierten, die sich einfach nur abwechselten, andernfalls konnte er sich manchmal nicht erklären, wie eine Person sich so sehr auf eine Sache konzentrieren konnte ohne durchzudrehen.
Im dritten Stock passierten sie eine weit offen stehende Klassenzimmertür, aus der geisterhaftes Wehklagen zu hören war (ein Blick hinein hatte Sirius offenbart, dass die Graue Dame wehmütig aus dem Fenster gestarrt und geseufzt hatte, bevor er sich schnellstmöglich zurückgezogen hatte, um nicht entdeckt zu werden), ehe sie an einer ganzen Reihe an schlafenden Portraits vorbeischlichen, damit sie keinen der Insassen aus Versehen wecken würden. Die Fette Dame verriet zwar niemanden, der nachts durch ihr Portrait schlich, aber Sirius hatte beobachtet, wie der Hausmeister Filch manchmal die gemalten Figuren in den Bildern befragte, ob sie in der Nacht davor jemanden gesehen hatten. Keine Ehre hatten diese Leute, dachte er, als sie am Bild eines schnarchenden Zauberers vorbeihuschten, dessen Hut über seine Augen gerutscht war.
Das einzige Mal, dass es knapp wurde, erwischt zu werden, war, als sie in den Gang einbiegen wollte, der zur Großen Treppe führte und beinahe Peeves in die Arme gelaufen wären, der durch die Wände huschte, Wandteppiche zusammenknotete und Helme von Rüstungen falsch herum setzte, während er gehässig gackerte.
„Mist“, murmelte James über Peeves Lachen hinweg. „Was jetzt? Remus?“
„Was? Was guckst du mich an?“, fragte der Angesprochene.
„Du hast auch den Vertrauensschüler ausgetrickst, da sollte so ein oller Poltergeist doch kein Problem für dich sein, oder?“
Remus schnaubte. „Gegen Geister wirken die meisten Zauber nicht“, sagte er leise. „Was du wissen würdest, wenn du bei Flitwick aufgepasst hättest.“
„Wann hat er das bitte erwähnt?“
„In der letzten Stunde, aber du warst zu beschäftigt, Pergamentschnipsel in Lilys Haare zu werfen“, meinte Remus anklagend.
„Oh. Ja, kann sein“, meinte James grinsend. „Ich wollte nur testen, wann sie es merkt und ehe ich mich versah, hatte ich fast das ganze Pergament aufgebraucht.“
„Wie auch immer, ich hab keine Ahnung, was man für einen - “
Sirius unterbrach Remus mit einer erhobenen Hand. „Du denkst viel zu kompliziert“, sagte er. „Peeves ist einfältig, da brauchst du keinen Zauber für. Hier, pass auf.“ Sirius legte seine Hände vor den Mund, sodass sie einen Trichter bildeten, dann ließ er seine Stimme tiefer und kratziger klingen, als sie es normalerweise war, auch wenn dadurch sein Rachen kitzelte und sagte dann: „Peeves, was treibst du hier?“
Der Effekt blieb nicht aus. Als hätte man den Poltergeist am Hosenbund gezogen, schrie er kleinlich, mit hoher Stimme auf. „Mi-Mi-Mister Blutiger Baron, Sir!“
„Du störst meine Geschäfte, Peeves“, brummte Sirius, sodass seine Stimme laut zu vernehmen war. „Verschwinde und lass dich heute Nacht nicht mehr in der Nähe blicken!“
Peeves schrie erneut auf. „Selbstverständlich, Mister Blutiger Baron, Sir, es tut mir so unendlich leid! Ich werde sofort das Weite suchen und euch nicht mehr behelligen, Sir, Mister Blutiger Baron, Sir. Tut mir so leid!“ Mit einem Geräusch, als hätte man die Luft aus einem Ballon gelassen, sauste Peeves durch die Luft, bevor er in einer Wand verschwand und nichts, als Stille und umgedrehte Helme zurückließ.
„Cool“, hauchte Peter. „Seit wann kannst du das bitte?“
„Seit eben gerade“, gab Sirius schulterzuckend zu.
James hob eine Augenbraue. „Einfach aber wirksam. Nicht schlecht.“
„Was ist?“, fragte Sirius an Remus gewandt, der ihn mit zusammengezogenen Brauen betrachtete. „Hat dir meine Imitation nicht gefallen?“
„Oh, doch, sehr beeindruckend, nur … wenn ich ehrlich bin, dann hätte ich dir sowas nicht zugetraut“, erwiderte Remus, ehe er entschuldigend lächelte. „Du scheinst mir manchmal eher der Typ zu sein, der alles mit Magie lösen will.“
Sirius zuckte mit den Schultern. „Ich hab gelernt, dass es auch magielose Lösungen geben kann. Hab ich mir von Evans und Macdonald abgeguckt.“
„Das solltest du ihnen lieber nicht sagen, sonst unterstellen sie dir noch, dass du dir als Reinblüter die Kultur der Muggel aneignest.“
„Soweit würde ich auch nicht gehen“, meinte Sirius. „Ich bleibe lieber bei meiner Magie, anstatt anfangen zu müssen, irgendwelche Autos zu nutzen oder so. Wobei … Motorräder sind schon cool.“ Remus, James und Peter starrten ihn an, als hätte er gerade schreckliche Neuigkeiten verkündet. Sirius runzelte die Stirn. „Was ist?“
„Woher weißt du bitte, was ein Motorrad ist?“, fragte Remus im gleichen Moment, wie James fragte: „Was bitte ist ein Motorrad?“
„Oh“, er lachte schallend auf, bevor er sich schnell eine Hand auf den Mund drückte. Mit leiserer Stimme fuhr er fort: „Mary hat mir ein Magazin gezeigt, das sie von zuhause mitgebracht hat und da war ein Kerl mit einem Motorrad zu sehen, den sie gut fand. Sie hat mir dann erklärt, was das ist.“
„Und was ist das bitte?“, fragte James erneut, mehr als verwirrt klingend.
„Ein Fahrzeug“, erklärte Remus. „Wie ein Besen, irgendwie, nur mit Rädern und es kann nicht fliegen.“
James zog die Augenbrauen zusammen. „Warum würde man sowas haben wollen?“
„Weil Muggel nicht einfach so fliegen können, James“, meinte Remus geduldig klingend, wobei er kaum merklich die Augen verdrehte. „Was mich zurück bringt: Wozu brauchst du ein Motorrad?“
Sirius zuckte mit den Schultern. „Sie sehen cool aus, oder?“
Remus sagte nichts, sondern schüttelte lediglich den Kopf. „Wir sollten dann mal weiter, nicht wahr? Bevor noch ein Poltergeist auftaucht und Sirius seine Stimmkünste zeigen muss.“
„Gibs zu, es hat dir gefallen, Lupin“, grinste Sirius ihn an, was Remus kaum mehr als ein Schnauben entlockte, auch wenn Sirius sich sicher war, dass der andere Junge sein Lächeln verborgen hatte.
Bevor sie jedoch die Große Treppe nach unten nehmen konnten, hielt Remus ein weiteres Mal inne, den Blick nach hinten geworfen, als hätte er erneut etwas gehört. „Habt ihr –“
„Wahrscheinlich nicht“, meinte James. „Was war denn?“
„Ich weiß nicht recht“, erwiderte Remus langsam. „Es klang ähnlich wie ein Heulen.“
„Ein Heulen? Hat sich irgendein Erstklässler verlaufen?“, fragte Peter.
„Nicht so eins“, sagte Remus rasch. „Eher wie – wie Wind.“
Sirius lauschte angestrengt, aber konnte beim besten Willen nichts hören, was annährend mit dem übereinstimmte, was Remus gemeint hatte zu hören. Er legte die Stirn in Falten und sagte leise: „Weißt du, von wo es kam?“
„Hm.“ Der andere Junge schloss die Augen und reckte das Kinn ein wenig die Höhe, auch wenn Sirius sich nicht sicher war, wie das beim Hören helfen würde. Remus blieb für ein paar Augenblicke still, dann drehte er sich von der Treppe weg. Mit vorsichtigen, blinden Schritten folgte er dem ausgestorbenen Gang, blieb ab und zu stehen und lauschte in die Stille, bevor er weiterlief.
Sirius und die anderen blieben dicht hinter ihn, bereit, Remus abzuhalten, falls er in eine Mauer oder Rüstung laufen wollte. Mit jedem Schritt hielt er die Luft an, um keine Geräusche zu verursachen, die Remus bei der Suche ablenken würden, er versuchte seine Schuhe so sanft wie möglich auf den Stein treffen zu lassen, wie er nur konnte, auch wenn er selbst die Schritte nicht hörte. Sirius glaubte Remus, wenn er sagte, dass er etwas hörte, dass sie anderen nicht hören konnten.
Für ein paar lange Momente folgten sie dem steinernen Gang zurück, bis Remus schließlich stehen blieb und die Augen öffnete. „Hier ist es am lautesten.“ Er drehte den Kopf, bis er ins Antlitz einer einäugigen Hexenstatue blickte, die sich so sehr krümmte, dass sich ihr Gesicht fast auf Remus´ Augenhöhe befand. Er zog die Brauen zusammen.
„Hier?“, fragte Peter zweifelnd klingend. „Bist du – ich meine, bist du sicher? Es sieht nämlich nicht danach aus, als wäre hier etwas außer einer hässlichen Alten.“
James schnalzte kopfschüttelnd mit der Zunge. „Peter, Peter, Peter. Wie kannst du nur so blind sein? Genau das wollen die doch, dass du siehst.“
„Wer sind die?“, erwiderte Peter, aber James überging ihn.
„Wenn ich es genau betrachte, dann wäre das wirklich das perfekte Versteck für etwas, nicht wahr? Das hässliche Gesicht soll davon ablenken, dass mehr dahinter steckt, als auf den ersten Blick sichtbar ist und wahrscheinlich wurde darauf gewettet, dass keiner die Statue genauer untersuchen will, weil sie eben nicht sehr hübsch ist.“ James ging mit langsamen Schritten auf die bucklige Hexe zu. „Ziemlich genial.“
„Du wirst jetzt sehr dämlich aussehen, wenn da nichts ist, Potter“, meinte Sirius grinsend.
„Remus hat es doch gehört, oder nicht? Hier ist was und ich bin mir sicher, dass es stimmt, wenn Remus es gehört hat.“
Trotz der lichtschwachen Verhältnisse konnte Sirius erkennen, wie Remus etwas dunkler im Gesicht wurde. „Das war doch – ich meine, vielleicht hab ich es mir auch wieder nur eingebildet.“
„Unsinn“, sagte James. „Du bildest dir nichts ein. Du bist ein Rumtreiber“, fügte er an, als wäre das auch nur ansatzweise ein Indiz dafür, dass man sich nichts einbilden konnte. James Potters Logik durfte man meistens nicht zu sehr hinterfragen. „Also. Was sollen wir machen?“
„Vielleicht Revelio?“, überlegte Peter laut. „Flitwick hat gesagt, damit kann man Verborgenes sichtbar machen.“
„Gute Idee“, erwiderte James strahlend, auch wenn sein Lächeln einen Augenblick später in sich zusammenfiel. „Äh, weiß einer von euch, wie man den zaubert?“
„Nö“, erwiderte Sirius, zog aber dennoch seinen Zauberstab. „So schwer kann der aber nicht sein, oder? Revelio!“ Mit der Spitze seines Stabes deutete er auf die Buckelhexe, vollführte ein wagemutige Bewegung, in der Hoffnung, einen großen Bereich damit einzuspinnen und wartete, dass etwas passierte.
Ein paar goldgelbe Funken fielen von seinem Stab zu Boden.
„Beeindruckend“, sagte Peter trocken.
Sirius schnalzte mit der Zunge. „Wenigstens hab ich es versucht.“
„Ja, mit tollen Ergebnissen, wie ich sagen muss.“
„Oh, Klappe, Pettigrew.“
„Warte, ich glaube, es hat geklappt“, sagte James. „Da.“ Er deutete mit dem Finger auf den Boden, wie die Stabfunken verschwunden waren. Ein weißlicher Schimmer drang aus dem Stein, entlang einer Linie, die sich in die Fugen fraß, an der Wand entlangkletterte und schließlich im Buckel der Hexe verschwand. Die Linie war so schmal und kaum zu erkennen, dass Sirius sich nicht wunderte, dass er sie nicht gesehen hatte.
„Hm.“ Remus tat einen Schritt auf die Statue zu, ging um das gebeugte Gesicht herum, bis er am Buckel der Hexe stehen blieb. „Es könnte sein, dass Revelio kaum zu erkennen ist, weil es ein wenig benutztes Geheimnis ist. Peter hat Recht, dass Revelio Geheimnisse entlarvt, aber ich meine mich erinnern zu können, dass Flitwick gesagt hat, dass andere Magie den Zauber stören oder verfälschen kann und dass es schwierig ist, etwas zu entlarven, was kaum einer kennt. Wenn …“, er hielt inne, holte seinen eigenen Zauberstab hervor und drückte ihn auf die Stelle, an der die Revelio-Linie verschwunden war.
„Äh, Remus, willst du uns einweisen?“, fragte Sirius, als sein Mitbewohner mehrere Momente lang stumm dagestanden und nur auf den Stein gestarrt hatte.
„Hm?“ Remus blickte mit glasigem Blick auf. „Oh, tut mir leid. Ich hab nur gedacht – es gibt andere Zauber, um versteckte Dinge sichtbar zu machen und einer davon ist eigentlich gar nicht so schwierig, glaube ich.“
„Glaubst du“, wiederholte Peter.
„Ruhe“, murrte James, der wie gebannt auf Remus starrte. „Und? Kannst du den? Kannst du rausfinden, was hier versteckt ist?“
Remus zeigte seine Zähne beim Lächeln, ehe er den Zauberstab über den Kopf hob, auf den Buckel richtete und dann sagte: „Dissendium!“
Die Jungs schreckten zurück, als sich ein schmaler Gang inmitten der Statue öffnete. Staub rieselte von der neuen Öffnung und ein unheilvoller Glanz schien daraus zu kommen, als würde eine Fackel in einiger Entfernung versuchen die Dunkelheit zu erleuchten. Sirius ging einen Schritt näher. „Wahnsinn“, hauchte er.
Der Buckel der Hexe hatte sich soweit zur Seite geschoben, dass man sich in einen schmalen, nach unten führenden Gang ziehen konnte. Soweit Sirius es beurteilen konnte, sah es wie eine steinerne Rutsche aus. „Wahrscheinlich führt es in ein unteres Stockwerk“, meinte er. „Vielleicht ja sogar in die Kerker?“
„Es gibt nur einen Weg, das herauszufinden“, erwiderte James, der neben ihm aufgetaucht war. Mit Begeisterung hinter den Brillengläsern stierte er in den Gang. „Wer will zuerst?“
„Remus sollte als Erster“, sagte Peter rasch, der sich noch nicht ganz an den gefundenen Gang getraut hatte.
„Lieber nicht“, murrte er. „Ich überlass das euch.“
„Ah, was los, Remus? Hast du Angst, wir lassen dich im Stich?“, fragte James.
„Natürlich nicht“, erwiderte Remus. „Aber bei euch kann ich mir nicht sicher sein, ob ihr auch wirklich hinterherkommt oder einfach nur einen dämlichen Streich abzieht. Also – ihr dürft.“
Sirius grinste. „Schlau von dir, uns nicht zu trauen.“ Wenn er ehrlich war, hatte er schon überlegt, dass man so eine steinerne Rutsche bestimmt gut nutzen könnte, um alles möglich auf jemanden unterhalb fallen zu lassen – ein paar entfesselte Dungbomben waren ihm als erstes in den Sinn gekommen. Auch wenn er solch einen Streich natürlich niemals gegen Remus verwenden würde. Dafür war ihm die Freundschaft viel zu wichtig und er wusste, Remus würde es ihm mindestens hundertfach zurückzahlen. Bei James auf der anderen Seite…
„Sirius, warum gehst du nicht zuerst?“, sagte ebendieser. „Immerhin haben wir erst wegen dir angefangen, nach Geheimgängen zu suchen, da wäre es nur fair, oder?“ James grinste, aber Sirius konnte nicht sagen, ob aus Freundschaft oder lausigem Vorhaben.
„Also gut“, erwiderte er. Sirius steckte sich den Zauberstab sicher in die Umhangtasche, damit er ihn unterwegs nicht verlieren würde, dann hievte er sich mit James´ Hilfe in den neugeöffneten Geheimgang. Bevor er sich allerdings hineinfallen ließ, drehte er sich zu Peter. „Richtig, hey, Pete, schreib mal auf, wo der Gang ist, ja? Und wie man ihn öffnet. Dann vergessen wir nicht, wo wir – hey!“
Weiter kam er nicht, denn James hatte ihm einen kräftigen Stoß verpasst und Sirius geradewegs in den Buckel der alten Hexe geschickt. Viel Erfahrung im Rutschen hatte er nicht, allerdings war er sich sicher, dass die von den Muggeln nicht aus Stein waren und an seinem Umhang zerrten, als wollten sie den Stoff zerreißen. Mit den Händen versuchte er sich abzustützen, damit er nicht zu schnell ging und er winkelte die Knie an, falls er plötzlich ein Hindernis erreichen würde.
Die Fahrt dauerte nicht lange: Kaum hatten seine Augen sich an die schummrige Dunkelheit in dem Gang gewöhnt, kamen seine Füße auf festem Boden auf. Ein wenig presste es ihm die Luft aus den Lungen, als er zum Stehen kam, aber er fing sich rasch. Schmutz bedeckte seinen Umhang und die Hose, doch er wartete nicht lange, um sich zu säubern. „Lumos“, murmelte er und ein helles Licht erschien an der Spitze seines Stabes. Es reichte aus, damit er erkennen konnte, dass er sich in einem schmalen steinernen Gang befand, der kaum hoch genug war, damit er aufrecht stehen konnte.
Mit leicht gebeugtem Rücken (passend, wie er fand, wenn er daran dachte, wie er in den Gang gekommen war), sah er sich um, entdeckte aber nichts außer schmutzigen Steinen und Staub. Entweder dieser Weg war schon lange nicht mehr benutzt worden oder er war so alt, dass keiner ihn kannte. „Ihr könnt nachkommen!“, rief er die Rutsche hinauf. Seine Stimme hallte laut an den schmalen Wänden wider.
„Auf geht’s!“, erklang daraufhin die Stimme von James, bevor das Schleifen von Stoff auf Stein erklang und James ein paar Momente später in den Gang purzelte. „Au. Wo sind wir hier?“
„Gute Frage“, erwiderte Sirius, ehe er seinem Kumpel half, aufzustehen.
James´ Kopf streifte die Decke und er bückte sich ebenfalls. „Ganz schön eng“, murrte er. „Meinst du, die anderen sollten vielleicht –“
Seine Worte wurden von einem lauten Japsen verschluckt und nur einige Sekunden später plumpste Peter nicht gerade elegant die Rutsche hinunter und landete zu ihren Füßen.
„Wow, es ist echt mies hier unten“, sagte Peter, der sich nicht bücken musste, um die Decke nicht zu berühren. Die Spitzen seiner blonden Strähnen streiften ganz knapp den Stein über ihnen. „Kannst kommen, Remus!“
„Unterwegs“, hallte seine Stimme zurück, bevor auch er die steinerne Rutsche hinab kam. „Au, verdammt, hat diese Schule denn noch nie was von Sicherheit gehört?“, murrte er mit verzerrtem Gesicht, als er sich langsam erhob und seinen Rücken mit den Händen massierte.
James hatte gar nicht zugehört. „Krass“, sagte er. „Wo es hier wohl hinführt?“ Mit seinem eigenen entzündeten Zauberstab deutete er in den schmalen Gang, dessen Ende nicht sichtbar und von den Schatten verschlungen war.
„Nur ein Weg, es herauszufinden, oder?“, grinste Sirius ihn an.
„Ha, ganz genau!“ James´ Schulter streifte seine, als er sich an ihm vorbeidrückte und den ersten Schritt in den unbekannten Geheimgang tat. „Mir nach, Männer!“
Sirius ließ sich das nicht zweimal sagen.
Die erste Begeisterung, dass sie endlich ein Geheimnis im Schloss gefunden hatten, verflog recht schnell, als sie auch nach fast zwanzig Minuten vom gebückten Gehen nichts erreicht hatten. Sirius´ Rücken schmerzten und sein Gesicht war feucht und heiß. „Kein Wunder, dass es hier so staubig ist“, sagte er atemlos. „Niemand will diesen Gang freiwillig nutzen.“
„Stellt euch nicht so an“, erwiderte James, der nicht einmal so klang, als wäre er angestrengt, obwohl er fast auf allen Vieren ging. Verdammte Quidditch-Ausdauer. „Das ist doch aufregend, oder nicht?“
„Aufregend langweilig“, murrte Peter, der hinter Sirius keuchte. „Ich kann kaum noch atmen.“
„Das Problem hättest du nicht, wenn du mich zu meinen morgendlichen Runden begleiten würdest, Pete, aber du willst ja lieber ausschlafen.“
„Ja, nun, ich bin auch nicht so bescheuert und stehe jeden Tag um halb Sechs auf, um eine Runde um den verdammten See zu rennen“, entgegnete Peter.
„Sieh es ein, James, du bist nicht normal“, sagte Remus an hinterster Stelle. Sein Atem ging in schnellen Zügen und als Sirius einen raschen Blick über die Schulter wagte, sah er, dass auch Remus´ Gesicht vor Schweiß und Anstrengung blässlich glänzte. „Gott, aber ernsthaft, wie lang geht das noch?“
„Vielleicht sollten wir umkehren“, hörte Sirius sich sagen, obwohl es ihm nicht ähnlich sah, einem Abenteuer den Rücken zu kehren. Allerdings … Remus´ blasses Gesicht löste eine unerklärliche Sorge in ihm aus. Der Mond war kaum fünf Tage her.
„Niemals!“, empörte sich James.
„Bloß nicht“, keuchte Peter. „Dann wär ja alles umsonst.“
Remus´ leises Lachen hallte im Gang wieder. „Genau. Das gönne ich dem Schloss nicht.“
„Ha! Das ist eine gute Einstellung, Remus“, grinste James von vorne.
„Sicher?“, fragte Sirius.
„Ich kann schon ein paar Minuten mal laufen, Sirius, keine Sorge“, erwiderte Remus. „Los, weiter.“
Also liefen sie weiter, die Rücken gebückt, Schweiß auf der Stirn und nur Licht aus ihren Zauberstäben erhellte den Weg. Sirius fragte sich schon, ob sie nicht eigentlich im Kreis laufen würden und das Schloss sie in einem endlosen Gang gefangen hatte, als der Weg sich langsam aber sich erhöhte. Keuchen erfüllte die Luft. Mit gebeugten Körpern war es wesentlich schwieriger, einen ansteigenden Weg zu gehen, stellte Sirius kurzerhand selbst fest, als seine Beine anfingen zu brennen und er den Tag verfluchte, an dem dieses schreckliche Schloss gebaut wurde. Er hatte Geheimnisse gewollt, aber nicht solche, die ihn körperlich schädigten. Da konnte er auch Quidditch spielen gehen.
Es schien eine Ewigkeit bergauf zu gehen, erst ganz sacht, dann immer steiler, bis der Boden sich Treppenstufen verwandelten, die sie mit Schwierigkeiten erklommen, immer nur den Rücken ihres Vordermanns im Blick. Sirius fokussierte sich auf einen Punkt an James´ Rücken, während er seinen schmerzenden Beinen den Befahl gab, einfach nur zu laufen, zu laufen und ihn voranzubringen. Hoffnungsvoll tat er jeden Schritt. Nur noch eine Stufe, sagte er sich, dann gibt es ein kühles Glas Kürbissaft. Nur noch eine Stufe. Noch eine. Eine noch, dann wirklich. Eine –
Ein dumpfes Pochen ertönte vor ihm und einen Augenblick später sagte James: „Au, verdammt.“
„Was ist los?“, fragte Peter hinter Sirius, als auch er stehenblieb.
„Endstation“, murrte James, der sich den Kopf rieb, mit dem er gegen die Decke gestoßen war. Die Treppen, die sie brav gefolgt waren, vergingen in der Wand und ließen nichts, außer einem Gefühl von Sinnlosigkeit zurück.
„Was soll das denn?“, fragte Sirius aufgebracht, der kaum zu Atem kam und seine Waden nicht mehr spürte. „Sind wir den ganzen blöden Weg jetzt umsonst gelaufen?“
„Ganz ruhig“, erwiderte Remus. „Revelio.“ Wie auch zuvor schon schwang der Junge seinen Zauberstab, auch wenn er nicht so viel Freiraum dabei hatte und ein schwaches helles Glühen nahm die Decke ein, an der James sich den Kopf gestoßen hatte. „Wusste ich doch“, meinte er. „James, drück gegen den Stein und heb ihn an.“
„Was?“ James blickte verwirrt über die Schulter, tat aber dennoch, wie Remus ihm geheißen hatte. Mit den Händen flach auf den Stein über sich gepresst, drückte er die Arme durch und – „Merlin! Woher wusstest du das?“, verkündete James aufgeregt, als die Steinplatte sich nach oben schieben und einen Raum entblößte, der darüber lag.
„Intuition“, meinte Remus achselzuckend. Er grinste Sirius an, der ihm einen zweifelnden Blick zuwarf. „Eigentlich hab ich einen schon wieder einen Luftzug gehört, aber so klang es cooler.“
Sirius schnaubte belustigt, bevor er sich wieder nach vorne wandte. Gerade so erhaschte er einen Blick auf einen dunklen, vollgestellten Raum, bevor James´ Körper ihm die Sicht versperrte. Sein bester Freund zog sich an der Kante des gerade eröffneten Durchgangs nach oben, bis er in dem Raum verschwand.
„Oh, Wahnsinn“, sagte er eine Moment später. „Hier ist es voller Süßkram!“
Damit waren Sirius´ Lebensgeister wieder vollends geweckt. Hatte die verschiebbare Steinplatte seinen Enthusiasmus nur kurz angezündet, so ließ die Aufsicht auf einen Raum voller Süßigkeiten alles in Flammen aufgehen. Ohne großartig nachzudenken, folgte Sirius James in den neuentdeckten Raum, um sich selbst ein Auge von dem Schatz zu machen, den sie gefunden hatten.
Der Raum sah aus wie eine übergroße Besenkammer, fand er. Die Wände waren mit kruden, teils schiefen Holzregalen bestückt, die über und über mit Eimern, Gläsern, Kisten und Kartons voll mit Süßigkeiten aller Art waren. Fässer und Kisten so hoch wie Sirius selbst standen überall auf dem Boden verteilt, einige davon geöffnet, sodass man den fast überquellenden Inhalt sehen konnte. Ein Fass war voll mit Bertie Botts Bohnen in sämtlichen Geschmacksrichtungen, in einem anderen quiekten hunderte kleine Eismäuse, eine Kiste neben James war so sehr mit Schokoladentafeln gefüllt, dass ein Großteil davon schon danebengefallen und auf dem Boden gelandet war.
Sirius betrachtete ein Glas, das über und über mit blutroten Lollis gefüllt war, als Remus und Peter sich ebenfalls in den Raum zogen.
„Unglaublich“, sagte Peter, der direkt zu einem der offenen Fässer eilte. Er fischte eine sich bewegende Gummischlange hervor, die einen starken Erdbeerduft absonderte. „Wo sind wir hier nur gelandet?“
„Im Paradis, ist doch klar“, erwiderte Sirius, der sich an einem offenen Karton mit schokoladenen Galleonen bediente. Zuckrig süß und klebrig schmolz die Schokolade auf seiner Zunge und er ließ einen zufriedenen Laut von sich.
„Hey, was ist, wenn das jemandem gehört?“, fragte Remus.
„Dann wird derjenige sicherlich nichts vermissen“, meinte Peter. „Guck dich doch um, Remus, der ganze Raum quillt förmlich über!“
James´ Kopf tauchte zwischen einer ganzen Armee an Kisten auf. „Ich glaub, wir sind im Honigtopf“, sagte er. „Da ist eine Treppe, die nach oben führt und da oben ist ein Laden, der verdächtig nach dem Honigtopf aussieht, den es auch in der Winkelgasse gab.“
„Honigtopf“, hauchte Peter mit glänzenden Augen. „Da wollte ich immer schon hin.“
„Das heißt, wir sind bis nach Hogsmeade gelaufen“, entgegnete Remus beeindruckt klingend. „Meint ihr, der Besitzer weiß von diesem Gang?“
„Sicher nicht“, antwortete Sirius mit vollem Mund. „Sonst hätte er ihn längst verschlossen. Komm schon, die musst du probieren!“ Er hielt Remus eine Handvoll Schokolade hin, kleine, bräunliche Taler, gefüllt mit Nougat, besprenkelt mit Nüssen, übergossen mit noch mehr Schokolade.
Remus betrachtete ihn zweifelnd. „Ich weiß nicht so Recht …“
„Keine Sorge, Remus, wir stehlen nichts“, unterbrach James. „Das wäre nämlich echt nicht cool. Ein Potter würde niemals stehlen.“
Sirius unterdrückte den Drang mit den Augen zu rollen.
„Und wie –“, fing Remus an, aber James unterbrach ihn erneut mit erhobener Hand.
„Du glaubst doch nicht ernsthaft, dass ich unvorbereitet losgehe, oder?“ James grinste, als er ein paar golden glänzende Galleonen und silbrige Sickel aus seinem Umhang fischte. „Hier, ich lass ein wenig Geld da und wir nehmen ein bisschen von dem Zeug mit. Abgemacht?“
Remus sah nicht überzeugt aus, also ging Sirius einen Schritt auf ihn zu und hielt ihm die Schokotaler unter die Nase. „Hey, lass – oh. Sind die mit Nougat?“, fragte er, seine Stimme ein wenig leiser als zuvor.
„Oh ja“, erwiderte Sirius grinsend, als er beobachtete, wie Remus´ angespannte Schultern sich absenkten und die Falten von seiner Stirn verwanden. „Hier, probier doch einfach mal. Die sind köstlich.“
„Also – ich meine – ach, was solls. Solange wir es bezahlen …“
„Das wollte ich hören!“ Ohne viel Federlesen stopfte Sirius Remus einen Schokotaler in den Mund, bevor er ihm den Rest in die Hand drückte.
James lachte und legte ein paar Münzen auf eine Kiste, bevor er sich die Umhangtaschen mit Süßkram befüllte. „Ich würde sagen, wir haben unsere erste Mission erfolgreich abgeschlossen, Männer“, sagte er grinsend, bevor er sich eine Bertie Botts Bohne in den Mund warf.
Chapter 29: 29. Jahr 2: Schwerelos
Chapter Text
Frühlingsnächte schienen einfacher zu sein, zumindest was den Anfang der Verwandlung anging, so hatte Remus herausgefunden. Wenn der abendliche Wind warm und angenehm durch die Ritzen in den zugebauten Fenstern der Heulenden Hütte über sein Gesicht wehte, dann konnte er sich fast entspannen, auch wenn er wusste, dass es nur noch Minuten waren, bis sein Körper zerbrechen und Platz für den Wolf machen würde. Madam Pomfrey war schon lange weg, es dauerte nicht mehr lang, dann würde er erneut eine Nacht aus Schmerzen über sich ergehen lassen müssen, aber Remus fühlte keine Angst, keine düstere Vorahnung. Er sehnte den Morgen herbei, ja, aber nicht, weil er dann kein Wolf mehr sei.
Er sehnte den Morgen herbei, weil Sirius ihm versprochen hatte, dass er sich in den Krankenflügel schleichen, die ersten beiden Stunden für ihn schwänzen und Schokolade aus dem Honigtopf mitbringen würde. Seine wunderbaren Freunde hatten es sich zur Aufgabe gemacht, die letzten seiner Verwandlungen so gut wie möglich zu machen, zumindest mit den Mitteln, die ihnen zur Verfügung standen. Sie konnten Remus nicht in der Nacht begleiten – nicht dass er das zulassen würde – aber sie konnten am Morgen für ihn da sein.
Sie würden sich an den Tagen, an denen Remus an den Krankenflügel gefesselt war, einfach abwechseln und Zeit mit ihm verbringen. James hatte sich sogar bereit erklärt, ihm die Hausaufgaben zu bringen, auch wenn er ihm dafür einen sehr unmissverständlichen Blick zugeworfen hatte, der nur bedeuten konnte, dass er noch immer nicht verstand, wieso Remus so gerne seine Hausaufgaben machen wollte, wenn er doch frei hatte. Remus hatte sich nicht die Mühe gemacht, seinen Freunden zu erklären, dass er seine Studien nicht hängenlassen würde, nur weil er erschöpft vom Mond war. Es war allein Dumbledore und den anderen Professoren zu verdanken, dass Remus überhaupt die Möglichkeit hatte, nach Hogwarts zu gehen, also würde er es ihnen zurückzahlen, indem er fleißig war, lernte und die Bestnoten erreichte.
Von Verteidigung gegen die Dunklen Künste mal abgesehen, aber immerhin konnte er in dem Fach von James und Sirius abschreiben.
Als Remus sich nach dem Mond geschunden und mit neuen Bandagen und Narben auf dem Körper wieder im Krankenflügel fand, musste er nicht lange warten, bis Madam Pomfrey sich in ihr Büro zurückzog („Wenn irgendetwas sein sollte, Remus, dann musst du nur nach mir rufen, das weißt du auch. Versuch nicht wieder selber dir ein Glas Wasser zu holen, ja?“), da öffnete sich auch schon die Tür in den Krankenflügel und Sirius schlich mit ausgebeultem Umhang herein.
Er grinste, als er um den Vorhang trat, außer Sichtweite der Bürotür stand und die Schokolade und das Toast präsentierte, das er für Remus mitgehen lassen hatte. „Selbst geschmiert“, sagte er stolz klingend, ehe er Remus die in Servietten gewickelten Erdnussbuttertoasts gab. „Du kannst dich darauf verlassen, dass ich gut für dich sorgen werde.“
„Mein Held“, erwiderte Remus müde lächelnd, ehe er an seinem Frühstück knabberte. Wie so häufig hatte er keinen wirklichen Appetit, allerdings hatte Sirius sehr deutlich gemacht, dass er keine Honigtopfschokolade haben würde, wenn er kein normales Frühstück zu sich nehmen würde.
„Lass das nicht James hören, oder er wird noch eifersüchtig“, grinste Sirius, der sich ebenfalls an dem Toast bediente. „Seit dem letzten Quidditchsieg ist ihm das alles ganz schön zu Kopf gestiegen.“
„Ach, jetzt erst?“
„Ha Ha. Du weißt, was ich meine, Remus.“ Sirius verdrehte die Augen, aber lächelte weiterhin. „Nur weil James das letzte Tor geschossen hat, denkt er jetzt, er wäre unbesiegbar und der beste Spieler, den Hogwarts je gesehen hat. Um ehrlich zu sein, hat er mir besser gefallen, als er noch an seinen Fähigkeiten gezweifelt hat.“
„Wow“, sagte Remus kopfschüttelnd. „Ich hätte nicht gedacht, dass du deine Freunde so hintergehen würdest, Sirius Black. Und ich hab gedacht, du würdest James unterstützen und mit ihm gemeinsam feiern.“
„Hab ich ja“, erwiderte Sirius. „Aber das Spiel ist jetzt zwei Wochen her, irgendwann kann ich auch nicht mehr hören, wie James die immer gleiche Geschichte erzählt, als wären wir nicht alle dabei gewesen. Du kannst fast froh sein, dass du letzte Nacht nicht da warst, James konnte es nicht lassen, und musste im Gemeinschaftsraum noch einmal deutlich nachstellen, wie er sich auf seinem Besen herumgerollt hat, um den Quaffel zu behalten, ehe er das Tor geschossen hat. Ich glaube, wenn Evans ihn nicht ein Faultier am Baum genannt hätte, dann hätte er die ganze Nacht weitergemacht.“
Mit Toast im Mund lachte Remus leise auf. „Sie hat nicht ganz Unrecht. Er sah sehr nach einem Faultier aus, als er das gebracht hat.“
Sirius grinste breit. „Ich weiß, aber ich wollte ihm den Spaß nicht verderben. Evans macht das schon besser als ich.“
„Lily hat wirklich ein Händchen dafür, James wieder auf den Boden zu ziehen.“
Für einen Moment betrachtete Sirius ihn, dann schüttelte er den Kopf. „Merlin, das kann ja keiner mitansehen“, murrte er, ehe er nach vorne griff, Remus das halb angeknabberte Toast aus den Händen nahm und ihm stattdessen eine angebrochene Tafel bester Schokolade aus dem Honigtopf in die Finger drückte. „Hier, aber verrat das nicht James.“
Wärme füllte Remus´ Körper aus und er presste die Lippen zusammen, als er die Süßigkeit in seiner Hand ansah. „Ich bin stumm“, meinte er, während Sirius sich den Rest von seinem Erdnussbuttertoast in den Mund schob und die Augen verdrehte.
„James würde mich töten, wenn er wüsste, dass ich dir so viele Süßigkeiten gebe“, sagte er. „Er erzählt mir immer, dass wir alle zu faul seien und es so nie ins Team schaffen würden.“
„Hat er dabei vergessen, dass ich gar nicht ins Team will?“, fragte Remus, bevor er sich ein zartschmelzendes Stück Schokolade in den Mund schob. Es zerging beim Kontakt mit seiner Zunge und füllte ihn mit wohlig warmer Süße aus. Er musste sich zusammenreißen, nicht vor Genuss zu stöhnen.
„Wahrscheinlich, aber du weißt ja, wie James ist, wenn es um Quidditch geht.“
Das wusste Remus allerdings und er hatte auch nicht vergessen, wie James ihnen verbieten wollte, den neu entdeckten Geheimgang zum Honigtopf ein weiteres Mal zu betreten, als sein nächstes Quidditchspiel immer näher gekommen war. Als hätte er schlechter gespielt, wenn Peter im Unterricht an einem Zuckerfederkiel gelutscht hätte. Wahrscheinlich konnte Remus froh sein, dass sie nicht auch noch Monty in ihrer Gruppe hatten, ansonsten hätten sie direkt zwei quidditchversessene Sportler in ihrer Mitte, die ihnen statt Schokopudding gedünsteten Brokkoli zum Nachtisch andrehen wollten.
„Ach. Hier, bevor ich es vergesse.“ Sirius griff ein weiteres Mal in seinen Umhang und fischte ein paar zusammengeknüllte Pergamentblätter zusammen. „Von Zauberkunst und Kräuterkunde. Peter bringt dir nachher den Rest.“
Die feine, saubere Schrift würde Remus wahrscheinlich überall wiedererkennen. „Sind das Marys Notizen?“, fragte er.
Sirius hatte nicht einmal den Anstand, rot zu werden. „Vielleicht.“ Als er sah, dass Remus ihm einen leicht enttäuschten Blick zuwarf, fügte er schnell an: „Keine Sorge, das sind Kopien. Mary würde mich köpfen, wenn ich ihre Notizen so zerknicken würde.“
„Mit gutem Recht“, gab Remus lachend zurück. Er glättete die Pergamentblätter in seinem Schoß, bevor er sie sorgfältig zusammenfaltete und in der Schublade seines Nachttisches versteckte. Madam Pomfrey würde zwar nicht nachschauen, was er in seinen Schubladen aufbewahrte, aber er wollte sich keine Ausrede einfallen lassen müssen, wie er an die Notizen zu einer Schulstunde gekommen war, zu der er gar nicht gegangen war. Sie musste auch nicht alles wissen. „Danke“, fügte er an.
„Bloß nicht“, erwiderte Sirius. „Ich weiß ja, wie miesepetrig du wirst, wenn du keine Schulaufgaben machen kannst und das wollte ich Poppy einfach nicht antun.“
Remus zog eine Augenbraue in die Höhe. „Sicher wolltest du das.“
Sirius zuckte mit den Schultern, ehe er den Rücken durchbog. „Weißt du, du könntest deinen Bereich hier ruhig mal etwas besser einrichten. Ein paar Stühle wären schon ein Anfang.“
„Tut mir wahnsinnig leid, dass ich gestern keine Zeit hatte, ein wenig Inneneinrichtung zu betreiben“, meinte Remus trocken. „Ich war zu sehr damit beschäftigt, mich in einen Werwolf zu verwandeln.“
„Zeitmanagement“, sagte Sirius. „Schon mal davon gehört?“
Remus warf ein Stück Schokolade nach ihm, das Sirius gekonnt mit seinen Zähnen aus der Luft fing.
„Wie wars?“, fügte Sirius dann beiläufig klingend an, wobei er Remus´ Blick nicht ganz treffen wollte. „Die Verwandlung, meine ich.“
„Ich hatte schlimmere“, gab Remus zurück, der die Schokoladenreste unter seinem Fingernagel betrachtete. Wenn Sirius ihn nicht ansehen wollte, dann würde Remus ihm auch nicht die Genugtuung geben.
„Oh. Verstehe. Meinst du“, Sirius räusperte sich vernehmlich, „meinst du, es würde dir besser gehen, wenn du nicht mehr allein wärst?“
„Während der Verwandlung?“
„Genau.“
„Wahrscheinlich, aber ich vermute nicht, dass du noch einen Werwolf kennst, der sich gerne mit mir in eine zusammenfallende Hütte sperren lassen will. Und nicht einmal du würdest glauben, dass du mir bei den Vollmond Gesellschaft leisten könntest, Sirius, es –“
„Aber wenn es eine Möglichkeit gäbe?“, fragte Sirius, seine Stimme überschlug sich fast vor Aufregung. „Ich meine, wenn wir wirklich etwas finden würden, würde es dir dann besser gehen?“
Remus blickte langsam auf und wurde mit dem stechenden grauen Blick von Sirius Black begrüßt, der seine Augen nicht von ihm nahm. Es war ein wenig unangenehm, musste er zugeben, so angestarrt zu werden. Hitze stieg in seine Wangen auf und Remus drückte den Kopf wieder nach unten. Seine Fingernägel waren noch nicht gänzlich gesäubert. „Sowas gibt es nicht, Sirius“, meinte er murrend. „Ich hab’s schon oft genug von meinen Eltern und den Heilern aus dem Mungos gehört. Es gibt keine Heilung und es gibt –“
„Ich rede von keiner Heilung, Remus“, unterbrach Sirius ihn. „Komm schon, sogar ich weiß, dass es keine Heilung gibt. Aber Dumbledore hat dir ermöglicht, an die Schule zu kommen, dann muss es doch auch eine Möglichkeit geben, dass du die Verwandlungen nicht allein bist, oder?“
„Es gibt nichts“, seufzte Remus leise. „Ich weiß, du willst nur das Beste, aber es gibt nichts, womit du mir helfen kannst, Sirius. Zumindest nicht während der Verwandlung.“ Er blickte erneut auf, Sirius´ Augen immer noch auf ihm. Glänzend, grau, abwartend. „Ich weiß es zu schätzen, Sirius.“
Sirius schnaubte leise. „Wart nur ab, Rem. Ich find schon was und dann wirst du mir wirklich dankbar sein können.“
Remus verdrehte die Augen, aber entschied sich, nichts zu sagen. Er wusste, er konnte Sirius nicht vom Gegenteil überzeugen, wenn er sich etwas in den Kopf gesetzt hatte und irgendwie … irgendwie genoss er es, dass der andere Junge sich so um ihn sorgte. Es war beruhigend, irgendwie. Beruhigend zu wissen, dass es jemanden gab, der an seinem Bett warten würde, wenn der Mond kalt zu ihm war, der warten würde, bis Remus genug Kraft hatte, die Augen zu öffnen. Wenn Madam Pomfrey ihn nicht in den Unterricht schicken würde, dann würde Sirius sich wahrscheinlich ein zweites Bett im Krankenflügel einrichten, damit Remus nicht allein war.
„Natürlich wirst du das.“
***
Niemand beachtete den Jungen, der sich auf dem niedrigsten Sitz der Tribünen versteckte und die fliegenden Gestalten am Himmel beobachtete. Einer der Gestalten war ein Zweitklässler mit chaotischem schwarzen Haar und einer Brille, die bei jedem anderen sicher von der Nase gerutscht wäre, so schnell sauste er auf seinem Besen durch die Luft.
Regulus hatte die Hände im Schoß vergraben und den Blick stur auf James Potter gerichtet, der einen roten Lederball zwischen den Fingern hielt und mit seinen Teamkameraden redete. Ein älterer Schüler, wahrscheinlich sechste oder siebte Klasse, rief Anweisungen übers Feld, ehe er mit dem Finger auf Potter deutete. Über die Distanz konnte Regulus nicht ausmachen, was gerufen wurde, aber er war sich fast sicher, dass er es nicht wissen wollte. Quidditch, dachte er grimmig, war noch nie etwas gewesen, für dass er sich interessiert hatte.
Er hielt die Augen auf James Potter gerichtet, als dieser den Ball an seinen Teamkollegen weitergab und dann mit gebeugter Haltung durch die Luft sauste, als würde ihm der Himmel gehören. Regulus hatte keine Ahnung, was die Gryffindors dort trieben, aber er hatte auch nicht den Drang, es herauszufinden. Es war kaum hell genug, damit er die Gesichter der Spieler erkennen konnte, kaum hell genug, damit er sehen konnte, wie die Spitzen der Bäume im Verbotenen Wald sich voneinander unterschieden, und trotzdem waren diese sieben Schüler schon so lange auf ihren Besen unterwegs, dass man ihnen die Erschöpfung an den Bewegungen absehen konnte.
Regulus reckte das Kinn ein wenig. Er wusste nicht so recht, wieso er hier war. Vielleicht hatte er gehofft, dass er seinen Bruder sehen würde, nicht unbedingt auf dem Besen, aber zumindest auf der Tribüne. Was auch immer er sich von seinem Bruder dann erhoffen würde. Er und Sirius hatten seit Weihnachten nicht mehr miteinander geredet und es schien nicht so, als würde sein älterer Bruder darauf brennen, jetzt wieder damit anzufangen.
Es war fast April. Der Wind war angenehm kühl, die Luft roch süßlich und von allen Seiten aus konnte Regulus dutzende Vögel hören, die durch die Gegend flatterten und sangen. Eigentlich war es ein zu schöner Tag, um so früh wach zu sein und trotzdem saß er auf der Quidditchtribüne eines anderes Hauses, beobachtete ein anderes Haus beim Trainieren und hatte keine gute Ausrede, wieso er es tat. Sirius war nicht hier.
Sirius würde nicht mit ihm reden.
Regulus drückte die Hände fester in den Schoß.
„Da bist du, Reg“, ertönte eine Stimme neben ihm und ließ Regulus zusammenfahren. Evans müdes Gesicht tauchte in seinem Blickwinkel auf und einen Moment später ließ der Junge sich neben ihn fallen, die dunkelblonden Haare ungekämmt, das Gesicht noch mit Falten vom Schlaf bestückt. Die meisten Knöpfe an seinem Hemd standen offen und der Kragen seines Umhangs war unsauber und schlampig, sodass Professor Slughorn sicherlich wieder mit der Zunge schnalzen würde, wenn er das sehen würde.
„Was bei Merlins Bart machst du hier?“, fragte eine zweite Stimme, ehe auch dessen Sprecher sich mit einem lauten Gähnen niederließ. Bartemius Junior (der von allen nur Barty genannt wurde, weil er ihnen sonst ein paar Flüche auf den Hals hetzen würde), sah nicht weniger müde als Evan aus. Barty war blass und hatte eine ganze Menge Sommersprossen auf dem Gesicht, noch dazu war sein strähniges Haar strohblond, sodass Evan mehr als einmal gesagt hatte, Barty würde aussehen, als würde er in den Sommerferien bei den Muggeln auf dem Acker schuften. Barty hatte ihm beim ersten Mal die Zunge an den Rachen gehext. „Es ist arschkalt.“
Das war übertrieben, was alle von ihnen wussten. Regulus schüttelte den Kopf. „Das könnte ich euch fragen“, gab er zurück. „Verfolgt ihr mich?“
„Es war Evans Idee“, murrte Barty, ehe erneut gähnte und nicht den Anstand besaß, sich eine Hand vor den Mund zu halten.
„Was soll ich sagen, ich kann einfach nicht ohne dich leben, Reg“, grinste Evan ihn an, bevor er ebenfalls an den Himmel blickte. James Potter vollführte gerade einen gewagten Trick, bei dem er sich nur mit den Füßen am Besen hielt und kopfüber den Ball fing. „Angeber“, fügte er murmelnd hinzu.
„Was macht ihr hier?“, fragte Regulus erneut.
„Wir haben dich gesucht“, gab Evan zurück. „Dein Bett war leer und in der Großen Halle und in der Bibliothek warst du nicht.“
„Warum glaubt ihr dann, dass ich hier bin?“, stellte er die Gegenfrage. Er war nicht überrascht, dass Evan und Barty nach ihm suchen würde, aber er war überrascht, dass sie ihn gefunden hatten. Das Quidditchstadion war nicht unbedingt ein Ort, an dem er sich selbst vermuten würde.
„Weil du vorhersehbar bist“, entgegnete Barty. „Ständig maulst du davon rum, dass dein Bruder nicht mehr mit dir redet, da war es doch logisch, dass du irgendwo bist, wo du ihn vermutets. Wo ist er?“
„Nicht hier“, erwiderte Regulus kühl, bevor er den Blick abwandte. „Und ich maule nicht ständig über Sirius, danke auch.“
„´Türlich nicht“, murmelte Barty und Evan lachte.
„Sei nicht so mies drauf, Reg, du hast jetzt uns.“ Evan stieß ihm gegen die Schulter. „Aber ehrlich mal, was willst du hier überhaupt, wenn Sirius nicht hier ist?“ Evan folgte seinem Blick in den Himmel, bis auch er an der sportlichen Gestalt von James Potter hängen blieb. „Nicht dein Ernst, oder?“
„Ich weiß nicht, was du meinst“, erwiderte Regulus wahrheitsgetreu.
Evan machte ein Gesicht, als hätte er Strafarbeiten bekommen. „Du kommst um diese Zeit her, nur um Potter hinterherzugucken? Was ist mit dir, findest du ihn gut, oder was?“
„Nein“, spuckte Regulus ihm entgegen. „Ich – keine Ahnung, okay? Ich weiß nicht, warum ich hier bin. Ich dachte, ich finde Sirius, aber hab ihn nicht gefunden, aber konnte auch nicht wieder gehen und jetzt habe ich die letzte Stunde damit verbracht, seinem – vergiss es einfach. Los, lasst uns –“ Regulus´ Versuch aufzustehen und die ganze Sache hinter sich zu lassen, wurde unterbrochen, als Evan ihn mit der Hand zurück in seinen Sitz zwang.
„Es ist doch mehr als offensichtlich was hier los ist.“
„Oh ja“, murrte Barty, der sich die Hände aneinanderrieb.
„Wenn es so offensichtlich ist, dann könnt ihr mich bestimmt aufklären“, sagte Regulus, der noch nicht ganz verstand, was Evan und Barty andeuteten. Es war absolut absurd, dass Regulus James Potter gut finden würde – Regulus war viel zu jung, um überhaupt irgendjemanden gut zu finden und selbst wenn er es nicht wäre, dann wäre Potter bestimmt nicht auf der Liste. Eher würde er vom Viadukt springen.
„Du bist eifersüchtig“, sagte Barty. „Auf ihn“, fügte er an, deutete mit dem Finger auf James Potter, der in der Luft hing und lachte, bevor er die Augen auf Regulus richtete. „Weil du sicherlich glaubst, dass er dir deinen Bruder weggenommen hat, oder?“
„Unsinn“, erwiderte Regulus.
„Ich wusste, er würde es nicht anerkennen wollen“, meinte Evan. „Hör zu, Reg, es ist vollkommen in Ordnung, dass du dich so fühlst.“
„Ich fühle mich aber nicht so“, erwiderte Regulus knurrend.
„Wie du meinst. Jedenfalls ist es in Ordnung, wenn du dich so fühlen solltest, immerhin ist der Kerl dein Bruder und egal was für eine Flachpfeife er eigentlich ist, du kümmerst dich irgendwie um ihn und hast das Gefühl, Potter hat ihn dir geklaut.“
„So fühle und denke ich nicht“, sagte Reg.
„Bitte“, schnaubte Barty. „Dann gib mir einen anderen Grund, warum du ihn versuchst mit deinem Blick umzubringen, Reg.“
„Das tue – wisst ihr was? Lassen wir das einfach. Kommt schon, ich hab Hunger.“ Regulus erhob sich von seinem Platz, wich Evans Hand aus und trat dann eine Sitzreihe weiter. „Kommt ihr mit?“
Evan und Barty tauschten einen vielsagenden Blick, in den sie Regulus nicht mit involvierten, dann zuckte Barty mit den Schultern. „Was du auch sagst, Black. Nächstes Mal suchen wir dich einfach nicht.“
„Es wird kein nächstes Mal geben“, versprach Regulus. „Und wenn doch, dann könnt ihr mich in Ruhe lassen.“
„Meine Güte“, murmelte Evan hinter ihm, „da ist aber jemand echt mies drauf, wenn er noch keinen komischen Tee am Morgen hatte.“
„Brennnesseltee ist nicht komisch, sondern ziemlich gesund“, erwiderte Regulus.
„Ja, dafür schmeckt er aber auch wie Koboldpisse.“
„Warum weißt du, wie Koboldpisse schmeckt, Evan?“, fragte Barty mit hörbarem Grinsen in der Stimme.
„Du kannst mich mal, Barty.“
Regulus schüttelte den Kopf, erhaschte vor dem Verlassen des Quidditchfeldes einen weiteren Blick auf James Potter in der Luft, bevor er die Augen fest aufs Schloss richtete. Lächerlich, sagte er sich. Es war doch lächerlich, dass er auf diesen Typen eifersüchtig sein sollte. Was sollte James Potter schon haben, was Regulus nicht hatte? Er unterdrückte ein Schnauben. Selbst wenn es eine Millionen James Potters geben würde, würde Regulus trotzdem Sirius´ einziger Bruder sein. Das konnte Potter ihm nicht nehmen und schon gar nicht versuchen zu ersetzen.
Beim Frühstück saß er sich demonstrativ mit dem Rücken zum Gryffindortisch, sodass er nicht in Versuchung geraten würde, seinen Bruder oder dessen dämliche Freunde zu sehen. Evan lächelte schmal, als er beobachtete, wie Regulus stur in seine Teetasse starrte, bevor er ihn unter dem Tisch mit dem Fuß anstupste und sagte: „Er ist nicht hier.“
„Wer?“, fragte Regulus.
„Bitte.“ Evan verdrehte die Augen. „Dein Bruder. Du kannst also aufhören so zu tun, als wärst du plötzlich an Wahrsagen interessiert. In dem Ding wirst du ihn auch nicht finden.“ Mit einem Kopfzucken deutete er auf Regs leere Teetasse, in der lediglich ein kleiner Rest Teesatz übrig geblieben war.
Regulus konnte nicht anders, als zu lachen. „Was, glaubst du etwa nicht, dass ich ein Seher sein könnte?“
„Nicht mit der Einstellung“, grinste Evan. „Also, was siehst du denn, oh großer Seher?“
„Klappe“, erwiderte Reg, bevor er die Tasse aus seinen Fingern schob. „Ich weiß nicht, warum es mich so interessiert, wenn ich ehrlich bin.“
„Kann dir auch egal sein“, meinte Barty, der den Mund mit Würstchen und Toast gefüllt hatte. „Du – oh, ups“, murrte er und wischte das Stück Toast vom Tisch, das ihm aus dem Mund gefallen war, bevor er heftig schluckte. „Du bist besser ohne ihn dran, wenn du mich fragst. Ich meine, stell dir mal vor, du hättest auf ihn gehört und wärst jetzt auch in Gryffindor gelandet?“ Barty schüttelte sich übertrieben. „Ein Albtraum, nicht?“
Reg lächelte schmal. „Vielleicht. Kommt ganz drauf an, ob ich dann normale Mitbewohner hätte, die ihre Socken nicht auf mein Bett werfen.“
„Das war einmal“, konterte Barty.
„Einmal zu viel. Weißt du überhaupt, was das für ein traumatisches Erlebnis für mich war?“
„Du hast sie nicht mal wegnehmen müssen, das war Evan.“
„Ja und niemand redet darüber, wie es mir damit ergangen ist“, fügte dieser an. „Ich habe mir bestimmt zehn Minuten lang die Hände gewaschen.“
„Ihr könnt mich beide mal. Aber ehrlich mal, Reg, nicht mal du kannst sagen, dass es eine gute Entscheidung war, mit eurem Namen nicht nach Slytherin zu kommen.“
Regulus zuckte mit der Schulter. „Jeder Black war in Slytherin“, meinte er. „Außer Sirius.“
„Dann weiß ich nicht, warum du dich noch so lange damit aufhängst“, sagte Barty, der sich erneut Toast in den Mund schob. „So wie ich das sehe und so, wie ich euch Reinblüter verstehe, wird dein Bruder sicherlich nicht lange der Erbe bleiben.“
Seufzend bettete Regulus sein Kinn in eine Hand. „Das befürchte ich auch“, murmelte er, wofür er immerhin eine symphytischen Blick von Evan erntete. „Meine Mutter hat jetzt schon angefangen, mir Pläne für die Sommerferien zu machen. Ich soll die ganzen Familiennamen und Mitglieder auswendig lernen, anfangen, die innerfamiliären Verbindungen zu verstehen und darüber hinaus will sie auch, dass ich Magie direkt von ihr lerne. Sie traut Hogwarts nicht, mich nicht zu verweichlichen“, wiederholte er die Worte seiner Mutter, als sie ihn nach Weihnachten wieder zur Schule geschickt hatte.
„Ich würde liebend gern Magie von deiner Mutter lernen“, erwiderte Barty. „Mein Dad lässt mich nicht einmal in die Nähe von Büchern, in denen auch nur ansatzweise Magie erklärt werden würde, die er nicht für angemessen hält. Wenn es nach ihm ginge, dann würde ich wahrscheinlich nur Expelliarmus kennen und mehr nicht.“
Regulus und Evan tauschten einen raschen Blick; es war keine Seltenheit, dass Barty sich über seinen Vater beschwerte. Bartemius Senior, ein angesehener Zauberer, der im Ministerium arbeitete und sich mittlerweile einen ziemlichen Namen dafür gemacht hatte, dass er alles, was mit dunkler Magie zu tun hatte, verabscheute, war kein Mann, den man leicht ertragen konnte. Dass er es überhaupt zugelassen hatte, dass sein einziger Sohn in Slytherin bleiben konnte, grenzte schon an ein Wunder.
„Oh bitte, guckt nicht so“, meinte Barty augenverdrehend. „Ich benehme mich ja und bin ein guter kleiner Junge, wenn ich zuhause bin.“
„Sicher tust du das.“
„Zumindest meine Mutter glaubt, ich wäre ein perfekter kleiner Engel“, antwortete er.
„Meine Mutter trinkt den ganzen Tag nur Butterbier, damit sie es mit meinem Vater überhaupt aushalten kann“, sagte Evan nonchalant klingend. „Ich bin mir tatsächlich nicht sicher, wann ich sie das letzte Mal überhaupt in meinem Zimmer gesehen habe.“
„An Weihnachten hat sie sich immerhin gut gehalten“, sagte Regulus. „Ich glaube, sie hat fast den ganzen Abend lang kein Wort gesagt, was wir wohl als Sieg für sie gelten lassen können.“
„Du hättest sie danach sehen sollen“, meinte Evan. „Kaum waren wir zuhause, hat sie sich in ihrem Zimmer eingeschlossen und ich hab ihre schrecklichen Platten die ganze Nacht gehört. Dad hat sich geweigert einen Stummzauber über ihre Tür legen“, fügte er erklärend an. „Keine Ahnung, wie lange sie das noch durchhält, ehe sie durchdreht und abhaut, um bei ihrer Schwester zu leben.“
„Darüber wäre Tante Druella bestimmt glücklich“, schnaubte Regulus.
Barty gab ein schnalzendes Geräusch von sich. „Ich vergess immer, wie seltsam eure Familien sind und dass ihr eigentlich verwandt seid.“
„Cousins zweiten Grades, glaub ich“, grinste Evan. „Wobei ich da auch nicht ganz durchblicke. Aber ist ja auch egal, wir waren eigentlich dabei zu bereden, wie wir dich zum perfekten Erben modellieren können.“
Regulus zog die Augenbrauen zusammen. „Ich bin mir sehr sicher, dass wir nicht darüber geredet haben.“
„Na, dann wollten wir es eben. Also, schon Pläne, was du machst, wenn du der alleinige Erbe bist?“
„Ich glaube nicht, dass es so weit kommt.“
„Komm schon“, sagte Barty mit seiner Gabel in der Hand, die er auffordernd in Regulus´ Richtung hielt. „Du glaubst doch wohl nicht, dass deine Eltern einen Gryffindor zum Erben haben wollen.“ Er schüttelte den Kopf, schob sich etwas Bacon in den Mund und sagte: „Ich versteh vielleicht nicht viel von euch komischen Reinblüterfamilien, aber so viel habe ich mitbekommen.“
„Unsinn“, murmelte Regulus leise. Er wusste, dass Barty Recht hatte, aber er wusste auch, dass es die Möglichkeit gab, dass er sich irrte und dass seine Eltern sich irgendwann Sirius´ Willen zumindest ein wenig beugen würden. Zwar glaubte er nicht daran, dass sie ihm alles verzeihen würden, was er getan hatte, aber es gab die Chance, dass es ein paar Änderungen geben könnte. Vielleicht könnte Sirius sich ein wenig zusammenreißen, den Erben spielen und dann, wenn er wirklich Oberhaupt der Familie war, dann könnte er Dinge ändern. Dann könnte er dafür sorgen, dass zukünftige Erben nicht so leiden müssen.
„Wie du meinst, Reg“, sagte Evan. „Aber du solltest dich lieber darauf vorbereiten, dass du irgendwann Einzelkind sein wirst.“
***
Regulus war sich nicht klar, wie er auf die Idee kam. Er wusste nur, dass es eine einfache Lüge war, sich von Evan und Barty zu entfernen und sich allein auf die Suche zu machen. Wo auch immer sein Bruder die ganze Zeit steckte, Regulus hoffte, dass er sich dort noch etwas länger aufhalten würde, damit er ungestört sein würde. Seine Füße trugen ihn rasch über den Innenhof, über die Brücke und hinauf auf die Ländereien. Der kühle Wind war mittlerweile wärmer geworden, die Sonne stand höher und ein paar Wolken formten sich am Himmel. Regulus hatte kaum Blicke für die Natur übrig.
In der Ferne konnte er noch sehen, dass das Gryffindor-Quidditchteam immer noch trainierte. Er mochte sich gar nicht vorstellen, wie sie lange sie mittlerweile schon auf ihren Besen saßen, aber es konnte bestimmt nicht angenehm sein. Allein die Tribünenbänke waren schon ungemütlich genug, da konnte ein Besenstil nicht gerade luxuriös sein.
Regulus fand seinen Weg zurück zum Stadion, gerade als ein greller Pfiff durch die Luft schnitt. Einer der älteren Schüler deutete alle an, dass sie sich bei ihm sammeln sollten, was für Regulus hoffentlich bedeutete, dass Training endlich beendet war. Er wartete im Schatten des Eingangs, bis alle Schüler sich wieder auf dem Boden eingefunden hatten. Es herrschte eine seltsam lockere Stimmung, die er nicht erwartet hatte; alle lachten und rissen Witze, als hätten sie nicht gerade Stunden damit verbracht, ihre Körper zu quälen. Kopfschüttelnd beobachtete er, wie die Jungs und Mädchen ihre Besen schulterten, die Bälle einsammelten und sich auf den Weg zu den Umkleidekabinen machten.
James Potter bildete mit einem anderen Zweitklässler dessen Namen Regulus nicht kannte und dem älteren Jungen mit der Pfeife das Schlusslicht. Sein Grinsen war bereits von Weitem zu erkennen, was Regulus nur die Augen verdrehen ließ.
Als er die Umkleide betreten wollte, stieg Regulus aus den Schatten. „Kann ich mit dir reden?“, fragte er, seine Stimme ruhig und neutral gehalten, während seine Augen die von James Potter suchten. Von Nahem sah er weniger beeindruckend aus, als er sich selbst fand. Auf dem Besen konnte Potter mit einigen spektakulären Bewegungen angeben, aber auf dem Boden waren seine Füße still und seine Fähigkeiten gewöhnlich. Regulus verstand nicht, was Sirius an ihm fand.
„Mit mir?“, erwiderte James einen Moment später.
„Mit dir“, gab Regulus zurück. „Allein, wenn´s geht“, fügte er an, die neugierigen Blicke von Potters Teammitgliedern in seinem Nacken ignorierend.
„Äh – klar. Sicher. Geht schon vor.“
„Bist du sicher?“, fragte der ältere Junge mit einem besorgten Ausdruck, über den Regulus am liebsten die Augen verdrehen würde. Als ob er Potter am helllichten Tage verhexen würde.
„Sicher“, erwiderte James. „Ich komm klar.“
„Alles klar.“ Der ältere Junge schulterte seinen Besen wieder, ehe er die Umkleide betrat und James und Regulus endlich allein ließ.
„Womit verdiene ich diese Ehre?“
„Bild dir nichts ein. Ich will nur etwas mit dir besprechen, Potter.“
„Ah, verstehe, wir sind noch bei Nachnamen.“ Potter schenkte ihm ein Lächeln, das Regulus nicht erwiderte. Es flackerte einen Moment, ehe es ihm von den Lippen tropfte. „Na schön. Flieg mit mir.“
„Wie bitte?“, fragte Regulus ehrlich überrascht.
„Du willst reden, oder?“ James zuckte mit den Schultern. „Dann nimm dir ´nen Besen und flieg ´ne Runde mit mir, sonst rede ich vielleicht nicht.“ Ohne darauf zu warten, was Regulus tat, schwang er die Beine über seinen Besen und stieg dann ein paar Schritte in die Luft. „Du hattest doch schon Flugunterricht, oder?“, fügte er an, als Regulus sich nicht bewegte.
„Selbstverständlich“, entgegnete Reg säuerlich. Er hatte keine Lust auf dämliche Spielchen und wollte sich eigentlich auch nicht in die Luft bewegen, sah aber keinen Weg, wie er Potter sonst zum Reden bringen konnte. Mit einer flüssigen Bewegung ließ er seinen Zauberstab in die Hand rutschen, dann sagte er: „Accio“, ehe er das vertraute Rauschen von Luft vernahm. Einen Augenblick später blieb ein lädiert aussehender Schulbesen vor ihm ein paar Fuß über den Boden schwebe. Regulus stieg auf und kam sich wie ein Idiot vor.
„Nicht schlecht“, bemerkte James, als Reg sich ein paar Fuß hoch zu ihm bewegt hatte. „Also“, sagte er, ehe er sich leicht vorbeugte und weiterflog, „was willst du von mir?“
„Es geht um Sirius“, sagte Reg, der keinen Sinn darin sah, es hinauszuzögern oder um den heißen Brei herumzureden.
„Natürlich tut es das“, erwiderte James einige Schritte vor ihm. Das verschwitzte Haar klebte ihm am Hinterkopf. „Was hat er ausgefressen?“
„Noch nichts“, entgegnete Regulus. „Aber ich weiß, dass er das tun wird. Und dass wird meinen Eltern nicht gefallen.“
„Nun, euren Eltern gefällt nichts, was Sirius tut.“
„Richtig. Da kommst du ins Spiel.“
James warf ihm einen überraschten Blick über die Schultern, während sie um einen der Tribünentürme flogen. Er tat eine kräftige, rasche Wendung, bei der Regulus Mühe hatte, mitzukommen. Wenn er es nicht besser wüsste, dann würde er vermuten, dass James ihn versuchte abzuhängen. „Ich bin nicht sicher, ob ich verstehe, was du sagen willst.“
„Sirius wird auf dich hören“, sagte Regulus – rief es vielmehr, als der Flugwind in seinen eigenen Ohren rauschte. „Wenn du mit ihm redest, dann reißt er sich vielleicht zusammen.“
„Worauf willst du hinaus, Regulus?“
Sein eigener Name schnitt ihm wie eine zweischneidige Klinge in die Brust, als hätte James ihm mit einem Dolch mitten ins Herz getroffen und würde nur darauf warten, einen weiteren zu werfen. James Potter sollte es nicht zustehen, seinen Namen zu nennen, es sollte ihm nicht zustehen, seinen Namen mit seiner Zunge zu schmecken und doch hatte er es getan und Regulus … Regulus war sich nicht ganz sicher, ob er es ihm verbieten wollte. Ob er es konnte.
Es klang gut. Unschuldig. Neugierig. Regulus schluckte.
„Wenn meine Eltern glauben, dass Sirius für sie nicht mehr zu retten ist, dann machen sie mich zum Erben. Was sie dann mit Sirius tun, muss ich dir nicht sagen, oder?“ Regulus versuchte ruhig zu bleiben, aber er konnte nicht anders; James vor ihm, der Wind in seinen Haaren, die Gedanken an seine Eltern, an Sirius, an seine Zukunft – es brachte seine Lippen zum Zittern, seine Hände zum Beben. „Du musst ihn überzeugen, dass er aufhört.“
„Womit aufhört?“ James hielt abrupt mit seinem Besen in der Luft an, sodass Regulus ein paar Schritte zu weit schoss und plötzlich vor ihm war. „Wenn du mich fragen willst, ob ich Sirius dazu bringe, dass er euren Eltern glaubt und gehorcht, dann bist du an der falschen Adresse, Regulus.“
Schon wieder. Sein Name brannte, sein Name brannte Löcher in Regulus´ Seele und ließ ihn leer zurück. Alles, was ihn ausmachte, floss aus ihm heraus, bis er nur noch eine Hülle war, die vor James in der Luft schwebte. „Wir wissen beide, dass Sirius nur auf dich hört“, versuchte er es erneut.
„Und wir wissen beide, dass ich nicht will, dass er zurück in dieses Haus geht“, entgegnete James mit scharfer Stimme. „Ich weiß nicht, ob du einfach nur so tust, als würde alles vollkommen normal sein, aber Eltern sollten ihr Kind nicht so behandeln – sollten ihre Kinder nicht so behandeln“, fügte James hinzu.
Regulus reckte das Kinn ein wenig an. „Ich maße mir nicht an, dass du irgendetwas von dem verstehst, was mit einherkommt, wenn man Erbe einer altehrwürdigen Familie ist.“
„Du brauchst nicht so tun, als wäre ich irgendein Vollidiot, der noch nie etwas von Reinblütern gehört hat“, sagte James. „Ich weiß, dass man als Erbe Pflichten zu erfüllen hat, dass man die Familie repräsentiert und was noch, aber das heißt nicht, dass Sirius einfach tun muss, was von ihm verlangt wird und bestraft werden kann, wenn er es nicht tut. Hast du auch nur einmal darüber nachgedacht, wie es wäre, an seiner Stelle zu sein?“
Ein schreckliches Stechen fuhr durch Regulus´ Brust, als er die harten Worte James´ vernahm. „Darum geht es mir“, erwiderte er leiser als zuvor. „Wenn Sirius sich weiterhin so benimmt, dann wird meine Mutter ihn aus der Familie … entfernen. Dann bin ich der Erbe. Dann bin ich an seiner Stelle.“
James betrachtete ihn einen Moment lang, ehe er kaum merklich den Kopf schüttelte. Die verschwitzten Strähnen klebten an seiner Stirn und fielen hinter die Gläser seiner Brille, die das Sonnenlicht reflektierte. Auf dem Besen hielt er sich, als bräuchte er ihn gar nicht, als wäre er in der Luft geboren. „Dann verstehe ich nicht, was du von mir willst. Ich werde dir nicht helfen, Sirius in einen perfekten Erben zu verwandeln, damit eure Mutter ihn weiterhin misshandeln kann.“
„Also willst du ihn retten, damit ich leiden kann?“, fragte Regulus, bevor er sich daran hindern konnte. Die Worte klebten ihm noch auf der Zunge, als James ihn ruckartig ansah. „Vergiss es“, fügte er an. Regulus versuchte sein Bestes, seinen Besen zu Boden zu manövrieren, aber seine Hände zitterten dermaßen, dass er sich nicht sicher war, ob er den Besen steuerte, oder ob der Besen ihn einfach nur in der Luft hielt, damit er nicht stürzte.
„Niemand verlangt von dir, dass du der Erbe bist“, meinte James.
„Oh, wirklich?“, schnaubte Reg ihn lautstark an. „Du scheinst dich ja gut mit meiner Familie auszukennen, Potter.“
Kopfschüttelnd sagte James: „Du benimmst dich wie Sirius.“
„Wage es nicht –“
Aber James unterbrach ihn, indem er eine Hand hob (dabei nicht einmal auf dem Besen wackelte, wie Regulus säuerlich feststellte) und dann anfügte: „Sirius wird genauso verteidigend, wenn es darum geht. Ich kann dir nur sagen, was ich ihm gesagt habe, aber niemand verdient es, in so einer Familie aufwachsen zu müssen. Ich meine, ihr könnt nicht mehr ändern, wer eure Eltern sind, aber ich glaube, ich könnt verändern, ob ihr so werdet, wie sie es wollen. Ihr habt eine Wahl.“
„Niemand im Haus Black hat eine Wahl“, sagte Regulus.
James betrachtete ihn erneut, ein stechend ehrlicher Blick, der sich hinter seinen Brillengläsern versteckte. „Dann hast du deine bereits getroffen, nehme ich an.“ Ohne ihm eine weitere Chance zu lassen, drückte James seinen Besen mit einem Bein nach unten, sodass er Richtung Boden glitt.
Regulus konnte nicht anders, als ihm zuzugucken, wie er auf dem Boden aufkam, absprang und keinen Blick zurückwarf, als er sich in Richtung Umkleidekabinen machte. Er presste die Finger so fest ins Holz des alten Schulbesens, dass er sich sicher war, dass es jeden Moment bersten würde. Was bildete sich dieser Trottel überhaupt ein? Wie kam er darauf, dass er so mit Regulus reden konnte, dass er so etwas zu Regulus sagen konnte? Offensichtlich hatte er keine Ahnung, was er redete, oder er würde nicht solch dümmliche Dinge von sich geben.
Regulus wusste, wie man sich im Haus benehmen musste, um nicht den Zorn der Ahnen zu wecken. Und er wusste, dass er keine Wahl hatte, wenn er leben wollte.
Regulus Black hatte keine Wahl.
Und James Potter würde das noch früh genug erkennen.
***
Es gab nicht viele Dinge, die Sirius dazu verleiten würden, freiwillig mit seinen Eltern zu reden und noch weniger gab es, die ihn dazu bringen würden, ihnen einen Brief zu schreiben, aber trotzdem setzte er sich einen späten Aprilabend allein in den Gemeinschaftsraum, fernab von Lily, Mary und Marlene, die den Verwandlungsstoff die kommenden Prüfungen wiederholten und fernab von seinen Jungs, die im Schlafsaal Zauberschnippschnapp spielten, statt für die Prüfungen zu lernen. Eine leere Rolle Pergament lag vor ihm, sein gutes Tintenfass daneben, die schicke, schwarze Feder, die ihm Marlene zum Geburtstag geschenkt hatte, in seinen Fingern, die Spitze nur Zentimeter vom Pergament entfernt. Die Feder hing in der Luft und Sirius starrte auf das Papier vor ihm.
Er wusste, was er wollte und er wusste, wie er das erreichen konnte und er wusste ebenfalls, dass er sich dafür nur ein wenig verstellen musste, aber … inmitten all seinem Wissen, fehlte es ihm an dem nötigen Feingefühl, um wirklich mit der Sache zu beginnen. Es war für Remus, sagte er sich immer wieder, die Federspitze noch immer nur über den Pergament. Für Remus würde er es tun. Aber wie?
Sirius entschied sich, einfach anzufangen, ohne lange nachzudenken. Was sollte schon wirklich schiefgehen können?
Vater,
sicher wunderst du dich, warum ich dir schreibe. Ich glaube, ich habe dir bisher noch keinen Brief während meiner Schulzeit geschrieben. Dafür entschuldige ich mich. Ich glaubte nicht, dass du dies erwünschen würdest, aber vielleicht findest du trotzdem ein wenig Freude in meinen Worten.
Ich habe ein gutes Gefühl, was meine Prüfungen angeht und stehe mittlerweile in so ziemlich all meinen Klassen an der Spitze, so wie du und Maman es immer wünscht. Ich lerne fleißig und viel, auch wenn ich natürlich einen Großteil meines Vorsprungs euch zu verdanken habe: Die Tutoren, die ihr für mich und Regulus angeheuert hattet, zahlen sich nun wirklich aus.
Vater, der eigentliche Grund, wieso ich dir schreibe, ist anderer Natur, als nur eines einfachen Plauderns. Obwohl ich unsere Unterhaltung von der Weihnachtsfeier bei den Malfoys noch in guter Erinnerung habe. Ich hoffe, wir können solch eine Unterhaltung erneut führen, wenn Regulus und ich in den Sommerferien wieder nach Hause kommen. Sicherlich gibt es bis dahin einige Dinge, die wir besprechen können. Nun, wieso ich dir schreibe, ist der Grund, dass ich eine Bitte an dich habe. In deiner Bibliothek befindet sich ein Buch, das ich mir gerne ausleihen würde.
Ich weiß, dass du mir verboten hast, deine Bibliothek zu betreten und ich weiß, dass ich dieses Verbot verdient habe, aber ich habe gedacht, wenn ich dich vorher frage, dann können wir sicher einen Weg finden, uns zu einigen, nicht wahr? Nun, das Buch, an dem ich interessiert bin, nennt sich Verwandlung der Meiserklasse und befindet sich leider nicht im Kurrikulum der Hogwarts-Bibliothek. Es ist ein ziemlich seltenes Buch, also würde es mich auch eigentlich nicht wundern, wenn du es nicht besitzt, aber ich dachte mir, wenn ich jemanden fragen kann, dann dich.
Das Buch brauche ich aus Interesse an der Verwandlung und weil Professor McGonagall, so talentiert sie auch ist, mir nicht das lehren kann, was ich wirklich lernen will. Sicherlich verstehst du, was ich meine, Vater, immerhin müsstest du sie gut kennen. Professor McGonagall weicht ungerne vom Lehrplan ab, weswegen es mir schwer fällt, meine eigenen Studien voranzubringen, wenn ich nicht wirklich ein gutes Lehrbuch habe.
Ich gehe davon aus, dass ich das Buch für ein paar Monate brauchen würde, um mich wirklich durch alle Lehren und Theorien der Verwandlung zu begeben. Ich verstehe, wenn dir das zu viel Zeit wäre, aber würde dir auf jeden Fall dankbar sein, wenn du es mir trotzdem leihen würdest.
Ich hoffe, wir sehen uns bald.
Sirius
Zweifelnd betrachtete Sirius, was er geschrieben hatte. Er war sich nicht sicher, ob er seinen Vater damit rumkriegen würde, aber einen Versuch war es wert. Wenn er auf etwas aus dem Brief anspringen würde, dann darauf, dass Sirius nicht sicher, ob sein Vater dieses seltene Buch überhaupt besaß. Es würde Orion Blacks Ego ankratzen, darauf hingewiesen zu werden, dass er etwas nicht besaß, also würde er es sich hoffentlich zur Aufgabe machen, Sirius das Gegenteil zu beweisen und ihm das Buch dann auch gleich auszuleihen. Soweit er es herausgefunden hatte, war Verwandlung der Meisterklasse das einzige Buch, in dem die Herangehensweise für die Animagus-Verwandlung beschrieben war.
Und wenn sie Remus irgendwie bei seinen Werwolftransformationen behilflich sein wollten, dann mussten sie lernen, wie man ein Animagus wurde. Es war die einzige Möglichkeit, die sie hatten. Sirius würde noch verrückt werden, wenn er noch länger zusehen musste, wie Remus Verwandlung für Verwandlung litt. Es war manchmal nicht auszuhalten, wenn er aufwachte und wusste, Remus hatte gerade die schlimmste Nacht seines Lebens hinter sich, hatte sich selbst gebissen, gekratzt und geblutet, bis er die Augen nicht mehr offen halten konnte. Sirius hatte schon viele Albträume erlebt, aber der schlimmste war immer der, in dem Remus am Morgen die Augen nicht mehr öffnete.
In denen der Werwolf blieb.
Und der Junge verloren war.
Sirius atmete tief ein, ehe er die Feder beiseitelegte. Er betrachtete den kurzen Brief, den er verfasst hatte, ein weiteres Mal, bevor er das Tintenfass zuschraubte und das Pergament zusammenrollte. Es würde nichts bringen, sich jetzt endlich Gedanken darüber zu machen, was er besser schreiben könnte oder wie er anders an die Situation herangehen würde. Er steckte den Brief in seine Umhangtasche und stand auf.
Niemand beachtete ihn wirklich – zumindest nicht so, dass sie ihn aufhalten würden. Einige Augenpaare lagen immer auf ihm, entweder von eingeschüchterten Erstklässlern, die selbst Zweitklässler schon zu cool fanden oder von ein paar älteren Schülern, die viel mehr seinen Nachnamen sahen und sich kein eigenes Bild von ihm machen wollte. Für einige würde er immer nur ein Black bleiben, egal wie viel Zeit er im Gryffindor-Gemeinschaftsraum verbringen würde.
Auf dem Weg zum Portraitloch fing er Alice und Franks Blicke auf, die nahe dem Kaminfeuer auf dem Sofa saßen, eng aneinander gedrückt und über ein Buch gebeugt waren. Alice lächelte und Frank nickte und Sirius fragte sich, wie viel Frank wirklich wusste. Ob Frank wusste, dass seine Freundin sich nachts rausschlich, um mit einer Slytherin zu reden? Ihr den Schal hinterherbrachte, mit ihr in der Dunkelheit lachte und Geheimnisse teilte? Wie viel teilte Alice mit ihrem festen Freund und wie viel teilte sie nur mit Narzissa?
Sirius kletterte durch das Portrait der Fetten Dame, sein Brief sicher in den Falten seines Umhangs verstaut und begab sich auf den Weg in die Eulerei. Es war vielleicht unsinnig, aber er hoffte sehr darauf, dass sein Vater ihm antworten und das Buch zukommen lassen würde, auch wenn sein Vater in den letzten Jahren nicht viel getan hatte, damit sich diese Hoffnung in ihm aufbauen konnte. Seit Weihnachten hatten sie nicht miteinander gesprochen und Sirius war sich nicht einmal sicher, ob man dieses Gespräch wirklich unterhaltsam oder echt nennen konnte, immerhin hatte seine Mutter sich nicht davor gescheut, ihn mit dem Imperius-Fluch zu belegen. Fetzenweise erinnerte er sich an die Zeit auf Malfoy Manor, aber der Großteil war verschwommen, als hätte er alles durch ein milchiges, zerbrochenes Fenster beobachtet.
In der Eulerei war es überraschend kühl für die Jahreszeit, aber Sirius machte die Kälte nichts aus. Als sie seine entblößten Unterarme emporkroch, genoss er es sogar ein wenig. Seine Mutter würde ihn verfluchen, wenn sie wüsste, dass er keinen einfachen Wärmezauber um sich legte und fror, als wäre er ein Muggel. Wahrscheinlich hätte sie ihn bereits dafür verflucht, dass er den Brief an seinen Vater nicht von einem Hauselfen hatte losschicken lassen, sondern den ganzen Weg selbst auf sich genommen hatte.
Aber seine Mutter war nicht hier. Hier konnte sie ihn nicht erreichen. Sirius schloss die Augen, lauschte den leisen, kratzenden Geräuschen, die die Eulen machten, wenn sie über die steinernen Böden liefen, wenn sie mit dem Schnabel nach Futter suchten, versuchte das Rascheln von Pergament ausfindig zu machen. Inmitten des zugegebenermaßen nicht gerade gut riechenden Eulenturms fühlte er sich frei.
Es dauerte nicht lange, dann war er zurück im Gryffindorturm. Er betrat den Schlafsaal gerade, als eine dunstige Explosion die Luft rund um James´ Bett füllte.
„Das kann doch nicht dein Ernst sein, Pete, du schummelst doch!“
„Gar nicht! Ich bin einfach besser als du.“
„Bist du überhaupt nicht. Ich bin der amtierende Zauberschnippschnapp-Champion!“
„Hmhm, das sehe ich“, sagte Peter trocken und deutete auf James´ versengte Augenbrauen.
„Warts nur ab, ich werde schon beweisen, dass du ein elender Schummler bist. Remus, hilf mir!“
„Niemals“, erwiderte der andere Junge, der rücklings auf seinem eigenen Bett lag und ein Buch über sie streckte. „Gib es zu, James, du bist ein schlechter Verlierer.“
„Bin ich nicht!“
„Bist du doch.“
„Nicht!“
„Doch!“
„Nicht!“
„Du bist wirklich ein mieser Verlierer, Potter“, sagte Sirius und ließ sich neben James nieder. „Oder muss ich dich daran erinnern, dass du mich im Zug eine halbe Stunde angeschwiegen hast, weil ich dich im Schach besiegt hab?“
James hatte den Anstand, nicht peinlich berührt zu werden oder den Blick abzuwenden. „Das war aber auch nur, weil du ein mieser Gewinner bist.“
„Da hat er Recht“, sagte Peter. „Dein Jubeln hat man noch bis zu den Klokabinen gehört.“
Sirius machte ein wegwerfende Handbewegung. „Wie auch immer. Komm schon, Potter, spiel eine Runde gegen mich, dann werden wir ja sehen, ob Peter wirklich schummelt oder nicht.“
„Sieh gut zu, Pete“, meinte James leise. „Wir werden dich schon entlarven.“
„Ich schlottere“, erwiderte Peter augenverdrehend, ehe er Platz machte, damit Sirius sich James gegenüber hinsetzen konnte.
„Besser ist das“, sagte James.
„Ich hätte im Krankenflügel bleiben sollen“, murmelte Remus, aber das Grinsen war deutlich auf seinem Gesicht zu sehen.
Chapter 30: 30. Jahr 2: Sieger
Chapter Text
Sirius wusste, dass seine Eltern nicht sonderlich viel von ihm hielten und dass es wahrscheinlich einige Zeit dauern könnte, bis sein Vater seinen Brief tatsächlich beantworten würde, aber dass der alte Mann sich über einen Monat lang nehmen würde, hätte er nicht gedacht. Vielleicht zeigte es, dass wenigstens ein geringer Teil seiner Erziehung Früchte getragen hatte, aber er würde es sich niemals erlauben, einen Brief so lange unbeantwortet zu lassen. Naja, wenn man mal von letztem Sommer absah, in dem seine Mutter all seine Briefe konfisziert hatte, bevor er sie überhaupt lesen konnte. Da hatte er nicht sonderlich viele Chancen gehabt, überhaupt jemandem zu antworten.
Ein schmucker Vogel, vollkommen schwarz mit einem silbernen Ring um die Augen, brachte Sirius die Antwort seines Vaters. Es war allein der Eule abzusehen, dass es ein Brief von Zuhause war, noch dazu musste die Eule natürlich erst zum Mittagessen eintreffen, statt wie alle anderen zum Frühstück, sodass es auch der letzte mitbekommen würde. Sirius hatte kaum das Siegel seiner Familie erkannt, als er sich den Brief vom Bein der Eule gerissen und in seine Umhangstasche gestopft hatte. In der Hoffnung, seine Freunde hätten genau diesen Moment nicht mitbekommen, widmete er sich den Resten seines Mittagessens.
„Willst du den Brief nicht lesen?“, fragte Peter vorsichtig nach einigen Augenblicken.
Sirius, einen Löffel voll mit Eintopf auf dem Weg zu seinem Mund, hielt in der Bewegung inne. „Welchen Brief?“
„Tu nicht so“, entgegnete James. „Wir haben alle gesehen, dass deine Familie dir geschrieben hat.“
„Ich weiß nicht, was ihr meint“, versuchte er sich herauszureden.
„Sirius“, fing Remus langsam an. Der Junge musste nichts weiteres sagen, um Sirius zum Seufzen zu bewegen.
„Okay, schön, ich hab einen Brief von meinen Eltern bekommen. Große Sache. Wollt ihr Dumbledore auch noch Bescheid sagen, oder kann ich aufessen?“ Er wusste, er verhielt sich seinen Freunden gegenüber ein wenig unfair, aber er wollte weder seine noch Remus´ Hoffnung zu sehr aufleben lassen, wenn er ihnen davon erzählte, weswegen seine Eltern ihm schrieben. Zumal er sich ziemlich sicher war, dass Remus es ihnen sowieso nur versuchen würde auszureden.
James zog kaum merklich die Brauen zusammen, ehe er langsam sagte: „Steckst du schon wieder in Schwierigkeiten?“ Wenn Sirius nicht wüsste, dass das Unsinn war, dann würde er denken, er hätte sich eingebildet, dass James kurz zum Slytherintisch geblickt hatte.
„Nicht mehr als sonst“, antwortete er. „Es geht bestimmt nur um die dämlichen Pläne meiner Eltern für den Sommer.“
„Was haben sie denn vor?“, fragte Peter.
„Wahrscheinlich Gehirnwäsche“, erwiderte Sirius achselzuckend. Er schlang die Finger um seinen Krug mit Kürbissaft, in der Hoffnung, dass sie dann aufhören würde, verräterisch zu zittern. Aufgeregtheit schien in seinen Adern zu pulsieren und ließ sein Herz schneller schlagen. Nicht oft – eigentlich nie, wenn er genau war – bat er seine Eltern um etwas, deswegen hatte er die unsinnige Hoffnung, dass sie dieses Mal nachgeben würden. Sein Vater würde seine Bitte erfüllen und Sirius könnte endlich lernen, wie er ein Animagus werden konnte. Es war eigentlich ein narrensicherer Plan, wenn er ehrlich war. Was sollte denn schon großartig dabei schief gehen, wenn er seinen Vater um einen einfachen Gefallen bat?
„Das sollen sie erstmal versuchen“, meinte Remus. „In deinen Dickschädel bekommt man eh nichts rein.“
Sirius grinste und James lachte.
„Ihr wisst, dass ich Recht habe“, fügte Remus müde lächelnd hinzu.
„Wenn es schon Gehirnwäsche ist, dann hoffe ich, sie reden dir ein, deine eigenen Socken aufzuheben“, murmelte Peter, ehe er seinen Nachtisch verschlang. „Damit wäre allen geholfen.“
„Vielleicht schenken sie mir aber auch einen persönlichen Hauselfen“, sagte er ohne nachzudenken. „Kreacher hat was gegen mich und liebt meinen Bruder wesentlich mehr, als er sollte.“ Erst, als es ein paar Augenblicke zu lange zu still war, blickte er neben sich. „Was ist?“
Peter schüttelte kurz den Kopf. „Nichts. Ich – Lass das lieber nicht Lily hören.“
„Was hat Evans damit zu tun?“, fragte James, der, wie so oft, hellhörig wurde, sobald Lily erwähnt wurde. Ein wenig lächerlich war es ja.
„Ich hab mich letztens mit ihr darüber unterhalten, wie viele Hauselfen in den Küchen leben und da hat sie gefragt, wie es denn für die anderen Elfen so ist“, murrte Peter seinem Löffel entgegen. „Sie war nicht gerade begeistert davon, als sie erfahren hat, dass manche Zaubererfamilien Hauselfen besitzen und sie nicht so … fachgerecht behandeln, wie man es sollte.“
Sirius zog die Augenbrauen zusammen. „Das würde sie nicht mehr sagen, wenn sie Kreacher kennen würde. Der wurde so oft von meiner Mutter für irgendwelche Kleinigkeiten bestraft und trotzdem kommt er immer wieder angekrochen, um sie daran zu erinnern, was für ein elendiger Wurm er doch ist.“
„Sirius.“ James´ Stimme war ungewöhnlich ruhig geworden. „Rede so nicht über Hauselfen. Sie verdienen genauso viel Respekt wie du und ich.“
„Bitte, deine Eltern haben auch einen Hauselfen, du weißt, was ich –“
James unterbrach ihn mit einer sonderbaren Kühle in den Worten. „Nein, ich weiß nicht, was du meinst, Sirius. Du schaffst es sehr gut, dich über die schlechte Behandlung deiner Eltern zu beschweren und – ja, es ist echt scheiße. Glaubst du nicht, wir wissen das?“ Das warme Braun aus seinen Augen war fast gänzlich verschwunden. Stattdessen blickte James ihn an, als hätte er ihn noch nie zuvor gesehen. „Du weißt, wie es ist, wenn man von den Menschen schrecklich behandelt wird, die einen eigentlich beschützen sollten und trotzdem glaubst du, es ist in Ordnung, wenn du deinen Hauselfen so behandelst? Wenn du ihn einen elenden Wurm nennst?“
Sirius konnte seinen eigenen Herzschlag hören, so leise war es um sie herum geworden, was eigentlich keinen Sinn ergab, denn sie befanden sich mitten in der Großen Halle, umgeben von alle ihren Klassenkameraden und Lehrern. Es war laut und voll und trotzdem fühlte sich Sirius so, als würden plötzlich alle Lichter nur noch auf ihn zeigen. Er schluckte, aber seine Kehle blieb ausgetrocknet. „Ich –“
„Ich will keine Entschuldigungen hören“, fügte James an. „Ich will nur, dass du verstehst, dass du nicht jemand anderen weniger fühlen lassen kannst, nur weil deine Eltern so gut darin sind. Wir verstehen, wie es dir geht – hey. Guck mich an.“ James´ Hand schnellte hervor und legte sich überraschend sanft auf Sirius´ Oberarm. „Guck mich an“, wiederholte er leiser. „Vielleicht gibt es ja einen Grund dafür, warum Kreacher nicht viel von dir hält, hm?“
Ein fester, eisiger Klotz blockierte seine Atemwege. Sirius presste die Lippen zusammen, war unfähig, etwas zu sagen oder zu tun. Er konnte nur nicken und hoffen, dass James ihn nicht hasste.
James allerdings nickte ebenfalls, bevor er seinen Arm noch einmal drückte und dann die Kühle aus seinem Gesicht fallen ließ. Ein lockeres Lächeln grub sich in seinen Mund und er sagte: „Jetzt los, esst schneller, Kräuterkunde geht in zehn Minuten los.“
Es war unglaublich, wie schnell sich James´ Gemüt ändern konnte, aber Sirius beschwerte sich nicht. Er krallte seine Finger ein letztes Mal in das feste, unnachgiebige Material seines Krugs, dann leerte er den Rest des Kürbissaftes. „Richtig.“
Auf dem Weg zum Kräuterkundeunterricht brannte sich der ungelesene Brief ein Loch in Sirius´ Umhang, aber er dachte kaum daran. Vielmehr echoten James´ Worte in seinem Kopf umher, schienen ihn auszufüllen und zu übermannen. Er wusste, James hatte Recht – selbstverständlich hatte er das. James hatte immer Recht. James fiel es einfacher, zu leben und niemanden dabei zu verletzen, als es Sirius tat. Manchmal hatte Sirius das Gefühl, dass jeder seiner Schritte jemandem in die Hacken riss. Dass er mit jedem Schritt jemanden näher an die Klippe trieb.
Manchmal war dieser jemand auch er selbst.
Eine sanfte Berührung ließ ihn zusammenschrecken und Remus´ Finger verließen seinen Arm so schnell wie sie gekommen waren. „Hey, alles gut?“
Nickend antwortete er mit ein wenig gepresster Stimme: „Klar, Lupin. Was soll schon sein?“
Remus´ Gesichtsausdruck kam der sanften Berührung um nichts nach. Die harten, silbrigen Narben verschwanden fast in seiner Haut, während er Sirius ansah. Sonnenlicht ließ seine Haare wie eine Mischung aus Gold und Bronze schimmern. Es war ein grandioser Anblick, fand er. „Du weißt, James meint es nur gut.“
„Und er hat Recht“, fügte Sirius an. „Ich war ein Arsch.“
Das Lächeln auf Remus´ Lippen wackelte für den Bruchteil einer Sekunde. „Manchmal“, gab er schließlich zu. „Aber die meiste Zeit über bist du ziemlich gut.“
Sirius versuchte es zu unterdrücken, aber konnte nicht anders, als belustigt zu schnauben. „Nicht immer.“ Er presste die Lippen zusammen, legte den Kopf ein wenig schief. Es tat weh. „Nicht immer fällt es mir einfach.“
Einen Augenblick lang war auch Remus ruhig, dann: „Du machst das gut, Sirius. Angesichts deiner Familie machst du es sehr gut. Wirklich.“
Die Gewächshäuser schienen heute ein wenig heller zu leuchten.
***
Es war sicher nicht der Ort, an dem Orion Black erwartete, dass man seine Briefe las, aber Sirius hatte sich nur in der Toilettenkabine ein paar Minuten Ruhe ergattern können. Während James, Peter und Remus wie die guten Freunde, die sie waren, vor dem Bad auf ihn warteten, hatte Sirius nicht viel Zeit, um sich die Antwort seines Vaters durchzulesen, ohne die Situation für alle Beteiligten unangenehm zu machen. James war heute sowieso schon nicht sonderlich gut auf ihn zu sprechen, da wollte er ihn nicht auch noch ewig warten lassen und irgendeine dumme Ausrede erfinden.
Sirius zog den hastig eingesteckten Brief aus seiner Umhangtasche, der den halben Tag über nicht gerade weniger zerknickt geworden war, faltete das Pergament auseinander und las sich rasch die Zeilen durch, die sein Vater ihm geschrieben hatte.
Sirius,
es hat mich überrascht, von dir zu hören, da hast du Recht. Es lag sicherlich nicht in meinen Erwartungen, noch einmal einen Brief von dir zu erhalten, der nicht von einem deiner Lehrer stammt, die sich erneut über dich beschweren. Glaube mir, davon habe ich bisher schon deutlich zu viele erhalten.
Deine Mutter und ich sind erstaunt, dass du dich den Verwandlungsstudien so hingezogen fühlst (Sirius fluchte innerlich, war aber nicht allzu überrascht, dass seine Mutter ebenfalls von seiner Bitte wusste), so war das zuvor nie ein Themengebiet der Magie, in welchem die Blacks sich einen Namen gemacht haben. Dann wiederrum, vielleicht ist es keine so schlechte Idee, dein Interesse zu schulen und dich in diesem Bereich zu fördern. Es kommt nicht häufig vor, dass du etwas von dir aus lernen möchtest und deine Mutter und ich sind einer Meinung, dass wir diese Überraschung freudig annehmen.
Was das Buch betrifft, um das du mich gebeten hast: Ich besitze es. Tatsächlich war ich ein wenig gekränkt, dass du gedacht hast, ich würde es nicht haben, aber sei es drum. Ich bin mir sicher, du hast es nicht in bösen Absichten geschrieben. Das Buch allerdings, wie du es wahrscheinlich selbst weißt, ist unfassbar wertvoll und damit nicht so einfach mit einer Eule zu verschicken. Das soll nicht heißen, dass ich deinen Wissensdurst nicht doch stillen will, aber es liegt mir doch fern, ein solch wertvolles, fragiles Buch einfach so zu verschicken. Selbst wenn ich darauf vertrauen würde, dass du es nicht verlierst oder irgendwie beschädigst, weiß ich nicht, ob den anderen Kindern an dieser Schule das ebenfalls zutrauen würde.
Nun, Sirius, wir sind sehr erfreut, dass du dich deinen eigenen Studien hingezogen fühlst, deswegen haben deine Mutter und ich beschlossen, dass du dir das Buch in den Sommerferien leihen und Seiten und Passagen kopieren darfst, die dich interessieren. Es ist dir verboten, das Buch außerhalb meiner Bibliothek zu nehmen und außerdem ist es dir verboten, mit irgendjemandem darüber zu reden, der dem Wissen innerhalb dieser Seiten nicht angemessen erscheint. Ich hoffe wir verstehen uns dabei.
Außerdem haben wir beschlossen, dass es an der Zeit ist, dich und deinen Bruder ein wenig extra zu fördern. Die Tutoren, die wir euch vor dem Start der Schuljahre zur Verfügung stellen, sind gut genug, um euch durch die lächerlichen Prüfungen Hogwarts´ zu bringen, aber bei Weitem nicht genug, damit wir mit Sicherheit sagen können, dass ihr die Erben eines der ehrwürdigsten Häuser der Zaubererwelt seid. Wir glauben, es ist heutzutage umso wichtiger, dass ihr in all den magischen Künsten ausgebildet werdet, die man euch an dieser Schule nicht lehren will, besonders wenn ihr – wenn du, Sirius, der Erbe sein willst.
Ich hoffe, mit dieser Vereinbarung können wir dich zufriedenstellen.
Wir erwarten dich und Regulus am Bahnsteig.
PS: Wir haben sicher gestellt, dass der neue Tutor ein hervorragendes Wissen in Verwandlungsmagie besitzt, damit er dir in deinen persönlichen Studien helfen kann.
Sirius fluchte leise, ehe er den Brief zurück in seinem Umhang verstaute und die Spülung betätigte. Dem Anschein nach wusch er sich rasch die Hände, dann schloss er sich seinen Freunden wieder an, die sich darüber unterhielten, welcher Lehrer bei einem echten Duell gewinnen würde – McGonagall oder Flitwick.
„Ganz klar McGonagall“, war James´ Meinung. „Sie würde Flitwick einfach in einen Kieselstein verwandeln oder was weiß ich.“
„Professor Flitwick würde die Verwandlung blockieren oder sofort wieder aufheben können“, entgegnete Remus mit nachdenklicher Falter auf der Stirn. „Er hat uns doch von dieser wortlosen Magie erzählt, nicht wahr? Ich bin mir sicher, dass er einen solch mächtigen Finite-Zauber hinbekommt, dass er Professor McGonagalls stärkste Verwandlung auflösen könnte.“
Peter war gänzlich anderer Meinung. „Ihr vergesst dabei, dass Professor Sprout Flitwick und McGonagall in der Zwischenzeit einfach mit einer Venemosa Tentacula überraschen und gewinnen würde. Also ist es doch schon klar, wer hier die beste Professorin ist, oder?“
James schüttelte den Kopf. „Ein Incendio und all deine Pflanzen sind nur noch Asche, Pete.“
„Glaub ja nicht, dass magische Pflanzen so einfach zu besiegen sind, James. Nicht jede Pflanze ist so schwach wie die Teufelsschlinge.“
Es war Wahnsinn, fand Sirius, dass er es tatsächlich geschafft hatte, seinen Vater davon zu überzeugen, ihm Zugang zu diesem wertvollen Lehrbuch zu geben, damit er endlich lernen würde, wie man ein Animagus werden würde, aber noch viel wahnsinniger war es, dass er jetzt so tun müsste, als würde er sich wirklich für Verwandlung interessieren. Er war sich sicher, dass sein Vater keine Witze gemacht hatte und wirklich einen neuen Tutoren gesucht hatte, der sich vorzüglich mit Verwandlung auskannte. Es würde sicherlich kein allzu leichter Sommer werden – schon gar nicht, wenn er die ganzen Wochen damit verbringen musste, noch mehr zu lernen und von seiner Mutter überwacht zu werden – aber das war es wert, wenn er mit den Früchten seines Erfolgs endlich jemandem helfen konnte, der ihm wichtig war.
Er warf einen raschen Seitenblick auf Remus, der der Diskussion von James und Peter angespannt zuhörte, und grinste. Ein paar Wochen wirkliches Interesse an Verwandlung vortäuschen würde ein einfacher Preis dafür sein, dass sie dann Animagi sein würden, um Remus zu helfen. Sirius würde alles tun, damit es Remus besser ging und wenn er sich dafür zeitweise gut mit seinen Eltern stellen musste, dann war es das. Er würde es tun, er würde ein perfekter kleiner Reinblüter sein und all die Zauber lernen, die seine Mutter von ihm verlangte und dann würde er irgendwann endlich verschwinden können.
„Warum grinst du so, Sirius?“, fragte Peter.
Die Blicke seiner Freunde durchbohrten ihn regelrecht. Er musste noch ein Geheimnis daraus machen, zumindest so lange, bis er nicht wirklich herausgefunden hatte, wie man zum Animagus wurde, dann konnte er James und Peter einweisen. „Oh, nur so. Ich hab grad überlegt, dass keiner der Lehrer eine Chance gegen den guten alten Sluggy hätte, wenn es darum gehen würde, kandierte Ananas zu futtern.“
Remus versuchte sein Lachen in ein Husten zu verwandeln. „Wie kommst du überhaupt auf so eine Idee, Sirius? Wirklich, manchmal weiß ich nicht, was in deinem Kopf vorgeht.“
Erneut grinsend, antwortete Sirius: „Da bin ich mir manchmal auch nicht so sicher, Lupin. Also, warum vergesst ihr bei eurem Lehrer-Spiel eigentlich den eigentlichen Gewinner jedes Duells?“
James zog die Augenbrauen zusammen. „Und wer soll das sein?“
„Ja, wen könntest du bitte meinen?“, fragte Peter, ehe er anfügte: „Dumbledore zählt übrigens nicht, das haben wir schon längst beschlossen.“
Sirius schnalzte mit der Zunge. „Ach, Dumbledore. Nicht mal der hätte eine Chance gegen den Champion.“ Er konnte sein Lachen nicht mehr zurückhalten; es brach aus ihm heraus und als sie gerade die Große Halle betraten, musste er sich stark zusammenreißen, damit nicht die gesamte Schülerschaft ihre Blicke auf ihn warfen. Er senkte seine Stimme ein wenig, sodass seine Freunde sich näher an ihn beugten, ehe er sagte: „Schniefelus muss nur einmal seinen fettigen Kopf in deren Nähe bringen und selbst Dumbledore würde freiwillig aufgeben.“
Es war einen Augenblick lang ruhig, dann sagte James leise und offensichtlich angewidert: „Merlin, das ist widerlich.“
„Über sowas will ich gar nicht nachdenken“, meinte Peter, der sich tatsächlich schüttelte. „Und das auch noch vor dem Essen.“
Remus seufzte nur, ehe er sagte: „Du wirst dich nie bessern, oder?“
„Was soll ich sagen“, antwortete Sirius nonchalant, ehe er sich mit seinen Freunden an den Tisch setzte. „Ich lebe eben, um zu unterhalten.“
„Bitte, manchmal solltest du damit aufhören“, sagte Peter, der zwar das Besteck bereits in der Hand hatte, aber nur mit einem sehr unentschlossenen Blick auf die aufgetischten Speisen blickte. „Ich muss mir jetzt ständig vorstellen, wie Schniefelus sich in die Küchen schleicht und das Essen verschmiert.“
James, der drauf und dran gewesen war, sich einen Batzen mit Kartoffeln auf den Teller zu werfen, hielt in der Bewegung inne. „Pete“, sagte er leise, die Augen geschlossen. „Warum in Merlins Namen musstest du das sagen?“ Er ließ die Kelle mit den Kartoffeln zurück in die Schüssel fallen und schob sie von sich. „Jetzt werde ich gar nichts mehr runterbekommen.“
„`Tschuldige“, murmelte Peter kleinlaut. Sein Teller blieb ebenfalls leer.
„Ihr seid Memmen“, sagte Sirius, ehe er sich ein wenig gegrilltes Fleisch auf die goldene Platte legte. „Seht ihr?“ Er nahm einen gewaltigen Bissen, woraufhin die Gewürze des Fleisches sich in seinem Mund ausbreiteten und ihm nur noch mehr das Wasser zusammenlaufen ließen. „Köschtlisch.“
„Du bist so ein Tier“, sagte James.
„Tiere haben bessere Manieren“, erwiderte Remus, der nicht aufblickte und sich währenddessen einen Teller mit Sauce übergoss. Er hatte sogar eine Serviette auf dem Schoß liegen.
„Nenn dich nicht so“, meinte Sirius empört.
„Wer sagt, dass ich über mich rede?“, fragte Remus, ehe er den Blick hob und Sirius´ Augen traf. Eine seiner Augenbraune wanderte ein wenig höher. „Es verletzt mich, dass du das sofort denkst, Sirius.“
Würde Sirius Remus nicht kennen und würde er den Anflug des Lächeln auf seinen Lippen nicht sehen, dann würde er sich ziemlich schlecht fühlen. So allerdings, mit der Kenntnis, dass Remus sich selbst in den Witz integriert hatte, hob er nur die Hand und fuhr sich durch die dichten, schwarzen Haare. „Du bist ein Idiot, Lupin.“
„Ihr färbt eben ab“, erwiderte Remus, bevor er sich wieder seinem Mittag widmete. „James, jetzt iss endlich. Du hast morgen einen wichtigen Tag.“
„Oh, du sorgst dich immer so um mich“, sagte James mit schmachtender Stimme, lehnte sich über den Tisch und zwinkerte ihm spielerisch zu. „Was, hast du etwa Angst, dass ich vom Besen falle?“
„Ich weiß nicht, warum es mich kümmert“, erwiderte Remus augenverdrehend. „Keiner von euch verdient es überhaupt, dass ich mich euch kümmere.“
„Aber du bist doch so eine gute Mutter-Figur, Remus“, meinte Peter.
Remus warf eine zerknüllte Serviette nach ihm.
James lehnte sich wieder zurück. „Okay, jetzt mal ernsthaft, ich mach mir keine Sorgen um das Spiel morgen.“ Als Sirius ihm einen zweifelnden Blick zuwarf, seufzte James und fügte an: „Wirklich. Gryffindor liegt mit den Punkten so weit vorne, dass wir schon wirklich mehr als nur zerstört werden müssten, um den Quidditch-Pokal zu verlieren. Slytherin hat dieses Jahr vielleicht einiges drauf, aber ich glaube nicht, dass sie auch nur den Hauch einer Chance gegen uns haben. Patrick hat das ganze Jahr an unserer Teamarbeit gearbeitet und das zahlt sich richtig aus.“
„Nun“, sagte Remus langsam, der sichtlich nur halb wirklich wahrnahm, was James gesagt hatte. „Ich denke, du solltest dich trotzdem richtig vorbereiten. Es wäre bestimmt kein gutes letztes Spiel, wenn du dich schlecht anstellst … oder glaubst du, Patrick will dich dann noch im Team haben?“
Auf James´ Gesicht ging ein Licht auf und Sirius musste sich auf die Zunge beißen, um nicht lauthals zu lachen. Remus hatte ihn gerade ganz klar manipuliert und James hatte es nicht einmal mitbekommen. Er fing erst Remus´, dann Peters Blick auf, die dasselbe dachten, ehe sie wieder beiseite sahen, um sich nicht zu verraten.
„Du hast Recht!“, sagte James. „Wow. Was würde ich nur ohne dich tun, Remus?“ James begann, seinen Teller vollzuschaufeln und keinen Augenblick später damit, sich selbst den Bauch vollzustopfen. Es dauerte nicht lange, da hatte er bereits seine zweite Portion angefangen.
„Das frage ich mich auch manchmal“, erwiderte Remus so leise, das James es nicht hörte. Er fing Sirius´ Blick auf, grinste und zwinkerte ihm dann zu. Es brachte sein Herz dazu, schneller zu schlagen.
Sirius erwiderte sein Grinsen und konnte es kaum erwarten, Remus das nächste Mal so Lächeln zu sehen.
***
Am nächsten Morgen war der Schulgeist angefeuert. Überall wurden Häuserflaggen in entweder Gryffindorrot oder Slytherringrün herumgeschwenkt, die Quidditchspieler hatten sich noch vor dem Frühstück in ihrer Uniform in der Großen Halle stolz präsentiert und ein regelrechtes Brummen hatte die Schülerschaft eingenommen, von denen einige sich sogar mit den entsprechenden Farben im Gesicht geschminkt hatten, um ihre Unterstützung auszudrücken.
Für Lily war das alles nichts. Von ihrem Vater her kannte sie die ein oder andere sportverrückte Eigenschaft, aber selbst er würde sagen, dass Hogwarts es mit seiner Liebe zum Quidditch ein wenig übertrieb. Vielleicht sogar ein ganz großes Bisschen, dachte sie, als sie die überdimensional großen Quaffel betrachtete, die durch die Große Halle surrten und von niemand anderem als Professor Flitwick heraufbeschworen wurden. Es war ihr schleierhaft, wieso selbst die Lehrer den unsäglichen Gebrauch von Magie in diesem Sinne guthießen.
„Guck nicht so mies drein, Lily“, sagte Marlene neben ihr, die genüsslich den Rest ihres Frühstückrühreis verspeiste. Eine widerliche Menge an Ketchup klebte darauf, von dem Marlene sich allerdings nicht beirren ließ. „Das Schuljahr ist fast vorbei, es ist das letzte Quidditch-Spiel vor den Prüfungen. Entspann dich mal ein bisschen.“
„Ich entspanne mich, wenn die Prüfungen tatsächlich vorbei sind.“ Lily schnaubte in ihren Orangensaft. „Ich weiß nicht, was ihr alle so an diesem Spiel findet.“
„Es macht Spaß“, erwiderte Marlene achselzuckend. „Marek hat auch gespielt, als er noch auf die Schule ging. Treiber. Er hat einmal angedroht, dass er mich in einen Klatscher verwandeln würde, wenn ich ihn weiter beim Training Zuhause nerve und dann hab ich geheult. Mum hat ihn zur Strafe den gesamten Garten entgnomen lassen.“
„Geschwister“, schüttelte Mary den Kopf. „Ich glaube, ich werde nie aus euch schlau werden.“
„Du verpasst was“, entgegnete Marlene.
„Glaub mir, bei Tuni verpasst du wirklich gar nichts“, sagte Lily leise.
Mary verzog das Gesicht. „Und das, obwohl ihr euch jetzt ganz gut versteht. Autsch.“
„Tun wir auch, es ist nur – keine Ahnung. Tuni kann wirklich frustrierend sein.“
„Es liegt in der Natur von älteren Geschwistern, dass sie einem auf die Nerven gehen“, meinte Marlene. „Das ist so eine Großmutterweisheit, die immer stimmen wird.“
Lily schnaubte belustigt, als sie an ihre Großmutter dachte, eine extrem religiöse Frau, die bisher immer noch nicht wusste, dass Lily eine Hexe war. Wahrscheinlich würde sie es ihr nicht einmal übel nehmen, aber irgendwie einen Weg finden, um ihrem Vater die Schuld zu geben. Es war ein ziemlich offenes Geheimnis, dass Großmutter Marigold den Ehemann ihrer Tochter nicht sonderlich leiden konnte.
„Oh Gott, Apropos auf die Nerven gehen“, sagte Mary leise und deutete mit einem Nicken auf die Eingangstür. James Potter trat gemeinsam mit seiner Bande in die Große Halle. Er hatte es wohl nicht für nötig empfunden, sich seinem Team bereits anzuschließen, stellte Lily fest.
Lily tat ihr Bestes, um nicht in seine Richtung zu schauen. Dieser Tag war sowieso schon anstrengend genug, da wollte sie es sich selbst nicht auch noch schwieriger machen, indem sie ungewünschten Kontakt mit der Plage Nummer Eins aufnehmen würde. Wenn sie Marlene zuliebe nicht in einer Stunde mit runter zum Feld gehen würde, dann würde sie sich wahrscheinlich während des Spiels einfach in der Bibliothek verziehen und ein paar Wiederholungen angehen. Sie hatte immer noch Schwierigkeiten damit, die richtigen Verwandlungsformeln auswendig aufzusagen, wenn es darum ging, eine Teetasse in eine Maus und wieder zurückzuverwandeln. Professor McGonagall hatte angedeutet, dass dieser Spruch drankommen würde und Lily würde nicht zulassen, dass sie ein paar leichtverdiente Punkte verlor, nur weil sie die Reihenfolge der Wörter durcheinanderbrach.
„Wenn ihr mich fragt“, sagte Marlene, nachdem sie den letztes Rest ihres Rühreis heruntergewürgt hatte, „dann sind eindeutig zu wenig Mädchen in unserer Mannschaft. Ich meine, James und Monty, okay, die haben sich wirklich gut angestellt und Patrick ist auch ziemlich talentiert, aber wieso hat er bitte Oliver Jones als zweiten Treiber genommen? Der Kerl kann meistens kaum den Schläger richtig herum halten.“
„Bist du immer noch sauer, weil du nicht ins Team aufgenommen wurdest, obwohl du nicht an den Auswahlspielen teilgenommen hast?“, fragte Mary grinsend, woraufhin Marlene ihr einen giftigen Blick zuwarf.
„Nächstes Jahr mach ich mit“, versprach sie. „Dann kann Patrick nicht nur seine eigenen Kumpel ins Team holen, sondern auch mal ein wenig Frauenpower sehen. Ich meine, sechs Jungs und ein Mädchen? Und – natürlich – spielt sie Sucher.“
Lily verdrehte die Augen. Sie tat nicht einmal so, als würde sie verstehen, warum Marlene sich darüber so sehr aufregte. „Du hast doch gesagt, bei den Auswahlspielen haben kaum Mädchen mitgemacht.“
„Trotzdem“, erwiderte sie. „Es geht ums Prinzip, weißt du?“
„Oh, absolut.“
„Du wirst ja schon sehen.“
„Ganz bestimmt werde ich das“, sagte Lily nickend.
„Sehr gut.“ Marlene trank den Rest ihres Kürbissaftes aus, ehe sie den Kelch etwas zu schwungvoll auf den Tisch stellte. „Und jetzt kommt mit.“
„Was? Wohin?“, fragte Mary mit zusammengezogenen Augenbrauen, aber ließ sich von Marlene auf die Beine ziehen.
Lily hatte große Lust sitzen zu bleiben (allein schon deswegen, weil sie noch gar nicht mit ihrem Frühstück fertig war), aber wusste, es war sowieso sinnlos gegen Marlene zu diskutieren. Wenn das Mädchen sich einmal etwas in den Kopf gesetzt hatte, dann war es unmöglich, sie von etwas anderem zu überzeugen – wahrscheinlich verstand sie sich deswegen am besten mit den Jungs. Sie war eine von ihnen.
Marlene zerrte Lily und Mary mit sich, aber nicht in Richtung der Türen, sondern weiter den Tisch runter. Lily erkannte zu spät, wo sie mit ihnen hinwollte, da waren sie bereits vor dem lachenden Quidditch-Team angekommen. „Hallo, Patrick“, sagte Marlene über das Lachen hinweg.
„Ah. Hi. McKinnon, richtig?“, fragte der ältere Junge. Er hatte kurz geschorene Haare und ein ziemlich kantiges Kinn, sowieso unerträglich helle blaue Augen. Er sah aus, als hätte er vor kurzem eine Parfüm-Werbung gedreht, die Lily im Fernsehen ständig sah.
„Richtig.“ Marlene streckte ihm nicht die Hand entgegen. „Was sagst du eigentlich zu den Anschuldigungen, dass du deine eigenen Freunde fürs Team bevorzugt hättest und deswegen eine ziemlich miese Gleichberechtigungsquote hast?“
Die umsitzenden Schüler wurden ruhig, alle Augen richteten sich auf Marlene und Patrick. Der ältere Junge hatte immerhin den Anstand, den Blickkontakt zu halten. „Ich bin nicht sicher, was du meinst“, erwiderte er.
Marlene hob einen Finger und zählte laut die Köpfe des Quidditch-Teams. „Eins, Zwei, Drei, Vier, Fünf, Sechs. Sechs Jungs. Und natürlich Danielle“, fügte sie mit einem raschen Lächeln auf die Sucherin hinzu, die ganz außen saß und so aussah, als würde sie am liebsten durch die Bank hindurch in die Küchen verschwinden. „Das ist keine sonderlich angenehme Quote, nicht wahr?“
Patrick wurde dunkelrot im Gesicht. „Ich versichere dir, dass ich niemanden aufgrund seines Geschlechts ausgewählt hätte und“, er zog die Brauen zusammen, „selbst wenn, dann wüsste ich nicht, warum es dich etwas anzugehen hätte.“
„Weil ich nächstes Jahr dem Team beitreten werde“, erwiderte Marlene selbstsicher.
Lily bewunderte sie dafür, dass sie so offen mit einem deutlich älteren Jungen redete und nicht einmal einen Schritt zurückging, als dieser endlich aufstand.
„Und du denkst, du hast die besten Chance aufgenommen zu werden, wenn du den Kapitän beleidigst?“, fragte Patrick.
„Oh? Ich weiß nicht, warum du dich beleidigt fühlst, ich hab doch nur ein paar Fakten genannt“, meinte sie unschuldig klingend. „Außerdem hast du gerade noch gesagt, dass du niemanden aufgrund des Geschlechts ausgewählt hättest, da solltest du dich eigentlich nicht angegriffen fühlen, oder?“
Patricks Gesicht wurde, wenn möglich, noch dunkler. „Hör zu, McKinnon“, knurrte er, beugte das Gesicht nach vorne, sodass er auf Augenhöhe mit Marlene war und presste die Lippen zusammen, „ich habe es nicht gerne, wenn man meine Autorität versucht zu untergraben oder mir Dinge vorwirft, die nicht stimmen, verstanden? Wenn du wirklich ins Team aufgenommen werden willst, dann solltest du vielleicht mal überlegen, wie du mit deinem zukünftigen Kapitän redest, kapiert?“
Marlene lächelte ihn an. „Selbstverständlich, Kapitän. Ich bin mir sicher, du hast dann auch nichts dagegen, dass du nächstes Jahr allen Teilnehmern die gleichen Chancen gibst, nicht wahr?“
„Das tue ich bereits“, knurrte Patrick bedrohlich.
„Dann hast du ja nichts zu verlieren“, antwortete sie mit süßlichem Unterton. „Also dann. Viel Glück beim Spiel. James, Monty“, sie nickte den beiden zu, die sie mit offenen Mündern anstarrten, „Danielle. Mach mich stolz.“
Die peinlich berührte Sucherin konnte gar nichts anderes machen, außer nicken, da hatte Marlene sich bereits umgedreht und war mit wehendem blonden Pferdeschwanz davongelaufen.
Mary und Lily verblieben für einen Herzschlag („Äh, genau, viel Glück, Leute!“, sagte Mary mit nervösem Lachen), ehe sie ihrer Freundin eilig folgten.
An der Tür erreichten sie sie. „Was sollte das denn?“, zischte Mary, als sie in die Eingangshalle traten. „Ich dachte, du willst dem Team beitreten, Marlene?“
„Will ich auch“, erwiderte sie. „Aber nicht, wenn ich damit nur eine Quote erfülle. Ich glaube auch nicht, dass Patrick es wirklich mit Absicht macht oder dass er ein übler Sexist ist, aber bei den Auswahlspielen waren sicherlich nicht nur zufällig kaum Mädchen da.“ Sie zuckte mit den Schultern. „Manchmal muss man ihnen einfach nur zeigen, dass sie gefährlich an der Grenze leben“, fügte sie an, ehe sie die Tür zum Innenhof aufstieß.
Sommerlich warme Luft strömte ihnen entgegen, sowie der Duft von frischem Rasen und Blumen. Marlene streckte die Arme über den Kopf.
„Das war trotzdem ziemlich dämlich von dir“, sagte Lily langsam. „Hättest du das nicht nach dem Spiel machen können? Was ist denn, wenn Patrick deswegen jetzt nicht richtig spielt?“
Mary grinste sie mit hochgezogenen Brauen an. „Ich dachte, du hältst nicht viel von dem Spiel?“
Lilys Wangen wurden heiß. „Tu ich auch nicht, aber – ich meine, ihr wisst doch auch, wie Potter ist, wenn er ein Spiel verliert. Er ist ein schrecklicher Verlierer und ich habe keine Lust darauf, dass er die letzten Wochen nur noch rummotzt.“
„Witzig, niemand von uns hat James erwähnt oder mit ihm geredet, aber trotzdem –“, fing Mary an.
„ – konntest du es nicht lassen, seinen Namen einzubringen, hm?“, endete Marlene lachend.
Lily presste die Lippen zusammen. „Ihr seid doch – ihr wisst genau, dass ich das so nicht meine!“ Wieso sollte sie es auch irgendwie meinen, dachte Lily säuerlich. Sie konnte James Potter immerhin nicht ausstehen und daran würde sich auch nichts mehr ändern, aber dennoch konnte sie bemerken, dass es für sie und alle Beteiligten eine schrecklich nervige Zeit bedeuten würde, wenn Potter sein letztes Quidditch-Spiel verlieren würde. Er war nun mal ein ätzender Verlierer und sie alle wussten das.
Mary und Marlene tauschten einen belustigten Blick zu dem Lily nur die Arme verschränkte, dann sagte Mary: „Schon gut, setz nicht gleich deinen Todesblick auf, Lily. War nur ein Witz.“
„Das will ich auch hoffen“, murrte sie als Antwort.
Den Rest des Weges zum Quidditch-Stadium gingen die Mädchen in gemütlichem Schlendergang. Es gab keine wirkliche Hektik, um endlich da zu sein, denn das Spiele würde nicht in nächster Zeit losgehen, aber es gab auch keinen wirklichen Drang, noch vorher woanders hinzugehen. Sie könnten in den Gemeinschaftsraum zurückkehren, allerdings würde der Weg dahin allein schon den Großteil der Zeit einnehmen, sodass sie kaum Möglichkeit haben würden, sich hinzusetzen, da müssten sie schon wieder los, wenn sie noch Sitzplätze ergattern wollten. In die Bibliothek würden Mary und Marlene an einem Spieltag sowieso nicht freiwillig gehen und keine von ihnen hatte einen Brief, den sie in die Eulerei bringen mussten. Lily hatte ihre neue Eule Pallas erst ein paar Tage zuvor mit einer Antwort an ihre Eltern losgeschickt.
Lily fand es schwierig Aufregung in sich zu finden, wenn sie doch eigentlich gar nichts für Quidditch übrig hatte. Lediglich die Tribünen fand sie irgendwie praktisch, denn sie eigneten sich perfekt als Rückzugsort zum Lernen oder Lesen, wenn es warm genug war und sie nicht im Gemeinschaftsraum mit dutzend anderen Schülern eingequetscht sein wollte oder der Bibliothek mal entfliehen musste. Lily hatte sicherlich auch nie ihr Buch beiseitegelegt um den älteren Jungs beim Training zuzugucken, wenn sie lauthals gelacht hatten. Das wäre lächerlich und etwas, dass sie nur unter Veritaserum jemals zugeben würde.
Die restliche Zeit bis das Spiel begann, füllten die Mädchen damit, sich zu unterhalten, Wetten abzuschließen, welches Team wie viele Punkte machen würde (Lily hielt sich diplomatisch aus dieser Angelegenheit heraus) oder sich von ihren Plänen für die Sommerferien zu erzählen. Nach einer Weile tauchte auch der Rest der Schule auf. Dorcas und Emmeline setzten sich ein paar Reihen vor ihnen, aber nicht ohne ihnen zuzuwinken. Benjy Fenwick verkroch sich auf eine Bank am untersten Ende der Tribüne und sah so aus, als wäre er lieber überall aber nicht hier und die Gryffindor-Jungs minus Potter und Monty setzten sich ebenfalls in ihre Nähe. Lily wollte liebend gern Remus nach seiner Meinung zu dem letzten Test bei Professor Flitwick fragen, doch dieser war so in ein Gespräch mit Sirius vertieft, dass er nicht einmal mitbekam, wie Peter ihm die Verpackungen seiner Schokofrösche in den Umhangsärmel legte. Kopfschüttelnd wandte sie sich von den Jungs ab.
Minuten später betrat Madam Hooch das Spielfeld. Sie hatte eine Fliegerbrille in den weißen Haaren, doch selbst aus dieser Entfernung meinte Lily, dass sie die stechend gelben Augen der Flug-Lehrerin erkennen konnte. Sie waren unheimlich, fand sie. Madam Hooch hatte einen Besen in der einen Hand und ihren Zauberstab in der anderen, mit der sie eine breite Holzkiste aufs Spielfeld fliegen ließ. Die Kiste kam staubaufwirbelnd auf dem Boden auf und rüttelte einmal, zweimal bedrohlich, ehe sie sich beruhigte.
Madam Hooch ließ einen schrillen Ton aus ihrer Pfeife erklingen und Sekunden später flogen die Teams aus den entgegengesetzten Toren, vierzehn Schüler auf Besen mit scharlachroten oder smaragdgründen Uniformen, die in der Luft einander umkreisten, ehe sie in einer antrainierten Formation mitten in der Luft stehen blieben. Der Jubel der Zuschauer ließ Lily ihre Ohren zuhalten.
Lautes Kreischen, Pfeifen und Rufen erfüllte die Luft – noch ein Grund, wieso sie sich nicht sonderlich wohl bei Quidditch fühlte. Wieso musste es auch so laut sein? Sie nahm vorsichtig die Hände von den Ohren, damit sie sich an die Lautstärke gewöhnen konnte.
„Haut sie weg!“, schrie Marlene in ihre trichterförmig angeordneten Hände neben ihr.
„Gryffindor, Gryffindor!“, erklang ein Fangesang unter ihr, in den selbst Dorcas und Emmeline einstimmten.
„Komm schon, Patrick, ich hab drei Galleonen auf dich gewettet!“, schrie ein älterer Junge irgendwo hinter her, woraufhin lautes Lachen ertönte.
„Die Schlangen sollen sich warm anziehen“, ertönte es unter ihr, „unser Team ist wesentlich besser.“
„Quatsch nicht, Slytherin hat ein starkes Team aufgebaut.“
„Sicher nicht, die haben vielleicht zwei gute Leute, der Rest von denen kann nicht mal richtig herum auf den Besen steigen!“, antwortete ein Dritter.
Das Publikum lachte, schrie und raufte sich untereinander, bis ein weiterer Pfiff die Luft durch schnitt. Madam Hooch trat gegen die Truhe auf dem Boden, woraufhin zwei schwarze Bälle aus ihren Ketten sprangen und in die Luft sausten. Ein kleiner goldener Schimmer folgte ihnen, war aber sofort im Sonnenlicht verschwunden. Die Schiedsrichterin bückte sich und hob den rotbraunen Ball auf, der übrig geblieben war (Lily hatte nie verstanden, wieso alle anderen Bälle verzaubert waren, aber der Quaffel als einziger wie ein normaler Ball behandelt wurde), bevor sie ihn sich unter den Arm klemmte.
„Ich will ein schönes und faires Spiel sehen“, sagte Madam Hooch mit magisch verstärkter Stimme. „Keine Fouls, keine unfairen Spielzüge, verstanden? Also dann – Los!“ Mit enormem Schwung katapultierte sie den Quaffel in die Luft, der beinahe sofort von einem der Slytherin-Jäger geschnappt wurde.
Die Spieler in der Luft verteilten sich auf ihre Plätze, die Hüter nahmen ihre Positionen an den Toren ein und die Sucher verschwanden in die Höhe, während die Jäger umeinander wie Bienen kreisten. Einer der Gryffindor-Treiber schwang seiner Schläger nach einem der kleinen Klatscher und feuerte ihn quer durch die Luft, allerdings ohne wirkliches Ziel, wie es Lily schien.
Allgemein hatte sie keine wirkliche Ahnung, was dort auf dem Feld passierte und ohne die Ansagen vom Kommentator wäre sie wahrscheinlich noch aufgeschmissener gewesen. Die meiste Zeit über war sie glücklich damit, einfach nur zuzugucken, nicht zu wissen, auf welches Tor geschossen werden musste oder wer überhaupt wer war. Es war ein Schwall an Farben in der Luft und viel zu hohe Lautstärke um sie herum, während sie gesamte Schule daran interessiert zu sein schien, sich die Kehlen wund zu schreien. Jubel entbrannte jedes Mal, wenn ein Tor geschossen wurde, gefolgt von Applaus, wenn irgendeiner der Spiele etwas interessantes vorführte. Manchmal gab es kollektives Buhen und Luft anhalten, aber sonst riss nichts die Menge aus ihrem andauernden Jubel. Lily konnte sich einige bessere Dinge vorstellen, die sie an einem Samstagmorgen anstellen konnte, besonders an einem, der so schön und klar wie dieser war.
„Potter im Quaffelbesitz“, schrie der Kommentator in sein magisches Mikrophon, „er täuscht einen brillanten Pass vor, dann ist er schon – oh, das war knapp! Potter weicht dem Klatscher beinahe schon mühelos aus und – ja! Das ist ein weiteres Tor für Gryffindors jüngsten Jäger!“
Lily wollte überhaupt nicht aufpassen, was in der Luft vor sich ging, aber sie hatte keine Wahl gehabt, als der Kommentator angefangen hatte über Potter zu reden, denn Mary hatte ihr beinahe sofort einen Ellbogen in die Seite gestochen. Mit verschränkten Armen beobachtete sie, wie Potter um Haaresbreite einem der schwarzen Klatscher auswicht, sich angeberisch mit seinem Besen in der Luft rollte und dann ein weiteres Tor schoss. Sie war nicht sonderlich beeindruckt, aber das könnte auch daran liegen, dass sie oft genug gesehen hatte, wie Potter sich auf seinem Besen anstellte. Sie verstand nicht viel vom Fliegen, wusste aber immerhin, dass Potter dieses eine Mal nicht einfach nur leere Versprechen gemacht hatte. Zumindest hatte Marlene ihr das gesagt und sie glaubte ihrer Freundin.
„Nicht schlecht, was?“, fragte Mary neben.
„Sicher“, erwiderte Lily achselzuckend. Sie hoffte, einer der Sucher würde endlich den Schnatz fangen, damit sie ihre Notizen holen und sich ans Ufer des Schwarzen Sees setzen konnte. Es wäre sicherlich wahnsinnig entspannend wenn sie mit einer warmen Brise um die Haare lernen könnte.
„Ach Lilylein“, seufzte Marlene. „Manchmal musst du auch ein wenig Spaß haben.“
„Das würde ich“, entgegnete sie, „wenn ich nicht hier sitzen müsste.“
„Irgendwann wirst du uns noch danken“, erwiderte Mary.
Lily schnaubte. „Für was denn?“
„Wirst schon sehen“, flötete Marlene glücklich klingend. Sie grinste, ehe sie in den entbrannten Applaus einstimmte, weil erneut ein Tor für Gryffindor gefallen war.
Je länger das Spiel ging (Lily hatte ihre Armbanduhr vergessen und war sich nicht sicher, wie spät es wirklich war, aber ihres Erachtens nach ging das Spiel schon viel zu lange), desto angriffslustiger wurden einige der Spieler. Lily wollte nicht pauschal über einen Kamm scheren, aber sie war sich sehr sicher, dass ein Großteil des Slytherin-Teams nicht mehr daran interessiert war, fair zu spielen. Immer wieder wurden Klatscher aus Versehen verfehlt, sodass die Schläger stattdessen mit Magengruben oder Oberschenkeln kollidierten, Spieler rasten in andere hinein, um sie daran zu hindern, den Quaffel in die Finger zu bekommen und mehr als einmal wurde der Hüter Monty angegriffen, obwohl Lily an der Reaktion ihrer Klassenkameraden ablesen konnte, dass das wohl ein ziemlich übles Foul war.
Madam Hoochs Pfeife ertönte mittlerweile alle paar Minuten. Immer wieder musste sie einfache Heilzauber auf die Schüler anwenden oder Strafschüsse verteilen. Gryffindor hatte in den letzten zwanzig Minuten sieben Mal getroffen – fünf Mal davon war nur aufgrund der Strafen, die Madam Hooch den Slytherins auferlegt hatte. Es ging sogar so weit, dass einer der Treiber von Slytherin es mit seinem Schläger auf die Gryffindor-Sucherin Danielle abgesehen hatte und sie mehrere Minuten lang verfolgt hatte, bis Madam Hooch es mitbekommen hatte.
„Ist das sowas wie eine rote Karte?“, fragte Lily mit zusammengezogenen Augenbrauen, als Madam Hooch den Treiber mit roten Funken aus ihrem Stab besprühte und dann vom Feld schickte.
„Bitte was?“, erwiderte Marlene verwirrt.
„Das ist – ach, nicht so wichtig.“ Lily machte eine wegwerfende Handbewegung, dann widmete sie sich wieder dem Spiel. Sie hatte in den letzten Minuten gar nicht mitbekommen, wie sie sich immer weiter nach vorne gelehnt hatte, damit sie auch alles mitbekam, was auf dem Feld passierte. Immer wieder stimmte sie in den Applaus mit ein und ließ sich von Mary und Marlene verleiten, lauthals zu jubeln, wann immer einer der Gryffindor-Jäger ein weiteres Tor schoss.
Mittlerweile stand es 200 zu 30 mit Gryffindor in Führung, aber noch keines der Teams hatte Anzeichen darauf gemacht, den goldenen Schnatz gesehen zu haben. Lily war sich nicht sicher, wie man den Schnatz überhaupt finden sollte, bei dem Chaos, das in der Luft vonstattenging, geschweige denn von den glitzernden Sonnenstrahlen, die überall goldene Streifen hinwarfen und es noch schwieriger machten, überhaupt etwas zu erkennen. Ganz allgemein gesehen, fand sie es sowieso eine sehr seltsame Regel, dass das Spiel erst dann endete, wenn der Schnatz gefangen war. Vielleicht wäre es sinnvoller, wenn es einfach ein Zeitlimit geben würde. Das wäre für alle Beteiligten wesentlich angenehmer, fand sie.
„Oh mein Gott, da!“, rief Mary plötzlich aus und griff nach Lilys Arm. Sie deutete hoch in die Luft, wo der Slytherin-Sucher sich in einen Sturzflug begeben hatte.
„Er muss den Schnatz gesehen haben!“, sagte Marlene aufgeregt.
„Aber sie verlieren, wenn er ihn jetzt fängt“, meinte Lily verwirrt.
„Sie würden sowieso verlieren, aber so könnten sie noch 150 Punkte für die Tabelle besorgen und vielleicht den zweiten Platz sichern“, erklärte Marlene, die beim Reden hibbelig auf und ab hüpfte.
Lily tat nicht einmal so, als würde sie verstehen, warum es für Slytherin jetzt noch bedeutsam sein sollte, den zweiten Platz zu bekommen, sondern verfolgte die Gryffindor-Sucherin, die sich an die Fersen des anderen Suchers gehängt hatte. Es war ein Kopf-an-Kopf-Rennen, das für sehr viele sicherlich nervenaufreibend war, für Lily allerdings nur bedeutete, dass es hoffentlich gleich vorbei war. Auch mit dem Spaß, den sie gehabt hatte, war sie froh, dass sie nicht länger auf der Tribüne zwischen einhundert anderen Schülern eingequetscht sitzen musste.
So wie Marlene gesagt hatte, fing Slytherin den Schnatz nur Augenblicke später und endete das Spiel damit mit 230 zu 180 und dem Sieg für Gryffindor. Die Punkte waren kaum vom Kommentator bekannt gegeben, da hatte bereits ein solch enormer Applaus das Stadion eingenommen, dass Lily sich erneut die Ohren zuhalten musste. Mit etwas geschützten Ohrmuscheln beobachtete sie, wie das Gryffindor-Team sich wie ein Knäuel in der Luft zusammenfand, sich umarmte und auf den Besen hielt, während die Slytherins bereits gelandet waren, mit säuerlichen Ausdrücken auf den Gesichtern. Madam Hooch kam ebenfalls zu den rot gekleideten Spielern geflogen und überreichte Teamkapitän Patrick den goldenen Quidditch-Pokal.
Obwohl es sie eigentlich wirklich nicht interessierte, grinste Lily mit ihren Freundinnen, als sie ihrem Team den gebührenden Applaus schenkte.
Chapter 31: 31. Jahr 2: Snapes Prüfung
Chapter Text
James hatte ein riesengroßes Problem und er wusste nicht, wie er es lösen sollte.
Also, eigentlich wusste er sehr gut, wie er es lösen sollte, aber gerade diese Lösung wollte er nicht wahrhaben. Wenn man nämlich seinem besten Freund predigte, dass er andere nicht schlecht behandeln konnte, nur weil er selbst mies behandelt wurde, dann sollte man meinen, dass man diesem Prinzip auch irgendwie selbst folgte. James fühlte sich schrecklich, dass er für Sirius die Moralapostel gespielt hatte, aber selbst noch immer dabei war, fiese Gedanken einem Slytherin-Mitschüler gegenüber zu denken und ab und an den Stab zu erheben, um eine Zitrone nach ihm zu werfen.
Es lag James fern, ein Mobber zu sein. Er würde es sich und seiner Erziehung niemals verzeihen, wenn er jemals auf solch eine Stufe sinken würde, deswegen hatte er es sich auch zur Aufgabe gemacht, nicht nur Snape sondern auch die halbe Schule mit seinen Streichen anzugreifen. Bisher hatte das auch ziemlich gut geklappt, aber er hatte realisiert, dass er von Sirius nicht verlangen konnte, gut zu seinem Hauselfen zu sein, wenn er selbst es nicht einmal schaffte ein nettes Wort Snape gegenüber zu verlieren. (Wenn James ehrlich war, dann machte es Snape einem auch wirklich schwer nett zu ihm sein, aber das wollte er nicht denken.)
James hatte, so wie er es sah, drei Möglichkeiten. Er könnte so tun, als hätte er seine eigene Heuchlerei nicht mitbekommen und so weitermachen wie bisher, bis irgendjemand ihn darauf ansprach und dann würde alles nur viel schlimmer werden. Er könnte versuchen, Snape einfach zu ignorieren und nichts mehr mit seinem langhaarigen Mitschüler zu tun, oder, die Möglichkeit, die ihm am meisten das Gehirn verbrannte, er könnte die einzige Person um Hilfe bitte, die in Severus Snape sowas wie einen Freund und einen guten Menschen sah.
Lily Evans.
Wenn es jedes andere Mädchen wäre, dann hätte James sicher kein Problem damit, mit ihr zu reden und sie zu fragen, wie er es schaffen könnte, sich gut mit Snape zu stellen, aber Lily war nun mal nicht jedes andere Mädchen. Sie war vielleicht wie jedes andere Mädchen (immerhin bildete James sich nicht ein, dass Lily irgendwas besonderes war, vielen Dank auch), aber sie war leider auch Lily Evans und das bedeutete, dass sie ihn nicht ausstehen konnte.
James, der sich selbst sehr liebenswürdig fand, fand das ungeheuer ungerecht. Nur weil er sie mit ein paar Streichen bloß gestellt und ein paar unschöne Worte in ihre Richtung geworfen hatte, hießt das noch lange nicht, dass er unausstehlich war, wie sie so gerne tat. Deswegen hatte James sich selbst eine Mission gegeben. Sobald die Prüfungen vorbei waren, würde er die letzten eineinhalb Wochen dafür nutzen, sich mit Lily und Snape gut zu stellen und Sirius – und damit auch sich selbst – beweisen, dass er wirklich ein Mann seiner Worte war.
Gryffindors Sieg im letzten Quidditchspiel hatte ihnen den heiß begehrten Quidditch-Pokal eingebracht und James war mächtig stolz darauf, dass er selbst etwas dazu beigetragen hatte, aber er fürchtete, dass es nicht gerade helfen würde, wenn er sich mit einem Slytherin besser verstehen wollte. Die Hausrivalität war an ihrem Höhepunkt, so wie jedes Jahr, wenn es auf die Pokalvergabe zuging. Quidditch war in Gryffindors Hände gefallen, aber James war sich sicher, dass die Schlangen nicht ruhen würden, ehe sie nicht zumindest den Hauspokal ergattern würden. Es lag James fremd, sein eigenes Haus zu manipulieren, aber er wusste auch, dass es wahrscheinlich einfacher sein würde, mit Snape zu reden, wenn Slytherin den Pokal gewann.
James fand, dass er zu jung war, um sich über solche Moralprobleme Gedanken zu machen.
Wie im letzten Jahr auch schon, kamen die Abschlussprüfungen viel zu plötzlich, auch wenn Remus beteuerte, dass die Lehrer ihnen mindestens zwei Monate zuvor schon damit angedroht hatten. Den einen Tag hatten sie noch am See gefaulenzt, James hatte einen Brief an seine Eltern geschrieben, Remus in irgendeinem Buch gelesen und Peter und Sirius hatten Zauberschach gespielt, und den nächsten Tag mussten sie plötzlich ihre Abschlussprüfung in Verteidigung gegen die dunklen Künste schreiben? James fand es sehr unfair, dass sie ihre Prüfungen dann schreiben mussten, wenn das Wetter am schönsten war und der Schwarze See mit seiner glänzenden, spiegelglatten Oberfläche dazu einlud, dass sie darin badeten. Es war sicherlich eine Strafe der Lehrer.
Als sie nach der schriftlichen Prüfung aus der Großen Halle traten, blendete die Sonne aus den offen stehenden Eingangstüren. Der kleine Brunnen, der in der Mitte des Innenhofs stand, glänzte förmlich unter den goldenen Strahlen und auf den drachenartigen Statuen saßen ein paar Tauben sowieso einige der weniger nachtaktiven Eulen, die es sich am kühlen Wasser gemütlich machten.
„Wann ist die nächste Prüfung?“, fragte James mit sehnsüchtigem Blick auf den Brunnen. Obwohl er nur das weiße Hemd der Schuluniform trug, war ihm schrecklich warm.
„In einer Stunde“, erwiderte Remus. „Denk nicht mal dran.“
„Aber bitte“, maulte James, der seinen Freund mit seinem besten Hundeblick versuchte zu überzeugen. „Nur kurz, Remus, ja? Wir ruhen uns ein bisschen am Brunnen aus und dann –“
„Und dann schläfst du ein und ich muss dich wecken und wir kommen fast zu spät, nein, Danke“, unterbrach Remus ihn mit strenger Stimme. „Wir können uns nach den Prüfungen ausruhen.“
„Aber dann müssen wir schon für die nächste Prüfung büffeln“, sagte Sirius.
„Ihr lernt doch sowieso nicht“, meinte Peter mit Schweißperlen auf der Oberlippe.
„Ja, eben, dann können wir doch genauso gut –“
„Nein.“ Remus´ Stimme war hart und entscheidend, auch wenn ein belustigtes Glänzen in seinen Augen wohnte. „Wenn Peter und ich lernen müssen, dann müsst ihr das auch. Wir sind ein Team, oder nicht? Entweder wir alle lernen oder gar keiner und nein“, fügte er an, als James bereits den Mund öffnete, „gar nicht lernen steht nicht zur Auswahl.“
„Weißt du“, sagte Sirius in James´ Richtung, „manchmal bereue ich es, dass wir Remus in unsere Gruppe aufgenommen haben.“
Remus betrachtete ihn mit einer hochgezogenen Augenbraue und dem trübsten Blick, den James je gesehen hatte. „Ohne mich würdet ihr wahrscheinlich jeden Tag zu spät kommen und hättet McGonagall schon längst alle Haare vom Kopf gefressen. Ich bin mir sicher, dass du es nicht bereust.“
Ein scharfes Grinsen erschien auf Sirius´ Gesicht. „Du scheinst dich ja gut in meinem Kopf auszukennen.“
„Das ist keine Kunst. Da oben passiert eh nicht viel, das hab ich in einer Stunde durchsortiert.“
James unterdrückte sein Lachen, in dem er sich auf die Zunge biss. „Okay, schon kapiert“, sagte er. „Kein Ausruhen, kein Entspannen, nur Lernen. Schon verstanden. Welche Prüfung haben wir überhaupt als nächstes?“
„Verwandlung“, sagte Peter, der ein wenig blass um die Nase wirkte. „Remus, hast du dein Buch mit? Ich glaube, ich hab spontan alles vergessen, was wir das letzte Jahr über gelernt haben.“
Remus seufzte kaum hörbar. „Ich bin mir ziemlich sicher, dass du übertreibst.“
„Ganz und gar nicht. Ich weiß nichts mehr. Überhaupt gar nichts. Mein Kopf ist leer. Noch leerer als leer. Ich glaube, ich habe ein Vakuum in meinem Kopf.“
„Das würde mich nicht überraschen“, schnaubte Sirius.
„Hey.“
„Was? Du hast es doch auch gesagt!“
„Ja, ich darf das! Bei dir ist es einfach nur gemein.“
„Das ergibt überhaupt keinen Sinn.“
„Sirius“, sagte Remus mit ruhiger Stimme, der sein Verwandlungsbuch aus der Tasche geholt hatte. „Sei lieb oder du darfst nachher nicht beim Brunnen spielen.“
Erneut musste sich James auf die Zunge beißen, damit er nicht lachen würde. Es war manchmal ein wahres Wunderwerk, Remus dabei zuzusehen, wie er Sirius im Griff hatte, selbst wenn keiner der beiden zugeben würde, dass das der Fall war.
„Na schön“, brummte Sirius. „Aber dann kannst du mir bestimmt auch noch mal den Unterschied zwischen tierischer Verwandlung und Verwandlung in ein Tier erklären, oder?“
„Meinetwegen.“ Remus verdrehte die Augen, aber lächelte.
Die Verwandlungsprüfung stellte sich als nicht sonderlich schwierig heraus. Die tierischen Verwandlungen kamen überhaupt nicht dran und auch die fünf Arten von Verwandlungszaubern, die man in verschiedenen Kombinationen nutzen konnte, um Verwandlungen zu beherrschen, waren nicht vorhanden, obwohl McGonagall sie die letzten Stunden damit genervt hatte. Dafür sollten sie allerdings erklären können, was mit einem Wesen geschah, sobald es verwandelt werden würde. James erinnerte sich lebhaft an die Stunde zurück, in der Marlene genau diese Frage gestellt hatte.
Nach der Prüfung hatten sie Mittagessen, bei dem sowohl Remus als auch Lily, zu der James vielleicht aber vielleicht auch nicht einen heimlichen Blick den Tisch hinab geworfen hatte, in ihren Büchern geblättert hatten, um sich die letzten Zauberkunstformeln zu merken. Ihre erste praktische Prüfung würde bei Professor Flitwick stattfinden, der sie alle nach und nach aufrufen und dann einige Zauber von ihnen verlangen würde. Es würde sich nicht sonderlich vom letzten Jahr unterscheiden, allerdings mussten sie dieses Jahr mehrere Früchte dazu bringen, eine Tanzchoreographie vorzuführen und nicht nur einer einzelnen Ananas Stepptanz beibringen.
Für James war das alles kein Problem. Seine Eltern hatten ihm noch vor Hogwarts alle Grundlagen beigebracht, sodass er sich in den wenigsten Fächern überhaupt anstrengen musste, um ein Ohnegleichen zu erzielen. James hatte vor den Prüfungen nicht einmal in seine Bücher schauen müssen, um sich an all die Unterschiede zwischen den Zauberformeln zu erinnern, die Flitwick von ihnen wissen wollte.
Am nächsten Tag hatten sie ihre praktische Prüfung in Kräuterkunde, ein Fach, in dem James nicht von vorherein alles wusste, aber trotzdem Bestnoten erzielte. Es war aber auch wirklich nicht schwierig, zu erklären, warum Drachendung für eine gewöhnliche Hauspflanze gefährlich sein konnte, für eine Venemosa Tentacula allerdings der geeignetste Dünger überhaupt war. Und solange er sich beim Umtopfen nicht von den um sich schlagenden Rosenbüschen erwischen ließ, gab es bei Professor Sprout auch keinen Punktabzug.
Ihre praktische Prüfung in Verteidigung gegen die dunklen Künste war wohl James´ liebste Prüfung. Sie wurden in Paare aufgeteilt und mussten sich mit all den Zaubern und Flüchen duellieren, die sie das Jahr über gelernt hatten. James´ Partner, ein Junge aus Hufflepuff, mit dem er noch nie zuvor geredet hatte, hatte es nicht geschafft, James´ Kitzelfluch auszuweichen und wusste nicht, wie er den Beinklammerfluch wieder auflösen konnte. Die Gegenflüche zu jeden von seinem Gegner gemurmelten Flüche zu wirken, war für James ein Kinderspiel, besonders wenn man bedachte, dass er das halbe Jahr damit verbracht hatte, genau diese Flüche selbst auf seine Mitschüler zu werfen.
Die Prüfungen waren im Großen und Ganzen keine wirkliche Herausforderung. Den Großteil der schriftlichen Examen konnte James im Schlaf lösen und auch die praktischen Prüfungen waren ein Kinderspiel für jemanden wie ihn. Es war ihm nicht entgangen, dass Peter in einigen Fächern immer wieder Schwierigkeiten hatte, die gewünschten Zauber zu wirken, weswegen er sich die mentale Notiz machte, in ihrem nächsten Jahr ein wenig mehr Zeit zu nehmen, um seinem Freund zu helfen, alles zu verstehen, was er verstehen musste, damit er nicht zurückfiel.
Nach dem der letzte von ihnen den Federkiel endgültig beiseitegelegt und das Prüfungspergament abgegeben hatte, hatte James bereits den perfekten Plan, wie er den Abschluss des Jahres gebührend feiern würde.
„Süßkram“, sagte er auf Peters fragendes Blick hin. „Und zwar eine ganze Tonne davon. Für den ganzen Jahrgang. Natürlich aus dem Honigtopf“, fügte er zwinkernd hinzu. Seit sie den geheimen Tunnel in den Keller des Honigtopfes gefunden hatte, hatte es James in den Fingern gejuckt, ein weiteres Mal hinunterzusteigen und sich durch alles zu futtern, was der Süßigkeitenladen zu bieten hatte. Zwar war er sich ziemlich sicher, dass er es alles schon kannte, aber er könnte unmöglich eine Neuigkeit verpassen. Das würde er mit sich selbst nicht vereinbaren können. Außerdem waren alle mehr als nur bereit, sich für einen Abend lang mit den besten und süßesten Leckereien vollzustopfen, die die Zauberwelt hergeben konnte.
Wie sie in ihren Prüfungen abgeschnitten hatten, würden sie erst noch erfahren, deswegen gab es für James und seine Freunde eine ganze Woche lang, in der sie sich ausruhen konnten, in der sie tun und lassen konnten, was sie wollten. In den meisten Fächern gab es auch keinen Unterricht mehr, lediglich Professoren wie Binns oder McGonagall bestanden darauf, dass sie mit dem Stoff weitermachen würden (wobei Ersterer nicht wirklich wusste, dass sie längst ihre Prüfungen geschrieben hatten). So gut wie alle Schüler waren bereits in Ferienstimmung und erwartungsfreudig, ein weiteres Schuljahr hinter sich zu lassen. Es gab die ein oder andere Ausnahme, natürlich.
Obwohl es keine Arbeiten und Prüfungen mehr gab, saß Remus mit der Nase in einem Buch am See mit ihnen, die Ärmel seines Umhangs bis zu den Fingerspitzen gezogen, damit niemand seine Arme sehen würde, ein weiterer Stapel mit Büchern neben sich platziert. James, der mit Sirius eine Runde Zauberschnippschnapp gespielt hatte, wurde es zu bunt, als Remus ein Buch zuklappte und direkt ein neues öffnete.
„Okay, Remus, was soll das werden? Willst du die Bibliothek noch auslesen, bevor wir nach Hause fahren, oder was soll das?“
Remus blickte nicht auf. „Wirklich witzig, James. Nein, ich recherchiere.“
„Für was bitte?“, fragte Sirius mit einer angesengten Braue, während er die Karten neu mit seinem Stab mischte. „Das Schuljahr ist vorbei, du kannst keine Extra-Punkte mehr verdienen.“
„Das ist mir schockierender Weise sehr wohl bewusst, Sirius“, antwortete Remus augenrollend. Mit einem Finger fuhr er die Inhaltsangabe des neuen Buches entlang. „Aber nächstes Schuljahr müssen wir Wahlfächer nehmen und ich will mich ein wenig informieren, damit ich kein falsches nehme.“
„Ich dachte wir nehmen sowieso alle die gleichen Fächer“, sagte Peter. „Wie sonst sollen wir zusammen in einer Klasse bleiben?“
James schüttelte kaum merklich den Kopf. „Schon gut, Pete, wir bleiben ja zusammen. Aber wahrscheinlich müssen wir Remus gehen lassen. Er wird erwachsen und will alle Fächer wählen.“
„Will ich nicht“, meinte Remus, der endlich den Kopf hob. „Ich kann mich nur nicht zwischen Alte Runen und Arithmantik entscheiden.“
Sirius schnaubte. „Nimm bloß nicht Alte Runen. Mein Vater hat davon dutzende Bücher rumliegen und das ist alles so ein verwirrendes Zeug, da versteh man gar nichts. Außerdem glaubt er, dass sie der Schlüssel zu antiker, vergessener Magie sind und damit will ich nun wirklich nichts am Hut haben.“
„Alte Runen ist aber wirklich spannend“, erwiderte Remus mit zusammengezogenen Augenbrauen. „Nicht nur, weil sie auch mit unserer Magie zusammenhängen, sondern weil es auch Muggelstudien über die Runen gibt, die uns bisher weitergeholfen haben. Niemand weiß, wer die Runen angefertigt hat oder welchen Zwecken sie außerhalb von Kommunikation noch dienten, das ist – “
„Oh, hey, gute Idee!“, unterbrach Sirius ihn. „Ich nehm Muggelkunde als Wahlfach. Danke, Remus!“
Remus öffnete den Mund, aber sagte nichts.
„Bist du sicher, dass das eine gute Idee ist?“, fragte James zögerlich, der einen zweifelnden Blick mit Peter tauschte. „Ich meine, wenn du das lernen willst, dann ist das cool, aber deine Eltern sind sicher nicht begeistert davon.“
Sirius machte eine wegwerfende Handbewegung. „Lass das mal meine Sorge sein.“
„Aber –“, fing Remus an.
„Wirklich“, unterbrach Sirius ihn scharf. „Lass das meine Sorge sein. Ich bekomm das hin, okay?“
Remus´ Blick wurde ein wenig sanfter und er nickte. „Okay“, antwortete er leise. „Aber sei vorsichtig.“
Sirius´ Lächeln schnitt sein Gesicht in zwei. „Wann bin ich denn jemals nicht vorsichtig?“
„Ich hätte eine Liste“, murmelte Peter, woraufhin James prustete.
„Ja, ich auch. Dein ganzes Leben lang.“
„Witzig“, sagte Sirius.
„Danke.“ James´ Grinsen erstarb allerdings. „Aber wirklich, Sirius, wir wollen nur nicht, dass deine Eltern noch einen Grund haben, dich – du weißt schon.“
„Zu erziehen?“ Sirius lachte leise. „Ich komm mit ihnen klar. Ich glaube sogar, dass der Sommer gar nicht so schlimm werden wird.“
„Was? Wieso das bitte?“, fragte Peter.
Schulterzuckend teilte Sirius die Karten aus. „Ich hab´s so im Gefühl“, meinte er, wobei er es vermied, irgendeinem der Jungs in die Augen zu sehen. „Wahrscheinlich weil es Reggies erster Sommer zuhause ist und meine Mutter sich wieder voll auf ihn stürzen kann. Auf den perfekten kleinen Reinblut-Erben“, fügte er murrend hinzu.
James versuchte seinen Blick einzufangen, aber Sirius tat sehr gut so, als müsste er sich immens dabei konzentrieren, die Karten gerade auf den Boden zu legen. Er erinnerte sich an die kurze Unterhaltung, die er mit Regulus geführt hatte, auf dem Quidditch-Feld, als Regulus James nach dem Training abgefangen hatte. Regulus und Sirius sahen sich so verdammt ähnlich, es war James schwer gefallen, nicht Sirius in ihm zu sehen, als er ihn darum gebeten hatte, auf ihn acht zu geben. Es war James schwer gefallen, zu verstehen, wie ein Haushalt zwei so unterschiedliche Brüder produzieren konnte.
„Okay“, sagte er vorsichtig und nahm seine Karten auf. „Das klingt plausibel.“
Für den Rest des Tages ließen sie das Thema sein.
James nutzte die freie Zeit, die ihnen gegeben wurde, um seinen Plan in die Tat umzusetzen. Natürlich konnte er sich schlecht beim Mittagessen einfach neben Snape setzen und so tun, als wären sie plötzlich Freunde, selbst er wusste, dass das nicht möglich war. Er musste mit Feingefühl an die ganze Sache herangehen. Und es gab nur eine Person an Hogwarts, die ihm irgendwie behilflich sein konnte.
„Nein.“ Lily blickte nicht einmal vor ihrem Buch auf, als James sich in der Bibliothek neben sie setzte. „Was immer es auch ist, Nein. Verschwinde, Potter.“
„Wow“, entgegnete er und fasste sich dramatisch an die Brust. „Warum bist du denn so gemein zu mir, Evans?“
„Weil du anders nicht lernst. Und jetzt verschwinde.“
„Evans, kannst du nicht wenigstens –“
„Spreche ich eine andere Sprache?“, fragte Lily mit scharfer Stimme, ehe sie den Kopf hochzucken ließ. „Ich glaube nämlich nicht. Und sofern du in den letzten Wochen nicht plötzlich verlernt hast, wie man anderen Menschen zuhört, dann solltest du eigentlich verstanden haben, dass man in den meisten Fällen auch das tut, was die andere Person von einem verlangt. Ich habe verlangt, dass du mich in Ruhe lässt. Soll ich vielleicht Madam Pince rufen, damit sie dich eigenhändig entfernen kann oder kannst du das allein?“
Ein wenig von der Härter ihrer Worte getroffen, lehnte James sich in seinem Stuhl zurück. Mit zusammengezogenen Augenbrauen betrachtete er Lily, die roten Haare, die sie eilig zusammengebunden und sich über die Schulter geworfen hatte, die runden, pinken Wangen, das satte Grün ihrer funkelnden Augen, als sie ihn abwartend anstarrte. Es gab sicherlich eine Million Wege, wie er ihr hätte antworten können, ohne sie weiter auf die Palme zu bringen, aber stattdessen schien James nicht mehr zu wissen, wie man normal redete. Er öffnete den Mund, aber kein Wort kam heraus. Das Sonnenlicht brach sich in den dicken Bibliotheksfenstern und ließ Lilys Haare so aussehen, als würden sie in Flammen stehen. Ihre ganze Gestalt war in Licht gehüllt. Sie war wie ein Wildfeuer inmitten all dieser kostbaren Bücher.
James hatte schon immer gerne mit Feuer gespielt.
„Sorry, Evans“, sagte er, seine Lippen verzogen sich automatisch zu einem Lächeln, „ich fürchte, wir sind uns auf dem falschen Fuß begegnet.“
„Ganz sicher nicht“, schnaubte sie und wandte sich wieder ihrem Buch zu. „Wenn ich das nächste Mal den Kopf hebe, dann bist du besser verschwunden, oder ich muss die fortgeschrittenen Verwandlungen hier vielleicht direkt ausprobieren. Meinst du, dir würden ein paar nicht mehr zu entfernende Geweihe stehen?“
James konnte nicht anders, als ihre feurige Art zu mögen. Sie würde sich wunderbar in seiner Gruppe machen, fand er. Sie könnte ihm Paroli bieten und James genoss es, mit ihr zu reden. Es war ihm zuvor nicht aufgefallen, aber er genoss es wirklich, mit Lily Evans zu reden. Selbst wenn alles, was sie zu ihm sagte, versteckte Beleidigungen und Drohungen war, genoss er es, ihre Stimme zu hören. Irgendetwas wollte sich ihm damit nicht ganz erschließen. „Das ist eine wirklich gute Frage. Weißt du, wen wir da um Rat bitten könnten? Deinen guten Freund Schnief- ich meine, Severus. Warum setzen wir uns nicht zusammen und besprechen das?“
Als hätte jemand die Welt mit einem Impedimenta-Fluch belegt, hob Lily langsam, bedächtig den Kopf, wobei sie darauf achtete, den Blickkontakt erst aufzubauen, als sie ganz aufgeschaut hatte. Ihre grünen Augen schienen in Flammen zu stehen, als sie fragte: „Was hast du gesagt?“
„Dein Kumpel Severus“, wiederholte James, in der Hoffnung, dass sie einfach zustimmen und die ganze Sache wesentlich einfacher machen würde. „Ich hab gefragt, ob wir uns nicht zusammensetzen können. Ich bin mir sicher, dass er eine Menge beizusteuern hätte.“ Es tat James beinahe schon in der Seele weh, diese Dinge zu sagen, denn irgendwo wusste er, das alles, was Snape zu einer Konversation beisteuern konnte, nur unnötiger Schwachsinn war. Aber das würde er nicht aussprechen. Er würde sich daran hindern, weiterhin so hasserfüllte Dinge zu sagen und Snape zu verurteilen, wenn er ihn nicht kannte. Er würde ein besserer Mensch sein.
Lily klappte ihr Buch zu, ohne die Seite zu markieren, auf der sie gewesen war und holte tief Luft. Sie schloss die Augen. „Ich gebe dir zehn Sekunden“, sagte sie langsam. „Wenn ich die Augen nach zehn Sekunden wieder öffne und du immer noch hier sitzt, dann werde ich dich mit all den Flüchen belegen, die ich in der praktischen Prüfung nicht zeigen konnte und du wirst dir wünschen, niemals den gleichen Raum wie ich betreten zu haben.“
James unterdrückte seinen Drang zu lachen. „Ich meine es wirklich ernst“, beteuerte er.
„Eins.“
„Komm schon, Evans, du hast doch gesagt, ich soll mich nicht immer wie ein Wasserkopf benehmen und auch mal an andere denken! Ich versuche hier über meinen Schatten zu springen.“
„Zwei. Alles, was ich höre, ist der Unsinn, der auch sonst aus deinem Mund fällt. Sechs.“ Lily atmete ein weiteres Mal tief ein.
James wollte einerseits herausfinden, welche Flüche Lily alle so drauf hatte, einerseits war er ein ziemlicher Fan von seinem Gesicht und wollte nicht, dass ihre Zauber es verunstalten würde. Er erhob sich rasch, doch noch bevor er weiter als zwei Schritte vom Tisch entfernt war, blieb er stehen. Wenn er jetzt gehen würde, dann hätte er doch bewiesen, dass er nur Dinge aussprach, die er nicht selbst befolgen konnte. Er konnte von Sirius nicht verlangen, nett zu seinem schrecklichen Hauselfen zu sein und selbst nach einem halbschwachen Versuch aufgeben. James drückte den Rücken durch und drehte sich zu Lily um, als diese: „Zehn“, sagte.
„Ich warte“, erwiderte er, als sie nichts tat.
Lily schüttelte den Kopf. „Du bist unverbesserlich, Potter. Warum lässt du mich nicht einfach in Ruhe?“
„Weil ich dir beweisen kann, dass du dich irrst.“
„Womit?“, fragte sie mit gerunzelter Stirn.
„So ziemlich allem. Ich weiß, dass du denkst, dass ich ein hohler Trottel bin, der nur das tut, was für ihn am besten ist und nicht an andere denkt, aber da irrst du dich einfach. Ich –“, er stockte, presste die Lippen zusammen. James ging einen Schritt auf Lily zu und senkte die Stimme. „Ich kann dir beweisen, dass ich es ernst meine, wenn du mir bei einer Sache hilfst.“
„Niemals“, entgegnete sie so schnell, er hatte kaum ausgesprochen. „Denkst du echt, ich bin so bescheuert?“
„Das sollte ich wahrscheinlich nicht beantworten.“
„Mein Gott, Potter, lass es einfach, okay? Es ist mir egal, ob du unbedingt der Welt beweisen musst, was für ein toller Hecht du bist, es interessiert mich nicht. Ich weiß, wie du bist und deswegen werde ich mich nicht dazu kleinreden lassen, dir zu helfen. Glaubst du denn wirklich, dass ich nicht sehe, was du hier versuchst?“
James runzelte die Stirn. „Was versuche ich denn?“, fragte er ehrlich interessiert.
„Ernsthaft“, murmelte Lily und rieb sich die freie Stelle zwischen ihren Augenbrauen. „Du willst, dass ich dir irgendwas über Severus verrate, dass du dann gegen ihn verwenden kannst, aber so blöd bin ich nicht. Und ich glaub dir auch kein Wort.“
„Wieso?“, erwiderte er. „Wieso das? Warum glaubst du, dein Kumpel Severus kann Fehler machen, aber trotzdem ein guter Kerl sein, aber ich kann es nicht? Findest du dich da nicht ein wenig heuchlerisch, Evans?“
„Halt mal die Luft an, Potter“, sagte Lily mit hoher Stimme. Ein lautes Zischen ertönte in ihrer Nähe und mit geröteten Wangen senkte sie die Stimme wieder. „Ich habe etliche Beweise, dass man dir nicht trauen kann, egal wie nett und freundlich du immer tust. Die anderen mögen vielleicht denken, dass du ein perfekter kleiner Gentleman bist, aber mich kannst du nicht so einfach hinters Licht führen.“
„Wenn du mich so gut durchschaut hast“, entgegnete James leise, ehe er sich schnaubend umwandte, „dann frage ich mich wirklich, ob nicht ich mich in dir geirrt habe.“ Er wartete einen Moment, in der Hoffnung, dass Lily noch etwas sagen würde, aber als sie still blieb, fügte er an: „Danke für die Hilfe, Evans.“
Mit raschen Schritten verließ James die Bibliothek, wand sich in den Korridor und ging in Richtung der Eingangshalle die Treppen hinunter. Durch das schöne Wetter, hielt sich kaum jemand in der Schule auf, der Großteil der Schüler war auf den Ländereien, verbrachte die Zeit am See oder, im Falle der älteren Schüler, nutzten ihr letztes Wochenende, um noch einmal das Dorf Hogsmeade zu besuchen. James ging am offenstehenden Tor zur Eingangshalle vorbei und schlüpfte durch die Tür, die in die Kerker führte. Die Chance, dass er Snape einfach so über den Weg laufen würde, war vielleicht gering, aber er war sich zumindest sicher, dass er ihn eher hier unten als draußen in der Sonne finden würde.
James würde es Lily Evans schon zeigen. Sollte sie doch denken, dass er es nicht ernst meinte, sollte sie doch denken, dass er nur ein Idiot war, der sich besser darstellen wollte, er wusste, dass das nicht stimmte. Er wusste, dass er wirklich versuchte, besser zu sein. Es sollte ihn nicht interessieren, was sie dachte, immerhin machte sie es immer wieder sehr deutlich, dass sie ihn nicht ausstehen konnte, aber mit irgendetwas hatte Lily sein Interesse geweckt. Es war entweder ihre feurige Art zu reden oder ihre glänzenden Augen, wenn sie sich nicht von ihm beeindrucken ließ. Sie hatte wirklich sehr schöne Augen, fiel James auf.
Davon ließ er sich aber nicht beirren. Sie hatte mehr als deutlich gemacht, was sie von ihm hielt und James würde seine Zeit nicht damit verschwenden, zu versuchen, sie zu beeindrucken, egal was für schöne Augen sie hatte.
In den Kerkern schaute er in alle offenen Zaubertrankklassenräume, die er finden konnte, in der Hoffnung, dass er Snape so vorfinden würde, wie er ihn sich in seiner Freizeit vorstellte; so sehr über einen Kessel gebeugt, dass seine öligen Haare beinahe in die Flüssigkeit hängen. Noch bevor er den Gedanken beendet hatte, schalt James sich dafür. Er sollte so nicht denken und das wusste er. Er biss sich auf die Lippe und suchte weiter.
Im Slytherin-Gemeinschaftsraum konnte James schlecht nachschauen und er bezweifelte, dass er jemanden finden würde, der ihm den Gefallen tat – nach dem letzten Quidditch-Spiel waren ein Großteil der Slytherins nicht gerade gut auf die Gryffindors zu sprechen. Nicht, dass sie das davor jemals waren, aber die leise geflüsterten Beleidigungen waren nun laut und mit Flüchen behangen. Selbst wenn James jemanden finden würde, bezweifelte er, dass er Hilfe bekommen würde.
Im Kerker bekam man vom Sonnenschein nicht viel mit. Das einzige Licht kam von den Fackeln an den Wänden und vom Feuer, das unter einigen Kesseln brannte, die unbeachtet in Klassenräumen vor sich her blubberten. Die Wände waren lang und schmal, kaum geschmückt und die flüsternden, schnarchenden Portraits von Hexen und Zauberern suchte man hier vergebens. Es wäre wirklich einfach, sich in den Kerkern zu verlaufen. Einige Türen ließen sich gar nicht öffnen, wieder andere bestanden nur aus Metallstreben und führten anscheinend in die Dunkelheit, eine andere ließ sich zwar öffnen, zeigte dahinter aber nur einen endlosen, engen Steingang, kaum beleuchtet und scheinbar ohne jeglichen Sinn dahinter. James wollte nicht herausfinden, wie lang dieser Gang war, wenn er allein war und niemand wusste, wo er war.
Frustriert wandte er sich um. Es war unsinnig, fand er, Snape am helllichten Tag zu suchen, wenn er doch keine Ahnung hatte, wo der Slytherin seine Freizeit verbrachte. Wahrscheinlich lümmelte er gerade im Gemeinschaftsraum in einem Sessel und war sich gar nicht bewusst, dass James ihn suchte. Was auch immer.
James würde ihn einfach beim Abendessen abfangen oder am nächsten Frühstück. Es gab noch einige Möglichkeiten für ihn mit Snape zu reden und diese Rivalität zu beenden, es musste nicht –
Sein Gedanke würde jäh unterbrochen, als James einen scharfen Schmerz am Hinterkopf vernahm. Er hatte keine Zeit zu reagieren, schmerzhaft aufzuatmen oder überhaupt den Mund zu öffnen. Gelähmt fiel er vornüber. Er konnte sich nicht bewegen, deswegen hatte er keine Möglichkeit sich mit den Händen abzufangen. Mit dem Gesicht voran krachte er auf den Stein, seine Brille brach beim Sturz entzwei und ein flammender, zündender Schmerz ging durch seine Nase, als er auf dem Boden aufkam. Der Lähmzauber hatte seinen gesamten Körper lahmgelegt, aber trotzdem konnte James alles wahrnehmen, was um ihn herum passierte. Zwar konnte er kaum mehr als zersplittertes Glas und einen unscharfen Steinboden sehen, aber er hörte die Schritte, die hinter ihm laut wurden.
„Gut gezielt“, sagte eine dröhnende Stimme.
„Was will der bitte allein im Kerker?“, fragte ein zweiter, dieses Mal mit einer etwas kälteren Stimme.
„Das ist Potter, oder?“ Die dritte Stimme konnte James nur zu gut zuordnen. Snape. „Wo der ist, ist Black nicht weit.“
Ein Lachen ertönte und einen Moment später wurde James grob an der Schulter gepackt und umgedreht. Snape, Avery und Mulciber blickten auf ihn nieder, auch wenn er ihre Gesichter nicht so recht durch seine zerbrochenen Brillengläser erkennen konnte. Snape hatte die Augenbrauen zusammengekniffen.
„Was machen wir mit ihm?“
„Ich dachte, das könnte deine Ehre sein, Severus“, sagte Mulciber mit seiner langsamen, dröhnenden Stimme. Von den drei Slytherins war er der größte und in James´ Meinung der dümmste. „Du hast ihn als erstes gesehen, nicht? Lass dir was Nettes einfallen.“
James versuchte zu reden und ihnen zu sagen, dass sie ihre dreckigen Hände von ihm lassen sollten, aber der Lähmzauber leistete alle Arbeit. Er konnte nicht einmal seinen Finger bewegen, von seinem Mund ganz abgesehen. Er hatte wirklich gedacht, er könnte sich mit Snape ausreden, doch als dieser nun seinen Stab zwischen den Fingern wirbeln ließ und dabei mit nachdenklichem Gesicht auf James blickte, wusste er, dass es vergebene Liebesmüh war. Mit jemandem wie Snape konnte er nicht reden, selbst wenn er es unbedingt wollen würde. Vielleicht musste sich James eingestehen, dass er doch nicht besser war, als er dachte.
„Wir könnten ihn in den Schwarzen See werfen“, schlug Avery vor, dessen Gesicht durch die zersprungenen Gläser wie eine Facette aus mehreren Gesichtern wirkte. Eine unheimliche Vorstellung, fand James.
„Idiot“, zischte Mulciber, ehe er Avery gegen den Hinterkopf schlug. „Wir können ihn ja wohl schlecht umbringen, oder was? Es ist doch nur eine Frage der Zeit, bis sein Schoßhund ihn suchen kommt und dann sind wir aufgeschmissen. Und ich habe noch besseres vor, als wegen eines dummen Mordes in Askaban zu landen.“
Avery murmelte etwas Unverständliches, woraufhin Snape sagte: „Lass es gut sein, Nestor. Irgendwann können wir bestimmt Potter und seine Blutsverräterfreunde ein für alle Mal loswerden, aber heute ist der Tag leider noch nicht gekommen.“ Snape blickte hinunter zu James. „So gerne ich das auch würde“, fügte er leise hinzu.
James wollte ihm ins Gesicht spucken.
„Die Chance wirst du schon noch haben“, meinte Mulciber. „Wenn es weiter so geht, dann ist es eigentlich nur noch eine Frage der Zeit, bis seinesgleichen nichts mehr zu sagen haben.“
Snape grinste, wobei er seine Zähne präsentierte. „Den Tag kann ich kaum abwarten.“
Der Drang, Snape die Zähne aus dem Mund zu hexen, wurde groß in James. Solange er sich allerdings nicht bewegen konnte, konnte er nur hilflos auf dem Boden liegen und warten und hoffen, dass der Lähmzauber bald von ihm ablassen würde. So wie er sich an den Fluch erinnern konnte, hielt er kaum mehr als eine Stunde, auch wenn er es gerne vermeiden würde, eine Stunde lang das Opfer für diese drei Idioten zu spielen. Wenn James ein besserer Zauberer wäre, dann würde er einen stummen Finite wirken und den Lähmzauber aufheben.
Traurigerweise konnte James keine stummen Zauber und auch wenn er Finite einhundert Mal in Gedanken brüllte, konnte er weiterhin keinen Finger rühren.
„Kommt schon“, murmelte Avery, der einen raschen Blick über die Schulter warf. „Lasst uns schnell etwas mit ihm machen, bevor noch jemand vorbeikommt.“
Mulciber schnalzte mit der Zunge. „Immer so ungeduldig, Nestor. Jetzt beruhige dich und warte ab, was Severus für einen Einfall hat. Ich bin mir sicher, er wird genial sein, so wie immer.“
James überhörte die schneidende Drohung in Mulcibers Stimme nicht.
„Bin ja dabei“, erwiderte Snape, der ebenfalls einen Moment nutzte, um hinter sich zu blicken. „Was hat er überhaupt hier unten zu suchen?“
„Ist das wichtig?“, fragte Mulciber.
„Willst du nicht wissen, was Potter schon wieder vor hat?“
„Nicht wirklich. Es ist das Ende des Jahres. Alles ist abgeschlossen. Was sollte es mich interessieren, was er und seine unterbelichtete Bande an Streunern vorhaben?“ Mulciber zuckte mit den Schultern. „Komm schon, Snape. Tu was. Oder ich tue es.“
Wenn James´ Brille nicht zerbrochen wäre, dann könnte er mit Sicherheit sagen, dass Snape ein wenig mehr an Farbe verlor. Er blickte erst zu Mulciber, dann wieder zu James, ehe er den Stab mit festen Fingern auf sein Gesicht richtete. Er öffnete den Mund, aber nur einen Augenblick später ertönte ein lautes Krachen. Snape und Avery zuckten zusammen. „Was war das?“
„Klang wie eine Tür“, erwiderte Mulciber langsam. „Jemand kommt.“
„Mist“, zischte Avery. „Was machen wir jetzt?“
„Wir verschwinden“, sagte Mulciber.
„Aber – was ist mit Potter?“ Wenn James es nicht besser wüsste, dann würde er fast sagen, dass Snape verängstigt klang. „Man wird ihn finden, wenn wir ihn hierlassen.“
„Oh, davon gehe ich aus.“ Mulciber stieß Snape mit der Schulter beiseite, ehe er neben James in die Hocke ging. Sein Gesicht kam James´ unangenehm nah, sodass er seinen heißen Atem auf der Haut spüren konnte. „Es wäre doch wirklich unschön, wenn herauskommen würde, wer dich gelähmt hat, nicht wahr, Potter?“
James wollte auch Mulciber ins Gesicht spucken.
„Nein, ich glaube, das wird unser kleines Geheimnis bleiben“, fuhr er fort. „Es ist … als hätte Potter nie gesehen, wer ihn verhext hat. Es war ein dummer Streich, mehr nicht. Sicherlich würde er nie jemanden verraten, der doch eigentlich unschuldig ist, nicht wahr? Außerdem bin ich mir sicher, dass Potter nicht will, dass seinen lieben, gebrechlichen Eltern etwas zustößt.“ Mulcibers Lächeln war alles Zähne, spitz und bedrohlich, wie ein Hai, der seiner Beute ein letztes Mal zulächelte, bevor er zubiss. „Das wollen wir beide nicht, glaube ich.“
Wenn James könnte, dann würde er die Zähne zusammenbeißen und knirschen.
Mulciber klopfte ihm auf die Schulter, erhob sich wieder und stieß James dann mit seinem Fuß unter den Rücken, sodass er ihn wieder umdrehen konnte. James´ Sichtfeld wurde verschwommen und dunkel und er konnte nur noch hören, wie die drei Slytherins sich aus dem Staub machten, als die Schritte immer lauter wurden. Es dauerte nicht lange, bis er hören konnte, wie jemand in seine Richtung kam, abrupt stehen blieb und die Luft einsog.
„Oh mein Gott.“
Es war nicht die Person, die James in den Kerkern zu dieser Zeit erwartet hatte.
„Finite!“ Lilys Zauber floss wie eine warme Dusche über James´ Körper. Es dauerte keinen Herzschlag, da spürte er seinen Körper wieder.
James atmete ruckartig ein und beinahe sofort wusch der Schmerz seiner auf dem Boden aufgekrachten Nase über ihn. „Merlin“, brummte er, stützte sich mit einer Hand auf und rieb sich mit der anderen über die schmerzende Nase. „Danke, Evans.“
„Was zum Teufel machst du hier hinten? Wer hat dich angegriffen?“ Ihr besorgtes Gesicht kam in seinen Blickwinkel. Lily umklammerte ihren Zauberstab mit festen Fingern, sodass ihre Knöchel weiß hervorstachen. Sie sah aus, als wäre sie eine kurze Strecke gerannt.
Seufzend setzte James sich auf, doch kaum hatte er den Kopf in eine aufrechte Position gehoben, fiel ihm die Brille vom Ohr und mit einem weiteren Splittern brach auch der Rest des Glases entzwei. Er unterdrückte ein Fluchen.
„Reparo“, murmelte Lily, deutete mit ihrem Stab auf James´ zerbrochene Brille und hob sie mit spitzen Fingern auf. „Wer hat dich angegriffen?“, wiederholte sie.
Es wäre einfach, ihr die Wahrheit zu sagen. Er müsste einen Namen sagen und alles wäre besser. Er könnte Lily sagen, dass Snape ihn zusammen mit Mulciber und Avery überfallen hatte. Er könnte ihr sagen, was passiert war und sie würde – was würde sie tun? James war sich nicht sicher. Lily war Snapes Freund und er glaubte nicht, dass sie ihm sofort abkaufen würde, dass er sowas tun würde, besonders nicht, wenn sie kaum eine Stunde zuvor eine Unterhaltung über ihn geführt hatten. James wusste, dass er Lily die Wahrheit sagen sollte.
„Ich weiß es nicht“, murrte er und nahm seine Brille entgegen. Seine Nase schmerzte bei jeder Berührung. „Ich bin hier runtergekommen, um … um Slughorn was zu fragen, aber hab ihn nicht gefunden. Als ich zurück gehen wollte, hab ich nur den Zauber gehört und wie jemand weggelaufen ist.“
Lily schürzte die Lippen. „Das ist schrecklich. Wer weiß, was passiert wäre, wenn ich nicht hergekommen wäre“, sagte sie, wobei klar war, dass sie ihm nicht unbedingt wegen der Slughorn-Sache Glauben schenkte. Wahrscheinlich ließ sie es aufgrund seines Zustands fallen. „Du solltest Madam Pomfrey das überprüfen lassen. Es sieht unschön aus.“
James konnte nicht anders. Er grinste und fragte: „Ach, sieht meine Nase nicht schön aus? Ich dachte immer, sie wäre eines meiner besseren Merkmale.“
Augenverdrehend erhob Lily sich. „Mach was du willst, Potter.“ Sie wandte sich um und wollte bereits mit wehenden Haare davon stolzieren, als sie innehielt. Langsam drehte sie sich um. „Was du vorhin gesagt hast“, fing sie vorsichtig an
„Vergiss es“, sagte er rasch. „Das war nichts. Eine dumme Idee. Nicht wirklich ernst gemeint. Vergiss es einfach.“
Lily biss sich auf die Lippe. „Okay. Ich – ich wollte trotzdem sagen, dass ich …“
Als sie nicht weiterredete, drückte James sich ebenfalls auf die Beine. „Schon gut, Evans. Wir sehen uns, ja?“
„Schätze schon“, murmelte sie, ehe er in die entgegengesetzte Richtung ging.
Was auch immer von seinem Vorhaben übrig gewesen war, Snape hatte endgültig bewiesen, dass James sich nicht in seiner Nähe aufhalten wollte. Es mochte als dumme Rivalität zwischen zwei sehr unterschiedlichen Jungen begonnen haben, aber James würde sich nicht mit Leuten abgeben, die mit Menschen wie Mulciber und Avery verkehrten. Es war ihm auch egal, wie heuchlerisch er wirkte, wenn er Snape weiterhin als Ziel nahm – mit jemandem, der ihm hinterrücks einen Fluch auf den Hals hetzte, hatte er kein Mitleid.
Snape würde sich noch wundern, wen er sich da wirklich zum Feind gemacht hatte.
Chapter 32: 32. Sommer 1973: Irrungen
Chapter Text
Die Tür vom Grimmauldplatz Nummer 12 war kaum hinter Sirius zugefallen, da war bereits die Stimme seiner Mutter durch die düsteren Flure gehallt.
„Kreacher“, rief sie, höchstwahrscheinlich aus dem Speisesaal. „Bring die Jungs zu mir, sofort!“
Kreacher, obwohl Walburga ihn nicht hören oder sehen konnte, verbeugte sich vor niemanden und murmelte: „Sehr wohl, Miss. Kreacher wird sie sofort bringen, Miss.“ Der Hauself ließ vom Gepäck der Brüder ab und ging mit eiligen, tapsigen Schritten über den dunklen Teppich. „Die jungen Herren folgen Kreacher, bitte.“
„Natürlich“, erwiderte Regulus und Sirius verdrehte die Augen.
Er hatte große Lust seinem Bruder ein Bein zu stellen, als sie dieser vor ihm herlief, aber unterdrückte den Drang. Es gab wichtigere Dinge, als dumme Streiche zu spielen. Wenn er weiterhin das Buch von seinem Vater haben wollte, dann musste er sich zumindest für einige Tage gut mit ihnen stellen. Auch wenn das hieß, dass er mit seiner Mutter reden musste, als würde er sie nicht am liebsten in einen ekligen Lurch verwandeln wollen. Sirius folgte Regulus und Kreacher die Halle hinunter bis zu den Treppen, durch die Küche und in den gut beleuchteten Speisesaal.
Ein flackerndes Feuer im Kamin erhellte die rankenverzierte Tapete und mehrere Kerzen auf dem großen Speisetisch sorgten für genug Licht, damit sie Walburga sehen konnten, die am Ende des Tisches saß, eine Tasse Tee vor sich stehen hatte und die Hände ineinander gefaltet vor sich liegen hatte.
Kreacher blieb stehen, als sie den Raum betraten. „Die jungen Master, Miss, so wie die Miss es befohlen hat.“
Walburga nickte knapp. „Kümmer dich um das Gepäck“, sagte sie. „Dann sollte das Abendessen vorbereitet werden. Danke“, fügte sie hinzu, wobei Sirius hätte schwören können, dass ihr Gesicht etwas an Härte verlor. „Du kannst gehen, Kreacher.“
Der Hauself verbeugte sich ein weiteres Mal, ehe er mit einem lauten Knall verschwand und die Brüder mit der Hausherrin zurückließ.
„Ihr könnt euch setzen“, sagte Walburga.
Regulus setzte sich als erstes. „Danke, Mutter.“
„Euer Vater und ich sind sehr zufrieden mit euren Leistungen“, fuhr sie fort, als auch Sirius sich zögerlich gesetzt hatte. „Die Prüfungsergebnisse sind ganz nach unseren Vorstellungen. Regulus, wie hast du dich eingelebt? Wie gefällt es dir in unserem Haus?“
Sirius presste die Lippen zusammen, während er ausblendete, wie sein Bruder über Slytherin redete und wie toll alles doch war. Er sagte genau das, was seine Mutter von ihm erwartete, sagte das, was sie hören wollte, als wäre er eine Puppe, der man nur diese Sätze eingebläut hätte.
Walburga nickte langsam, als Regulus geendet hatte. „Das ist mehr als befriedigend zu hören, Regulus. Ich hoffe doch, du hast dich auch mit deinen Mitschülern gut vertraut gemacht.“
„Natürlich, Mutter. Ich verkehrte nur mit den Besten aus meiner Klasse.“
„Sehr gut.“ Sie holte Luft, als müsste sie sich auf eine schwierige Konversation vorbereiten, dann wandte Walburga Sirius das Gesicht zu. „Ich vermute, du stimmst unserer Übereinkunft noch immer zu, Sirius?“
Mit den Zähnen knirschend nickte er. „Das tue ich, Mutter.“
„Es wurde aber auch Zeit, dass du zur Vernunft kommst, Sirius“, fuhr sie fort. Walburga entspannte ihre ineinander geklammerten Finger und legte eine Hand um ihre Teetasse. „Dein Vater und ich haben uns lange darüber unterhalten, natürlich, und es ist uns nicht einfach gefallen, zu diesem Entschluss zu kommen.“
Aus den Augenwinkeln konnte Sirius den neugierigen Blick seines Bruders spüren, der ihn anstarrte, als hätte er gerade seine Seele verkauft.
„Deswegen sind wir umso erleichterter, dass du von allein aus auf uns zugekommen bist. Es lag uns fern, dich nicht in unserer Familie willkommen zu heißen, aber du hast es uns nicht gerade einfach gemacht, Sirius.“
Es kostete Sirius alles an Willenskraft sich nicht zu übergeben. „Ich bin froh, dass ihr mich nicht aufgegeben habt, Mutter.“
„Natürlich nicht“, sagte Walburga. „Wir wussten immer, dass in dir der richtige Black-Kern steckt. Du musstest ihn nur entdecken. Euer neuer Tutor wird morgen nach dem Frühstück mit eurem Studium beginnen. Es gibt Dinge, die ihr nur von uns lernen könnt und die euch diese friedfertige Schule nicht lehren wird. Regulus, aus … nun, aus Gründen, die ich wohl nicht erklären muss, werde ich mich die ersten Wochen um deine Ausbildung persönlich kümmern. Ich erwarte, dass du alles über unsere Familie und die anderen Heiligen Achtundzwanzig weißt.“
„Selbstverständlich, Mutter“, erwiderte Regulus. „Ich kann es kaum erwarten, von dir zu lernen.“
Walburga nickte. „Sirius, der neue Tutor ist persönlich von mir und deinem Vater ausgewählt worden. Wir erwarten, dass du dich an seine Anweisungen hältst, alles lernst, was er dir beibringt und keine Dummheiten anstellst. Es sei denn, du hast dich in der Zwischenzeit anders entschieden und – “
„Habe ich nicht, Mutter“, unterbrach er sie mit harter Stimme.
Die Lippen zu einer dünnen Linie gezogen, hob Walburga das Kinn an. „Für jemanden wie dich gehört es sich nicht, jemanden beim Reden zu unterbrechen, Sirius. Ich dachte eigentlich, das hätten wir dir längst beigebracht.“
Eine lockere, dumme Bemerkung lag ihm bereits auf der Zunge, aber Sirius beherrschte sich. Er krallte die Hände in seinem Schoß zusammen, die Gedanken an das Verwandlungsbuch in der Bibliothek seines Vaters und das Versprechen daran, dass er es lesen durfte. Die Gedanken an Remus und was sie damit für ihn tun konnten. Sirius holte lautlos Luft. „Tut mir leid, Mutter. Es wird nicht wieder vorkommen.“
Regulus blickte zwischen Sirius und ihrer Mutter hin und her, ehe er den Mund öffnete.
Sirius unterbrach ihn, bevor er eine dumme Frage stellen konnte. „Ist Vater bereits hier?“
„Nein“, erwiderte Walburga hart. „Er ist bei einer Besprechung.“
„Was für eine Besprechung?“, fragte Regulus.
„Das hat dich nicht zu interessieren“, antwortete sie. „Er wird zum Abend wieder hier sein.“
Regulus öffnete erneut den Mund, aber erneut rettete Sirius ihn vor einer dummen Entscheidung. „Dürfen wir uns entfernen, Mutter? Ich würde mich vor dem Abendessen gerne erfrischen.“
Walburga hob das Kinn ein wenig höher. Sie betrachtete Sirius mit zusammengezogenen Augenbrauen, ehe sie knapp nickte. „Sehr wohl. Kreacher wird euch holen, sobald das Abendessen soweit und euer Vater zurück ist.“
Länger als nötig wollte sich Sirius nicht in der Näher seiner Mutter aufhalten. Er erhob sich so schnell er konnte, ohne dass es seltsam wirkte, dann drückte er gegen Regulus´ Schulter, damit dieser ihm folgen würde. Erst auf dem Treppenansatz in den zweiten Stock blieb er stehen, Regulus´ Schritte hinter ihm ein Indikator, dass sein jüngerer Bruder ihm zumindest dieses Mal gefolgt war. Er drehte sich um und zischte: „Was soll das werden?“
Regulus blickte ihn mit gerunzelter Stirn an. „Das könnte ich dich fragen. Was ist mit dir passiert?“
„Ich versuche den Sommer zu überstehen“, erwiderte Sirius leise. „Ich weiß nicht, ob es dir aufgefallen ist, aber Mutter hat es nicht so mit der sanften Erziehung.“
„Das hat dich vorher auch nicht gestört“, sagte sein Bruder. „Du hast sonst auch jede Möglichkeit genutzt, um die Aufmerksamkeit auf dich zu ziehen.“
Sirius verzog schmerzhaft das Gesicht, als ihm die letzten Ferien ins Gedächtnis gerufen wurde – oder zumindest das, woran er sich noch erinnern konnte. Noch immer waren seine Erinnerungen schemenhaft und verschwommen, als hätte er sich selbst durch ein sehr milchiges Fenster beobachtet. Seine Mutter hatte damals nicht vor dem Unverzeihlichen Fluch Halt gemacht und er war sich sicher, dass sie es erneut tun würde, wenn er die Linie überschreiten würde. Sirius musste sich nicht nur für Remus´ Willen benehmen. „Lass das mal meine Sorge sein, Reggie.“
Ein wenig Farbe trat in Regulus´ blasses Gesicht. „Nenn mich nicht so. Ich hasse diesen Spitznamen.“
„Seit wann das bitte? So hab ich dich immer genannt.“
Regulus verschränkte die Arme. „Naja. Du hast das letzte Jahr nicht gerade viel Zeit damit verbracht, zu lernen, ob ich noch immer so genannt werden will, also weiß ich nicht, warum du überrascht bist.“
„Fang nicht wieder damit an“, zischte Sirius.
„Wieso? Was sonst? Heulst du dich bei Mutter aus?“
„Reggie …“
„Sirius“, sagte sein Bruder mit knapper Stimme. Er hob das Kinn, in einem Echo, wie es seine Mutter zuvor getan hatte und erst da wurde wirklich klar, wie sehr Regulus nach dem Ebenbild eines Black-Erben aussah. Die runden, weichen Gesichtszüge waren das letzte Jahr über schärfer geworden, seine Wangenknochen stachen deutlich hervor, die Nase war länger geworden. Das dunkle Haar glänzte unter den flackernden Lichtern der Treppe und seine Haut war so hell wie Mondschein. „Es sollte dich doch nicht überraschen, dass ich mich ändern kann. Das hast du die letzten zwei Jahre auch sehr gut hinbekommen.“
„Also spielst du jetzt Marionette?“, fragte Sirius mit hohler Stimme. „Nach allem, was ich getan habe, damit sie dich in Ruhe lassen, spielst du jetzt trotzdem deren Marionette?“
„Was du getan hast?“, echote Regulus hohl klingend. „Unglaublich. Du hast keine Ahnung, Sirius. Keine Ahnung.“ Regulus drückte sich mit spitzen Ellbogen an seinem Bruder vorbei und ging die letzten Treppenstufen hinauf.
Bevor er in seinem Zimmer verschwinden konnte, hechtete Sirius auf ihn zu, packte ihn am Arm und zwang ihn damit stehenzubleiben.
„Lass mich los“, zischte Reg leise.
„Was soll das denn bitte heißen?“, erwiderte Sirius nicht weniger leise. „Weißt du eigentlich, was ich alles für dich in Kauf genommen habe? Was ich für dich erduldet habe, damit die liebe Maman dich in Ruhe lässt?“
Regulus schnaubte und hörte auf sich zu wehren. Stattdessen verengte er den hellgrauen Blick, mit dem er seinen Bruder anstierte. „Was auch immer es war, ich bin mir sicher, dass du dir jetzt ziemlich blöd vorkommst.“
Vor unterdrückter Wut zitterten Sirius´ Schultern. So hatte er sich den ersten Tag im Grimmauldplatz nicht vorgestellt. Er ließ Regulus´ Arm langsam los. „Ich habe Flüche für dich ertragen. Die Schuld auf mich genommen, als du diese Vase zertrümmert hast. Ich hab sogar gesagt, dass ich es gewesen wäre, der Kreachers Schrank in Brand gesteckt hat, obwohl du das warst!“
„Ich habe dich nicht darum gebeten!“, zischte Regulus mit rosanen Wangen. „Das hast du alles aus freien Stücken getan.“
„Um dich vor ihnen zu schützen!“
„Das hat aber nicht funktioniert“, entgegnete Reg. „Hast du überhaupt darüber nachgedacht, was mit mir passieren würde, kaum dass du in Hogwarts angekommen warst?“
„Natürlich hab ich das“, sagte Sirius, auch wenn er wusste, dass es gelogen war. Er war damals so froh gewesen, endlich aus dem Haus entkommen zu können, dass er nicht viel an Regulus gedacht hatte oder was er durchmachen musste. Aber in diesen Momenten war es ihm nicht wichtig erschienen. Er hatte die letzten Jahre damit verbracht, seinen Kopf für Regulus hinzuhalten – sicherlich würde er es ein paar Monate allein aushalten.
Erneut schnaubte Regulus, bevor er den Kopf schüttelte. „Du hast es nicht verstanden, Sirius“, sagte er. „Aber schon gut. Mach was du für richtig hältst, aber glaub nicht, dass ich dich vor Mum und Dad decke, wenn du wieder irgendwas anstellen willst. Und ich weiß, dass du etwas vorhast. Du brauchst es nicht versuchen zu verneinen.“ Regulus ließ ihm keine Zeit zu antworten. Er drehte sich um, betrat sein wesentlich kleineres Zimmer und schlug dann die Tür vor Sirius´ Nase zu.
Frustriert wandte Sirius sich um und verschwand in seinem eigenen Zimmer. Er warf sich auf sein Bett, drückte sich ein Kissen aufs Gesicht und schrie.
***
Bis zum Abendessen verließ Sirius sein Zimmer nicht. Er verbrachte die Zeit, in dem er an die Wand starrte und in Gedanken über Regulus schimpfte. Er wusste nicht, womit er es verdient hatte, dass sein kleiner Bruder sich nach all seinen Jahren der Opferung gegen ihn wendete, aber es war ihm auch egal. Wenn Regulus allein mit ihren Eltern klarkommen wollte, wenn er gerne den Erben spielen und um die Anerkennung von Walburga hecheln wollte, dann würde er ihm nicht im Weg stehen. Sollte er doch versuchen, allein mit ihnen auszukommen.
Sirius hatte seinen eigenen Plan, wie er diesen Sommer überstehen würde. Der letzte hatte ihm gezeigt, dass auch er dazu fähig war, seine Eltern zu manipulieren, sei es, weil er Hilfe von James hatte, aber es hatte gereicht, um zu erkennen, dass seine Mutter nicht die alleinige Herrscherin war, für die er sie so lange gehalten hatte. Sie konnte manipuliert und verwirrt werden, ausgetrickst und in die Ecke gestellt. Sirius war sich sicher, dass er es dieses Mal auch schaffen würde, seinen Sommer erholsamer zu gestalten. Besonders nach den widerlichen Weihnachtsferien, konnte er es kaum erwarten, seiner Mutter einen Schritt voraus zu sein.
Die Tür zu seinem Zimmer öffnete sich mit einem leisen Knarren. „Der Master wünscht den jungen Master zu sehen“, ertönte Kreachers Stimme.
Sirius blickte auf und erkannte den Hauselfen in seinem Türrahmen stehen, die Nase so weit vorübergebeugt, dass er fast den Boden berührte. Ihm fielen James´ Worte wieder ein, mit der ihn unsanft wachgerüttelt hatte. Obwohl ihm nichts fremder lag, als nett zu einem kleinen schleimigen Stiefellecker wie Kreacher zu sein, sagte er: „Danke, Kreacher.“
Offenbar war das auch überraschend für den Hauselfen. Kreacher konnte nicht zeigen, wie irritiert er von netten Worten aus Sirius´ Mund war, aber Sirius sah es ihm trotzdem an. Der Hauself starrte ihn einen Moment zu lange an, dann wandte er sich wortlos um und verschwand mit einem leisen Knall.
„Na also, Sirius“, murmelte er zu sich selbst. „Das war doch gar nicht so schwierig.“
Er schwang die Beine vom Bett und erhob sich, streckte die Arme über den Kopf und ging mit langsamen Schritten aus seinem Zimmer. Kreacher musste nicht sagen, wo sein Vater ihn erwartete. Sirius folgte dem dunklen Teppich, der sich wie ein schwarzer Faden über das teuer Holz zu seinem Ziel schlängelte. Das Portrait von Salazar Slytherin am Ende des Ganges schlief. Mit jedem Atemzug wirbelte sein gemalter Bart auf.
Vor der Tür zum Büro seines Vaters blieb er einen Augenblick stehen, dann hob er die Hand und klopfte an.
„Herein“, ertönte es und die Tür öffnete sich von allein. Orion saß an seinem lächerlich großen Schreibtisch, eine gutes Dutzend Bücher und ein weiteres halbes Dutzend Pergamentrollen vor ihm ausgebreitet. Die dunklen Vorhänge vor dem großen Fenster waren so weit zugezogen, dass kaum Sonnenlicht in den Raum schien. Stattdessen erhellte der Kronleuchter an der Decke den Raum so sehr, dass selbst die Spinnenweben in den hohen Ecken zu sehen waren. „Setz dich, Sirius.“ Sein Vater blickte nicht auf, als er mit ihm sprach, sondern hielt den Blick auf ein vor sich ausgerolltem Pergament.
Sirius gehorchte und ließ sich auf dem Holzstuhl vor dem Tisch nieder. Es war bei Weitem nicht so bequem wie der thronartige Sessel, auf welchem sein Vater saß, aber Sirius würde sich sicherlich nicht beschweren. Er wollte etwas und er gab sein Bestes, um es sich nicht zu ruinieren. Bevor er nicht Zugriff auf das Buch hatte, würde er nicht aufhören, so zu tun, als hätte er es sich endlich anders überlegt. Er konnte den perfekten Erben spielen. Er konnte der Sohn sein, den seine Eltern sich immer vorgestellt hatten.
Sein Vater sprach eine ganze Weile nicht. Er war auf die Dokumente fokussiert, die vor ihm lagen, fuhr mit dem Finger die schmal geschriebenen Wörter entlang und hatte die Brauen zusammengezogen. Es war unmöglich zu erkennen, was er dort las, aber Sirius war sich ziemlich sicher, dass es etwas war, das ihn nicht interessierte. Sicherlich war es irgendwas aus dem Ministerium oder wieder ein neuer Gesetzesvorschlag, den er dem Zaubergamot machen wollte. Mit den Gesetzen, die sein Vater entwickelte, wollte Sirius definitiv nichts zu tun haben.
Endlich seufzte Orion kaum hörbar, bevor er den Kopf hob, den Rücken an die Lehne seines Sessels drückte und die Hände vor sich ablegte. Mit gerunzelter Stirn betrachtete er Sirius für einen Augenblick, ehe er sagte: „Verwandlung also. Ich kann mich nicht daran erinnern, dass du zuvor schon Interesse daran gezeigt hättest.“
Soetwas hatte Sirius bereits erwartet und hatte sich gründlich auf eine Befragung durch seinen Vater vorbereitet. „Es ist ein interessantes Themengebiet. Flüche haben einen Nutzen, Zauber sind nur begrenzt einsetzbar, Verwandlungen allerdings haben ein breites Arsenal an Einsatzgebieten.“
Orion hob leicht das Kinn an, eine Geste, die er und seine Frau nur zu gerne nutzten. „Du bist dir auch sicher, dass du dieser Magie bereits gewachsen bist?“
„Ich bin ein Black, oder nicht?“, stellte Sirius die Gegenfrage. „Es gibt nichts, dem ich nicht gewachsen bin.“
Beinahe meinte er ein stolzes Lächeln auf den Lippen seines Vaters zu sehen, doch war sich sicher, dass er sich das nur eingebildet hatte. Wenn es eines gab, das sein Vater nicht tat, dann war es lächeln. Noch dazu war er nie stolz auf seine Söhne, egal was sie taten. „Das mag die richtige Einstellung sein“, sagte er langsam, „aber hast du es auch trotzdem in dir? Verwandlungen sind überaus komplex. Ich maße mir nicht an, komplett zu verstehen, wie sie funktionieren, aber selbst talentierte Zauber, die weitaus begabter als du sind, haben ihre Schwierigkeiten damit. Ich spreche nicht von billiger Schul-Verwandlung“, fügte er an, als Sirius bereits den Mund geöffnet hatte, „sondern von der komplexen Magie, die hinter all dem steckt.“
„Mit dem richtigen Lehrer werde ich dazu in der Lage sein, diese komplexe Magie zu verstehen“, erwiderte Sirius wahrheitsgemäß. Das musste er. Er musste es verstehen und er musste es meistern, denn nur so konnten er und seine Freunde Remus helfen. Nur so konnte er verhindern, dass Remus der einzige war, der sich zum Vollmond verwandelte. „Außerdem ist darin doch der Spaß, nicht wahr?“
„Der Spaß?“, entgegnete Orion langsam.
Sirius konnte sein Lächeln nicht verhindern. „Genau. Die komplexen Hintergründe der Magie verstehen, die Fäden auseinanderziehen, die alles zusammenhalten und neubinden, verstehen, wieso etwas geschieht … das ist doch der Spaß an der ganzen Sache. Natürlich könnte ich jede Verwandlung so lange üben, bis ich sie kann und dann nicht darüber nachdenken, aber es ist doch viel spannender, herauszufinden, was genau dabei passiert.“ Er musste wieder an Remus denken, an die Verwandlung, die er jeden Monat durchmachen musste. Hatte man schon verstanden, was dabei passierte, wenn der Mond seine Wirkung zeigte? Hatten die Zauberer verstanden, was mit dem Körper eines Zauberer geschah, sobald der Wolf ausbrach? Sirius war sich nicht sicher, ob es Antworten auf seine Fragen gab – zur Not würde er sie selbst finden. Er konnte nicht zusehen, wie sein Freund litt und nichts dabei tun. Es würde nicht ausreichen, nur zum Animagus zu werden.
Sirius würde alles lernen, was die Verwandlung zu bieten hatte, um Remus endlich helfen zu können.
Orion legte die Finger enger zusammen. „Eine interessante Sichtweise, Sirius. Ich muss sagen, ich bin überrascht, dass du es scheinbar doch so ernst meinst.“
„Was, hast du gedacht, ich würde mir nur einen Scherz erlauben?“
„In der Tat, das habe ich. Und ich finde, du kannst mich dafür nicht unbedingt verurteilen. Du hast eine Tendenz dazu, den Leuten Märchen zu erzählen, auch mir und deiner Mutter. Wir waren uns nicht sicher, ob wir wirklich so weit gehen sollten, dir bereits einen neuen Tutor zu suchen, aber dich jetzt so reden zu hören, lässt mich wissen, dass wir zumindest die richtige Entscheidung getroffen habe.“ Orion neigte den Kopf. „Lass es uns das nicht bereuen, Sirius.“
„Ich verspreche es, Vater. Dieses Mal meine ich es wirklich ernst.“ Sirius musste nicht einmal verhindern, dass er die Finger kreuzte, dass er seine Lüge gut tarnte, dass er ernsthaft wirkte oder ähnliches. Es war ihm wichtig genug, dass sein Vater wusste, dass er dieses Mal nicht mit dem Gedanken spielte, es hinzuschmeißen. So sehr er die Werte dieser Familie auch verachtete, solange er die Chance hatte, das gute Geld auszunutzen, um sich selbst und anderen zu helfen, würde er so tun, als wäre er ein Teil der Blacks. Er konnte so tun, als würde er dazugehören und als würde er genau wie Regulus unbedingt ein perfekter Erbe sein wollen. Sirius hatte lange genug geschauspielert – ein paar Wochen mehr würden ihn nicht umbringen.
„Das ist gut zu hören, Sirius. Du …“ Orion zögerte für einen Moment. Er nickte, als müsste er sich selbst Mut zusprechen, dann sagte er: „Ich hatte meine Zweifel mit dir, muss ich zugeben. Aber es scheint, als hättest du dich endlich für den richtigen Weg entschieden, genauso, wie es mein Sohn tun sollte. In diesem Moment bin ich stolz darauf, dein Vater zu sein.“
Die Worte sollten nicht so stechen, wie sie es taten. Es war fast so, als wären all die Stunden der dunklen Magie, all die Drohungen von Unverzeihlichen Flüchen, all die Tage und Nächte, die Sirius in seinem Zimmer nach Sicherheit gesucht hatte, vergebens. Es war, als hätte Sirius endlich das gefunden, war er immer gesucht hatte. Anerkennung. Zuversicht, dass er einen Platz in diesem Leben hatte. Dass seine Familie trotz allem ein Teil von ihm war. Er wollte kein Black sein, aber Sirius hatte niemanden, wenn er keiner war. Er hatte kein Blut, das ihn band. Kein Fleisch, das ihn fesselte.
Es war, als hätte Orion ihm ein schwarzes Messer tief in die Rippen gerammt.
Sirius´ Augenwinkel verrieten ihn als erstes, als sie anfingen zu brennen. Mit viel zu viel Willenskraft brachte er sich dazu, aufrecht zu sitzen und den Gefühlen nicht nachzugeben, die wie ein Wirbel aus Verwirrung und Dankbarkeit in ihm Chaos anrichteten. Er wusste nicht recht, was er denken sollte, aber er wollte nicht – er konnte nicht schwach werden. Er konnte nicht so kurz vor dem Ziel zweifeln. Genau das hatte man ihm doch beigebracht, mit all den Strafen und Drohungen und Narben. Das hatte man ihm beigebracht.
Niemals Schwäche zeigen, niemals an sich selbst zweifelnd. Sirius war vielleicht ein Black durch und durch, aber das hieß nicht, dass er auch wie jeder andere Black sein musste. Die Gedanken an Remus, an James und Peter, an Onkel Alphard, der ihn trotz der Gefahr zu sich geladen hatte, an Andromeda, die dieser Familie entkommen war, an Narzissa, die im Geheimen vielleicht doch eine weiße Weste trug … sie halfen ihm, damit er nicht sein Ziel aus den Augen verlor.
„Danke, Vater“, sagte er.
Ich wünschte, du hättest es vor ein paar Jahren gesagt, dachte er, während er sich schmerzhaft auf die Zunge biss. Sirius schmeckte Blut.
Das Blut der Blacks floss weiter in ihm, auch wenn er längst seinen Austritt plante.
***
Das metallene Gestell der Schaukel quietschte unheilvoll, als Lily einen weiteren Schwung nahm, die Beine nach vorne gebeugt und die Haare wie Peitschenhiebe um ihr Gesicht. Sommerlicher Wind tanzte über ihre Haut und rauschte durch die sattgrünen Blätter der schiefen Bäume, die noch im Cokesworth Park standen. Es war wohl nur eine Frage der Zeit, bis man die letzten Eschen und Lärchen ebenfalls fällen würde, um noch mehr Platz für kniehohe metallene Zäune und schmutzigen Asphalt zu schaffen.
Lily nahm einen weiteren Schwung, schaukelte noch ein wenig höher. „Komm schon, Tuni!“
Auf der zweiten Schaukel saß Petunia, die blonden Haare in ihrer neuen Kurzhaarfrisur und Zweifel auf dem Gesicht. Die Fingernägel waren grellpink lackiert. Sie fuhr sich durch die kurzen Fransen, dann sagte sie: „Ich weiß nicht, Lily. Diese Schaukeln sind uralt.“
„Früher hast du auch hier mit mir geschaukelt“, entgegnete Lily über den rauschenden Wind. Sie grinste und fragte sich, wie sie eigentlich so lange ohne Schaukeln hatte überleben können. Es war wirklich eine Straftat, dass es in Hogwarts sowas nicht gab. Vielleicht könnte sie einen Zauber finden, um einen Park entstehen zu lassen, überlegte sie, bevor sie die Hacken anwinkelte und sich tief in den Sand bohrte. Mit verringerter Geschwindigkeit kam sie schließlich zum Stehen. „Na los, ich schubs dich an.“ Sie war kaum von ihrer Schaukel aufgestanden, da hatte Petunia bereits mit einer überraschenden Kraft nach ihrem Arm gegriffen.
„Hör auf!“, sagte sie, aber sie konnte das Lachen in ihrer Stimme hören, auch wenn es das nicht auf ihre Lippen geschafft hatte. „Ich will einfach nicht, dass wir unter diesem Ding begraben werden. Außerdem gehe ich heute Abend aus, ich will nicht, dass der Lack abblättert.“
Lily unterdrückte ein Stöhnen. „Dann lackierst du halt neu“, erwiderte sie.
„Du verstehst das nicht, Lily.“
„Dann erklär es mir doch, Tuni.“
Petunia schüttelte den Kopf. „Dafür bist du noch zu jung.“
„Die zwei Jahre“, beschwerte Lily sich.
Ihre Schwester zuckte mit den Schultern. „Wenn Mum mir vorher nicht erlaubt hat, mich zu schminken, dann fände ich es nur fair, wenn du es auch nicht darfst.“
Lily hatte große Lust, eine Grimasse zu ziehen, ließ es aber bleiben. Stattdessen setzte sie sich wieder auf ihre Schaukel, wobei das Gerüst erneut quietschte. Wenn sie wenigstens zaubern dürfte, dann könnte sie einen raschen Reparo auf das Gestell wirken, damit der Rost nicht wirklich noch dazu beitrug, dass es unter ihrem Gewicht einsackte. Lily hatte zwar ein wenig zugenommen, aber sie war sicherlich nicht so schwer, dass sie ein ganzes Schaukelgestell zusammenbrechen lassen konnte. Sie war sich sicher, dass das niemand konnte.
„Ich weiß gar nicht, warum ich überhaupt hier bin“, murmelte Petunia.
„Mum hat uns aus dem Haus geworfen“, erinnerte Lily sie.
Petunia verdrehte die Augen. „Das weiß ich ja wohl noch. Ich meinte, warum ich überhaupt mit dir gegangen bin. Ich hätte einfach den Bus nehmen und zu Tess fahren können.“
Lily versuchte den Stich in ihrem Herzen zu ignorieren; zwar verstanden sie und ihre Schwester sich wieder etwas besser, seit sie für die Ferien zurückgekehrt war, aber es war doch deutlich, dass ihre Beziehung noch immer vom Schatten von Lilys Magie verdunkelt wurde. Manchmal konnte Lily sehen, wie Petunia sie anfunkelte und dann schnell wegsah, in der Hoffnung, dass Lily es nicht bemerkt hatte. Lily bemerkte es immer. Lily bemerkte auch, wie sehr es wehtat, dass ihre Schwester lieber Zeit mit ihren Schulfreundinnen verbringen wollte als mit ihr. „Dann könntest du aber nicht sehen, wie ich einen Überschlag mache!“
„Das wirst du ja wohl auch bleiben lassen“, sagte Petunia und griff nach einer der Ketten von Lilys Schaukel. „Mum tötet mich, wenn du sowas nochmal machst.“
„Letztes Mal ist nicht mal was passiert“, meinte Lily schnaubend.
„Ja, weil – weil –“ Petunia brach ab. Sie ließ Lilys Kette los und starrte wieder nach vorne. „Mach es einfach nicht.“ Es war mehr als offensichtlich, was Petunia fast hätte sagen wollen. Weil du zaubern kannst, hatte Lily fast gehört. Weil du Magie hast und ich nicht. Vielleicht war es besser, dass sie es nicht ausgesprochen hatte.
„Na schön“, murrte Lily leise. „Aber gegen ein wenig normales Schaukeln ist nichts einzuwenden, oder? Ich wette, mittlerweile komme ich sowieso höher als du.“
In Petunias Augen trat ein Glitzern, das sie lange nicht mehr gesehen hatte. „Das denkst du, ja? Ich habe dich früher immer darin geschlagen.“
„Tja, dann kannst du es ja jetzt bestimmt noch mal tun, nicht wahr?“ Lily lief mit der Schaukel unter sich zwei Schritte nach hinten, dann knickte sie ihre Beine weg und nutzte den Schwung, um an Höhe zu gewinnen. „Oder sind dir deine Nägel etwa wichtiger?“
Für einen Augenblick blickte Petunia wirklich auf ihre frisch lackierten Nägel, dann grinste sie, zuckte mit den Schultern und packte ihre Ketten. „Warts nur ab, Lily!“
Ein Geräusch, das seit Jahren nicht mehr in diesem Park zu hören gewesen war, ertönte; das Lachen zweier Schwestern, die mit dem Wind rauschten und immer höher und höher schaukelten. Rotes Haar bei der einen, blondes bei der anderen, aber das Lachen war gleich. Hoch und glücklich und so, als wäre dort nicht der Schatten, der zwischen ihnen herrschte und die Beziehung der Schwestern ruinieren wollte.
Lily schlang ihre Finger fest um die Kettenglieder, die bereits jetzt warm von ihrer Haut waren. Der Wind peitschte um ihr Gesicht und immer wieder wirbelte ein wenig Sand auf, wenn sie mit den Fußsohlen auf dem Boden aufkam. Sie schaukelte höher und höher, schloss die Augen. Fast war es so, als wären sie wieder zwei Mädchen, die einfach nur wissen wollten, wer von ihnen höher schaukeln konnte.
Vollkommen furchtlos ließ Lily die Ketten los. Für einen Moment hing sie schwerelos in der Luft, der Wind wie eine Decke um sie gehüllt, dann öffnete sie die Augen und lachte.
Petunia schrie, Lily glitt über den Boden und kam dann auf sanften Füßen auf, als wäre sie auf Watte getreten. Das Blut rauschte in ihrem Kopf und sie grinste über beide Ohren, als sie sich zu ihrer Schwester umdrehte, die panisch ihre Füße in den Boden bohrte, sodass Sand und Dreck um sie herum gespritzt waren.
„Ich hab dir gesagt, du sollst das nie wieder machen!“, kreischte Petunia, stand von der Schaukel auf, die ohne Herrin ziellos umherwackelte und ging mit schnellen Schritten auf Lily zu. Ihr Gesicht war puterrot. „Wenn dich jemand gesehen hätte – wenn jemand gesehen hätte, wie du – wie du - wie du deine freakigen Kräfte benutzt hättest!“ Petunia atmete mit jedem Wort heftiger und wurde, wenn möglich, noch dunkler im Gesicht.
Jegliches Lachen tropfte aus Lilys Gesicht. Ein Gefühl, als würde jemand ihr Herz mit den Fingern zerdrücken, nahm sie ein. „Hier ist aber niemand“, sagte sie leise.
Ihre Schwester schüttelte so schnell den Kopf, dass ihre kurzen Haare wie wild durch die Gegend peitschten. „Das ist vollkommen egal“, schrie sie. „Du weißt genau, dass ich nicht –“
„Ich hab nicht gezaubert“, unterbrach Lily ihre Schwester wahrheitsgemäß.
„Was –“ Petunia brach ab und presste die Lippen zusammen. „Lüg mich nicht an, Lily. Ich hab´s doch gesehen!“
„Ich habe nicht gezaubert“, wiederholte sie. „Ich wüsste auch nicht wie. Es passiert einfach.“
Petunia starrte sie mit geweiteten Augen an, ihr Brustkorb hob und senkte sich mit jedem schweren Atemzug, als wäre sie soeben durch ganz Cokesworth gerannt. Der sanfte Wind zerrte an ihrer luftigen Kleidung. „Was soll das bitte heißen?“, fragte sie laut. „Ich hab gesehen, wie du – wie du –“
Seufzend ging Lily einen Schritt auf ihre Schwester zu. Sie wusste, es war ein Fehler gewesen, vor Petunia zu zaubern – oder vielmehr, ihre Magie machen zu lassen – aber sie hatte sich nicht beherrschen können. Die Magie brodelte in ihr, loderte wie ein wunderschön knisterndes Kaminfeuer und Lily konnte es nicht ignorieren. Konnte nicht ignorieren, was in ihr war und was sie ausmachte. „Tut mir leid, Tuni“, sagte sie, auch wenn sie es nicht so meinte.
„Du kannst froh sein, dass dich niemand gesehen hat“, schnaubte Petunia, ehe sie die Arme fest um sich schlang, als wäre ihr plötzlich kalt geworden. „Das hätten wir sicher nicht erklären können.“
Lily lächelte überrascht. „Wir?“
Bevor sie ihren Fehler hätte vertuschen können, seufzte Petunia. „Natürlich wir. Du hast mich ja einfach da mit reingezogen.“
„Das hab ich früher auch immer“, sagte Lily, „als wir Prinzessinnen gespielt haben.“
Petunia schnaubte belustigt. „Gott, ja. Ich musste dich drei Mal von Mrs. Appleworths Baum holen lassen, weil du allein nicht wieder runter kamst.“
Lily lachte und auch auf Petunias Lippen erschien der Hinweis an ein echtes Lächeln. „Und das eine Mal, als ich über den Zaun beim alten Bowling-Center geklettert bin, um unseren Ball zurückzuholen.“
Überraschenderweise schlug Petunia sich eine Hand vor den Mund. „Weil ich ihn rüber getreten hatte“, meinte sie. „Ich weiß noch, dass Dad damit gedroht hat, uns nächstes Mal von der Polizei abholen zu lassen, wenn wir wieder sowas anstellen.“
„Das hätte er sowieso nicht gemacht“, erwiderte Lily. „Dafür hat er uns zu gern. Du hast ihn immer schnell um den Finger gewickelt.“
Ein Kichern entkam Petunia. „Dafür hattest du Mum immer auf deiner Seite. Ich weiß noch, dass sie mir mal Hausarrest gegeben hat, weil ich dich zum Weinen gebracht hatte, obwohl das deine eigene Schuld war. Du bist vom Rad gefallen“, fügte sie erklärender Weise hinzu. „Aber Mum hat gesagt, ich wäre für dich verantwortlich gewesen.“
Lily verdrehte die Augen. „Das tut mir leid, ich hoffe es war nicht allzu schrecklich für dich.“
„Ich durfte drei Tage lang kein Fernsehen gucken“, erwiderte Petunia. „Es war keine einfache Zeit für mich.
Lily musste sich zusammenreißen nicht die Augen zu verdrehen. Wenn es eines gab, das Petunia schon immer mehr gemocht hatte, als alles andere, dann war es Fernsehen schauen. Lily wusste nicht einmal, was Petunia daran so toll fand – meist schaute sie irgendwelche Kochshows, obwohl sie es hasste zu kochen oder Shows über Jurys und Anhörungen, damit sie die Angeschuldigten anmotzen konnte. Den Sommer über hatte Lily Petunia sogar dabei erwischt, wie sie die Nachrichten geguckt und sich dabei die Nägel lackiert hatte. Es war ein wahrhaft seltsamer Anblick gewesen, zumal Petunia sich nie für etwas interessierte, dass sie nicht persönlich betraf.
Ein weiterer sanfter Windstoß zerrte an Lilys Haaren und brachte den losen Schmutz am Boden durcheinander. Einige losgerissene Blumen purzelten über die staubige Erde. Bevor sie sich hatte daran hindern können, bückte Lily sich und hob ein paar davon auf. Sie betrachtete die roten, gelben und weißen Blütenblätter in ihrer Hand, dann fragte sie Petunia: „Welche davon passt besser zu meinen Haaren?“
Die schnippische Bemerkung, die Lily sonst so von ihrer Schwester erwartete, blieb aus. Petunia zog die Augenbrauen zusammen und kam einen Schritt auf sie zu. „Die“, sagte sie und deutete auf eine kleine, runde weiße Blume, deren Blätter ein wenig zerknickt und eingerissen waren. „Hier, warte.“ Mit sanften Fingern nahm Petunia ihr die Blume aus der Hand, rückte sie ein wenig zurück und steckte sie ihr schließlich hinters Ohr. „Und ich nehme die.“ Sie deutete auf eine rote Blume und hielt Lily dann das Ohr hin.
Grinsend steckte Lily ihrer Schwester die Blume an und ließ die restlichen fallen. „Das haben wir früher auch immer gemacht“, sagte sie.
„Du hast davon mal eine Zecke bekommen“, erwiderte Petunia lachend. „Mum ist ganz verrückt geworden.“
Lily lachte ebenfalls. Sie erinnerte sich zwar nicht daran zurück, aber sie wusste noch, wie es vor ein paar Sommern war, als sie in genau diesem Park stand, Petunia auch nur ein paar Schritte von ihr entfernt, eine kleine weiße Knospe in ihrer Handinnenfläche. Noch bevor sie wusste, dass sie Magie in sich trug, hatte sie sich auf die kleine Knospe konzentriert und sie war in ihrer Hand aufgeblüht, als hätte sie die Zeit vorgespult. Lily war begeistert gewesen, ihrer Schwester den Trick zu zeigen, den sie konnte, aber Petunia hatte ihr die Blume aus der Hand geschlagen und sie einen Freak genannt. Sie war zu dem großen knorrigen Baum gelaufen, der seinen Schatten auf den Park warf und da …
Lily blickte zu ebenjenem Baum. Sie wusste nicht, was für eine Art Baum das war, denn er trug nie Blätter an sich. Die knorrigen, dunklen Äste woben sich wie Spinnenweben durch die Luft, bildeten ein eigenes, dichtes Netz und hinderten damit die Sonne daran, auf den Grasboden zu scheinen. Von ihrer Position aus konnte sie es nicht sehen, aber sie wusste, dass die Wurzeln des Baumes eine natürliche Höhle formten, groß genug, damit sich zwei Kinder darin verstecken konnten, mit kühler, fester Erde und einem abgeschotteten Blick, sodass man den ganzen Park sehen konnte, ohne selbst entdeckt zu werden.
Aus dieser Höhle war Severus das erste Mal geklettert, als sie ihn kennengelernt hatte.
Manchmal kam es ihr vor, als wäre es erst gestern gewesen, dass sie ihren besten Freund kennengelernt hatte. Er war wesentlich kleiner als jetzt gewesen und hatte ein viel zu großes Shirt getragen. Lily wusste noch, dass sie damals gedacht hätte, er wäre eines dieser obdachlosen Kinder gewesen, vor denen ihre Mutter sie gewarnt hatte. „Du solltest nicht mit denen reden, Lily“, hatte sie gesagt. „Mit solchen Leuten wollen wir uns nicht abgeben.“
Das war immer etwas gewesen, was Lily nicht verstanden hatte – wenn es obdachlose Kinder gab, wieso half man ihnen nicht? Wieso sagte man nur, man sollte nicht mit ihnen reden und sie dann auf der Straße ignorieren?
„Es wird langsam spät“, sagte Petunia, womit sie Lily aus ihren Gedanken riss. „Meinst du Mum lässt uns endlich wieder rein?“
Lily hörte nicht zu. Sie hatte den Schatten einer Bewegung gesehen, dort unter der Wurzeln, aus denen sie einst gesehen hatte, wie Severus geklettert war. Es war nur ein Bruchteil einer Sekunde gewesen, vielleicht hatte sie es sich auch eingebildete, aber Lily runzelte die Stirn und drehte den Kopf zum knorrigen Baum. Sie starrte ein paar Sekunden, dann schüttelte sie den Kopf, sich sicher, dass sie es sich doch eingebildet hatte.
„Lily?“ Petunia fragte erneut.
„Ja?“
„Sollen wir zurück gehen?“
„Oh. Ja, sicher. Tut mir leid, ich war –“ Sie sah es erneut. Dieses Mal war sie sich einhundertprozentig sicher, dass sie gesehen hatte, wie etwas – oder jemand – zwischen den Wurzeln geraschelt hatte. Über den Wind war es zwar nicht deutlich zu hören, aber Lily wusste, was sie gehört hatte. „Warte mal.“ Sie hatte ihren Zauberstab nicht dabei – in der Muggelwelt, besonders hier in Cokesworth, hatte sie ihn nie dabei, immerhin durfte sie nicht zaubern – aber sie fühlte sich trotzdem mutig genug, auf den Baum zuzugehen.
Ihre Schritte waren langsam genug, damit sie niemanden verschrecken würde. Lily konnte Petunias Stimme hinter sich hören („Lily, was machst du da?“), aber ging nicht darauf ein. Sie ging weiter auf den ihr so bekannten Baum zu, bis sie einige Schritte vor den dichten Wurzeln entfernt stehen blieb.
„Wenn ich ein Feind gewesen wäre, dann wärst du jetzt tot.“
„Severus“, sagte Lily, die erleichtert ausatmete. „Wie lange bist du bitte schon hier?“
„Lang genug.“ Zwischen den Wurzeln tauchte sein dunkler Haarschopf auf und einen Augenblick später schälte Severus sich aus den Schatten, die zwischen den Baum herrschten. Er hatte die langen Ärmel seines Hemdes hochgekrempelt und das gleiche bei seinen Hosenbeinen versucht, auch wenn eines davon bereits wieder heruntergerutscht war. Seine Stirn glänzte vor Schweiß. „Ich hab gesehen, wie du gezaubert hast.“
„Hab ich nicht“, erwiderte sie erneut. Sie wiederholte, was sie bereits Petunia gesagt hatte.
Severus runzelte die Stirn. „Wirklich?“, fragte er. „Ich wusste nicht, dass das auch noch geht, nachdem man einen Stab hat.“
„Den hab ich gar nicht mit“, sagte Lily.
„Wieso? Was ist, wenn dich jemand angreift?“
„Warum sollte mich bitte jemand angreifen?“
Severus schüttelte den Kopf, kam aber zu keiner Antwort mehr.
Petunia, die offensichtlich nicht mehr länger auf ihre Schwester warten wollte, kam mit strengen, raschen Schritten auf sie zu. Verschwunden war das lockere Lächeln, das ihre Lippen geziert hatte. Zurück war die stoische Petunia, die nicht dabei gesehen werden wollte, wie sie Spaß hatte, die am liebsten langweilige Fernsehshows guckte und sich die Nägel in den Farben lackierte, die in der letzten Teen-Zeitschrift empfohlen wurden. Petunia blieb neben Lily stehen, die Arme fest ineinander verschränkt und sagte: „Wir sollten zurück gehen, Lily.“ Sie sprach Lilys Namen mit fester Härte in der Stimme aus. Dass Severus ebenfalls da war, nahm sie nicht wahr.
„Gleich, Tuni.“
„Jetzt.“ Mit einem überraschend festen Griff, schloss Petunia ihre Finger um Lilys Oberarm.
„Aua, Tuni – das tut weh!“
„Wir gehen jetzt“, zischte Petunia und zerrte Lily ein paar Schritte mit sich.
„Lass sie los“, sagte Severus leise aber bestimmt. „Sie hat gesagt, dass du ihr weh tust.“ Als Petunia ihn weiterhin ignorierte, ging Severus einen Schritt auf die beiden Schwestern zu. „Ich wiederhole mich ungern.“
Petunia schnaubte. „Misch dich nicht ein, du Freak.“
„Tuni!“
„Leute wie du sollten wissen, wo ihr Platz ist“, erwiderte Severus mit kühler Stimme. „Wenn Lily sagt, dass du sie loslassen sollst, dann tust du das gefälligst auch.“
„Was willst du sonst tun, du Freak?“, spuckte Petunia ihm entgegen.
Lily wehrte sich im Griff ihrer Schwester, aber konnte sich nicht lösen, ohne sich nicht selbst die Haut zu zerkratzen. Sie versuchte Severus mit einem Blick mitzuteilen, dass er sich nicht einmischen sollte, dass er aufhören sollte, Petunia anzustacheln, aber es funktionierte nicht.
„Vielleicht ein paar der Flüche ausprobieren, die man uns in der Schule nicht beibringt.“ Seine Stimme hatte etwas lässiges an sich, beinahe schon so, als würde er öfter darüber reden. Locker ging er einen weiteren Schritt auf die beiden zu.
„K-Komm nicht näher!“, sagte Petunia schrill. Ihre Finger krallten sich heftiger in Lilys Arm, aber ihr Griff zitterte. Mit der freien Hand deutete sie auf Severus. „Bleib wo du bist, du Freak! Ich weiß, dass du nicht zaubern darfst, sonst wirft deine freakige Schule dich raus!“
„Wer sagt, dass sie die Regeln nicht geändert haben?“, fragte Severus leise.
„Sev, lass das“, flehte Lily, die es nicht mitansehen wollte, wie ihr bester Freund und ihre Schwester sich anfeindeten. „Bitte, ich geh einfach nach Hause, okay? Wir reden –“
„Haben sie nicht!“, unterbrach Petunia. „Das wüsste ich. Lily hätte es mir gesagt. Sie – diese Freak-Schule duldet es nicht.“
Severus lächelte, woraufhin Lily ein kalter Schauer den Rücken hinunterlief. Es sah ihm nicht ähnlich, sich so in etwas hineinzusteigern – sie mochte nicht, dass Severus sich so mit ihrer Schwester stritt. Konnten die beiden sich nicht einfach verstehen? Sie und Tuni verstanden sich doch auch wieder. Dann könnte Severus doch auch versuchen … er könnte versuchen, nett zu Petunia zu sein. Das war nicht so schwierig, dachte sie.
„Auch minderjährige Zauberer dürfen Magie wirken, wenn sie sich in einer bedrohlichen Situation befinden“, sagte Severus, den Blick nicht von Petunias krallenartigen Fingern nehmend. „Und wenn ich ihnen die Stelle an Lilys Arm zeige, dann werden sie schon verstehen, warum ich keine andere Wahl hatte, als dich zu verfluchen.“
„Severus!“, schrie Lily in Protest. „Lass das!“
Er schüttelte so schnell den Kopf, dass seine schwarzen Haare wild hin und her wackelten. „Siehst du denn nicht, wie sie dich behandelt, Lily? Sie ist nur ein –“
„Sei ruhig!“, kreischte Petunia im gleichen Moment wie Lily: „Lass es“, rief.
Für einen Augenblick war es still, die Schwestern atmeten heftig, dann löste Petunia ihren Klammergriff.
„Tuni …“
„Fass mich nicht an!“, schrie Petunia wild, als Lily nach ihrer Bluse greifen wollte. Petunias Gesicht war rot angelaufen und ihre sorgfältig frisierten Haare hatten sich gelöst und lagen wie Stroh auf ihrer Stirn. Ihre Augen waren weit aufgerissen und sie starrte Lily an, als wäre sie ein Geist. „Dieser Freak hat mich bedroht! Er hat mein Leben bedroht und du – und du –“
„Tuni, er meint es nicht so –“, versuchte Lily sich zu erklären, während sie ihren schmerzenden Arm rieb.
„Ich meine es so“, erwiderte Severus. „Sie hat nicht das Recht, dir weh zu tun, Lily.“
„Halt die Klappe, Severus“, sagte Lily laut und wirbelte zu ihrem besten Freund herum. „Mach nicht alles noch schlimmer!“
Erschrocken starrte er sie an, blasses Gesicht mit dunklen zusammengezogenen Brauen und Augen. Er wischte sich kurz über die Stirn, dann schüttelte er den Kopf.
„Ihr seid beide Freaks!“ Petunia hatte sich bereits umgewandt und war mehrere Schritte weggelaufen, bevor sie sich wieder umdrehte. Ihr Blick zitterte, als sie Lily anstarrte. „Ich kann nicht fassen, dass du mit so einem Freak abhängst, Lily! Ich habe dir gesagt, der ist gefährlich, aber du hast nicht auf mich gehört! Weißt du nicht mehr, was er getan hat? Weißt du nicht mehr, was hier war?“ Mit einem zitternden Arm deutete sie auf den Baum.
Lily wusste es. Natürlich wusste sie es. Sie hatte wochenlang nicht mit Severus geredet, nachdem er den Ast vom Baum hatte fallen lassen. Er hatte abgestritten, dass er es war (immerhin war der Ast viel zu schwer gewesen, dass er ihn hätte tragen können), aber wenn Lily mit Magie ein Stück weit fliegen konnte, dann konnte er Äste von Bäumen fallen lassen. Er hatte Petunia an der Schulter verletzt und vehement abgestritten, dass er etwas damit zu tun gehabt hatte, obwohl Lily es gesehen hatte. Das hatte sie ihm bis heute nicht verziehen.
„Ich weiß es noch“, sagte sie leise.
„Dann solltest du endlich mal auf mich hören!“, erwiderte Petunia, die einen halben Schritt auf Lily zu kam. „Der ist gemeingefährlich!“
„Tuni, bitte“, versuchte Lily es erneut.
Petunia schüttelte den Kopf. „Nein, Lily! Dieser Freak und diese dämliche Freak-Schule, ich halte das alles nicht aus! Du entscheidest dich immer für ihn und lässt mich links liegen, Lily, das ist unfair!“
„Unfair?“, wiederholte Lily hohl. „Dass ich auf die Schule gehe ist unfair?“
„Du hättest auf unsere Schule gehen sollen. Auf die normale.“
Lily verschränkte die Arme. „Meine Schule ist auch normal“, sagte sie, obwohl sie sehr wohl wusste, dass das an den Haaren herbeigezogen war. Hogwarts war alles aber nicht normal, aber das musste Petunia nicht wissen. „Und ich gehe gerne da hin.“
„Freak“, spuckte Petunia ihr entgegen. „Du und die ganze Bande. Ihr seid Freaks und daran wird sich nichts ändern. Ich hatte gedacht – aber egal. Das ist mir egal. Ich gehe nach Hause. Häng doch mit diesem Freak ab, du wirst ja schon sehen, was du davon hast, Lily. Komm aber nicht heulend zu mir angerannt, wenn er dich verflucht oder – oder was auch immer man euch an dieser Freak-Schule beibringt. Ich werde sicherlich nicht da sein, um dir aus der Patsche zu helfen.“ Mit verwehten Haaren und hochrotem Gesicht drehte Petunia sich um und riss an ihren Haaren. Die kleine Blume, die Lily ihr so vorsichtig ans Ohr gesetzt hatte, fiel zu Boden. Petunia zertrampelte sie auf dem Weg über den Spielplatz.
Lily starrte ihrer Schwester hinterher. „Tuni“, sagte sie so leise, dass Petunia sie unmöglich hören konnte. Ihre Augenwinkel fingen an zu brennen. Gerade, als sie gedacht hatte, sie und Petunia könnten wieder Schwestern so wie früher sein, gerade, als sie sogar zusammen Spaß gehabt hatten, war die Realität eingekehrt. Es gab wohl für sie und Tuni keine Chance mehr. Die Magie würde immer wie eine Mauer zwischen ihnen hängen, unüberwindbar, zu hoch, als dass sie darüber klettern konnte. Lily konnte Petunia nicht mehr hinterherlaufen.
Auch nicht, wenn das alles war, was sie wollte. Ihre Füße steckten im Schlamm und niemand reichte ihr die Hand, um sie herauszuziehen. Lily war allein.
„Lily“, sagte Severus.
„Nein“, erwiderte sie. Sie schloss die Augen und schüttelte den Kopf. „Ich will … ich will nichts hören.“
„Lily, ich – es tut mir leid, ich wollte nicht –“
„Hast du aber!“, schrie sie herumwirbelnd. Sie versuchte die Tränen nicht mehr zurückzuhalten. „Warum konntest du es nicht lassen? Du weißt, dass Petunia keine Magie mag, du weißt, dass sie es nicht mag, wenn man darüber redet!“
„Es ist aber ein Teil von dir!“
„Genauso wie meine Schwester“, schrie sie, woraufhin Severus einen Schritt zurückwich. „Sie ist meine Schwester und sie hasst mich jetzt.“
Sein Blick verhärtete sich. „Dann ist sie dumm.“
Lily öffnete den Mund, aber schloss ihn wieder.
„Sie ist nur neidisch, weil sie keine Hexe ist und das ist ihr Problem und nicht deins. Du bist eine Hexe und du bist besser, als sie je sein wird.“
„Hör auf“, sagte Lily.
Severus ignorierte sie. „Deine Schwester kann es nicht mitansehen, wie jemand besser ist als sie, aber das ist nicht dein Problem oder dein Fehler, Lily. Sie ist einfach neidisch und arrogant und ein dummer Idiot, so wie dieser Potter –“
Frustriert warf Lily die Hände in die Luft. „Fängst du wieder damit an?“, erwiderte sie lauter als beabsichtigt. „Was hat er dieses Mal getan? Siehst du ihn hier irgendwo? Hat er dich gezwungen, ein Trottel zu sein und Petunia zu bedrohen?“
Blässe kroch über sein Gesicht. „Ich hab sie nicht wirklich bedroht“, murrte er. „Das war doch nur so gesagt.“
Lily biss sich so heftig auf die Lippen, dass sie Blut schmeckte. „Ich will dich nicht mehr sehen, Severus. Im Moment kann ich dich nicht sehen, also bitte. Geh einfach. Bitte. Geh.“ Sie wollte sich umdrehen, aber seine Stimme hielt ihn auf.
„Komm schon, Lily! Ich bin dein Freund!“
„Ein Freund würde verstehen, was er falsch gemacht hat und es nicht erneut tun“, sagte sie leise. Sie war müde. Lily wollte sich hinlegen und erst dann wieder aufstehen, wenn sie wieder nach Hogwarts fahren würde.
Severus schnaubte. „Es ist ja nicht so, als hätte ich sie von hinten gelähmt oder so“, murmelte er. Er vergrub die Hände tief in den Taschen seiner übergroßen Jeans, bevor er sich langsam umwandte. „Bis dann.“
Lily fühlte sich, als hätte Severus ihr eine verpasst. Ihr Gesicht brannte. Ihr Magen war eiskalt. Ihr Kopf raste. Es ist ja nicht so, als hätte ich sie von hinten gelähmt oder so. Er war es gewesen.
Er hatte James in den Kerkern angegriffen.
Lilys Hand schnellte zu ihrer Seite, aber statt ihren Stab aus der Umhangtasche zu ziehen, bekam sie nur die Minzbonbons in ihrer Hosentasche zu fassen. Mit schneller Atmung beobachtete sie, wie ihr bester Freund hinter dem knorrigen Baum verschwand und seine Schritte über das trockene Gras langsam verklangen. Der Wind brachte ihr Haar durcheinander.
Hatte James gelogen? Oder wusste er es wirklich nicht? Sie presste die Lippen fest zusammen. James hatte wirklich versucht, sich zu bessern und mit Severus auszukommen. War das der Dank, den er dafür bekommen hatte? Sie hatte das Gefühl, als würde ihr schlecht werden. Wie sehr hatte sie sich in einem Jungen denn irren können?
Chapter 33: 33. Sommer 1973: Was im Schatten passiert
Chapter Text
Liebe Lily,
du wirst nicht glauben, was Marek mir aus Kenia mitgebracht hat!! Er ist extra bis nach Uagadou gereist, das ist die afrikanische Zauberschule, und hat dort von dem Zaubertränke-Professor (auch wenn es da wohl Alchemie heißt?) einen echten Mondstein-Anhänger für mich gekauft! Der soll heilende Wirkungen haben und sieht soooo schön aus! Im richtigen Licht glänzt er in hunderten Farben und ich schwöre, ich habe nie etwas schöneres gesehen. Vielleicht habe ich Marek dafür sogar verziehen, dass er mich vor drei Jahren vom Besen geschubst hat. Vielleicht.
Wie sind deine Ferien bisher? Marek und ich nutzen die Zeit, die wir haben, ehe er weiter mit seiner Ausbildung macht, indem wir durch die ganze Gegend reisen. Da er Apparieren kann, dauert es auch nicht so lang, mal eben nach London zu reisen. Ich wünschte nur, er könnte auch die ganze Zeit so viel mit mir machen. Bereits jetzt redet er davon, dass er es kaum erwarten kann, endlich wieder loszureisen und ich meine, ich freue mich ja für ihn und so, aber ich hätte auch gerne etwas mehr Zeit mit meinem Bruder, weißt du? Ich hab ihn gefühlt seit Ewigkeiten nicht gesehen und jetzt bleiben mir gerade mal ein paar Wochen, bevor er die nächsten Ruinen erkunden geht.
Naja. Ich sollte mich wohl nicht so beschweren – immerhin ist mein Bruder die meiste Zeit über gut zu mir. Wie geht es dir, Lily? Ich hoffe, deine Schwester macht dir das Leben nicht allzu zur Hölle und du hast ein wenig Spaß mit Snape. (Siehst du? Ich kann mich auch bemühen!) Ich weiß ja, du hast gesagt, ihr versteht euch wieder besser, aber man kann nie wissen. Von meinem letzten Besuch weiß ich, dass Petunia nicht gerade der Mensch ist, mit dem man gerne seine Zeit verbringt. Tut mir leid. Ich hör auf.
Um ein anderes Thema anzusprechen: Ich habe mir Mareks alte Schulbücher zu Wahrsagen und Alte Runen genommen und schon mal reingelesen und ich glaube, wir haben echt die richtige Entscheidung getroffen. Zwar wäre Pflege magischer Geschöpfe zusammen mit Mary sicherlich auch spannend gewesen, aber ich glaube, Wahrsagen ist irgendwie cooler, als den Mist von Thestralen wegzuschaufeln oder was man auch sonst immer in der Klasse macht. (Sieht man, dass ich alle Fächer gleich viel recherchiert habe?)
Jedenfalls kann man in Wahrsagen wohl echt lernen, wie man einfache Prophezeiungen macht, auch wenn man kein Seher ist? Das ist genial. Wenn ich das kann, dann kann ich vorhersagen, wer irgendwann Zaubereiminister wird! Ich meine … oder so. Du weißt schon, sowas könnte ich vorhersagen. Oder ob ich jemals Quidditch-Kapitänin werde. Was ich natürlich werde. Potter kann sich warm einpacken.
Hast du von einem der Jungs gehört? Ich hab einen Brief an Remus geschickt, aber bisher noch keine Antwort bekommen. Er meinte irgendwie, dass er wahrscheinlich mit seinen Eltern verreisen wollte und deshalb vielleicht keine Zeit zum Antworten hat, aber das klingt mir sehr nach einer Jungs-Ausrede für mich. Als ob die mal fünf Minuten nehmen könnten, um mir zu sagen, dass es ihnen gut geht. Nicht, dass es mich interessiert (ich schwöre es, Lily, wenn du jetzt gerade lachst, dann werde ich dich verhexen, wenn wir uns wiedersehen), aber es wäre doch nett zu wissen.
Aber gut. Mehr hab ich im Moment nicht zu erzählen. Marek hat heute für uns das Abendessen gekocht (er hat eine Menge Rezepte aus Kenia mitgebracht und oh wow, das riecht so gut, ich wünschte, ich könnte dir den Geruch einpacken), deswegen muss ich jetzt aufhören. Ich sterbe gleich vor Hunger. Also dann, Lily. Sei artig und tu nichts, was ich nicht auch tun würde. Hab dich lieb.
Marlene.
***
Sirius,
wie wir beide wissen, wirst du wahrscheinlich sowieso nicht antworten, aber ich will dir trotzdem schreiben, nur damit du weißt, dass ich dich nicht vergessen habe. Wie behandelt dich die Familie? Du musst nur ein Wort sagen und ich lass das Ministerium einen Suchtrupp nach dir aussenden. Ich verspreche es. Wirklich. Ich will nur, dass es dir gut geht, Kumpel, okay? Du musst da nicht immer wieder hin. Du kannst zu mir kommen und bei mir leben und meine Eltern würden dich liebend gerne aufnehmen. Sie hätten sowieso keine Wahl.
Außerdem mögen sie dich sowieso. Mum fragt dauernd nach dir und wie es dir geht und ich muss mir jedes Mal eine neue Ausrede einfallen lassen, wieso du diesen Sommer nicht zu uns kommst. Das ätzt, Sirius. Ich kann meine Mum nicht anlügen. Ich meine, ich kann es schon, aber ich will es nicht. Zumal ich ziemlich sicher bin, dass sie es sowieso durchschaut. Immerhin kennt meine Mum deine Mum ja und weiß, dass sie nicht gerade die liebevollste Mutter ist. Falls sie fragt, das hab ich nie gesagt.
Ich hab an Remus und Peter auch schon geschrieben, aber von den beiden weiß ich immerhin, dass ich eine Antwort bekomme. Bei dir kann ich mir ja nie sicher sein, ob du das hier überhaupt liest, oder ob das nicht einfach im Kamin landet, weil deine Mum denkt, sie wüsste alles besser. Merlin, ich will einfach nur, dass es dir gut geht, Sirius, okay? Also falls du eine Antwort schreiben kannst, dann schreib mir bitte, sonst mach ich mir noch zu viele Sorgen um dich.
Wir sehen uns hoffentlich bald.
James
***
Evan,
töte mich bitte. Ich halte es hier nicht mehr aus. Meine Mum tänzelt um mich herum, als wäre ich fünf und Dad hat den gesamten Sommer kaum mehr als drei Sätze zu mir gesagt. Die drei Sätze waren dann, dass ich ihn mit meinem mittelmäßigen Leistungen enttäuscht hätte. Als ob ich mich für die Abschlussprüfungen der ersten Klasse anstrenge, bitte. Ich hab die Hälfte nicht mal ausgefüllt, was will er überhaupt von mir? Ich halte das mit diesem alten Knacker nicht aus. Wenn er redet, dann redet er nur über sein geliebtes Ministerium und wie gerne er doch Zaubereiminister werden will, damit er endlich etwas gegen all die schwarzen Magier machen kann. Ich sag´s dir, wenn er nicht so besessen davon wäre, alle hinter Gitter zu bringen, dann könnte man fast glauben, er würde selbst einer sein, so oft wie er über schwarze Magie redet.
Immerhin hab ich so schon ein paar Dinge aufschnappen können, weil er nicht glaubt, dass ich verstehe, worüber er mit seinen Kollegen übers Flohnetzwerk redet. Anscheinend will Dad noch härter im Ministerium durchgreifen und den Gebrauch von den Unverzeihlichen Flüchen erlauben, wenn es darum geht, gegen dunkle Magier zu kämpfen. Ich hab keine Ahnung, ob er damit durchkommt, aber ist das nicht traurig? Die, die sich nicht von der Magie einschränken lassen, nutzen die Flüche schon. Und ich weiß, auf welcher Seite ich stehen will.
Außerdem hat er vor, ein paar der Heiligen Achtundzwanzig zum Verhör zu laden oder so, so genau hab ich´s nicht mitbekommen. Also, keine Ahnung, vielleicht sucht er Schuldige oder so, aber falls dein Dad geladen wird, dann weißt du ja warum. Ich hab Reg auch schon geschrieben, aber seine Eltern sind ja nicht so im ganzen Ding drin. Die geben dem Lord ja eher Geld und lassen ihn machen.
Hast du vor ein paar Tagen den Tagespropheten gelesen? Ich hab gehört, wie meine Eltern über einen Artikel über die Ministerin gesprochen haben, in dem sie heftig kritisiert wurde. Als ich den Artikel auch lesen wollte, hat Dad nur gelacht und gesagt, ich würde den eh nicht verstehen. Was ein Arschloch. Hast du den gelesen? Weißt du, worum es geht? Ich hab versucht Mum auszufragen, aber sie wollte mir nichts sagen. Keiner glaubt, dass ich sowas verstehe oder mich dafür interessieren kann und das kotzt richtig an. Ich hoffe, der Lord beeilt sich. Ich will nicht unnötig lange mit dieser Familie verbringen müssen.
Ich hab außerdem ´ne Überraschung für dich und Reg, wenn wir uns in der Winkelgasse sehen. Ha, da wird euch der Kopf bei platzen. Ich hab Mum ewig dafür anbetteln müssen, bis sie endlich zugestimmt hat, aber ganz ehrlich, ich bereu es kein bisschen. Und nein, es ist kein Tattoo. Noch nicht.
Rette mich aus diesem Haus,
Barty
***
Lily,
oh mein Gott! Du wirst nicht glauben, was meine Mutter mir gekauft hat, als wir in London unterwegs waren! Das neue Album von David Bowie, Ziggy Stardust! Ich meine, ich würde dir ja den ganzen Namen schreiben, aber der ist viel zu lang und ich wollte heute auch noch mehr tun. Also, eigentlich war ich ja total irritiert, warum sie mir das Album gekauft hat, weil ich ja keinen Plattenspieler habe, aber rate mal, was mir mein Dad gekauft hat, als ich in der Schule war? Und was in meinem Zimmer stand, als Mum und ich aus der Stadt kamen? Richtig! Mein eigener Plattenspieler!
Ich werde auf jeden Fall versuchen, die beiden zu überzeugen, dass ich ihn mit nach Hogwarts nehmen darf. Wenn Remus seinen Plattenspieler dazu gebracht hat zu funktionieren, dann bekommt er das mit dem doch sicher auch hin, oder? Und dann könnten wir endlich mal richtige Musik hören, wenn wir im Schlafsaal sind und nicht immer nur das Zauberradio, was Marlene immer anmacht. Also, nichts gegen unsere Marl, aber das, was da läuft, ist einfach keine Musik. Oder zumindest nichts, was ich hören will. Und wenn ich noch einmal hören muss, wie Marls früh morgens zu Celestina Warbeck mitsingt, dann werde ich ihr die Zunge an den Rachen hexen.
Verrat ihr nicht, dass ich das geschrieben habe. Wenn doch, dann bestreite ich alles. Marls hat natürlich eine wunderschöne Stimme. Sie singt wie ein Engel. (Wie ein Engel, der noch nie vorher gesungen hat. Oh mein Gott, ich bin so gemein. Ich muss Marls dringend schreiben, dass ich sie lieb hab. Wobei. Dann wird sie noch denken, ich hätte was angestellt. Vielleicht schreib ich ihr lieber nicht. Aber dann denkt sie vielleicht, ich würde sie nicht mögen? Oh Mann. Lily, warum hast du mich nicht aufgehalten?)
Sehen wir uns wieder in der Winkelgasse? Emmeline und Dorcas haben sich schon für die letzte Ferienwoche verabredet, ich hab gedacht, wir könnten uns dann alle gemeinsam treffen. Die neuen Bücher müssen wir ja auch noch kaufen, oder hast du deine schon? Meine Liste kam zumindest noch nicht an. Dann wiederum bin ich ja die einzige, die ein Buch über Pflege magischer Tierwesen kaufen muss. Ja, ich halte euch das immer noch vor. Tolle Freundinnen seid ihr. (Spaß, ich hab euch lieb!!)
Apropos, hast du eine Idee, was ich Emmeline zum Geburtstag schicken könnte? Sie hat ja im August und bis dahin sind zwar noch ein paar Wochen, aber ich hab einfach keine Idee. Ich hab erst gedacht, ich hol mir eine Ausgabe von der Hexenwoche und guck, ob ich da was bestelle, aber ich weiß nicht. Wahrscheinlich hat Em die sowieso und weiß, was da drin ist. Ich meine, sie würde es wahrscheinlich nicht mal schlimm finden, wenn ich ihr nichts schenke, aber wir sind ja auch irgendwie Freundinnen und eine Kleinigkeit sollte schon drin sein. Wir könnten doch auch zusammenlegen, oder? Mit Marls und Dorcas? Was meinst du? Ich frag mal die anderen beiden, vielleicht fällt denen was ein.
Okay, Lily, stell nichts Dummes an! Ich hab dich lieb!
Mary
***
Barty,
deine Frustration wird dich noch in Schwierigkeiten bringen. Was ich deinem letzten Brief entnehmen konnte, ist zwar allzu verständlich, aber ich glaube, du solltest dich einfach darin üben, Geduld zu haben und dich zu entspannen. Du hattest noch nie eine gute Beziehung mit deinem Vater, aber die hatte Evan auch nicht. Beruhige dich einfach, bring dich nicht in Schwierigkeiten und nutze deine einzigartige Position, um weiterhin ein paar Informationen herauszufinden. So nützlich oder trivial sie auch erscheinen mögen, so lange du nicht kopflos wirst, kannst du es nutzen.
Versprich mir zumindest, dass du keine unüberlegten Dummheiten machst, so wie letztes Jahr Weihnachten. Das hat dir nicht nur die Weihnachtsfeier bei den Malfoys gekostet, das weißt du.
Ich freue mich bereits, dich und Evan wiederzusehen.
Mit den besten Wünschen,
Regulus Arcturus Black
***
Jmse
James,
ich hab nicht viel Zeit. Mum und Dad sind aus und der neue Dutor Tuthor Tuto Lehrer beschäftigt sich grad mit Regulus. Ich hab ein Buch gefunden, das uns weiterhelfen kann. Damit keine Fragen aufkommen, hab ich ein paar Seiten kopiert. Ich schick sie dir zu. Mir geht’s gut genug. Schreib nicht weiter. Mum wird misstrauisch, Dad vertraut mir noch. Ich komm gut zurecht. Wir sehen uns.
Sirius
- SAG BLOß NICHTS REMUS
***
Peter,
mein Sommer ist bisher ziemlich langweilig. Im Waisenhaus gibt es immer nicht sonderlich viel zu tun, also hat sich auch nichts verändert. Vic ist jetzt bei einem Sportclub in der Stadt, deswegen hat er keine Zeit für den üblichen Kram. Er denkt, er könnte Profisportler werden. Glaube nicht, dass das was wird. Er sieht aus wie ´ne Bohnenstange.
Er hat sich ein Skateboard gekauft, aber ich glaube nicht, dass er weiß, wie man damit fährt. Seit ich angekommen bin, steht es nur in seinem Zimmer und er hat es nur ein Mal mit rausgenommen, als die älteren Mädels draußen waren. Wenn du mich fragst, dann glaubt er, dass er damit eine aufreißen kann. Das würde wahrscheinlich sogar funktionieren, wenn er einfach kein Wort sagt. Er ist leider noch dümmer als Stan und das will was heißen. Immerhin ist sein Süßkramvorrat noch da.
Ich hoffe dein Sommer ist besser.
In Liebe,
Benjy
***
Benjy,
wir wollen alle in der letzten Augustwoche in die Winkelgasse. Dorcas und ich gehen sowieso, aber jetzt kommen Mary, Lily und Marlene auch. Hast du Lust, dich mit uns zu treffen? Wir sollten nach den Schulbüchern noch zu Florean Fortescues gehen. Da gibt es die besten Eisbecher ganz Englands. Warst du da schon mal? Wenn nicht, dann weißt du nicht, was dir entgeht! Für Floreans Schoko-Vanille-Eisbomben-Becher könnte ich STERBEN!!!!
Sag mir Bescheid, ob du es schaffst.
Wir freuen uns schon, dich wiederzusehen!
Em
***
Remus,
kaum zu glauben, dass die Ferien schon wieder fast vorbei sind, was, Kumpel? Hör zu, ich hab kurz von Sirius gehört. Er sagt, es geht ihm gut und dass er sich mit seinen Eltern soweit gut gestellt hat. Er ist also diesen Sommer nicht sonderlich in Gefahr. Ich will trotzdem auf alles vorbereitet sein, falls er sich am Bahnhof komisch verhält. Peter hab ich auch schon eingeweiht, aber der ist noch mit seiner Mutter und seiner Schwester bei Verwandten in Albanien. Er hat zugestimmt, zu helfen, kann aber im Moment nicht viel tun. Es liegt also an uns.
Wie wir wissen, ist Sirius manchmal nicht einfach zu lesen, deswegen habe ich mir einen regelrecht idiotensicheren Plan überlegt. Sobald wir uns auf dem Bahnsteig oder im Zug wiedersehen, werden wir beobachten, wie er sich benimmt. Sollte ich merken, dass etwas nicht mit ihm stimmt oder er versucht, etwas vor uns zu verheimlichen, werde ich euch ein Zeichen geben. Das Zeichen ist, dass ich meine Brille fallen lasse. Genial, oder? Sirius wird niemals vermuten, dass ich euch damit was sagen will. Sag ich ja, idiotensicher.
Jedenfalls, sobald ich das mache, wird Peter sofort das Thema wechseln und versuchen Sirius in ein Gespräch über die letzte Saison der Hollyhead Harpies zu verwickeln. Sirius kann manchmal ja einfach nicht die Klappe halten, sobald es darum geht, deswegen gibt uns das genug Zeit, um uns kurz zu besprechen. Ich werde sagen, ich werde den Snack-Wagen suchen und dich bitten mitzukommen. Sobald das passiert, gibt es zwei Optionen.
- Ich werde Sirius aus dem Feuer ziehen und nach der Einteilung in die Ecke drängen, damit er ehrlich zu mir ist oder
- Du wirst mit Sirius reden und versuchen rauszufinden, was dieses Mal passiert ist.
Sirius wird uns nichts tun lassen, das wissen wir. Ich habe bereits tausend Mal damit gedroht, dass ich das Ministerium alarmiere, wenn ich weiter davon erfahre, wie seine Eltern ihn misshandeln, aber jedes Mal hat er sich rausreden können. Ich verstehe sehr gut, dass sein Vater ein wichtiges Mitglied im Rat ist, aber auch er hat nicht überall das Sagen. Mein Dad kennt zum Beispiel die Ministerin persönlich. Sie war mal bei uns zu Essen und ich wette, sie erinnert sich noch an mich.
Also. Das ist mein Plan. So etwas wie letztes Mal wird sicherlich nicht erneut passieren. Darauf verwette ich alles, was ich besitze.
Bist du dabei, Remus?
James
***
Narzissa,
ich glaube, ich habe dir nie gratuliert, kann das sein? Keine Ahnung, ob du Lucius aus Liebe geheiratet hast oder ob es eine Hochzeit des Geldes wegen war, aber ich gratuliere dir trotzdem vom ganzen Herzen. Es wäre allerdings schön gewesen, wenn ich die Neuigkeiten direkt von dir hätte erfahren können und nicht, weil mein Verlobter es aufgeschnappt hat. Wahrscheinlich hast du es noch immer nicht verkraftet, dass ich gegangen bin, nicht wahr? Das nehme ich dir nicht übel. Wirklich nicht. Aber du sollst trotzdem wissen, dass ich noch immer deine Schwester bin. Ich würde dich nie wegschicken, wenn du dich dazu entscheiden solltest, mich trotz des Verbots unserer Eltern zu besuchen. Aber vielleicht kommst du lieber ohne Mann.
Wenn wir mal wieder persönlich reden, dann kann ich dir vielleicht auch genau erklären, wieso ich getan habe, was ich getan habe. Was auch immer Mutter und Vater, oder auch Bella oder Tante Walburga und Onkel Orion dir erzählt habe, ich bin mir ziemlich sicher, dass es nicht wahr ist. Aber ich glaube, du bist schlau genug, das selbst zu wissen. Besonders wenn es um Mutter geht. Sie war noch nie gut darin gewesen, ihre Gefühle zu beherrschen. Sicher hat sie dir irgendeine haarsträubende Geschichte erzählt, wenn es in Wirklichkeit extrem einfach ist.
Ich würde gerne wissen, wie es dir ergangen ist, Zissa. Seit ich gegangen bin, habe ich nicht viel über die Familie gehört. Ich weiß, dass Bella und Rodolphus bald heiraten wollen, aber ich weiß nicht, wie weit es mit den beiden schon ist. Wenn ich ganz ehrlich bin, weiß ich nicht mal, ob sie ihn überhaupt heiraten will. Bella hat sich nie viel aus dem sozialen Status gemacht, der Mutter so unendlich wichtig ist, aber ich vermute mal, es ist die eine Sache, die sie der Familie geben kann, ohne dass sie sich das verliert, was sie eigentlich will. Wir wissen beide, dass Bella ein anderes Leben in Planung hat, als dass sie es eigentlich gerade lebt.
Ich wünschte, ich könnte mehr schreiben, aber ich fürchte, es würde nicht gut erscheinen. Ich will dir so viel erzählen, aber mit einem Brief wird es nicht so herüberkommen, wie ich es wünsche. Hoffentlich können wir bald wieder reden.
Mit aller Liebe,
Andromeda
***
Geschätzte Ministerin, Eugenia Jenkins
Orden des Merlin, zweiter Klasse
Oberstes Mitglied des Zauberrats,
ich vermag es kaum zu denken, aber ich gehe der Annahme, dass Sie meinen letzten Brief nicht erhalten haben. Meine Arbeit in der Abteilung für magische Strafverfolgung ist weitestgehend früchtetragend, aber ich fürchte, wir werden diese Gefahr, diese neue Bedrohung nicht bannen können, wenn Sie mir nicht die Erlaubnis geben, Feuer mit Feuer zu bekämpfen. Für mein eigenes Wohl bin ich gewillt, ein paar der Regeln zu brechen, das wissen Sie, Frau Ministerin, aber ich will nicht, dass meine Angestellten ebenfalls bestraft werden, nur weil sie sich in einem Kampf um Leben und Tod für einen Fluch entscheiden mussten, der sie retten konnte.
Ich bitte Sie, dass sie mein Angebot noch ein weiteres Mal überdenken. Die schwarzen Magier werden stärker. Sie tauchen öfter auf. Sie wissen genauso gut wie ich, dass wir das nicht unterschätzen dürfen. Ich versichere ihnen, dass ich meine Angestellten im Umgang mit den Unverzeihlichen Flüchen ausreichend geschult habe und das auch einige Auroren, die gerne aus der Reihe springen (Sie werden sicherlich wissen, dass ich auf Alastors letztes Einsatz andeute), voll und ganz mit mir übereinstimmen. Wenn wir nicht zeigen, dass wir keine einfachen Ziele sind, dann können wir diese Angriffe nicht überstehen, geschweige denn im Keim ersticken.
Das sind wir den Muggeln schuldig, Frau Ministerin.
Bitte bedenken Sie mein Angebot.
Mit den besten Grüßen,
Bartemius Crouch
Leiter der Abteilung für magische Strafverfolgung
***
Liebe Dorcas,
wahrscheinlich fragst du dich überhaupt, warum ich dir schreibe, oder? Haha, ja, verständlich. Also, um direkt zur Sache zu kommen: Das letzte Jahr über haben wir zwar nicht sehr viel miteinander Zeit verbracht, aber ich habe gedacht, dass wir uns eigentlich gut verstanden haben. Außerdem weiß ich, dass du und Emmeline ebenfalls große Quidditch-Fans seid. Da keine meiner Freundinnen auch nur ansatzweise so viel Interesse an Quidditch zeigen, wie ich es gerne hätte, habe ich mir gedacht, ich frage dich einfach. Mein Bruder hat Karten für ein Freundschaftsspiel zwischen den Chudley Cannons und Eintracht Pfützensee bekommen, die er mir überlassen hat.
Willst du mit mir dahin gehen wollen? Es ist knapp außerhalb von London, also könnten wir uns im Tropfenden Kessel treffen. Meine Mutter würde uns auch hinbringen, damit wir nicht allein sind. Sag mir gerne, ob du da Zeit und Interesse hast!
In Liebe,
Marlene
***
Liebe Marlene,
ich habe mich wahnsinnig darüber gefreut, dass du mir geschrieben hast und ich glaube, ich bin ein bisschen gestorben, als ich deinen Brief gelesen habe. Das weißt du wahrscheinlich nicht, aber ich bin ein unsterblicher Chudley Cannons Fan!!! Ich glaube, ich habe noch nie ein Team mehr geliebt als dieses und als ich gelesen habe, dass du Karten für eins ihrer Spiele und hast MICH EINLADEN WILLST!! Nun. Sagen wir mal, mein Dad hat gedacht, ich hätte alle Prüfungen doch noch verhauen. Vielleicht musst du dich bei ihm dafür entschuldigen, hehe.
Also ich würde liebend gerne mit dir zum Spiel gehen!! Mein Dad würde vorher gerne mit deiner Mum darüber sprechen (Merlin, er kann manchmal so langweilig sein), aber sonst würde alles klar gehen! Ist es okay, wenn er kurz floht? Sag bitte schnell Bescheid!
Mit ganz viel Liebe,
Dorcas
***
Die Atmosphäre in der Winkelgasse war erdrückend. Egal, wohin Regulus sah, konnte er nur Menschen sehen. Mütter und Väter, die ihre Kinder an den Händen hielten, ältere Hogwartsschüler, die sich außerhalb der Schule trafen und Butterbier tranken und obendrein die Ministeriumsmitarbeiter, die überall standen und für Sicherheit sorgen sollten. Regulus verstand nicht, wie man sein Geld so verschwenden konnte. Niemand würde dumm genug sein, die Winkelgasse am helllichten Tag anzugreifen, schon gar nicht, wenn die letzte Schlagzeile über schwarzmagische Angriffe gerade einmal wenige Tage her war.
So ein Angriff war bereits mehrere Male beschrieben worden. Ein kleines Dorf, Muggel ohne Ende und schwarzmagische Tode. Die Muggel-Auroren wussten nicht, was die Ursache war, die richtigen Auroren wussten natürlich, dass der Todesfluch gewirkt wurde. Seine Eltern hatten ihm nicht gesagt, wer dafür verantwortlich gewesen war, aber Regulus wusste, dass es Leute waren, die er bei der Weihnachtsfeier gesehen hatte. Nicht nur das, aber Mulcibers Erklärung klang ihm immer noch in den Ohren nach. Es ist nur noch eine Frage der Zeit, bis der dunkle Lord die Herrschaft an sich reißen wird. Dann leben wir unter jemanden, der das reine Blut eines Zauberers und einer Hexe noch zu würdigen weiß.
Am Anfang hatte auch Regulus nicht gewusst, was hinter diesen Angriffen steckte, aber jetzt, da er mehr Informationen hatte, war es mehr als offensichtlich. Dieser dunkle Lord, wer auch immer das sein mochte, hatte sich das als Ziel gesetzt, was viele reinblütige Familien schon immer anstrebten: Die Reinigung der magischen Welt. Regulus konnte nicht anders als aufgeregt zu sein. Eine magische Welt, in der es keine Muggel, keine Blutsverräter und keine Squibs gab, eine Welt, in der alle magisch rein waren wie er und seine Familie. Das wäre doch die ideale Welt, nicht wahr? Ein Ort, an dem niemand von ihnen Angst haben müsste, das ihr Geheimnis entdeckt werden würde, ein Ort, an dem sie den Werten und Traditionen ihrer Familien nachkommen konnten.
Es schien wie die perfekte Welt für reinblütige Zauberer.
Aber würde dieser Schein nicht trügen? Konnten die Mittel den Zweck noch immer heiligen? Regulus mochte nicht darüber nachdenken.
Evan zog an seinem Ärmel. „Junge, was starrst du so in die Luft?“, fragte er leise.
„Hm? Oh. Tut mir leid. Ich war in Gedanken.“
„Das hab ich gesehen“, erwiderte Evan mit zusammengezogenen Augenbrauen. „Was ist los?“
Regulus schüttelte den Kopf. „Nicht so wichtig. Halte lieber Ausschau nach Barty. Wer weiß, wo der sich rumtreibt.“
Evan verdrehte die Augen. „Wahrscheinlich versucht er noch von seinem Vater loszukommen. Du weißt ja, wie sein Alter so ist. Ich wette, der hält ihm grad ´nen Vortrag darüber, wie sehr es gegen die Regeln ist, wenn er allein hier herumläuft.“ Ein Grinsen zeigte sich auf seinem Gesicht. „Was sind wir doch für kleine Regelbrecher, he, Reg?“
„Wir sind wirklich die schlimmsten. Kein Wunder, dass Bartys Vater nicht will, dass er mit uns befreundet ist.“
Evan lachte. „Genau!“
Eine weitere Antwort konnte Regulus nicht mehr geben, denn in dem Moment entdeckte er Bartys sommersprossiges Gesicht in der Menge, der mit hektischem Ausdruck in den Augen auf sie zu kam. „Oh Merlin“, murmelte er, als er sah, was Barty in seinem Brief angekündigt hatte.
„Du verarscht mich doch“, sagte Evan neben ihm, der Barty ebenfalls entdeckt hatte.
Bartys sonst so helles strohblondes Haar hing ihm nun in unordentlichen Fransen ins Gesicht und war obendrein auch noch pechschwarz gefärbt. Als Barty vor ihnen stehen blieb, grinste er so breit, dass man meinen könnte, er hätte persönlich den Quidditch-Pokal gewonnen. „Was sagen wir, Männer?“
„Ich bin nicht sicher“, erwiderte Evan, der sich am Kopf kratzte. „Willst du wie Regs verschollener Bruder aussehen, oder was?“
„Eigentlich wollte ich nicht mehr, dass die Leute glauben, wir wären verwandt“, meinte Barty, der Evan gegen die Schulter boxte, ehe er auf sein dunkelblondes Haar blickte. „Das war nicht gut für meine Gesundheit.“
„Was sagt dein Vater dazu?“, fragte Regulus langsam, dem der Anblick von Bartys schwarzen Haaren irgendwie zuwider war. Es war wirklich fast so, als würde er einem Bruder ins Gesicht sehen, den er vorher noch nie gekannt hatte, wobei Bartys hellblaue Augen das Bild ein wenig ruinierten. Oder verbesserten. Wie auch immer es war, Regulus fand es seltsam.
Barty zuckte mit der Schulter. „Dem war es tatsächlich egal“, sagte er, wobei er irgendwie enttäuscht klang, als hätte er sich einen Konflikt mit seinem Vater gewünscht. „Er hat mir sogar geholfen, den richtigen Zauber zu finden, damit es permanent bleibt, wie ich es will.“
Evan wurde ein wenig blasser. „Ach! Du willst so bleiben?“
„Wieso nicht? Gefällt es dir nicht? Ich finde, ich sehe verwegen aus“, grinste Barty. Einen Augenblick hielt er es, dann tropfte es aus seinem Gesicht. „Aber mal ehrlich, wie findet ihr es? Ich mag es nämlich wirklich.“
„Oh.“ Regulus war überrascht von Bartys sanfter Stimme und dem beinahe schon jungenhaften Glanz in seinen Augen. Manchmal vergaß Regulus über die Behandlung seiner Eltern und den Erwartungen, die auf sie gelegt wurden, dass sie noch Kinder waren. Sie waren gerade einmal Zweitklässler in Hogwarts. Sie konnten es sich erlauben, sich wie Kinder zu benehmen, selbst wenn er für seine Eltern bereits den Ersatzerben spielen musste. Regulus kannte alle Mitglieder der Heiligen Achtundzwanzig und ihre Skandale auswendig, aber er kannte auch die vielen Techniken, mit denen man bei Koboldstein gewinnen konnte. Er wünschte sich nur, er müsste nicht immer zwischen einem der beiden wählen müssen.
„Ganz ehrlich?“, fragte Evan, der eine Hand hob und mit spitzen Fingern Bartys neue Frisur betrachtete. „Je länger ich es ansehe, desto mehr steht es dir.“
Bartys Gesicht hellte sich auf. „Echt?“
„Echt“, erwiderte Evan lächelnd. „Nicht wahr, Reg?“
„Ja, irgendwie schon“, sagte Regulus. „Es ist zwar gewöhnungsbedürftig, aber du siehst immerhin nicht scheußlich aus.“
„Das will schon was heißen, wenn es von Reg kommt“, sagte Barty lachend. „Danke, Leute.“
„Woher kommt das überhaupt?“, fragte Evan.
Barty zuckte erneut mit den Schultern. „Keine Ahnung“, sagte er. „Ich schätze, ich wollte mal was anderes ausprobieren.
„Also hat es nichts mit deinem Vater zu tun?“
„Vielleicht ein wenig“, gab Barty zu. „Aber nicht so, wie ihr denkt. Es ist kein dummer rebellischer Akt oder sowas.“
„So sieht es nämlich aus“, sagte Regulus.
„Ich weiß“, seufzte Barty. „Nein, das ist es aber nicht. Ich war ziemlich sauer auf Dad, weil er nie mit mir über irgendwas geredet hat und mich immer so behandelt hat, als würde ich nichts verstehen, also bin ich einfach raus und hab den Großteil meiner letzten Wochen in der Stadt verbracht. Und … okay, ihr dürft jetzt nicht lachen, kapiert?“
Evan presste die Lippen zusammen. Regulus seufzte und nickte.
„Also, ich hab so eine Gruppe an Jungs in der Stadt getroffen, die alle schwarz gekleidet waren, in schwarzen Shirts und Hosen und Schuhen und sowas. Die sind auch auf Brettern geritten, die sie Skateboards genannt haben, irgendwie sowas wie Besen, nur dass sie nicht fliegen können. Jedenfalls hatten die auch alle schwarze Haare und einer von denen hat gesehen, wie ich sie angestarrt habe.“
„Oh Merlin“, sagte Evan, dem deutlich anzusehen war, dass er sich das Lachen verkneifen musste.
Barty warf ihm einen dunklen Blick zu. „Du findest das witzig, oder?“
„Ein bisschen“, erwiderte Evan schnaubend. „Aber ganz ehrlich, ist doch schön, wenn du Freunde gefunden hast!“
Barty zog eine Grimasse. „Ganz sicher nicht. Das war Muggel-Abschaum.“
„Und trotzdem hast du dir die Haare gefärbt“, konterte Evan.
„Abschaum kann auch mal gute Ideen haben“, murmelte Barty. „Was auch immer. Müssen wir hier rumstehen?“
„Wir haben auf dich gewartet, Prinzessin“, sagte Evan, woraufhin Barty ihm einen noch dunkleren Blick zuwarf. „Okay, Merlin, bring mich nicht gleich um. Ist ja kaum auszuhalten. Musst du deine Bücher selbst holen?“
„Wozu hab ich Eltern?“
„Auch wahr. Also, dann haben wir ja jetzt Zeit, nicht wahr? Kommt schon, lasst uns zum Quidditch-Laden gehen.“
Regulus verzog das Gesicht. „Warum?“, fragte er, begab sich aber ebenfalls in Bewegung, als Evan und Barty losgingen. „Können wir nicht was anderes machen?“
Evan grinste ihn über die Schulter hinweg an. „Nö. Außerdem“, sagte er mit einem Finger auf ihn deutend, „warst du derjenige, der letztes Schuljahr die ganze Zeit auf dem Quidditch-Feld herumgelungert hast. Das nenne ich jetzt einfach gerechte Strafe dafür, dass wir dich immer suchen mussten, Reg.“
„Du weißt genau, ich war nur da – “
„Ja, ja, um deinen Bruder oder Potter zu beobachten, ist klar“, unterbrach Barty ihn, der sich ausgiebig streckte und sich dann in einer weitläufigen Geste durch die schwarzen Haare fuhr, als sie an einer Gruppe von älteren Hogwarts-Schülerinnen vorbeiliefen. Keine von ihnen beachtete ihn. „Hattest du nicht gesagt, dass du schon lange ´nen eigenen Besen hast?“
Regulus zuckte mit den Schultern. „Mein Dad hat mir und Sirius einen gekauft, als wir alt genug dafür waren. Er hat früher selbst im Schulteam gespielt und ich glaube, er will, dass wir seinem Beispiel folgen.“
„Teil der reichsten Familie Englands müsste man sein“, seufzte Evan, als sie den Quidditch-Laden erreicht hatten. Qualität für Quidditch glänzte in goldenen Lettern auf einem rotbraunen Schild über der Ladentür, während ein massives Schaufenster vollends von dem neusten Besenmodell eingenommen und von vorbeigehenden Passanten bestaunt wurde. Eine schnatzförmige Glocke klingelte über ihren Köpfen, als Evan die Tür aufdrückte.
Im Laden war es brechend voll. Hogwarts-Schüler reihten sich an den Regalen entlang, bestaunten Besenpolituren oder probierten Hüter-Handschuhe an, während ein Mitarbeiter hektisch durch die Masse lief und neue Ware versuchte zu verteilen. Regulus fand es fast sofort anstrengend zu atmen.
„Also schön, haltet Ausschau nach einem metallenen Ring für die Treiber-Schläger. Ich hab gehört, die gibt es jetzt neu“, sagte Evan.
Barty zog die Augenbrauen zusammen. „Was willst du denn damit? Du bist nicht mal Treiber.“
„Noch nicht“, erwiderte Evan grinsend. „Aber“, er schlug Regulus auf die Schulter und schlang den anderen Arm um Bartys Schulter, „wir werden fürs Team vorspielen. Stellt euch doch mal vor, wie genial das wäre?“
Regulus ließ seine schmerzende Schulter kreisen. „Ich weiß ja nicht“, antwortete er. „Ich hab nie darüber nachgedacht, auch ins Team zu gehen.“
„Aber du hast die perfekten Maße für einen Sucher. Klein, wendig – und noch dazu bist du leicht aus den Augen zu verlieren.“
„Danke?“, erwiderte Regulus lachend.
Evan grinste. „Das ist nett gemeint. Außerdem wäre es doch ein gutes Gefühl, deinem dämlichen Bruder das dämliche Grinsen aus dem Gesicht zu wischen, wenn wir ihm den Pokal abnehmen, nich´?“
„Du hast Vorstellungen“, murmelte Barty.
„Und du bist langweilig. Jetzt hilf mir suchen. Wir können die Details für unseren Teamplan auch noch später besprechen.“
Regulus verdrehte die Augen, ließ sich aber von Evans Enthusiasmus anstecken. Es war einfach, den ganzen Tag damit zu verbringen, daran zu denken, wie sehr sich Sirius in den Ferien verändert hatte und wie oft er ihn und ihren Vater gesehen hatte, wie sie miteinander geredet hatten, als wären die letzten Jahre nie passiert. Er wusste, da steckte etwas hinter. Sirius hatte nicht plötzlich angefangen, die jahrelange Rebellion hinter sich zu lassen, er hatte nicht plötzlich erkannt, dass er es einfacher im Leben hatte, wenn er den Befehlen seiner Mutter einfach folgte. Irgendwas hatte er vor, dessen war Regulus sich mehr als sicher. Im letzten Jahr hatte Sirius es kaum fünf Minuten im Grimmauldplatz ausgehalten, ohne einen Streit mit seiner Mutter loszureißen und diesen Sommer hatte er sich mit ihr unterhalten, hatte keine Paroli geboten, hatte jede Lehre angenommen, die man ihm gegeben hatte. Er hatte sich mit dem neuen Tutor zusammengesetzt und sich Dinge erklären lassen.
Regulus wusste nicht, was hinter Sirius´ plötzlicher Sinneswandlung steckte, aber er hoffte, dass sie anhalten würde. Selbst wenn er nur eine Maske aufsetzte, dann war es einfacher für sie alle. Sirius würde nicht verflucht werden und Regulus musste nicht der Erbe sein. Es wäre … es wäre das richtige Leben für sie. Das einfache Leben. Sie könnten das tun, was von ihnen verlangt würde und noch immer leben.
Nachdem Evan keinen neuen Treiber-Schläger-Ring auftreiben konnte (Regulus war sich noch immer nicht sicher, was das eigentlich sein sollte), verließen sie Qualität für Quidditch in Richtung Flourish & Blotts. Keiner von ihnen musste seine Schulsachen selbst kaufen, aber es war eigentlich immer praktisch, sich selbst in den Geschäften umzusehen. Zwar war auf den Listen, die Hogwarts verschickte, immer alles drauf, was man benötigte, doch Regulus hatte bemerkt, dass für einige Fächer lediglich die simpelsten Bücher und Utensilien aufgeschrieben wurden. Besonders bemerkbar wurde es seiner Meinung nach in Zaubertränke. Rezepte, die eigentlich erst dann perfekt waren, wenn sie noch mehrere Zwischenschritte erhielten, wurden in den Schulausgaben vereinfacht gedruckt. Es wurde mit den Maßeinheiten gespart und geschlampt. Regulus war sich nicht sicher, ob das ein bekanntes Problem oder eher eine Maßnahme der Schule war, nicht zu viele Ressourcen zu verschwenden.
Egal was es war, Regulus hatte vor sich ein paar weitere Zaubertrankbücher zu kaufen und vielleicht der Apotheke einen Besuch abzustatten, um sich mit etwas mehr Zutaten auszustatten, die er eigentlich benötigen würde. Auch gegen ein kristallenes Phiolen-Set hätte er nichts einzuwenden.
Sie hatten gerade Flourish & Blotts mit einer Bestellung für ein paar Bücher verlassen, als Regulus ein schwarzer Haarschopf auffiel, der ihm viel zu bekannt vorkam. Irgendwie musste Sirius es geschafft haben, seine Mutter zu überreden, ihn frei herumlaufen zu lassen, denn mit gesenktem Kopf und eiligen Schritte bahnte er sich einen Weg durch die Menge, bis hin zur Magischen Menagiere. Was wollte Sirius bitte im Tiergeschäft?
„Wartet mal“, sagte er leise zu Evan und Barty. „Planänderung.“
„Was soll das denn jetzt? Du wolltest doch –“, fing Evan an, aber Regulus unterbrach ihn mit einem leisen Zischen.
„Mein Bruder hat wieder irgendwas vor.“
Barty stöhnte entnervt auf. „Geht das wieder los? Kannst du den Kerl nicht allein lassen? Ich dachte, wir haben mal Zeit, was zu unternehmen. Das machen Freunde nämlich, weißt du?“
„Das können wir danach tun“, erwiderte Regulus, der ein seltsam warmes Gefühl in der Brust bekam. „Ich geb euch auch was aus.“
„Na wenn das so ist“, murmelte Evan, bevor er geschlagen seufzte. „Du gehst vor.“
„Ich mach´s wieder gut“, sagte Regulus an Barty gewandt, der ihm eine Grimasse schnitt, ehe er mit flinken Füßen auf die Magische Menagerie zuging. Das Schaufenster des Geschäftes war voll mit Käfigen und schlafenden Tierwesen, darunter ein ganzer Eimer voll mit Knuddelmuffs, ein paar Niffler, die sich an Goldmünzen schmiegten und schnarchten und ein Käfig, der auf den ersten Blick hin komplett leer wirkte, sich aber trotzdem ständig bewegte. Durch ein paar Stäbe hindurch konnte Regulus seinen Bruder sehen, der abseits des Tresens stand und sich mit einem anderen Jungen unterhielt – einer, der ebenfalls schwarze Haare hatte und gut einen Fuß größer war. Regulus musste das Gesicht nicht sehen, um zu wissen, wer das war.
Bevor er Evan und Barty ein Zeichen gab, öffnete er die Tür zur Magischen Menagiere. Ein ganzer Schwall an tierischen Gerüchen und Geräuschen erschlug ihn, als er eintrat. Kreischen, Schreien, Schnurren und Kratzen vermischte sich mit dem Geruch nach nicht gesäubertem Streu und schlecht werdendem Futter. Regulus rümpfte die Nase.
„Reg“, zischte Evan hinter ihm, aber Sirius hatte sie bereits bemerkt.
„Was willst du denn hier?“, fragte sein Bruder mit einem abwertenden Blick im Gesicht.
„Das könnte ich dich auch fragen“, erwiderte Regulus.
James Potter drehte sich um, eine Packung mit Eulenkeksen in der einen und eine kleine silberne Phiole in der anderen Hand. Seine Brille reflektierte das Licht der einzelnen Hängelampe an der Decke. „Ich wusste nicht, dass es verboten ist, hier zu sein“, sagte er. „Das Schild muss ich übersehen haben.“
Regulus knirschte mit den Zähnen, aber Evan antwortete vor ihm. „Ihr fresst sicher was aus“, meinte er und deutete auf die Sachen in James´ Händen. „Wieder ein dummer Streich, für den ihr dieses Mal Eulen benutzt?“
Mit den Augenbrauen zusammengezogen, blickte James irritiert an sich herab. „Was ist das bitte für eine dumme Idee?“, fragte er. „Das ist für meine Eule.“
„Deine Eule?“, erwiderte Barty schnaubend. „Klar, guter Witz.“
„Sirius, was –“
„Ihr seid wirklich so dumm wie ihr hässlich seid, oder?“, sagte Sirius, der sich einen halben Schritt auf seinen Bruder zubewegte. „Ist es jetzt schon ein Verrat an der Familie, wenn ich mich mit James treffe, weil er etwas für seine kranke Eule kaufen muss? Ist das Grund genug, Mama und Papa zu rufen, damit sie dir gratulieren, was für tolle Detektivarbeit zu treibst, Reggie? Vielleicht solltet ihr wieder umkehren und spielen gehen und uns nicht nerven.“
James schnaubte leise. „Falls ihr es so genau wissen wollt“, sagte er langsam, ehe er dann die kleine, glänzende Phiole hoch hob, „hat meine Eule Aridia eine entzündete Kralle und ich traue mir nicht zu, ihr selbst mit Magie zu helfen.“
Plötzlich erschien es Regulus wie eine schlechte Idee, dass er Sirius gefolgt war. Er hätte wissen müssen, dass sein Bruder nicht immer nur etwas ausfraß, sondern sich auch nur mit seinen Freunden treffen wollte. Es hätte ihm klar sein müssen, dass er sich besonders mit James Potter eher hinter dem Rücken ihrer Eltern traf. Dieser ganze Akt, den er den Sommer über aufrecht erhalten hatte – natürlich würde er ihn nicht wegwerfen, nur weil er die erstbeste Chance dazu hatte. Sirius war, musste Regulus zähneknirschend zugeben, doch nicht so doof, wie er gedacht hatte.
„Wir wollten sowieso gerade gehen“, sagte Evan, bevor er Regulus an der Schulter packte. „Komm schon, Reg.“
„Ja, komm schon, Reg“, höhnte Sirius ihm hinterher, bevor er sich kopfschüttelnd zu James drehte, der einen nachdenklichen Blick über Sirius´ Schulter war.
Evan zog Regulus zurück aus dem Laden, Barty dicht auf den Fersen, bis sie außer Sichtweite der Menagiere waren. Erst da ließ er Regulus´ Schulter los. „Ich will ja nicht sagen, dass ich es dir hätte sagen können, aber …“
„Das war ´ne dumme Idee“, meinte Barty achselzuckend.
„Ich weiß“, seufzte Regulus. „Ich war mir nur so sicher, dass Sirius … ich weiß auch nicht. Ich schätze, ich wollte eher, dass er irgendwas anstellt.“
Evan klopfte ihm auf den Rücken. „Nächstes Mal, Reg. Dann ertappen wir ihn sicher, hä?“
Regulus schüttelte den Kopf. „Vielleicht. Tut mir leid.“
„Schon gut“, sagte Evan.
„Genau“, fügte Barty an. „Gib uns ein Eis aus und alles ist vergessen.“
„Also gut“, erwiderte Regulus.
Chapter 34: 34. Jahr 3: Pläne für die Zukunft
Chapter Text
Kein Geräusch drang an Severus' Ohren. Er hatte die Augen geschlossen, die Hände fest in den rauen Sitz gekrallt und versuchte vehement, seine komplette Umgebung auszublenden. Er wollte nicht daran denken, dass seine Nägel schmerzten, weil er sie so fest in den Sitz grub und er wollte nicht dran denken, dass sein Rücken an der Sitzlehne unangenehm schmerzte. Er wollte nicht denken, nicht denken, nicht denken, aber es wollte einfach nicht klappen. Jedes Mal, wenn Severus versuchte seinen Geist zu leeren, dröhnten die Bilder auf ihn ein. Lily, wie sie mit geröteten Augen vor ihm davon lief, sein Vater, der mit Schweiß auf der Stirn die Treppe herunterkrachte, seine schreiende Mutter. Severus wollte nicht daran denken müssen.
Aber er musste.
Musste sich erinnern, dass er Lily verletzt hatte, musste sich noch mehr daran erinnern, weil sie nicht bei ihm saß, sondern mit ihren Freundinnen. Wahrscheinlich lachte sie. Vielleicht dachte sie an ihn. Wohlmöglich hatte sie nicht einmal überlegt, die Fahrt mit ihm zu verbringen. Sie hatte den gesamten Sommer nicht mehr mit ihm gesprochen.
Severus stöhnte frustriert auf und riss die Augen auf. Er blinzelte ein paar Mal aggressiv, bis das Zugabteil wieder klar wurde. Eins seiner Augen fing an zu tränen und er rieb sich heftig über die Haut, bis es juckte und sicherlich rot war. Mit der einen Hand tastete er blindlings zur Seite, bis er den dicken Rücken eines Buches zu fassen bekam. Severus zog das Bibliotheksbuch zu sich und schlug es grob bei der markierten Seite auf. In der Hoffnung einen wichtigen Tipp überlesen zu haben, überflog er die Seite erneut.
Okklumentik ist die Kunst des kompletten Schutzes des eigenen Geistes gegen unerwünschtes Eindringen von außen. Mithilfe der Okklumentik können Hexen und Zauberer verhindern, dass Legilimens gegen sie genutzt wird und sich ebenfalls darin üben, vollkommene Klarheit des Geistes zu erreichen. Wenn ein Zauberer oder eine Hexe seinen Geist kontrollieren kann, dann können ungewünschte Erinnerungen ausgeblendet oder sogar gesperrt werden. Mit einem rigorosen Training ist es möglich, den Geist so zu trainieren, dass alle -
Zornig blättere er weiter. Irgendwo musste es doch eine verdammte Anleitung dafür geben, wie man seinen Geist trainierte. Severus war es leid, dass er stundenlang am Tag daran erinnert werden musste, dass er Fehler gemacht hatte. Er war es leid, immer wieder Lilys verweintes Gesicht zu sehen, immer wieder daran erinnert werden, dass er ihr weh getan hatte. Er wollte die schlechten Zeiten nicht vor Augen haben. Alles, was er sehen wollte, war Lilys Lächeln, wenn sie ihn ansah. Dafür musste er lernen, seinen Geist zu entrümpeln und all die negativen Erinnerungen zu entfernen.
Er wollte nicht sehen, wie Lily weinte.
Alles, was zählte, war sie glücklich zu sehen.
Was war denn schon dabei, wenn er ein paar der blöden Momente verbannen musste? Solange sie glücklich war, war es das wert, sagte er sich. Es zählte sowieso nur, dass er Lily glücklich machte. Sie brauchte ihre dämliche Schlammblut-Schwester nicht und sie brauchte auch diese Freundinnen von ihr nicht. Früher waren er und Lily auch immer zusammen glücklich gewesen. Das würde er wieder holen.
Severus hielt inne und las.
Der Geist kann wie ein endloses Gefäß betrachtet werden. Um sich davor zu schützen, dass jemand die eigenen Gefühle oder Erinnerungen sieht, muss man das Gefäß lediglich verschließen. Das kann mit einem rudimentären Deckel geschehen oder mit einem starken Schloss. Solange der Wille stark genug ist, seine Gefühle und Erinnerungen zu schützen, kann jede Hexe und jeder Zauberer die Kunst der Okklumentik beherrschen. Um die Okklumentik zu beherrschen, ist es wichtig, in kleinen Schritten zu arbeiten. Den gesamten Geist zu schützen ist zwar das Ziel, aber dieses wird nicht nur in einem Schritt erreicht. Es gelobt sich, mit weniger starken Erinnerungen anzufangen und versuchen, diese wie mit einer Schöpfkelle in einen kleinen Kessel zu geben. Es sollte einfacher fallen, eine geringe Menge seines Geistes zu kontrollieren als alles auf einmal.
Endlich! Severus klappte den Wälzer mit einem zufriedenen Grinsen zu. Das war der Hinweis, den er gesucht hatte. Ein weiteres Mal presste er die Augen zusammen, nutzte allerdings dieses Mal den Tipp aus dem Buch. Erst stellte er sich einen breiten Kessel vor, der in seinem Kopf stand, dann dachte er fest an die Erinnerung, die er verbannen wollte. Er schob Lilys verweintes Gesicht in die vorderste Ecke seines Kopfes, dann stellte er sich vor, wie er es in einen Topf stopfte und wegschob. Vehement wiederholte er die magischen Formeln in Gedanken, die das Buch ihm gelehrt hatte, krallte die Finger erneut fest in den Sitz und wartete. Hoffte.
Das Resultat kam nicht sofort. Für mehrere viel zu lange Momente sah er nur noch Lily vor sich, die sich weinend von ihm abwandte, immer und immer wieder die gleiche Szene aus dem Sommer. Dann wurde Lilys Gesicht verschwommen, ihre Züge verblassten, dann erschienen sie wieder, dann verblassten sie erneut, dieses Mal länger. Das Ganze wiederholte sich, bis Severus Lilys Gesicht kaum noch ausmachen konnte. Es war, als würde sie wirklich langsam aus seinem Kopf verschwinden und nur die Lily übrig lassen, die sich am 1. September kaum noch vor Aufregung beherrschen konnte.
Severus öffnete die Augen und lächelte. Er hatte herausgefunden, wie er seinen eigenen Geist schützen und sich selbst vor den unschönen Momenten bewahren konnte. Er würde nie wieder daran denken müssen, dass Lily und ihre dumme Schwester ihn angeschrien hatten, nie wieder würde er sehen müssen, wie Lily ihn anschrie, weil er den Ast auf die Schlammblüterin geworfen hatte. Sie würde endlich wieder so sein, wie sie sein sollte, wie er sie immer kannte. Glücklich. Lächelnd. Ihre Augen würden glänzen, wenn er an sie dachte und daran würde sich nichts mehr ändern, denn das war die einzige Art, wie Lily existieren sollte.
Die Tür zu seinem Abteil wurde aufgerissen. „Yo, Snape, was hockst du hier allein rum?“, ertönte die schnarrende Stimme von Nestor Avery, der sich sogleich auf dem Sitz ihm gegenüber fallen ließ. Es schien, als wäre er über die Sommerferien gewachsen; seine Beine waren so lang, dass Severus die Füße einziehen musste, damit sie sich nicht berührten und auch Averys Haare waren länger geworden, sodass er ein wenig Ähnlichkeit mit einem nassen Hund hatte. Was sich nicht verändert hatte, waren das lahme Grinsen auf seinen Lippen und das Glitzern in seinen dunklen Augen.
„Also wirklich“, sagte Ennis Mulciber, der ebenfalls im Abteil erschien und sich ohne Einladung auf den Platz neben Severus setzte. Auch er war über den Sommer größer geworden, wobei sich das hauptsächlich auf seine Schultern ausgewirkt hatte, die jetzt breiter als der Rest seines Körpers waren. Im Gegensatz zu Avery hatte er die Haare kurz geschoren und wirkte bedrohlicher denn je, was für Severus noch immer lächerlicher als alles andere war, wenn er bedachte, dass Mulciber gerade einmal vierzehn war. „Man könnte fast meinen, du willst nichts mehr mit uns zu tun haben. Meinen letzten Brief hast du auch nicht beantwortet.“
Severus zuckte mit der Schulter, bevor er das Okklumentik-Buch vom Sitz in seine Tasche gleiten ließ. „Ich war beschäftigt“, antwortete er wahrheitsgemäß.
„Mit was“, verlangte Avery zu wissen. Es schien, als hätte er über den Sommer auch mehr Selbstvertrauen gewonnen.
„Ich weiß nicht, was dich das angeht“, entgegnete Severus mit angezogener Braue. Avery und Mulciber waren vielleicht seine Freunde, aber er würde ihnen sicherlich nicht von der Lily-Geschichte erzählen. Sie würden es sowieso nicht verstehen. Sie hatten es noch nie verstanden, wieso er so an Lily hing.
Avery grinste schief und hielt sich eine Hand auf den Brustkorb. „Autsch, Sevi, du tust mir weh.“
Severus zog eine Grimasse.
„Lass mich mal raten“, sagte Mulciber in seiner langsamen Art, ehe er den Kopf zu Severus drehte. Die Abteiltür stand hinter ihm weit offen. „Du hast dieses Buch bestimmt einhundert Mal durchgelesen, das du aus der Bibliothek geklaut hast.“
Avery pfiff beeindruckt. „Du Kleinkrimineller.“
„Ich hab´s nicht geklaut“, zischte Severus mit Blick auf die offene Tür. „Ich hab´s geborgt.“
„Was die alte Pince bestimmt weiß“, fügte Mulciber lächelnd an.
Severus spürte, wie die Hitze in sein Gesicht stieg. „Schön, ich hab´s geklaut. Aber ich bring´s ja zurück.“
„Weiß nicht, warum du dich so aufführst“, sagte Avery mit zuckenden Schultern. „Ist ja nicht so, als würden wir dich verpfeifen, Snape.“
„Genau. Wir sind doch alles Freunde hier, nicht wahr?“ Mulcibers Lächeln war wie ein Hai, der kurz davor war, seine Beute zu zerreißen.
„Klar“, gab er zerknirscht zu.
„Dann zeig mal, was du gelesen hast.“, forderte Avery auf.
Mulciber lachte spitz. „Als ob du lesen kannst, Nes.“
Avery überging ihn. „Komm schon, Snape. Was für Magie hast du dieses Mal studiert? Flüche?“
Widerwillen schob Severus eine Hand in seine Tasche und holte den dicken Okklumentik-Wälzer hervor. Er ließ ihn auf seinen Schoß sinken.
Beeindruckt hob Mulciber die Augenbrauen. „Okklumentik“, sagte er überrascht. „Das ist äußerst komplizierte Magie, Severus. Bist du sicher, dass du damit schon experimentieren solltest?“
„Ich experimentiere nicht“, schnaubte er zur Antwort. „Ich lese mich nur rein.“
„Natürlich tust du das. Wobei“, Mulciber nickte zum Buch, „es natürlich eine gute Fähigkeit ist, wenn man sie beherrscht. Was mich zur Frage bringt, warum du unbedingt Okklumentik beherrschen willst. Hast du etwa etwas zu verbergen, Severus?“
Er konnte nicht verhindern, dass seine Ohren heiß wurden. „Habe wir nicht alle unsere kleinen schmutzigen Geheimnisse?“, stellte er die Gegenfrage.
Für einen Augenblick starrten Mulciber und Avery ihn mit aufgerissenen Augen an, dann erschien dieses zähnezeigende, blitzende Lächeln auf Mulcibers Gesicht, vor dem jeder sich in Acht nahm. „Oh, Severus. Schlagfertig wie eh und je. Ich muss doch zugeben, ich habe es im Sommer ein klein wenig vermisst.“ Er lachte kurz auf. „Behalt deine Geheimnisse. Du wirst sie sowieso viel zu gut hüten, als dass ich sie herausfinden könnte, nicht wahr?“ Mulciber wartete nicht, bis Severus etwas sagte. „Aber lass dir zumindest gesagt sein, dass du gut daran tätest, der beste Okklumentiker jemals zu werden, wenn du dich darin üben willst. Andernfalls werden deine Geheimnisse dir auf unserem Pfad nur zum Verhängnis werden, Severus.“
***
An den Festessen in Hogwarts war selten etwas auszusetzen, gab es doch von jedem Geschmack mindestens ein halbes Dutzend verschiedener Speisen und so viel Dessert, dass man sich nicht einmal sattessen könnte, wenn man einen zehnfach vergrößerten Magen besitzen würde. Besonders das Festessen zum Anfang des Jahres war immer wieder ein wahrer Traum, was Speisen anging, aber für eine Sache, fand James, war das Festessen einfach nicht gemacht.
Partys.
Der erste September war auf einen Samstag gefallen. Wenn das kein Wink des Schicksals war, dass die Gryffindors die größte und beste Willkommen-Zurück-In-Hogwarts-Party veranstalten sollten, dann wusste James auch nicht weiter. Es war perfekt. Das Wetter war klar und warm, sie würden erst in zwei Tagen den ersten Unterricht haben und durch das gute Essen waren sowieso noch alle wach. Wenn er und seine Freunde an diesem Abend keine Party veranstalten würden, dann würde er sich das in seiner gesamten Hogwarts-Zeit nicht verzeihen. Außerdem lag es ihm im Blut. Entgegen der Wünsche seiner Mutter, hatte sein Dad ihm von den legendären Partys erzählt, die er früher im Gryffindor-Turm gefeiert hatte – und wenn James zu einem Mann aufblickte, dann war es sein Vater. Er würde ihm im Sachen Partys sicherlich nicht nachstehen.
„Also, Männer“, sagte er auf dem Weg in den Gemeinschaftsraum.
„Und Frauen!“, fügte Marlene irgendwo hinter seiner Schulter hinzu.
James grinste ihr zu. Ihre Augen strahlten und in den Sommerferien war sie um einiges gewachsen sowie deutlich brauner geworden, als hätte sie sich die ganzen Wochen lang nur in der Sonne hin und her gedreht. „Selbstverständlich. Und Frauen. Es gibt einiges zu tun, wenn wir diese Party zur legendärsten Party machen wollen, die der Turm je gesehen hat.“
„Hört, hört“, sagte Sirius laut.
„Wir brauchen Essen. Jede Menge.“
„Wir haben gerade ein Festessen hinter uns“, erwiderte Mary zweifelnd klingend.
„Aber Tanzen macht hungrig, Macdonald“, konterte Sirius.
„Tanzen“, schnaubte sie zur Antwort. „Ich will sehen, wie du tanzt, Sirius.“
„Ist das eine Einladung? Denn ich nehme sie liebend gerne an und zeige dir, wie man eine gute Zeit hat.“
Mary lachte und schüttelte den Kopf, aber sagte nichts weiter dazu.
„Konzentration, bitte“, sagte James, während er nebenbei eine Trickstufe übersprang, in die Peter gerne stieg. Aus dem Augenwinkel bekam er mit, wie ebendieser einen großen Bogen um die Stufe nahm. „Also, ich schlage vor, dass ihr“, er deutete mit dem Finger auf Mary und Marlene, „in die Küchen geht und dort Getränke und Kuchen besorgt. Ich bin mir sicher, es ist noch was vom Fest übrig.“
Marlene hob eine Hand an die Stirn, salutierte und sagte: „Aye, Aye, Kapitän!“
Lily, die seit sie die Große Halle verlassen hatten, nichts gesagt hatte, schnaubte und verdrehte die Augen.
„Was denn, Evans? Findest du meine Planung nicht ausgewogen genug?“
„Ich finde, dass ihr es mal wieder maßlos übertreibt“, sagte sie. „Weder ist euch diese Party gestattet, noch finde ich, dass es notwendig ist. Wir sind kaum drei Stunden hier. Wieso müsst ihr schon wieder die ganze Aufmerksamkeit auf euch ziehen?“
James musste sich stark zusammenreißen, nicht genervt aufzustöhnen. Er hatte gedacht, nachdem, was Ende letztes Schuljahres geschehen war, dass Evans nicht immer nur die Moralapostel spielen würde, aber da hatte er sich wohl getäuscht.
„Eigentlich“, ertönte eine Stimme hinter ihnen, „hat er die Erlaubnis. Wir sind sehr dafür, dass es eine Willkommen-Zurück-Party gibt.“ Frank Longbottom, frisch gekürter Schulsprecher, erschien hinter den neuen Drittklässlern. Ein Grinsen lag auf seinem runden Gesicht. „Mach dich locker, Lily. Wir können alle ein wenig Spaß vertragen.“
„Oh, also wirklich“, murrte sie, aber die Art, wie sie die Arme locker an der Seite hielt, verriet James, dass sie doch nicht so gegen eine Party war, wie sie tat.
Er würde zehn Galleonen darauf verwetten, dass es Lily nur darum gegangen war, die Regeln zu befolgen. Mit der offiziellen Erlaubnis des Schulsprechers stand ihnen als nichts im Weg. „Dann bist du also dabei, ja?“, fragte James.
Lily seufzte leise. „Meinetwegen.“ Ein schmales Lächeln zerrte an ihren Mundwinkeln. „Aber ich suche die Musik aus!“
James grinste, als hätte er den Quidditch-Pokal erneut gewonnen. „Dann vertraue ich darauf, dass du uns alle rockst, Evans.“
„Unglaublich“, murmelte sie, ließ sich aber lachend von Mary und Marlene in deren Mitte ziehen.
„Keine Sorge, Lily, ich behalte alles im Auge“, entgegnete Frank zwinkernd. „Diese kleine Bande hat noch eine Menge zu lernen, wenn sie wirklich legendäre Partys schmeißen will, aber solange ich hier bin, will ich zumindest ihre Anfänge sehen.“
Lily verdrehte die Augen, Sirius lachte bellend auf und Remus lächelte stumm in sich hinein. James war sich ziemlich sicher, dass die Party jetzt schon legendär und niemals vergessend sein würde, allein weil er mit seinen Freunden dabei war. Welche Party könnte jemals vergessen werden, wenn James und Sirius sie schmeißen würden? Keine, da war er sich sicher. James würde in die Geschichtsbücher von Hogwarts eingehen, sei es als unglaublicher Quidditchspieler oder der beste Partyplaner, den dieses Schloss je gesehen hatte, irgendwie würde sein Name schon verewigt werden.
„Da wir das dann auch geklärt hätte“, sagte er, bevor er sich an Remus wandte. „Du gehst mit Peter zu Ihr-Wisst-Schon-Wo. Ich geb euch ein paar Ihr-Wisst-Schon-Was mit.“
Mit zusammengezogenen Augen betrachtete Remus ihn, bevor ihm ein Licht aufzugehen schien. „Bist du sicher?“, fragte er leise, wohl in der Hoffnung, die anderen würden ihn nicht hören, aber Marlene und Mary hatten bereits die Ohren gespitzt. „Es ist bald Ausgangssperre.“
„Hast du Angst, man wird dich erwischen, Remu?“, meinte Sirius an seiner Seite. „Glaubst du, Gonni wird dich bestrafen?“
Remus schubste ihn weg. „Nein, du Trottel, ich meinte nur – ach, ist ja auch egal.“
James, der sich schon fast gedacht hatte, dass Remus vielleicht nicht scharf darauf war, den nicht ganz legalen Trip zum Honigtopf zu unternehmen, sagte: „Wir können auch tauschen und ich setze dich als Überseher und Planer ein. Dann müsstest du dich allerdings die ganze Zeit mit Sirius und seinen Ideen herumschlagen.“
„Hey!“
„Schon gut, schon gut, ich mach´s ja“, lachte Remus, der in einer flüssigen, unbemerkten Bewegung die dargebotenen Galleonen von James annahm. „Komm, Pete. Wir haben eine Mission.“
Peter, die ganze Zeit mit aufgeregtem Blick immer wieder hin und her geblickt hatte, eilte an seine Seite. „Du kannst dich auf uns verlassen, James.“
„Das wollte ich hören, Peter!“
„Wo gehen die beiden hin?“, fragte Marlene betont lässig, als Peter und Remus sich von der Gruppe abgekapselt und im sechsten Stock in einen Gang eingebogen waren, von dem James wusste, dass sich dort ein Wandteppich befand, der sie schneller nach unten bringen würde. Ihr interessierter Blick hing den beiden noch nach, auch wenn sie sie längst nicht mehr sehen konnte.
„Wirst schon sehen“, sagte James.
„Du und deine Geheimnisse immer, Potter. Die werden dich noch in Schwierigkeiten bringen.“
Im siebten Stock angekommen gab Frank den Drittklässlern das Passwort für die Fette Dame, bevor er sich aufmachte, um die Schulsprecherräume auszukundschaften. Er und Alice würden die abgelegenen Räume sicherlich gut zu nutzen wissen, da war James sich ziemlich sicher. Sie würden es auch nicht allzu streng nehmen, dass Alice laut den Regeln keinen Zutritt zu den Schulsprecherräumen hatte. Wenn er eines über Frank und Alice über die letzten zwei Jahre gelernt hatte, dann dass sie es mit den Regeln nicht immer ganz so ernst nahmen, wie sie es eigentlich sollten. Besonders Alice, fügte er in Gedanken hinzu und erinnerte sich an ihre Begegnung im letzten Jahr, als sie sie und Narzissa erwischt hatten.
Der Gemeinschaftsraum war zwar noch gut gefüllt mit älteren Schülern, die noch keine Lust hatten, sich zu Bett zu begeben, doch zum Großteil war er leer genug, damit sie ihre Party veranstalten konnten. Außerdem würden sich die Älteren sowieso anschließen, sobald sie erkannten, was sie vorhatten.
„Jeder weiß, was zu tun ist?“ fragte James in die Runde seiner Freunde.
„Aye, Aye“, sagte Marlene erneut, was James die Augen verdrehen ließ.
„Dann an die Arbeit, Leute. Wir haben eine legendäre Party zu feiern!“
***
Unter dem Vorwand, dass James Sirius einen neuen Quidditch-Umhang zeigen wollte, zog er ihn mit in den Schlafsaal und schloss die Tür.
„Seit wann bitte willst du mir deine Kleidung zeigen“, fragte Sirius mit verschränkten Armen, während er ihn kritisch betrachtete. „Nicht, dass du irgendwie Ahnung von Mode hättest.“
James schnaubte. „Du machst es einem Jungen manchmal wirklich schwer, dass er sich um dich sorgt. Also?“
„Also?“, wiederholte Sirius. „Also was?“
„Wie geht es dir, du Drachenhirn“, sagte James, bevor er Sirius gegen den Oberarm boxte. „Ich hab nur ein einziges Mal von dir im Sommer gehört und da hast du die Hälfte vom Brief durchgestrichen, noch hast du uns auf der Fahrt etwas erzählt. Also, wie geht es dir?“
Sirius zuckte mit den Schultern, bevor er sich gegen den Türrahmen lehnte. „Wie soll es mir schon gehen“, antwortete er. „Ich hab einen guten Jungen gespielt und meine Mum hat den Zauberstab nur ein paar Mal auf mich gerichtet. Alles in allem war es sehr erfolgreich.“
„Erfolgreich“, echote James, der sich auf sein Bett sinken ließ. „Manchmal werde ich aus dir nicht schlau.“
Seufzend erwiderte Sirius: „Mach dir nicht gleich ins Hemd, Potter. Der Sommer war in Ordnung. Ich habe mich zusammengerissen, so wie Remus und mein perfekter kleiner Bruder es immer wollten. Ich habe mitgespielt, habe die Unterrichtsstunden über mich ergehen lassen, damit ich etwas daraus ziehen kann. Hast du dir die Seiten nicht durchgelesen, die ich dir geschickt habe?“
„Doch, natürlich, aber ich weiß nicht, wie uns dutzende Verwandlungszauber weiterhelfen sollen. Es sei denn, du hast damit –“
„Du bist aber auch nutzlos“, meinte Sirius und stieß sich von der Wand ab. „Gib mir mal die Seiten.“
Mit zusammengekniffenen Augen bückte James sich, zog seinen Koffer unterm Bett hervor und wühlte darin nach den zusammengefalteten Pergamentseiten, die Sirius ihm im Sommer zugeschickt hatte. Als er sie gefunden hatte, reichte er sie seinem besten Freund.
Sirius zog seinen Zauberstab hervor, tippte auf das Pergament und sagte: „Finite.“ Ein schwacher Glanz ging von seinem Stab in seine Hand über. Das Pergament hatte sich auf den ersten Blick hin nicht verändert, doch als James einen genaueren Blick auf die erste Seite warf, stockte er.
„Hey, das ist –“
„Eine Anleitung für die Verwandlung in einen Animagus“, unterbrach Sirius grinsend, ehe er James die Seiten reichte. „Hab sie in einem alten Wälzer in der Bibliothek meines Vaters gefunden. Ich musste ihm vorlügen, dass ich total an Verwandlung interessiert wäre, damit ich es überhaupt ansehen durfte und dann hab ich die Seiten mit einem einfach Duplikations-Zauber vervielfacht und getarnt, damit niemand Verdacht schöpfen würde, wenn ich sie mitnehme. Mein Vater hätte mir das Buch nie gezeigt, wenn er wüsste, was ich wirklich damit vorhatte. Genial, oder?“, schloss er, als er sich neben James setzte, der wie gebannt auf die Seiten starrte.
„Das ist unglaublich“, erwiderte dieser mit leiser Stimme. „Ich hätte nicht gedacht, dass du – ich meine, ich dachte, das wären alles Verwandlungen, die du für ein paar Streiche ausprobieren willst.“
Sirius lachte. „Das vielleicht auch. Aber in erster Linie ging es mir um die Animagus-Sache. So können wir Remus endlich helfen, nicht?“
Als James den Kopf hob, war ein schwaches Glänzen in Sirius´ sturmgrauen Augen eingetreten. Er grinste, als hätte er bereits den Hauspokal gewonnen. „So können wir Remus helfen“, entgegnete James sprachlos. „Aber“, er blickte wieder auf das Pergament, „das ist wahnsinnig kompliziert. Allein für den Trank müssen wir monatelang warten, der muss, was steht hier? Tau, das für sieben Tage weder Sonnenschein noch Menschenfuß gesehen hat, wird der Phiole hinzugegeben, sowie das speicheldurchtränkte Alraunenblatt. Vergrabe die Phiole an einem lichtlosen Ort und sehe sie nicht einmal an, bis der nächste Donnersturm erscheint. Merlins linkes Hosenbein, man muss ein Alraunenblatt einen ganzen Monat lang im Mund behalten?“ James blickte auf, den Mund offen hängend.
Sirius hatte das Gesicht zur Grimasse verzogen. „Ich weiß, es ist ein echt kompliziertes Stück Magie. Ich – ich bin nicht sicher, ob wir überhaupt alle Zutaten hier bekommen. Diese Totenkopfmotte soll unglaublich selten sein, ich weiß nicht, wie wir den Kokon finden sollen. Und Alraunen sind auch nicht gerade in jedem Kräuterbeet zu finden.“
„Einen Monat?!“, fragte er erneut mit leiser, panischer Stimme. „Wie sollen wir das bitte hinbekommen?“
„Schön, dass du mir zugehört hast“, grummelte Sirius, bevor er sich die Pergamentblätter selbst schnappte. „Ich habe überlegt, das Blatt mit einem Klebezauber einfach unterhalb der Zunge zu befestigen“, sagte er. „Ich hab´s im Sommer schon mal ausprobiert und an sich hält es schon, aber … Essen wird damit schwierig. Und trinken. Und reden. Eigentlich alles.“
„Wie sollen wir das bitte geheim halten? Und wir können es zwischendurch nicht rausnehmen, oder – oder wir müssen von vorn beginnen?“
„Nicht nur das, wenn wir das Blatt rausnehmen und es an der Vollmondnacht wolkenbehangen ist, dann müssen wir es auch neu versuchen. Der Mond muss direkt auf die Phiole scheinen, wenn wir das Blatt mit dem Tau vermischen. Es ist … Merlin, es ist echt kompliziert.“
James dachte an seine eigenen eher passablen Zaubertranknoten, sowie Peter, der mit den meisten Tränken bereits überfordert war, wenn sie mehr als drei Schritte hatten. Aber er dachte auch an Remus, der während der Sommerferien erneut allein in seiner Verwandlung gewesen war, der die ganzen letzten Jahre immer allein gewesen war. Er musste es versuchen. Sie konnten Remus nicht weiterhin im Stich lassen. Und wenn sie dafür mit einem ollen Blatt im Mund herumlaufen mussten, dann würden sie es bei Merlins Bart auch tun. Remus riss sich selbst jeden Vollmond die Haut auf. Wenn er das überstehen konnte, dann könnten James, Sirius und Peter auch Animagi werden, ohne sich über die Herstellungsweise des Tranks zu beschweren. „Okay“, sagte James.
„Okay?“
„Wir machen es.“ James setzte einen gewinnenden Gesichtsausdruck auf. Einen, den er beim Quidditch geübt hatte und einen, von dem er wusste, dass er genau das aussagte, was er dachte.
Sirius allerdings blickte ihn mit zusammengezogenen Augenbrauen an, als hätte James kurzerhand den Verstand verloren. „Natürlich machen wir es, du Kobold“, sagte er, bevor er James gegen den Arm boxte. „Meinst du, ich hätte mir all die Mühe gemacht und den Sommer über Black-Erbe gespielt, wenn ich jetzt kalte Füße bekommen würde, nur weil es kompliziert ist? Ich meine, das alles ist für Remus. Natürlich machen wir es. Da gibt es nicht einen Zweifel bei.“
Einmal mehr war James überrascht und erstaunt von Sirius´ unfassbarer Loyalität. Er wusste, dass Sirius immer für ihn da war, er wusste, dass Sirius der beste Freund war, den er je gehabt hatte, aber er war dennoch überrascht. Überrascht von der Intensität in Sirius´ Blick, mit der ihn sein Freund beinahe schon herausforderte, etwas dagegen zu sagen. Selbst wenn James etwas dagegen hätte sagen wollen, Sirius hätte ihn niedergemacht. Sirius hätte nicht dafür eingestanden, dass James den Schwanz einziehen würde. „Natürlich nicht. Ich meinte nur – ich dachte –“ James seufzte angestrengt. „Du hast Recht. Es gibt keinen Zweifel. Wir machen das für Remus.“
Sirius grinste ihn grimmig an. „Genau das wollte ich hören, Potter. Was glaubst du, wird Remus eher in Ohnmacht fallen oder in Tränen ausbrechen, wenn wir es ihm zeigen?“
„Ich hoffe gar nichts von beiden, er soll sich einfach nur freuen.“
„Langweiler.“ Sirius stand auf. „Wir können Peter morgen einweihen“, sagte er und verstaute die Pergamentseiten in seinem Nachtschrank. „Dann können wir auch klären, wie wir das alles angehen sollen.“
„Willst du es dieses Jahr schon machen? Glaubst du, wir bekommen das schon hin?“
„Warum denn nicht? Wenn es jemand schaffen sollte, dann ja wohl wir, nicht wahr?“
James erhob sich ebenfalls. „Ich dachte nur … keiner von uns ist wirklich zaubertränkebegabt und Remus können wir dabei schlecht um Hilfe bitten.“
Sirius schnalzte ungeduldig mit der Zunge. „Wir brauchen doch keine Hilfe dabei. Sind wir die Rumtreiber, oder nicht? Es gibt nichts, was wir nicht können. Der Zaubertrank kann noch so kompliziert sein, wir schaukeln den schon. Zur Not wiederholen wir ihn einfach immer wieder, bis es klappt. Aber ich werde Remus nicht länger im Stich lassen.“
„Hast Recht“, sagte James lächelnd. „Für Remus kann das gar nicht kompliziert genug sein.“
„Apropos Remus, er und Pete müssten wahrscheinlich bald wieder hier sein. Wir sollten wieder runtergehen, sonst denkt man noch, ich hätte dich in deinem neuen Quidditch-Umhang erwürgt.“
***
Mit einem Klicken brachte Lily den Plattenspieler dazu, die Platte anzunehmen und einen Augenblick später ertönte die wunderbare Musik ihrer Lieblingsband im Gemeinschaftsraum. Sie konnte die verwirrten Blicke der nicht-muggelstämmigen Schüler bereits sehen, als Fleetwood Mac begann, aber das kümmerte sie nicht viel. Sie hatte sich extra dafür gemeldet, die Musik für diese Party auszusuchen, denn sie war sich ziemlich sicher, dass sie einen weiteren Abend lang nicht überstanden hätte, bei dem nur Celestina Warbek gespielt hätte.
„Ohh, Mac!“, sagte Mary aufgeregt, die neben ihr aus dem Schlafsaal stolperte. Sie hatte die Hogwartsuniform abgelegt und sich in eine schickes, bauchfreies Top geworfen, sowie eine Jeans, die an den Beinen immer breiter wurde und Blumen in die Seiten gestickt hatte. Noch dazu hatten sie und Marlene sich Make-Up aufgetragen, sodass ein dunkler Rand ihre Augen noch besser betonte. Es war seltsam, Mary so zu sehen, weil es für Lily manchmal nicht verständlich war, dass sie alle älter wurden. Das war jetzt schon ihr drittes Jahr an Hogwarts. Das dritte Jahr, das sie mit Mary und Marlene verbringen würde. Sie wusste gar nicht mehr, wie es war, nicht mit den beiden zu sein.
„Dad hat mir die neue Platte gekauft“, erklärte sie grinsend. Lily fühlte sich neben Mary ziemlich unterkleidet. Sie hatte sich lediglich ihres Umhangs entledigt und ihr Hemd an den Ärmel hochgekrempelt, sowie ihre widerspenstigen Haare in einen raschen Zopf gebunden. Sie hatte nicht einmal daran gedacht, sich irgendwie Make-Up aufzutragen, zu sehr war sie damit beschäftigt gewesen, den Plattenspieler zum Funktionieren zu bringen. Sie glaubte aber auch nicht, dass sie sich unbedingt schminken müsste – immerhin kannte sie alle, die zur Party kommen würden, sowieso schon und wenn es eines gab, für das Lily noch immer nicht bereit war, dann war es mit Jungs Tanzen. Schon gar nicht, wenn diese Jungs wie James Potter waren. Nein, Danke.
„Und ich hab meine zuhause gelassen, weil der Koffer nicht mehr zuging“, sagte Mary. „Mum hat die gesamte Sammlung, auch noch signiert! Sie hätte sie mir wahrscheinlich sowieso nicht geliehen, aber trotzdem.“
„Du kannst meine auch hören, wenn du willst.“
„Du bist ein Schatz.“ Mary legte die Stirn in Falten. „Hm.“
Lily, die es nicht gern hatte, wenn man ihr ins Gesicht starrte, wand den Blick ab. „Was ist denn?“
„Gar nichts, gar nichts“, erwiderte sie. „Es ist nur – ich meine, geht es dir gut?“
Überrascht blickte sie wieder zu ihrer Freundin. „Natürlich“, antwortete Lily. „Wieso sollte es mir denn nicht gut gehen?“
„Nein, ich meine, ich dachte nur, weil –“, Mary brach ab und presste die pinken Lippen zusammen. Sie senkte die Stimme und fügte an: „Es sieht aus, als hättest du geweint.“
„Oh.“ Bob Welchs samtige Stimme wehte um Lily, sang immer wieder wiederholend das Outro ihres Lieblingsliedes, während Lily nicht anders konnte, als Mary anzustarren, die sie besorgt betrachtete. Sie hätte nicht gedacht, dass Mary es ihr ansehen konnte. Lily hasste es, dass Mary es sofort erkannt hatte. Lily hasste es noch mehr, dass sie überhaupt geweint hatte. Nicht nur, dass sie den Anfang ihres dritten Jahres direkt mit Tränen ruiniert hatte, nein, sie musste auch noch das Klischee erfüllen, das Mädchen immer wieder bei jeder Kleinigkeit anfangen würden zu heulen. Dabei hatte sie lediglich Severus gesehen, der am Slytherintisch vollkommen entspannt mit seinen eigenen Freunden gegessen hatte und die ganze Feier über keinen Blick in ihre Richtung geworfen hatte. Gerade darüber hätte sie nicht weinen sollen, aber es hatte weh getan. Es hatte weh getan, weil sie nicht wusste, was sie erwartet hatte und trotzdem enttäuscht wurde, als er sich nicht dazu aufgerafft hatte, sich bei ihr zu entschuldigen.
„Lily, was ist?“, fragte Mary noch immer besorgt klingend.
„Es ist nichts“, erwiderte Lily. „Wirklich, das ist – das ist wirklich nicht der Rede wert. Es war nur –“ Zum ersten Mal in ihrem Leben war sie froh, dass James und Sirius genau diesen Moment nutzten, um zurück aus ihrem Schlafsaal zu kommen und ihr Erscheinen selbstverständlich lautstark zu verkünden mussten. Sie lächelte Mary entschuldigend an, auch wenn sie wusste, dass Mary es nicht einfach fallen lassen würde. Dafür war sie eine viel zu gute Freundin.
„Evans!“, rief Sirius mit ausladender Handgeste aus, wodurch er selbstverständlich die Aufmerksamkeit des gesamten Gemeinschaftsraums auf sich zog. „Du hast die Musik zum Laufen gebracht! Ich wusste, auf dich kann man sich verlassen.“
„Im Gegensatz zu dir habe ich nämlich Geschmack“, erwiderte sie ebenso laut.
Sirius fasste sich theatralisch ans Herz. „Du wagst es, mir sowas ins Gesicht zu sagen? Ich bin schockiert. Absolut schockiert, Evans.“
So sehr sie sich auch dagegen wehrte, manchmal konnte sie nicht anders, als über die Unsinnigkeit von Sirius zu lachen. Sie verdrehte die Augen. „Ja, Ja, Black.“
„Wer singt das?“, fragte James, als er und Sirius neben ihr und Mary stehen blieben. Er wippte langsam mit dem Fuß.
Unnötigerweise war er über den Sommer so groß geworden, dass Lily den Kopf in den Nacken legen müsste, wenn sie ihm ins Gesicht sehen wollte. Was sie offensichtlich nicht wollte. Stattdessen tat sie so, als würde sie den Stapel an Platten sortieren. „Fleetwood Mac. Eine Muggel-Band. Du wirst sie nicht kennen.“
„Nö, aber ich mag den Song“, erwiderte er lachend. „Der ist echt gut.“
Lily unterdrückte den Drang ihm zu erzählen, dass der Song Revelation nicht nur echt gut war, sondern verdammt noch mal die beste Erfindung, seit es Musik gab. Er würde es sowieso nicht verstehen, soviel war sie sich sicher. „Dann besteht doch noch Hoffnung für dich“, sagte sie stattdessen.
„Vielleicht kannst du mir Nachhilfe in Musik geben“, meinte James locker, ehe er sich an die Wand neben sie lehnte, die Arme vor der Brust verschränkt und ein Lächeln auf den Lippen.
„Wenn du mich bezahlst vielleicht“, erwiderte sie es vermeidend, zu sehr in seine Richtung zu blicken.
„Autsch, Evans. Ich glaube kaum, was ich da höre. Mary würde mir umsonst helfen, nicht wahr, Mary, Licht meines Lebens?“
„Das muss ich mir aber ganz genau überlegen“, sagte Mary. Aus dem Augenwinkel konnte Lily sehen, wie ihre Freundin lächelte und wollte am liebsten schreien. Sie hoffte, dass sie Mary mit einem Blick mitteilen konnte, dass sie nicht immer bei Potters Dummheiten mitmachen sollte, aber ihre Freundin mied es, in ihre Richtung zu sehen. Stattdessen sagte sie ein wenig zu laut: „Hey, wo ist Marlene eigentlich?“
„Sich umziehen, was sie uns vor zehn Minuten gesagt hat“, erwiderte Lily mit scharfer Stimme.
„Ah ja!“
„Meine Güte, Macdonald, fängt das mit dem Gedächtnisschwund jetzt schon an? Da muss man ja fast Angst haben, älter zu werden“, kommentierte Sirius, ehe er sich locker durch die schulterlangen Haare fuhr.
Lily fand es fast schon lächerlich, wie die beiden Jungs sich aufführten, mit versucht cooler Haltung und hochgekrempelten Ärmeln, als hätten sie irgendwas, was sie zeigen konnten. Sie hatte genau diese Art und diesen Stil bei den älteren Jungs schon gesehen, bei denen es wirklich gut ausgesehen hatte, aber bei James und Sirius sah es einfach wie zwei zu groß geratene Kleinkinder aus, die unbedingt die Großen nachmachen wollte. Sich das Lachen verkneifend antwortete Lily: „Wenn du weiter so tust, dann sorge ich dafür, dass du nicht älter wirst.“
„Wow, da ist jemand über den Sommer aber richtig entspannt geworden.“
„Im Vergleich zum letzten Jahr würde ich das fast schon als nett bezeichnen“, fügte James lachend an.
„Verpiss dich“, sagte Lily mit süßlicher Stimme. „Solange du in der Nähe bist, fühle ich meinen IQ stetig sinken.“
„So temperamentvoll“, kommentierte Sirius.
„Dann stimmt es wohl, was man mir über die Pubertät gesagt hat“, meinte James pfeifend.
Lily wirbelte herum, zog in der Bewegung ihren Zauberstab und deutete ihn auf James´ Brust. „Möchtest du es herausfinden, Potter?“
„Woah“, sagte er und warf die Hände in einer Defensivhaltung in die Luft. „Ganz ruhig, Evans, wir machen nur Spaß, wir wollen – “
„Ihr wolltet gerade gehen, glaube ich“, klinkte Mary sich ein, die Lily einen warnenden Blick zuwarf. „Sicher brauchen Remus und Peter eure Hilfe irgendwo.“
Sirius zischte leise. „Glaub ich aber auch. Komm schon, James.“ Er zog an James´ Arm, bis er ihn unter Lilys ausgestreckter Zauberstabspitze hervorgezogen hatte, dann verschwand er mit ihm in der Menge der anderen Gryffindors.
Mittlerweile war es soweit, dass die Party losgegangen war. Lily nahm den Stab herunter und verstaute ihn wieder sicher in ihrer Hosentasche. „Was sollte das denn?“, fragte Mary. „Ich meine, klar, James und Sirius sind nervig, aber –“
„Ich weiß“, unterbrach Lily sie. „Tut mir leid. Ich bin – ich wollte sie nur loswerden. Ich – Ich kann die jetzt nicht gebrauchen.“ Sie hatte es nicht bemerkt, als die beiden noch da waren, doch je länger sie in der Nähe von James und Sirius gewesen war, desto mehr hatte sie Severus vermisst. Er sollte eigentlich bei ihr stehen, er wollte Witze mit ihr reißen und versuchen, sie zu überreden, die Party zu verlassen, damit sie gemeinsam abhängen konnten. Aber er hatte nicht einmal versucht, mit ihr zu reden und Lily hatte es satt. Wieso konnten alle anderen besten Freunde sich immer so gut verstehen, aber sie und Severus mussten sich streiten? James und Sirius waren ein Herz und eine Seele, während Lily sich fühlte, als würde ein Teil von ihr fehlen, weil Severus nicht hier war.
Marys Miene wurde weicher. „Okay“, sagte sie leise. „Das ist okay. Komm, wir holen uns was zu trinken und sehen zu, dass Marlene nicht im Kleiderschrank verloren gegangen ist.“
***
Mary hatte ein wahnsinniges Problem. Das war untertrieben. Mary hatte das größte Problem, dass es je gegeben hatte und sie hatte das Gefühl, dass es sie vom Inneren her auffraß. Um ihre Lage zusammenzufassen, konnte sie ganz einfach sagen, dass sie die größte Verräterin auf diesem Planeten war, noch schlimmer als zu enge Lederstiefel im Sommer oder Brutus, der Cäsar in den Rücken stach. Für ihren Verrat war es nicht einmal Strafe genug, dass man ihr in den Rücken stechen würde, fand Mary, als sie sich etwas zu fest an ein Glas mit Butterbier klammert und versuchte ihren Blick nicht durch den Raum schweifen zu lassen, denn sie wusste mit einhundertprozentiger Wahrscheinlichkeit, dass er an James Potter haften bleiben würde.
Sie war die schlimmste Freundin, die es gab. Sie wusste besser als alle anderen, was Lily für James empfand (ob es nun negativ oder positiv war, sei mal vergessen), deswegen war es das höchste aller Verratsbotschaften, die sie haben könnte, wenn ihr Herz bei seinem Anblick ein wenig schneller schlug. Und sie wusste nicht einmal warum! Klar, er war über den Sommer gewachsen und hatte, so wie es aussah, die gesamten Wochen nur Quidditch gespielt, seine unordentlichen Haaren waren ein wenig länger, sodass sie seine Ohren bedeckten und wie ein Tornado auf seinem Kopf hausten und wenn er lächelte, dann konnte sie den Hinweis an ein verräterisches Grübchen an seinem Mundwinkel erkennen, aber das war noch lange kein Grund dafür, dass ihr dummes Herz schneller schlagen musste. Das war außerdem noch lange kein Grund dafür, dass sie ihre beste Freundin verraten und sich in ihren Erzfeind (oder Seelenverwandten, wenn es nach ihr und Marlene ging) vergucken konnte. Das war nicht nur moralisch verwerflich, sonderlich auch noch menschlich.
Wenn es eine Option wäre, dann würde Mary sich in den Schwarzen See werfen, damit dieser ihre Gefühle wegwaschen würde, denn sie sah nicht ein, dass sie Gefühle für jemanden entwickelte, wenn dieser Jemand offensichtlich nicht für sie gemacht war.
„Du tanzt ja gar nicht“, ertönte eine zögerliche Stimme neben ihr und als Mary den Kopf drehte, erkannte sie Peter, der sie abwartend ansah.
„Oh, ja, ich – das ist nicht so mein Lied“, log sie.
Peter verzog das Gesicht zur Grimasse. „Dann muss es die letzten zwei Stunden schon nicht dein Lied gewesen sein.“
„Beobachtest du mich etwa, Pettigrew?“, fragte Mary, bevor sie sich so drehte, dass sie Peter ins Gesicht sehe konnte.
Dieser wurde rot. „N-Nein! Ganz und gar nicht, ich meine, ich hab es nur so nebenbei gesehen. Also, jedes Mal, wenn ich rüber geguckt habe. Nicht, dass das oft gewesen wäre! Ein paar Mal! Also – eigentlich gar nicht. Warum sollte ich auch rüber gucken?“
Mary lachte und legte den Kopf ein wenig schief. Über den Sommer hinweg war Peter wahrscheinlich der einzige, der sich von seinen Freunden nicht sonderlich verändert hatte. Er sah noch immer so aus, wie sie ihn am Ende des letzten Schuljahres in Gedanken hatte. Vielleicht ein wenig größer. Ein kleines bisschen, zumindest. Aber sonst sah er noch immer so aus wie vorher, mit den leicht geröteten Wangen und dem runden Gesicht und den kurzen, fransigen Haaren, die absolut keiner Ordnung zu folgen schienen. Beinahe hatte Mary Mitleid mit ihm. „Mach dir nicht ins Hemd, Peter“, sagte sie. „Mir ist einfach nicht wirklich nach Tanzen.“
„Das wird James aber gar nicht gefallen“, erwiderte er.
„Wieso das?“, fragte sie, ignorierend, wie ihre Handinnenflächen ein wenig schwitzig wurden. Sie verstärkte den Griff um ihr Glas, damit es ihr nicht aus den Fingern rutschen würde.
Peter zuckte mit den Schultern. „Er hat sich so auf die Party gefreut, ich glaube, er wäre enttäuscht, wenn nicht jeder Spaß haben würde. Sogar Lily hat getanzt, obwohl ich weiß, dass sie ihn erst vor Kurzem wieder bedroht hat.“
Mary verdrehte die Augen. „Aber auch nur, weil er sich wie ein Idiot benommen hat.“
„Das bezweifle ich gar nicht.“
„Ich würde ja gerne tanzen“, gab Mary schließlich zu, „aber nicht allein. Und schon gar nicht zu diesem Lied“, fügte sie an, in der Hoffnung, Peter würde den Hinweis verstehen.
Offensichtlich hatte sie ihn massiv unterschätzt. Ein Grinsen erschien auf seinen Lippen, er stellte sein Getränk auf einem Tisch an der Seite ab und hielt Mary die Hand hin. „Würdest du mir dann die Ehre erweisen? Ich wette, ich kann Lily dazu überreden, das Lied zu ändern.“
Es wäre unhöflich, wenn sie nicht annehmen würde, das wusste sie. Außerdem wollte Mary wirklich gerne tanzen. Sie liebte es zu tanzen und sie hatte gedacht, diese Party würde die perfekte Ausrede dafür sein, um den gesamten Abend lang durchzutanzen. Stattdessen musste sie einen Blick auf James Potters dämliches Gesicht werfen und ihre gesamte Lebenssituation in Frage stellen. Es wäre nicht fair Peter gegenüber, wenn sie nur deswegen mit ihm tanzen würde, weil sie jemand anderen vergessen wollte, aber es wäre ebenfalls unfair Peter gegenüber, wenn sie deswegen gar nicht erst mit ihm tanzen würde. Sie seufzte leise, stellte ihr Glas ebenfalls beiseite und sagte: „Mit Vergnügen.“
Es schien, kaum waren sie auf der Tanzfläche angekommen (die eigentlich nur die Fläche war, an der vorher die Sessel am Feuer gestanden hatten), dass sie Peter von all seinen Freunden am meisten unterschätzt hatte. Mit einem lockeren Wink seines Stabs in Richtung des Plattenspielers änderte er den Song, bevor er Marys Hand nahm. Gerade als der neue Song zu spielen begann (ebenfalls von Fleetwood Mac), zog er zaghaft an ihrer Hand, um sie in Bewegung zu versetzen. Mit überraschender Präzision begann Peter sie über die Fläche zu führen, wobei es fast so wirkte, als müsste er sich daran hindern, sie nicht in einen langsamen Walzer zu versetzen.
„Das sind ja ganz neue Seiten, die ich an dir entdecke, Peter“, kommentierte sie ein wenig schockiert, während Peter sie herumdrehte.
Er lächelte schelmisch. „Ich hab letzten Sommer Tanzstunden bei meiner Tante in Albanien genommen. Meine Mutter hat mich gezwungen“, fügte er auf Marys fragenden Blick hinzu. „Das war nicht meine Idee, aber ich schätze, jetzt kann ich ihr dankbar sein.“
„Ich sollte deiner Mutter auch dankbar sein“, antwortete sie. „Wenn ich ehrlich bin, hab ich gedacht, du wärst der Erste, der jemandem auf die Füße treten würde.“
Peter lachte, wobei ein wenig Rosa in seine Wangen kroch. „Bevor ich die Grundlagen draufhatte, hab ich das auch. Meine Tante hat immer wieder einen Federkissenzauber auf ihre Füße gewirkt, damit ich ihr nicht die Zehen breche.“
Mary ließ sich von Peter in einer waghalsigen Drehung zum Höhepunkt des Lieds im Kreis wirbeln. Der Raum flog förmlich an ihr vorbei, als würde sie eine Dia-Show nur so durchklicken. Sie war froh, dass er sie fest an der Hand hielt, denn wenn er jetzt loslassen würde, dann würde Mary wahrscheinlich haushoch in die Menge krachen. Als er sie wieder anhalten ließ, gab es vereinzelt sogar ein paar anerkennende Pfiffe und sie konnte James und Sirius hören, die lauthals grölten. Sie verdrehte die Augen. Vielleicht hatte es wirklich nur das gebraucht, damit sie diese idiotischen Gefühle vergessen würde. „Ich bin wirklich beeindruckt“, sagte sie ein wenig atemlos. „Wenn du weiter so machst, dann kannst du den Jungs hier vielleicht mal ein paar Tanzstunden geben. Ich hab gesehen, was Monty versucht hat. Das war weder sicher noch anmutig.“
Erneut grinste er. „Glaub mir, wenn ich könnte, dann würde ich sie alle zwingen, sich zumindest die Grundlagen anzusehen, aber die Jungs behaupten immer, sie würden es besser können. Du hast ja wahrscheinlich auch gesehen, was passiert ist, als James mit Marlene getanzt hat.“
Hitze flog in ihre Wangen, als hätte sich ein Lauffeuer in ihrem Inneren ausgebreitet. Mary täuschte ein Husten vor. „Das muss ich verpasst haben.“
„Er wollte sie hochheben“, erklärte Peter. „Aber James hat überschätzt, dass Marlene nicht nur so viel wie ein Quaffel wiegt, als hätte er sie fast vornüber fallen lassen. Deswegen hat Lily ihn mit dem Kitzelfluch belegt. Ich hätte gedacht, das hättest du mitbekommen.“
„Vielleicht war ich da auf Klo“, log sie, denn sie konnte ihm schlecht sagen, dass sie den gesamten Abend hin ignoriert hatte, was James getan hatte, weil sie nicht in seine Richtung sehen wollte.
„Wenn es nicht so ausgesehen hätte, als würde James Marlene fast das Genick brechen, dann wäre es sogar irgendwie lustig gewesen“, sagte Peter. „Ich meine, niemandem ist was passiert – außer James´ Ego, natürlich, aber darüber können wir alle hinweg sehen.“
Widerwillen musste Mary lachen. „Manchmal kannst du wirklich fies sein, Peter.“
„James kann das ab. Er hat genug Ego, um den Schwarzen See zu füllen.“
Kopfschüttelnd blieb sie stehen, als der Song endlich endete. „Danke für den Tanz“, sagte sie. „Und Danke, dass du meine Zehen heile gelassen hast.“
Peter deutete eine Verbeugung an. „Jederzeit wieder. Jetzt muss ich aber nach Remus sehen. Er hat bereits drei Mal angedroht, dass er sich ins Bett verziehen wird und das können wir nicht zulassen. Rumtreiber-Ehrensache.“
Sie sah zu, wie Peter zurück zu seinen Freunden ging und schüttelte den Kopf. Sie würde wahrscheinlich nie verstehen, wieso die Jungs sich die Rumtreiber nannten – sicherlich eine Idee von James. Er war der Typ, der sowas vorschlagen würde.
Mary biss sich auf die Zunge, ehe sie ebenfalls zurück ging. Lily unterhielt sich mit Marlene in einer Ecke, aber Mary hatte gerade wenig Lust, sich mit ihren Freundinnen zu unterhalten – nicht, dass sie nicht mögen würde, aber sie hatte das Gefühl, dass sie bereits Hochverrat betrieb, wenn sie Lily in die Augen sah. Sie konnte nicht mit Lily lachen und gleichzeitig schwitzige Hände bekommen, weil ein Junge in der Nähe war. Das stimmte einfach nicht mit ihrem Kodex überein. Es war moralisch falsch. Lily war wichtiger als jeder Junge. Sie würde ihre Freundschaft mit Lily nicht dafür riskieren oder gar ruinieren, nur weil sie einen Jungen auf einmal gut fand. Sicherlich waren das sowieso nur ihre Hormone, die verrücktspielten. Ihre Mutter hatte sie bereits gewarnt, dass sie langsam in die Pubertät kommen würde.
Perioden, Stimmungsschwankungen, Pickel. Mary konnte gut darauf verzichten. Sie hatte gehofft, ihre Magie würde die Pubertät einfach unterdrücken, aber dem schien nicht so zu sein. Kaum war es eine Woche vor Schulbeginn gewesen, war ihre Haut in Mitessern ausgebrochen, als hätte sie alle persönlich eingeladen. Sie war mehr als froh, dass Hexen einige bessere Cremes dagegen hatten. Sie hatte sogar ein paar Zauber gesehen, die dagegen helfen sollten. Vielleicht würde sie ein wenig damit experimentieren, wenn sie Zeit hatte. Immerhin war sie nicht die einzige, die daran litt, aber trotzdem – Mary konnte es nicht ertragen. Sie fand, Pubertät sollte verboten gehören.
Allein schon, weil ihr plötzlich warm wurde, nur weil ein Junge, den sie seit fast drei Jahren kannte, einen Wachstumsspurt hinter sich hatte. Nicht in hundert Jahren würde sie annehmen, dass das der Fall war. Schon gar nicht für James Potter. Wenn sie sich schon wie ein dummer Teenager verknallen musste, dann wenigstens in einen Jungen, für den es sich lohnen würde.
Nicht, dass es einen davon geben würde.
Mary blickte sich im Gemeinschaftsraum um, ehe sie die Entscheidung traf, dass sie ihre Ruhe brauchte. Kurzerhand ging sie aufs Portraitloch zu, kletterte hindurch und landete im seicht beleuchteten Gang im siebten Stock. Die Fette Dame brummte lediglich, als das Bild hinter ihr wieder zuschlug. Obwohl es bereits September war, war es warm genug im Schloss, dass Mary ohne ihren Umhang nicht fror. Sie war sich sehr wohl bewusst, dass sie die Ausgangssperre gerade brach, aber war der Meinung, dass das am ersten Tag nicht sonderlich schlimm war. Wenn sie in jemanden hineinlaufen würde, dann könnte sie sicher eine Ausrede zusammenspinnen. Kopfschmerzen klappten immer.
Als Mary die Gänge langsam entlang wanderte und immer mal wieder den Mondschein vor den großen Fenstern zu Gesicht bekam, beruhigte sich ihr Atem. Sie hatte so sehr daran gedacht, dass alles, was sie tat, ihr das Leben schwer machen würde, dass sie gar nicht realisiert hatte, wie schön es abends war, wenn der Mond den Rasen vor dem Schloss in weißes Licht tauchte, wenn der Schwarze See wie ein Spiegel lag und wenn der Verbotene Wald sich wie eine Einheit im sanften Wind der Nacht wiegte. Im Schloss war es nie ganz dunkel, nie ganz abgedichtet, sodass sie im sanften Schein einer niederbrennenden Fackel den schwachen Wind genoss, der durch eine Ritze im Gemäuer auf ihr Gesicht fiel. Es war angenehm und erholsam und wirkte Wunder gegen ihre wirren Gedanken. Wenn Mary könnte, dann würde sie einen sanften, erholsamen Wind einfach in eine Flasche füllen und mit sich tragen. Merlin wusste, dass sie es gebrauchen konnte.
Je länger sie allein durchs fast dunkle Schloss wanderte, einen Fuß langsam vor den anderen setzte und sich nicht kümmerte, ob sie Geräusche verursachte, desto eher verstand sie, was sie Jungs aus ihrem Jahrgang so sehr daran fanden, nachts aus dem Gemeinschaftsraum zu schleichen. Sie hatte sie für die typischen Idioten gehalten, die einfach nur gerne Regeln brachen, doch sie verstand. Das Schloss am Tag war gänzlich anders. Es war laut, es war voll, es war immer etwas los. Nachts schliefen alle. Nachts konnte Mary die Gänge so langsam entlangwandern, wie sie wollte, ohne dass jemand sie anrempelte, ohne dass jemand aus dem Mundwinkel: „Schlammblut“, flüsterte. Ohne, dass jemand sie nicht wirklich wahrnahm.
Als sie in einen Gang im vierten Stock einbog, realisierte sie allerdings, dass sie nicht allein war. Das unmissverständliche Echo von Stimmen wehte ihr entgegen, zusammen mit dem abendlichen Wind, der durch die Gänge fegte. Sie konnte nicht ausmachen, wer dort redete, aber sie konnte zumindest, dass sie in der Nähe waren. Gerade noch überlegte sie, ob sie umdrehen oder sich in eine Klassenzimmer flüchten sollte, als ein schmaler Lichtstrahl um die Ecke fiel. Dem Licht folgten zwei paar Füße und weitere Stimmen.
„ – haben die Schlammblüter doch niemals kommen sehen. Die würden nicht mal mitbekommen, wenn ihnen Thestral-Scheiße ins Gesicht fliegt.“
„Liegt aber auch daran, dass die genauso dumm wie Muggelabschaum sind.“
Mary erkannte die beiden sofort als Mulciber und Avery aus Slytherin und verfluchte sich, dass sie nicht einfach irgendwo Zuflucht gesucht hatte.
Mulciber erkannte Mary ebenfalls und blieb abrupt stehen. Licht fiel aus der Spitze seines Zauberstabes, den er vor sich gestreckt hielt, sodass der Großteil seines kantigen Gesichtes im Halbschatten lag. „Wenn man davon redet.“
„Ein Schlammblut“, sagte Avery langsam. „Was machst du hier?“
„Das könnte ich euch auch fragen“, erwiderte Mary mit lauter Stimme. Vielleicht würde sie Glück haben und einen Lehrer alarmieren können, bevor diese Slytherin-Idioten noch auf dumme Ideen kamen. Von Lily hatte sie oft genug gehört, was das für Typen waren und gesehen hatte sie es auch. Das waren Typen, die es witzig fanden, wenn im Propheten wieder etwas von Angriffen auf Muggel stand. Das waren außerdem Typen, die die dunkle Magie fast schon wie Magnete anzuziehen schienen. Mary wollte nicht wissen, was für widerwärtige Magie die beiden bereits beherrschten und noch weniger wollte sie es am eigenen Leib erfahren. Noch während sie redete, zog sie den Stab hervor.
Ein unschönes Lächeln zeigte sich auf Mulcibers grobschlächtigen Zügen. „Ich glaube, wir haben zuerst gefragt. Außerdem haben wir wesentlich eher ein Anrecht darauf, in dieser Schule zu sein, Macdonald. Immerhin haben wir keinen Dreck in den Adern.“
„Dafür im Hirn“, sagte Mary, bevor sie sich daran hindern konnte. Sie presste die Lippen zusammen.
Mulciber lachte leise. „Du bist ganz schön frech für ein Schlammblut.“
„Vielleicht sollten wir ihr eine Lektion erteilen“, meinte Avery. „Dann lernt sie vielleicht, die Obrigkeit zu respektieren.“
Mary konnte ihr Schnauben nicht verhindern. „Obrigkeit“, sagte sie leise. „Damit meinst du hoffentlich nicht dich selbst. Dein ganzer Stammbaum ist rund wie ein Kreis. Sind deine Eltern nicht Geschwister?“ Sie hatte keine Ahnung, warum sie das sagte, aber sie wusste, sie würde sicherlich nicht kleinbeigeben. Diese Reinbluttrottel, von denen sie viel zu viel gehört hatte, wussten einfach nicht, was sie sagten. Sie hatte von Sirius genug mitbekommen, um zu wissen, dass die meisten Familien aus diesem Heiligen Zirkel oder wie auch immer die sich nannten, nicht vor Inzucht zurückschreckten. Sirius´ eigene Eltern waren Cousins, deswegen hatte sie auch nie an seinen Worten gezweifelt.
Selbst im schwachen Licht konnte sie erkennen, wie Averys blasse Haut puterrot anlief. Er zückte seinen Zauberstab und deutete ihn mit zitternder Hand auf sie. „Das nimmst du sofort zurück, du widerliche Missgeburt!“
Mary kannte die Theorie eines Schutz-Zaubers und hoffte, dass sie ihn auch umsetzen konnte. „Zwing mich doch dazu“, sagte sie.
„Stupor!“, schrie Avery.
„Protego!“, rief Mary im gleichen Moment aus.
Ein rot blitzender Zauber schoss aus Averys Stab, sirrte wie ein verirrtes Gewitter durch den Korridor, bis er schließlich gegen Marys kaum sichtbaren Schutzschild krachte und in einem Unheil an Funken und Licht zerbarst. Marys Schild schwankte, stand aber noch.
Erstaunt von ihrer eigenen Leistung blickte sie erst auf ihren Schild, dann nach vorn zu den beiden Slytherins. Ein gewinnendes Lächeln breitete sich auf ihren Lippen aus. Das warme Gefühl der Party war Verschwunden, Vergessen waren ihre dummen Gefühle für James, die alles nur verhunzten. Stattdessen floss Hochmut durch ihre Venen, wie die kraftvolle Magie, mit der sie gerade den Fluch abgewehrt hatte. Mary fühlte sich unendlich. „Ist das alles, was du draufhast? Wo ist denn diese Macht, die nur den Reinblütern zuteil sein soll?“
„Nicht schlecht“, sagte Mulciber. „Ein passabler Schildzauber. Für eine Drittklässlerin kein einfaches Unterfangen. Man könnte fast meinen, du wärst talentiert, Schlammblut.“ Er hob eine Hand, als wollte er ihr zuwinken. „Siehst du den Ring?“
Mary wusste nicht, was er von ihr wollte, aber warf dennoch einen raschen Blick auf seine erhobene Hand. Im Licht seines Stabs konnte sie das Aufblitzen von Metall erahnen. Ein schmales Silberring glänzte an Mulcibers Finger, mit einem Stein der Mitte, dessen Farbe sie nicht ausmachen konnte. „Was soll das sein? Dein Ehering?“
Ein kühles Lachen entkam ihm. „Natürlich nicht. Das ist ein Symbol meines Blutes. Es zeichnet mich als Mitglied einer sehr hochangesehenen Familie aus. Nicht, dass du davon etwas verstehen würdest, Macdonald. Du kannst nur davon träumen, dass irgendjemand mal deinen Namen kennen wird, wohingegen meiner in den Körper aller verankert ist, die etwas auf sich halten.“
„Lieber bin ich unbekannt, als nur deswegen bekannt zu sein, weil ich ein ignorantes Arschloch bin, das zu viel auf seine Herkunft gibt“, entgegnete sie.
„Du solltest wirklich lernen, wie du mit Reinblütern redest“, zischte Avery, der seinen Stab erneut erhob. „Andernfalls –“
Mulciber drückte mit seiner Ring-Hand Averys Arm herunter. „Ganz ruhig, Nestor. Das arme Schlammblut kann ja nichts dafür, dass es nicht weiß, was gut ist. Der ganze Dreck in ihren Adern muss ihr schwer zu schaffen machen.“
Mary biss sich heftig auf die Zunge und schmeckte Blut. Wutentbrannt ballte sie die Hände zu Fäusten, wodurch sich ihr Stab fest in ihre Haut drückte. Ihre Knöchel traten heller gegen ihre dunkelbraune Haut hervor. „Es wäre besser, wenn ihr verschwinden würdet“, sagte sie leise. „Professor McGonagall war auf dem Weg in den Gemeinschaftsraum und sie würde es sicher nicht gutheißen, dass ihr außerhalb eurer Betten seid.“
Ein kalkulierter Blick fiel auf Mulcibers Gesicht. „Eine schöne Geschichte, wenn sie doch nur stimmen würde.“ Mary gefror das Blut in den Adern. „Zufällig habe ich McGonagall im ersten Stock gesehen, wie sie in die Eingangshalle hinuntergelaufen ist. Es gab dort wohl einen kleinen Tumult.“
Das Lächeln, das auf seinen Lippen lag, ließ Mary frösteln. Sie konnte es zwar nicht beweisen, aber sie war sich sicher, dass er etwas damit zu tun hatte. „Was wollt ihr hier?“, fragte sie in dem Versuch, ihrer Stimme Mut zu verleihen. Der Gryffindor-Löwe, der normalerweise in ihr brüllen sollte, hatte bisher kaum mehr als gewimmert. Sie wusste, dass sie es in einem Duell nicht lang aushalten würde, schon gar nicht, wenn Mulciber ernst machte. Aus Verteidigung gegen die dunklen Künste wusste sie, dass er ein guter Duellant war, der einige fiese Tricks beherrschte. Und sie konnte sich definitiv sicher sein, dass er nicht fair spielen würde.
„Ich wüsste nicht, was dich das angeht, Macdonald. Es sei denn, du möchtest dich unserem abendlichen Spaziergang anschließen? Ich bin sicher, wir finden eine nette, ruhige Stelle, nur für uns und dann kannst du dich ein wenig nützlich machen. Muggel, so habe ich gehört, gehen äußerst gern auf die Knie, wenn man ihnen ein wenig nachhilft.“
Ein fieses Gackern entkam Avery.
Mary ballte die Hände fester zusammen. „Du bist ein widerliches Schwein“, sagte sie. „Ich will jetzt sofort wissen, was ihr vorhabt, ansonsten –“
„Crucio!“, rief Mulciber und ein gleißend heller Lichtblitz brach aus seinem Stab und raste mit unfassbarer Geschwindelt auf sie zu.
„Depulso!“
Statt von Mulcibers Fluch getroffen zu werden, wurde Mary aus dem Weg gestoßen und fiel unsanft einige Meter zur Seite, wo sie das Gleichgewicht verlor und zu Boden ging. Kaum war sie aufgekommen, rappelte sie sich wieder auf.
„Nur ein Feigling greift jemanden mitten im Satz an“, ertönte eine Stimme hinter Mary, die sie nicht zuordnen konnte.
Mulcibers Gesicht wurde rot mit Wut. „Du scheinst dich erholt zu haben“, sagte er zwischen zusammengebissenen Zähnen.
„Amateurarbeit“, erwiderte die Stimme und einen Augenblick später kam jemand neben Mary zu stehen.
Sie drehte den Kopf und erblickte ein Mädchen mit schulterlangen blonden Haaren, die in leichten Locken endeten, einem recht scharfkantigen Kinn und einer Nase die aussah, als wäre sie erst vor Kurzen gebrochen worden. Außerdem einem Paar von hellen grünen Augen, mit denen sie Mulciber anfunkelte, als wollte sie ihn mit einem Blick erdolchen.
„Du hast wohl noch nicht genug, du Freak“, zischte Avery mit leiser Stimme. „Willst wohl, dass ich noch mal auf deine hässliche Fratze trete.“
„Lieber nicht. Wer weiß, was für Krankheiten du mit dir bringst“, sagte Marys Retterin. Mit einem Blick zu ihr fügte sie an: „Das war ziemlich knapp.“
„Ja. Danke.“
„Liebend gern.“ Mit erhobenem Zauberstab ging sie einen Schritt vor. „Also. Wer von euch will dieses Mal in einem fairen Duell verlieren?“
Mulciber spuckte auf den Boden. „Dass du es noch wagst, uns anzusprechen.“
„Ich würde die Stimme unten halten. Professor McGonagall war nicht sehr begeistert, als ich ihr gesagt habe, ein paar Slytherins haben mich auf dem Weg in den Gemeinschaftsraum angegriffen haben. Ich bin mir sicher, dass sie gerade merkt, dass ihr noch nicht in euren Schlafsälen seid.“
Blässe ließ Averys Gesicht in der sanften Dunkelheit strahlen. Er zischte, als hätte er sich verbrannt. „Lass uns abhauen, Ennis.“
„Halt den Rand“, erwiderte Mulciber scharfzüngig. „Ich lasse mir sicher keine Angst von einem Freak und einem Schlammblut einjagen.“
Freak … Mary wurde unweigerlich an Lilys schreckliche Schwester erinnert, die dieses Wort liebend gerne verwendete. Was Mulciber wohl sagen würde, wenn er wüsste, dass er etwas mit einem Muggel gemeinsam hatte? „Das würde ich mir zwei Mal überlegen.“ Mary drehte ihren Arm, sodass ihr Stab wieder auf sein Gesicht deutete. „Ein zweites Mal lasse ich mich von dir nicht überrumpeln.“
Dazu sollte es gar nicht ersten kommen. Klackende, eilige Schritten wurden laut und eines erkannten die vier Schüler direkt – sie kamen in diese Richtung.
Mulciber und Avery tauschten einen raschen Blick, dann löschte Mulciber das Licht an seinem Stab. „Sieh dich vor, Schlammblut“, zischte er ein letztes Mal in Marys Richtung, bevor er seinen Kumpel grob an der Schulter packte und die beiden mit lauten Schritten verschwanden.
„Hier rein“, sagte Mary schnell, als Mulciber verschwunden war, ließ eine verschlossene Klassenzimmertür zu ihrer Linken auffliegen und eilte mit der unbekannten Schülerin hinein. Sie schloss die Tür wieder hinter ihnen und lauschte, konnte allerdings keine Schritte mehr hören. Sie nutzte den Moment und holte tief Luft, bevor sie sich wieder zu ihrer Retterin wandte. „Ich fürchte, ich kenne deinen Namen nicht.“
Ihr gegenüber lächelte die Schülerin. „Das würde mich auch wundern, immerhin hab ich ihn mir diesen Sommer erst ausgesucht. Ich heiße Alana.“
Mary zog die Augenbrauen zusammen. „Was soll das denn heißen? Ist das so ein Zaubererbrauch, den ich wieder nicht kenne?“
Alana lachte. „Nein. Oder zumindest glaube ich nicht, dass es das ist.“ Sie betrachtete Mary für ein paar Sekunden, als würde sie erwägen, ob sie sprechen konnte, dann fügte sie an: „Ich bin trans.“
„Trans?“ Mary fühlte sich veräppelt. Wovon bitte redete diese Alana und was sollte das alles überhaupt heißen?
Alanas Miene verdunkelte sich ein wenig. „Es überrascht mich nicht, dass du nicht weißt, was das ist. Man tut sehr viel dafür, dass so wenig Leute wie möglich überhaupt gut darüber Bescheid wissen.“
„Okay?“, sagte Mary. „Was ist dieses Trans denn nun?“
„Es heißt, dass ich mich nicht in dem Geschlecht wohl fühle, das mir bei der Geburt zugesagt wurde. Ich war die letzten Jahre als Junge sehr unglücklich, aber jetzt habe ich die ersten Schritte genommen und bin ein Mädchen.“
„Einfach so?“, fragte Mary erstaunt, die noch nie etwas davon gehört hatte. Das einzige, was sie in die Richtung kannte, waren die Drag Queens, die Männer, die sich wie Frauen schminkten und dann im Theater auftraten. Ob das irgendwie dasselbe war?
„Naja, so einfach ist es nicht“, sagte Alana. „Ich musste erstmal meine Eltern davon überreden, aber ich hab ziemliches Glück, dass sie mich dabei unterstützen. Jedenfalls hab ich jetzt einen neuen Namen und Professor Dumbledore hat dafür gesorgt, dass ich in den Schlafsaal ziehen kann, der mir am besten zusagt, aber ich schätze, diese beiden Neandertaler aus Slytherin haben davon Wind bekommen und wollten mir unbedingt ihre Meinung dazu mitteilen.“ Sie schnaubte, ehe sie das Gesicht zur Grimasse verzog und sich mit vorsichtigen Fingern an die Nase fasste.
Mary erinnerte sich daran, was Mulciber gesagt hatte. „Dann warst du der Tumult? In der Großen Halle?“
„Nicht freiwillig. Ich war auf dem Weg in den Gemeinschaftsraum, als die beiden mich angegriffen haben. Da hab ich auch das her“, fügte sie und deutete auf ihre gekrümmte, gerötete Nase.
„Autsch.“
„So schlimm ist es nicht“, wehrte Alana ab. „Ich geh morgen zu Pomfrey und dann richtet sie das. Hab sowieso einen Termin mit ihr.“
Mary zog die Augenbrauen. „Ich wusste nicht, dass man Termine mit der Schulheilerin machen kann.“
Alana lachte leise. „Mein Fall ist etwas besonders, schätze ich. Oder zumindest ist es besonders, wenn man bedenkt, dass ich die erste bin, die es öffentlich macht.“
So ganz hatte Mary nicht verstanden, was Alana da überhaupt sagte, aber sie vermutete, sie würde ihr keine Lügen erzählen, wenn es etwas so persönliches wäre. Außerdem hatte sie sie vor dem Fluch gerettet und das war alles, was für Mary wirklich zählte. Sie lauschte für einen Moment in die Nacht, konnte aber keine Schritte mehr hören. „Ich sollte zurück. Meine Freunde fragen sich bestimmt, wo ich bleibe.“
„Oh, richtig.“
Mary blickte Alana für einen Moment an, auch wenn sie sich nicht sicher war, was sie suchte. Jetzt, wo sie wusste, dass Alana ein Mädchen war, fand sie es seltsam, dass sie es nicht vom ersten Augenblick an gesehen hatte, schüttelte den Gedanken aber ab. Sicherlich wäre es nicht das beste Gesprächsthema, was sie andeuten könnte. Ihr Blick fiel auf ihre offensichtlich verletzte Nase und Mary zog die Augenbrauen dichter zusammen. „Soll ich dich in deinen Gemeinschaftsraum begleiten? Wer weiß, ob Mulciber nicht wieder irgendwo lauert.“
Ein Lächeln schlich sich auf Alanas Gesicht, eine beinahe schon sanfte Geste, die Mary von der groben Verletzung ablenkte, die das Gesamtbild störte. Obwohl das Klassenzimmer in Dunkelheit getaucht war, konnte sie das Glitzern in den Augen ihres Gegenübers sehen. „Glaubst du, ich könnte mich allein nicht zurechtfinden?“ Die freundliche Herausforderung in Alanas Stimme entging Mary nicht.
„Ganz und gar nicht. Ich will nur sichergehen, dass ich mich revanchieren kann, dass du mir geholfen hast.“
„Das Schuljahr hat grad begonnen“, erwiderte sie. „Ich bin sicher, du findest eine Möglichkeit.“
Chapter 35: 35. Jahr 3: Endlose Wege
Chapter Text
Das Frühstück war in Hogwarts noch nie eine ruhige Sache gewesen und so war auch das erste Frühstück des ersten offiziellen Schultages nicht davon befreit, mindestens eine laute Unterhaltung (am Hufflepuff-Tisch unterhielten sich zwei Viertklässler so ausschweifend über die kommende Quidditch-Saison, dass sie die ganze Halle ruhig gestellt hatten) oder einen Streit (am Slytherin-Tisch gab es eine lautstarke Auseinandersetzung darüber, dass ein Zweitklässler einer Sechstklässlerin Kürbissaft in den Schoß gekippt hatte) vorzuweisen. Während die Halle in ihrem üblichen Chaos verging, studierte James den neuen Stundenplan, den Professor McGonagall ausgeteilt hatte und verglich ihn mit dem von Sirius
„Ich kann nicht glauben, dass du uns im Stich lässt, Remus“, sagte er zum wiederholten Male, während Sirius versuchte, sein Frühstück zu genießen. „Ich meine, erst nimmt Sirius kein Wahrsagen“, James warf Sirius einen giftigen Blick zu, den dieser geflissentlich ignorierte, „womit er mir offensichtlich in den Rücken fällt, nein, dann musst du auch noch daherkommen und die langweiligsten Fächer wählen, die angeboten werden. Und warum bitte hast du gleich drei Wahlfächer, wenn wir nur zwei nehmen mussten?“, fügte er empört klingend hinzu.
„Zwei ist das Minimum, James. Das wüsstest du, wenn du alles gelesen hättest, was man uns zu den Wahlfächern letzten Sommer gegeben hätte“, erwiderte Remus ohne aufzublicken.
„Also wirklich“, murrte James.
Sirius klopfte James auf die Schulter, bevor er sich seinen Stundenplan aus dessen Fingern schnappte. „Stell dich nicht so an, Potter.“
James wand sich aus seiner Berührung. „Ich glaube, ihr versteht alle die Größe der Situation nicht.“
„Wir verbringen doch sonst auch jeden Tag miteinander“, fügte Peter vorsichtig an, „dann kann es doch egal sein, ob Remus eine Stunde mehr oder weniger hat, oder?“
„Das ist überhaupt nicht der Punkt!“
Remus seufzte leise, ehe er von seinem Frühstück aufblickte, über den Tisch nach James´ Hand griff und sie fest drückte. „Du musst stark sein, James. Vielleicht werde ich nur dreiundzwanzig der vierundzwanzig Stunden am Tag mit dir in einem Raum sein. Ich weiß, das ist schwer für dich zu verkraften, aber du musst da jetzt durch.“
„Ihr könnt mich mal“, murmelte James mit roten Ohren, zerrte seine Hand hervor und verschränkte die Arme, als seine Freunde lachten. „Ich will nur sichergehen, dass keiner von uns einsam ist.“
„Das ist herzallerliebst, aber ich kann dir versichern, dass wir das überleben werden.“
Sirius konnte kaum mehr als die Augen über James verdrehen. Es war fast schon süß, wie sehr James sich dagegen wehrte, dass sie alle ihre eigenen Wege gehen würden, und sei es nur für eine Schulstunden. Beinahe erwartete er, dass James zu Professor McGonagall laufen und seinen Stundenplan anpassen würde, nur damit er in jedem Kurs war, den seine Freunde auch gewählt hatten. Er würde es ihm auf jeden Fall zu trauen.
„Was haben denn deine Eltern zu deinem Wahlfach gesagt, Sirius?“, fragte Peter, nachdem James grummelnd angefangen hatte, sein Frühstücks-Ei zu köpfen. „Ich meine, sie müssen gefragt haben, oder?“
„Sie haben eher verlangt, dass ich die Fächer nehme, die sie von mir erwarten“, erwiderte er. „Alte Runen und Wahrsagen.“ Er schüttelte sich, wenn er daran dachte, wie sein Vater ihm von den vielen Blacks erzählt hatte, die in diesen Fächern große Dinger erreicht hatten. „Aber keine Sorge, ich hab natürlich nicht das genommen, was sie von mir wollten.“
„Er hat mich nämlich verraten“, murmelte James.
Sirius überging ihn. „Das ist auch schon mit Professor McGonagall abgesprochen. Ich hab ihr erzählt, dass meine Eltern es nicht annehmen würden, wenn ich etwas anderes wähle, also haben wir abgemacht, dass auf meinem Zeugnis Muggelkunde durch Wahrsagen und Pflege magischer Geschöpfe durch Alte Runen getauscht wird, damit sie keinen Verdacht schöpfen.“ Er grinste. „Es war sogar Gonnies Idee.“
Überrascht blickte Remus ich an. „McGonagall hat das vorgeschlagen?“
„Jup. Ich schätze, sie kann sich denken, was meine Eltern sagen würden, wenn sie wüssten, dass ich Muggelkunde wähle, also …“ Er zuckte mit den Schultern und ließ den Rest ungesagt. Jeder hier konnte ganz genau sagen, was wie Walburga Black reagieren würde, wenn sie erführe, dass ihr Erstgeborener sich für Muggel interessierte.
„Nun“, meinte Remus langsam, der versuchte James´ Blick aufzufangen, vielleicht um eine Art stummer Kommunikation durchzuführen, damit sie etwas bereden konnten, das Sirius nicht hören sollte. „Das sind gute Neuigkeiten.“
James, der wie gebannt auf seinen Stundenplan starrte, hob schließlich den Blick. „Ich kann dir meine Notizen kopieren“, sagte er langsam. „Falls deine Eltern genaues wissen wollen.“
Ein warmes, dankbares Gefühl machte sich in Sirius´ Brust breit. „Danke.“
Die erste Doppelstunde des Jahres, Verwandlung, war schneller vorbei, als Sirius für möglich gehalten hatte. Professor McGonagall hatte beinahe die erste Stunde damit verbracht, die Anwesenheitsliste durchzugehen, die Ergebnisse der Abschlussprüfungen durchzugehen und schließlich hatte sie die erste Wiederholung angesetzt. Eine Maus in eine Schnupftabakdose zu verwandeln war für Sirius mittlerweile kinderleicht. Der Tutor, den seine Eltern angeheuert hatten, ein ziemlich drahtiger, schnöseliger Mann, der mit unerträglich nasaler Stimme sprach, war sicherlich keiner, mit dem er länger als fünf Minuten freiwillig verbringen wolle, aber ein Verwandlungsexperte war er wirklich gewesen. Er hatte jede von Sirius´ Fragen beantworten können, hatte jeden Spruch draufgehabt, den Sirius im Buch seines Vaters gefunden hatte. Walburga hatte ihm befohlen, Sirius alles beizubringen, was er wusste. Professor McGonagall hatte Sirius für seine einwandfreie Verwandlung zehn Punkte erteilt.
Es war jedoch die Stunde darauf, auf die Sirius sich eher freute. Zwar hatte er es zu keinem seiner Freunde gesagt, aber er war wirklich gespannt auf Muggelkunde. Sicherlich, ein Teil von ihm hatte Muggelkunde gewählt, weil es das Fach war, was seine Eltern am meisten aufregen würden, aber er interessierte sich wirklich dafür, wie die Muggelwelt funktionierte. Wenn er aus seinem Fenster im Grimmauldplatz Nummer 12 blickte, konnte er nur eine kleine schmutzige Ecke vom Muggel-London sehen, die ihm nie viel über das Leben der Muggel verriet. Überquellende Mülltonnen, ein überwucherter Park und flackernde Laternenlichten konnten nicht alles sein, was Muggel ausmachten, wenn er wusste, wie sehr die Stadt erstrahlen konnte. Seine Eltern hatten nie auch nur ein gutes Wort über ihre aufgezwungenen Nachbarn zu verlieren, deswegen konnte er sie kaum darüber fragen und noch hatte er keine gute Möglichkeit gefunden, sich selbst aus dem Haus zu schleichen und die Gegend zu erkunden.
Muggelkunde würde sein erster, wirklicher Kontakt mit den Muggeln sein und Sirius war hoffnungsvoll, dass er eine Menge über sie lernen würde.
Nach Verwandlung verabschiedete Sirius sich von seinen Freunden und Mary, die allesamt Wahrsagen gewählt und sich jetzt auf in einen der höchsten Türme Hogwarts machten, um vor dem Läuten der Schulglocke das Klassenzimmer zu erreichen. Muggelkunde wurde in einem Zimmer im zweiten Stock unterrichtet, vor dem sich die wenigen teilnehmenden Schüler bereits versammelt hatten. Als Sirius nah genug war, um seine Klassenkameraden zu erkennen stockte er. Neben Marlene, von der er als Reinblut eher erwarten würde, dass sie sich für Muggelkunde interessieren würde, stand Lily.
„Was machst du bitte hier?“, fragte er, als er neben beiden stehen blieb. Es schien, als hätte ein Großteil der Drittklässler Wahrsagen gewählt, denn zusammen mit Sirius, Marlene und Lily waren sie kaum zehn Leute.
„Das könnte ich dich fragen, Black“, sagte Lily mit zusammengezogenen Brauen.
„Ich möchte etwas über Muggel erfahren. Du hingegen bist muggelstämmig, was willst du also in Muggelkunde?“
Lilys Wangen wurden ein wenig dunkler, als sie mit leiser Stimme antwortete: „Es interessiert mich, wie die Hexen und Zauberer über Muggel denken.“
„Wenn man sich uns Reinblüter mal so ansieht, dann sollte Muggelkunde eigentlich Pflichtfach sein“, stellte Marlene fest. „Ich war schon oft in Muggelstädten oder -gegenden unterwegs, aber ich habe noch immer keine Ahnung, wie die eigentlich ohne Magie alles hinbekommen.“
„Und ich bin mir sicher, ich kann euch sagen, woran das liegt“, murrte Lily.
„Ich weiß, ich weiß, am schlechten Licht, das Zauberer auf Muggel werfen“, seufzte Marlene, tätschelte Lilys Arm und blickte zu Sirius. „Eigentlich ist es Lilys Schuld, dass ich überhaupt Muggelkunde genommen habe, ansonsten hätte ich wahrscheinlich auch Wahrsagen gewählt.“
Die Röte in Lilys Wangen wurde noch ein wenig dunkler. „Ich habe nur gesagt –“
„Dass ich mir meinen Privilegien bewusst werden sollte, ja doch, Lily. Ich weiß.“ Marlene grinste sie an. „Ist doch gut, ich bin ja hier und bereit zu lernen.“
„Ich hoffe, das bist du auch, Black“, sagte Lily. „Ich will nicht, dass du den Unterricht mit irgendwelchen dummen Streichen oder was auch immer störst.“
Sirius hob abwehrend die Hände. „Ganz ruhig, Evans, ich bin hier, um zu lernen.“
Lily verengte die Augen. „Das will ich für dein Wohl hoffen.“
Zu mehr Drohungen kam Lily nicht, denn einen Augenblick später wurde die Tür vom Klassenzimmer von innen aufgeschlossen. Ein hochgewachsener Mann, den Sirius meinte, bereits ein paar Mal beim Essen gesehen zu haben, erschien im Türrahmen. Er hatte dunkles Haar, das von grauen Strähnen durchzogen war, sowie sonnengebräunte Haut und eine krumme Nase. Mit glänzenden, hellgrünen Augen betrachtete er die Schüler, die vor dem Raum warteten.
„Mehr als ich erwartet hatte“, kommentierte er, ehe er beiseitetrat. „Nun, dann rein mit euch.“
Das Muggelkundeklassenzimmer war der seltsamste Ort, den Sirius bisher gesehen hatte. Die einzige Gemeinsamkeit mit anderen Klassenzimmern waren die große klauenfüßige Tafel am Ende des Raums sowie die dutzenden Tische und Stühle, die in fünf Reihen aufgestellt waren. Regale, Schränke und Vitrinen hingegen waren voll von Objekten, die Sirius noch nie gesehen hatte. Hinter dem Lehrertisch stand ein mannshoher weißer Kasten, der so aussah, als könnte man hineingehen, in einem Regal neben der Tür lagen seltsame runde Lederbälle, die sicherlich noch nie beim Quidditch benutzt wurden, in einer gläsernen Vitrine, die bereits mit Fingerabdrücken verschmiert war, lagen ein paar metallene Gegenstände, eins seltsamer als das andere. Selbst von der Decke hingen komische Dinge, die Sirius komplett fremd waren. Fast schon glaube er, dass er aus Versehen im neuen Laden von Zonkos gelandet war.
Der hochgewachsene Professor hatte sich am Lehrertisch hingestellt, während er wartete, dass die Schüler sich niederließen. Sirius folgte Lily und Marlene in die zweite Reihe, wo er geflissentlich sein Buch und Federkiel auspackte. Dank Professor McGonagall hatte er auch das Lehrbuch für Muggelkunde bekommen können, die es mit seinem nutzlosen Wahrsagebuch getauscht hatte.
„Willkommen im Muggelkunde der Drittklässler. Mein Name ist Keir Lehanan, für alle, die mich noch nie zuvor gesehen haben. Ich fürchte, ich verlasse mein Büro nur selten zur richtigen Zeit.“ Er lächelte gutmütig. „Also. Muggelkunde. Wer von Ihnen kann mir denn sagen, inwiefern Muggel und Zauberer sich unterscheiden?“
Lilys Hand schnellte in dem Moment in die Höhe, in dem Professor Lehanan ausgeredet hatte.
„Ja, Miss …?“
„Evans, Sir. Der einzige Unterschied zwischen Muggeln und Zauberern ist die magische Kraft, die in den Zauberern wohnt, ansonsten sind wir komplett gleich.“
Professor Lehanan betrachtete Lily mit einem nachdenklichen Ausdruck. „Ja und Nein. Wenn ich nach einer äußerst groben Unterscheidung gefragt hätte, dann wäre dies komplett richtig, allerdings muss man wohl dazu sagen, dass die gesamte Geschichte der Muggel und auch der Zauberer enorme Unterschiede nicht nur im Leben sondern auch in der Entwicklung aufweist.“ Er lächelte, als Lily enttäuscht dreinsah. „Damit will ich keineswegs sagen, dass sie falsch in ihrer Aussage liegen, Miss Evans. Allerdings bezieht sich Muggelkunde nicht nur auf die offensichtlichen Unterschiede, wie die fehlende Magie der Muggel, sondern auch auf nicht ganz so einfach zu erkennende Details. Wussten Sie zum Beispiel, dass Muggel eine gänzlich andere Auffassung der Welt und ihrer Gesetzte haben, als wir Zauberer? Das liegt natürlich daran, dass sie versuchen, sich alles zu erklären, während in den Kreisen der Zauberer und Hexen der Ursprung vieler Sachen in der Magie selbst gesucht wird.“ Der Professor verschränkte die Arme hinter dem Rücken, dann begann er langsam vor der ersten Reihe auf und ab zu laufen. „Es gibt noch endlos viele Dinge, die auch wir Zauberer nicht erklären können, weswegen ich es als weitaus unabdingbarer halte, dass wir uns mit den Muggeln zusammentun. Die Kunst der Geheimniskrämerei und des Versteckens mag uns die letzten Jahrhunderte gut geschützt haben, doch sie hat uns auch mit unseren Nachbarn entzweit.“
Die Hand einer Hufflepuff in der ersten Reihe schnellte in die Höhe. „Aber Sir“, sagte sie, bevor sie überhaupt aufgerufen wurde, „ist das nicht der Sinn der ganzen Sache? Wir müssen uns versteckt halten, andernfalls werden die Muggel gierig und stehlen uns die Magie. Mein Dad hat gesagt –“
„Ich bin mir ziemlich sicher, dass Ihr Vater“, unterbrach Professor Lehanan sie, „nicht ansatzweise so viel von Muggeln versteht, wie Sie glauben. Wenn Muggel wirklich in der Lage wären, uns die Magie zu stehen, wie Sie so schön behauptet haben, dann gäbe es eindeutig mehr muggelgeborene Hexen und Zauberer an dieser Schule, nicht wahr? Wie Sie aus dem Geschichte der Zauberei-Unterricht sicherlich wissen, gab es eine Zeit, in der wir Hexen und Zauberer zu Unrecht verfolgt wurden. Muggel, die vor Angst in die Hysterie getrieben waren, haben sich selbst verbrannt, ertränkt oder erhängt, in dem Glauben, Hexerei sei schuld an all den Leiden, die sie erleben mussten. Hexen und Zauberer sind in die Versenkung gegangen, um sich selbst vor diesem Schicksal zu befreien und sind seitdem nicht wieder aufgetaucht. Wer kann mir denn sagen, wieso das der Fall ist?“
Sirius konnte Lily ansehen, dass sie liebend gern etwas sagen wollte, aber sie drückte die Finger in die Holzoberfläche ihres Tisches. Stattdessen hob Marlene ein wenig zögerlich die Hand.
„Ja, Miss…?“
„McKinnon. Marlene McKinnon. Ich bin nicht sicher, ob das stimmt, aber man hat mir mal gesagt, dass die Zauberer nicht an der Öffentlichkeit leben, weil sie nicht wollen, dass Muggel sich auf unsere Magie verlassen.“
„Eine gute Antwort, Miss McKinnon. Hat noch jemand eine Idee?“
Als niemand in der Klasse Anstalten machte, etwas zu sagen, hob Sirius die Hand. Er war sich nicht sicher, ob er sprechen sollte, aber er vermutete, dass er nicht mehr machen konnte, als falsch liegen. In den anderen Fächern hatte er kein Problem, Fakten festzustellen oder Zauber zu erlernen, aber Muggel schienen, zumindest nach den wenigen Erzählungen bisher, fast schon wie eine unbekannte Art Lebewesen, die sie studieren mussten.
„Ja, Mr. Black?“
Es überraschte niemanden, dass Professor Lehanan Sirius kannte. Jeder kannte die Blacks und besonders den berühmten rebellischen Erben. „Das hab ich mal von meinem Vater aufgeschnappt, aber ich glaube, die Zauberer leben gerne in ihrer eigenen Hierarchie und haben Angst, dass die Muggel diese zerstören, sobald sie von uns erfahren würden.“
Professor Lehanan nickte langsam. „Es wundert mich nicht, dass Ihr Vater soetwas denken würden, Mr. Black. Vielen Dank für Ihre Antwort. Noch jemand?“
Erneut wollte niemand etwas sagen, auch wenn Sirius Lily mit dem Ellbogen anstupste. Sie hielt die Finger unten und starrte auf den Tisch.
„Nun gut. Ich will nicht sagen, dass irgendjemand von Ihnen richtig oder falsch liegt, denn soweit ich weiß, gibt es auf diese Frage keine definierte Antwort. Einige Zauberer leben gerne in ihrer eigenen Rangordnung“, sein Blick glitt zu Sirius, „andere wollen nicht, dass man sie für ihre Magie ausnutzt“, dabei sah er zu Marlene, „während wieder andere sich einfach an die Verstecke gewohnt haben und aus diesem Trott nicht ausbrechen wollen. Wir haben Jahrzehnte damit verbracht, unsere Angelegenheiten vor den Muggeln zu verstecken, wir haben mächtige Magien entwickelt, damit wir uns in der Öffentlichkeit verstecken können, da ist es doch nur verständlich, dass einige das nicht mehr aufgeben wollen.“
Sein Lächeln fiel in sich zusammen und der Blick, den er über die Klasse schweifen ließ, wurde düster. „Nicht alle denken, wir sollten weiterhin getrennt von den Muggeln leben, ich denke, das ist offensichtlich. Während ein kleiner Teil der magischen Bevölkerung nach wie vor danach strebt, dass wir irgendwann in Harmonie zusammen leben, gibt es auch einen anderen Teil unserer Welt, der einen weniger friedlichen Weg einschlagen will.“
Auch hier musste keiner der Schüler fragen. Es war offensichtlich, worüber der Professor sprach. Die Angriffe auf Muggel hatten den Sommer über nicht aufgehört und auch wenn der Tagesprophet den meisten kaum noch eine halbe Seite widmete, wussten alle, dass sie nicht weniger bedrohlich geworden waren. Aus dem Augenwinkel konnte Sirius sehen, wie Lily die Hand hob. Ihr Gesicht hatte etwas an Farbe verloren, aber sie hatte einen harten Ausdruck in den Augen, den Sirius immer dann gesehen hatte, wenn sie mit ihm und James geschimpft hatte. Es bedeutete auf jeden Fall nie, dass Lily in guter Stimmung war.
„Sir, stimmt es, was sich erzählt wird? Dass es gezielte Angriffe einer Gruppe sind und keine wahllosen Überfälle, wie es anfangs gewirkt hatte? Der Prophet hat kein Wort darüber verloren, aber ich habe genug gehört, um es mir selbst zusammenreimen zu können.“ Lily presste für einen Moment die Lippen zusammen, dann holte sie tief Luft. „Es sind Angriffe auf Muggel und Muggelgeborene. Jemand will nicht, dass Muggelgeborene weiterhin in der magischen Welt leben können.“
Professor Lehanan blickte Lily mit einem durchdringlichen Blick an. „Darüber sollten Sie sich keine Sorgen machen, Miss Evans. Sie sind offensichtlich eine intelligente Schülerin, allerdings gibt es auch Themen, über die sie nicht nachdenken müssen. Ich versichere ihnen, das Ministerium wird die Schuldigen allzu bald gefangen nehmen und dann können wir alle vergessen, was passiert ist.“
„Aber Sir, sie hat Recht, nicht wahr?“, fragte Marlene mit lauter Stimme. „Das sind gezielte Angriffe. Daran ist nichts zufällig.“
„Miss McKinnon, auch Sie kann ich beruhigen. Das ist nichts, was das Ministerium nicht handhaben kann. Solche Geschehnisse sind vielleicht angsteinflößend, aber auch nichts komplett Neues.“ Professor Lehanan machte eine ausladende Geste mit der Hand. „Es gibt genügend Krisen in der Zaubererwelt, um die Sie sich wirklich Sorgen machen sollte, aber ich versichere Ihnen, diese gehört nicht dazu. Also. Sollen wir dann mit dem Unterricht weitermachen?“
Sirius war sich ziemlich sicher, dass diese Angriffe keine Kleinigkeit waren. Mittlerweile gingen die doch schon seit fast zwei Jahren so, hätte das Ministerium den oder die Zuständigen nicht schon längst schnappen sollen? Er wollte gerade die Hand heben, um genau das zu sagen, als er eine vorsichtige Berührung an der Seite verspürte. Lily hatte ihn mit dem Ellbogen angestoßen und schüttelte den Kopf, als er zu ihr blickte. „Nicht“, formte sie mit dem Mund.
Er setzte einen fragenden Blick auf.
Lily lächelte trüb. „Ist es nicht wert“, flüsterte sie, ehe sie sich wieder nach vorn drehte und dem Professor zuhörte, der ihr erstes Thema erklärte.
Sirius wollte eigentlich nicht so einfach aufgeben, aber konnte an Lilys Blick erkennen, dass sie es ernst meinte. Es war kein harter Blick, kein Ich-werde-euch-McGonagall-anschwärzen-Blick, sondern ein resignierter, der ihm verriet, dass es nicht das erste Mal war, dass Lily das gehört hatte. Lautlos seufzend wandte er sich auch dem Professor wieder zu. So hatte er sich seine erste Stunde Muggelkunde jedenfalls nich vorgestellt.
***
Nachdem die Glocke das Ende der Stunde eingeläutet hatte, hatte Sirius sich ein Urteil gebildet. Muggel waren interessant und was sie alles in Muggelkunde lernen konnten, war noch wesentlich interessanter, allerdings war er noch immer nicht von ihrem Professor überzeugt. Er schien sich vollends bewusst zu sein, was in der Welt vor sich ging, schien es aber auch für das Beste zu halten, seinen Schülern die Wahrheit zu verschweigen und sie daran zu hindern, sich zu sehr damit auseinanderzusetzen. Sirius fand das dumm. In knapp zwei Monaten wäre er vierzehn Jahre alt, das war in seinen Augen alt genug, um sich mit solchen Themen zu befassen, zumal sie ihn und seine Klassenkameraden sehr wohl betrafen.
Auf dem Korridor blieb er stehen und wartete auf Lily, die ihr Lehrbuch an die Brust gedrückt hatte und mit langsamen Schritten als Letzte das Zimmer verließ. „Hey, eh, Lily? Geht es dir gut?“, fragte er vorsichtig, womit er nicht nur einen überraschten Blick von Marlene erntete, die ebenfalls auf Lily gewartet hatte.
„Ja, sicher“, antwortete sie und lockerte den Griff um ihr Buch ein wenig. „Wieso?“
Unruhig trat Sirius von einem auf den anderen Fuß. Er war es mehr gewohnt, sich mit Lily und den anderen Mädchen zu kabbeln, anstatt richtige Unterhaltungen mit ihnen zu führen, geschweige denn über Themen wie diese. „Du sahst aus, als würde dich das bedrücken.“
Lily seufzte leise, ehe sie mit den Schultern zuckte. „Schon gut, ich erwarte nicht, dass du das verstehst.“
„Versuch es mir zu erklären. Ich kann wirklich gut zuhören.“
Kopfschüttelnd erwiderte sie: „Musst du nicht zu deinen Freunden? Die warten sicher schon sehnsüchtig.“
„Die halten es aus. Komm schon, Evans, rede mit uns.“
Marlene, die Sirius mit einem nachdenklichen Blick betrachtet hatte, sah jetzt auch zu Lily. „Wirklich, Lily, ich finde, das solltest du annehmen. Wer weiß, wann Sirius noch mal eine menschliche Phase hat?“
Sirius streckte ihr die Zunge raus.
Lily lächelte kopfschüttelnd. „Das ist wirklich lieb, aber ich glaube wirklich nicht, dass ihr das versteht.“
„Dann erklärst du es eben ganz genau“, sagte Sirius, nahm ihr das Buch aus den Händen und hakte sich bei Lily unter. „Komm schon, Evans, der Weg zum Mittag ist lang genug, damit du mir alles erzählen kannst, was dich bedrückt.“
„Also wirklich, Sirius“, murmelte sie, aber lächelte noch immer. Sie hatten es ein paar Schritte weit geschafft, als Lily erneut den Mund öffnete. „Es ist nur so, dass ich nicht verstehe, wie Professor Lehanan sowas sagen kann, wenn er doch weiß, dass es genug muggelgeborene Schüler an Hogwarts gibt, die das betrifft. Ich meine, einer der Angriffe von letztem Jahr“, fügte sie mit zitternder Stimme an, „der war so nah an meiner Heimatstadt, dass ich damals schon Panik bekommen hab.“
Sirius runzelte die Stirn. Er erinnerte sich an die Angriffe und die Nachrichten im Propheten, aber konnte sich nicht daran erinnern, Lily aufgewühlt gesehen zu haben. Vielleicht hatte er es einfach nicht mitbekommen, dachte er. „Aber deinen Eltern geht es gut, oder?“
„Oh, ja. Ja, ihnen geht es gut. Sie wissen nicht, dass das … also, dass überhaupt etwas los ist. Das konnte ich ihnen nicht sagen“, fügte Lily leise an. „Ich wollte nicht, dass sie sich unnötig Sorgen machen oder mich nicht mehr zurückkommen lassen.“
„Deine Mum hätte dich nie von Hogwarts ferngehalten, Lily“, meinte Marlene, für die diese Information wohl auch neu war. Sie und Sirius tauschten einen raschen Blick miteinander.
„Ich weiß. Oder zumindest hoffe ich das. Aber … aber ihr habt diese Sorge nicht. Ihr wisst nicht, wie das ist, wenn man den Propheten am Morgen öffnet und hofft, nicht den Namen eurer Heimat zu lesen.“
„Oh.“ Unschlüssig blieb Sirius stehen, womit er Lily und Marlene zwang ebenfalls stehen zu bleiben. Durch die Fenster im Korridor fiel Sonnenlicht und wärmte ihre Gesichter, auch wenn ein eiskalter Schauer Sirius´ Rücken hinablief. „Ich wusste nicht, dass das … ich meine, ich wusste nicht, dass es so schlimm ist.“
Lily presste die Lippen zusammen und wandte das Gesicht ab. „Es ist weniger geworden, glaube ich. Oder vielleicht kommt es mir so vor, weil die Nachrichten kleiner sind, aber ich habe trotzdem Angst, meinen Stadtnamen zu lesen und wieder nicht zu wissen, ob es meiner Familie gut geht. Ich weiß, dass es so aussieht, als wären es einfach nur zufällige Angriffe und es würde nicht zusammenhängen, aber daran glaube ich nicht. Wenn ich sehe, wie Leute wie Mulciber und Avery sich aufführen, dann glaube ich, dass sie es auch wissen.“
Eine vage Erinnerung an Mulciber und Avery bei der Weihnachtsfeier der Malfoys erschien vor Sirius´ innerem Auge, aber er konnte nichts davon zuordnen. Der Fluch seiner Mutter lastete zu sehr auf seinem Gedächtnis, als dass er wirklich wüsste, was passiert war. „Haben die was gesagt?“, fragte er mit angestrengter Stimme. „Oder etwas angedeutet?“
Kopfschüttelnd erwiderte Lily: „Nein, das nicht, aber jedes Mal, wenn im Propheten letztes Jahr eine Mitteilung war, dann hab ich es an ihren Gesichtern gesehen. Sie fanden es gut. Sie fanden es richtig.“
„Die beiden sind Widerlinge“, meinte Marlene. „Du solltest nichts darauf geben, was die sagen oder denken, Lily. Sie sind vollkommen versessen auf ihren Blutstatus und ihren Nachnamen.“
„Da sind sie nicht die einzigen“, murrte Sirius mit Gedanken an Regulus, mit dem er seit dem Ende der Sommerferien kein Wort mehr geredet hatte. Er wusste nicht genau, wie sehr sein Bruder in die Blutversessenheit seiner Eltern gefallen war, aber er wusste ganz genau, dass es einiges an Arbeit kosten würde, ihn da wieder rauszuholen. Wenn er es überhaupt noch wollte.
Lily seufzte. „Manchmal hab ich das Gefühl, dass die Zaubererwelt einfach noch kein Platz für mich ist. Ich liebe es hier“, fügte sie rasch an, als sowohl Sirius als auch Marlene den Mund zum Protest öffneten, „aber ihr könnt mir nicht erzählen, dass jeder hier so offen ist, wie ich es mir vorgestellt hatte. Ich meine, wisst ihr überhaupt, wie oft ich mir anhören darf, dass ich hier nicht hergehöre, wenn ich zwischendurch kurz aufs Klo gehe? Schüler, mit denen ich noch nie was zu tun hatte, murmeln mir zu, ich solle zurück in die Muggelwelt gehen.“
Sirius fühlte sich, als hätte man ihm mehrere Ohrfeigen hintereinander verpasst. „Was?“
„Das dachte ich mir“, sagte Lily mit traurigem Lächeln.
„Warum hast du nie etwas gesagt?“, fragte Marlene laut. „Ich hätte denen –“
„Du hättest sie verhext, und dann? Danach hätten sie nicht anders gedacht. Professor Lehanan hat zumindest mit dieser einen Sache Recht. Einige Zauberer wollen in Harmonie leben und andere wollen die Muggel auslöschen.“
„Die meisten sind für Harmonie, Evans“, sagte Sirius sofort, obwohl er selbst wusste, wie viele seiner Verwandten und anderen Reinblüterfamilien das genaue Gegenteil wollten. Seine Mutter hatte Jahre damit verbracht, ihm versucht genau das beizubringen. „Lass dich nicht von diesen paar Idioten unterkriegen.“
Lily verzerrte die Lippen zu einer Grimasse. „Das will ich auch nicht, Sirius. Aber es ist schwierig, mich nicht unterkriegen zu lassen, wenn diese paar Idioten bereit sind zu töten.“
Die Worte hingen wie ein düsterer Schleier über ihnen, während Sirius versuchte, nicht daran zu denken, dass Lily Recht hatte. Diese Angriffe würden nicht aufhören, nur weil er sich mehr Harmonie wünschte. Solange es Familien wie seine gab, würde es immer wieder geschehen. Es schien, als wäre er in eine Zeit geraten, in der das Schicksal längst entschieden war und egal, was er auch tat, egal, wem er folgte und welchen Weg er wählte, er könnte das Ende nicht beeinflussen. Vehement schüttelte er den Kopf. Solch grimmigen Gedanken wollte er nicht nachgehen, auch wenn sie so dunkel wie sein Familienname waren. „Du bist da nicht allein drin, Evans“, sagte er schließlich. „Außerdem bin ich mir sicher, dass Dumbledore niemals zulassen würde, dass jemandem von uns etwas geschieht. Dafür ist er viel zu gut.“
„So selten ich das sage, aber Sirius hat Recht“, meinte Marlene zu Lily. „Ich meine, guck dich um! Du bist hier und du bist aus einem guten Grund hier. Ein Zauber, den du irgendwann nicht beherrscht, der muss erst erfunden werden. Wenn Idioten wie Mulciber immer noch glauben, ihr Blut wäre das einzige, was sie als Zauberer auszeichnet, dann sollen sie das denken. Du bist in so ziemlich jedem Fach die beste Hexe, die wir haben.“
Für einen Moment lächelte Lily, dann verdüsterte sich ihre Miene wieder. „Danke, dass ihr versucht mich aufzumuntern“, sagte sie. „Aber das ist nicht nötig. Keine Sorge“, fügte sie an, als Marlene erneut den Mund öffnete, „ich werde nicht heimlich nachts weglaufen und mich verstecken. Wenn diese Leute mich aus Zauberwelt haben wollen, dann müssen es auch mit mir aufnehmen.“
„Das ist die richtige Einstellung, Evans“, erwiderte Sirius, auch wenn er es hasste, dass Lily das sagen musste. Mit Lilys Talent sollte es keinen Zweifel daran geben, dass sie in diese Welt gehörte, noch sollte irgendjemand dumm genug sein, anzuzweifeln, ob sie wirklich eine Hexe war. Er hatte gesehen, wie Lily Zauber und Verwünschungen gemeistert hatte, für die er mehrere Anläufe gebraucht hätte. Wenn Lily die gleiche Voraussetzungen wie er gehabt hätte, dann wäre sie wahrscheinlich die beste Hexe an Hogwarts.
Es war für einen Augenblick ruhig, dann unterbrach das Rumoren eines Magens die Stille im Korridor.
„Dein Magen stimmt auch zu, Lils“, lachte Marlene, während Lilys Gesicht dunkel wurde.
„Das ist nicht witzig“, erwiderte sie leise.
Sirius grinste. „Komm schon, Evans, ich kann nicht zulassen, dass du uns verhungerst, bevor du die Welt rettest.“ Er hakte sich ein weiteres Mal bei ihr unter, dann zerrte er sie und Marlene den Gang weiter bis in die Große Halle. Am Gryffindor-Tisch angekommen, drückte er Lily auf die Bank, legte ihr Lehrbuch neben sie und sagte: „Es war nett mit dir zu reden.“
Er war beinahe bei James und den anderen angekommen, die einige Plätze weiter bereits auf ihn warteten, als er Lilys Antwort hörte. „Es ist gut zu wissen, dass du auch menschlich sein kannst, Sirius.“
Er lächelte, als er sich neben Peter setzte und ignorierte die Blicke seiner Freunde.
***
Lilys erste Stunde Alte Runen war nichts, worüber sie nachhause schreiben würde. Ihre Professorin war unendlich alt und hatte sie nicht einmal das Lehrbuch herausholen lassen. Stattdessen hatte sie die gesamte Stunde über nur über den theoretischen Teil gesprochen, mit dem sie das erste Halbjahr verbringen würden. Wirkliche Runen übersetzen oder Texte lesen würden sie nicht vor Januar. Lily war enttäuscht, dass das Fach, auf das sie sich am meisten gefreut hatte, nicht das war, was sie sich ausgemalt hatte. Sie hoffte, dass es sich bessern würde, wenn sie wirklich mit dem Runen-Teil anfangen würden und nicht nur zuhören mussten, was ein gewisser Schwung bei einer Rune bedeutete.
Auf dem Weg in die Kerker schlossen sich die anderen Gryffindors ihr wieder an, die gerade eine Freistunde hinter sich hatten. Lily und Remus waren die einzigen, die Alte Runen gewählt hatten, der Rest war aus den anderen Häusern gewesen. Zwar hatte sie nicht erwartet, das besonders viele Leute sich für ein recht geschichtsträchtiges Fach interessieren würden, aber sie hatte zumindest gedacht, dass sie mehr Leute als in Muggelkunde sein würden.
„Lily, du darfst nicht böse sein, aber ich habe Pallas in der Freistunde Eulenkekse gebracht“, sagte Marlene, als sie auf halbem Weg die Treppe runtergelaufen waren.
„Was Marlene sagen wollte“, entgegnete Mary, „ist dass sie Pallas eine ganze Packung mit Eulenkeksen gefüttert hat.“
Lily biss sich auf die Zunge, als sie Marys bösen Blick bemerkte. „Das ist natürlich ungeheuerlich“, presste sie zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor.
Mary starrte sie empört an. „Lily! Willst du etwa, dass Marlene deine Eule so sehr mästet, dass sie keine Briefe mehr tragen kann?“
„Ein paar Eulenkekse werden sie schon nicht explodieren lassen. Mum hat Pallas in den Ferien auch ständig gefüttert, weil sie sie mit diesen großen Augen angeschaut hat.“
„Oh Lily, diese großen Augen“, sagte Marlene leise. „Ich kann ihr doch nicht nur einen Keks geben, wenn sie mich so ansieht!“
„Das wäre wirklich barbarisch.“
Mary schnaubte. „Wenn deine Eule irgendwann nicht mehr fliegen kann, dann musst du dich aber bei mir nicht beschweren.“
Versucht neutral antwortete Lily: „Ich verspreche dir hoch und heilig, dass ich dich nicht dafür verantwortlich machen werden.“
„Ihr nehmt das beide überhaupt nicht ernst.“
„Doch, überaus.“
„Ja, ernster als ernst. Ich bin so ernst, ich habe vergessen, wie man Spaß hat.“
„Absolut. Wenn es um die Ernährung von Eulen geht, dann kenne ich keinen Spaß. Das ist ein sehr ernstes Thema.“
Mary betrachtete Lily und Marlene für ein paar Augenblicke lang, bis ihre Mundwinkel zuckten.
„Aha!“, rief Marlene mit dem Finger auf sie deutend. „Ich wusste es!“
„Ich weiß nicht, was du meinst.“
„Das weißt du sehr wohl. Ich lasse mich nicht zum Narren halten!“
„Ne, das schaffst du allein auch sehr gut.“
„Oh, du kleine –“
„Lily?“
Mary und Marlene hielten inne, als die leise Stimme von Severus aus einem Korridor neben ihnen drang.
„Lily, können wir kurz reden?“
„Der Unterricht beginnt gleich“, antwortete sie mit der Hand fest am Gurt ihrer Tasche. Sie wollte nicht in seine Richtung blicken, aber sie konnte auch nicht anders. Seit sie ihn im Sommer das letzte Mal richtig gesehen hatte, war er kaum gewachsen. Severus war ein wenig schlaksiger geworden, fand sie, sein Gesicht ein wenig dünner und die Haare unordentlich lang, als hätte er sie wieder nicht schneiden lassen wollen. Sie biss sich auf die Zunge. Er sah mies aus, fand sie, aber sie freute sich trotzdem, ihn zu sehen. Sie wollte sich aber nicht einfach so kleinreden lassen. Er hatte den gesamten Sommer über nicht versucht, sich bei ihr zu entschuldigen, hatte während der Zugfahrt und der ersten beiden Tage an Hogwarts nicht versucht, mit ihr zu reden.
„Bitte, Lily, ich muss mit dir reden. Allein“, fügte er zerknirscht mit Blick auf ihre Freundinnen hin, die sich keinen Millimeter bewegt hatten.
„Ich glaube nicht, dass Lily gerade reden will“, sagte Mary mit harter Stimme. Sie reckte das Kinn, wodurch ihre dicken schwarzen Locken nach hinten wippten.
„Und ich glaube, dass Lily das allein entscheiden kann“, zischte Severus.
Mary öffnete den Mund erneut, aber Lily kam ihr zuvor. „Schon gut“, sagte sie schnell. „Geht … geht ruhig vor. Ich komm sofort nach.“ Sie wartete, bis sie sich sicher war, dass Mary und Marlene außer Hörweite waren, dann fragte sie: „Was möchtest du, Sev?“
Ein verschatteter Blick huschte über sein Gesicht. „Mit dir reden, Lily. Ich weiß nicht, warum dich das überrascht.“
Unweigerlich fragte Lily sich, ob Severus ihr ebenfalls sagen würde, was Sirius ihr gesagt hatte. Sie schluckte die bitteren Gedanken herunter und reckte das Kinn an. „Okay. Dann rede.“ Sie wollte ihren besten Freund zurück, sie wollte wieder mit Severus Zeit verbringen, aber sie wollte nicht diejenige sein, die diese Beziehung ein weiteres Mal zusammenkleben würde.
Severus seufzte leise auf. „Können wir wieder Freunde sein? Bitte?“
Selbst wenn sie gewollt hätte, sie hätte Severus nicht lange böse sein können. Vielleicht würde er ihr nie sowas sagen, wie Sirius und Marlene es getan hatten, aber er würde immer verstehen, wie es war, in Cokesworth zu leben und im Propheten zu lesen, dass ein nahes Dorf angegriffen wurde. Nur er könnte verstehen, wie verängstigt Lily um das Leben ihrer Familie war. „Das will ich“, sagte sie leise. „Aber nicht einfach so, Sev. Du schuldest mir zumindest eine Entschuldigung.“
Für einen Moment sah es so aus, als würde er sich weigern, als würde er nicht einmal wissen, warum sie das verlangte, dann klärte sich der blanke Ausdruck auf seinem Gesicht auf. Severus zerknitterte seine Miene, bevor er sagte: „Ich weiß. Ich wollte nicht, dass es so endet, Lily. Wirklich. Es tut mir leid, wie es gelaufen ist. Es war nie meine Absicht, dir wehzutun.“
„Was ist mit Tuni?“, fragte sie leise.
„Auch das tut mir leid“, fügte er rasch an. „Wirklich, Lily, es tut mir leid. Ich hatte nicht vor, es so ausgehen zu lassen.“ Er biss sich so heftig auf die Lippe, dass sie sich mit der Blässe seiner Haut vertraut machten. Im schummrigen Licht der Kerker wirkte er noch blasser, als er eigentlich war. Fast schon gespenstisch.
Lily schüttelte sich bei dem Gedanken. „Es war wirklich nicht schön, was du gemacht hast, Sev. Ich weiß nicht, wie du überhaupt auf die Idee gekommen bist.“
„Ich war dumm“, erwiderte er und Lily lachte.
„Ja, wahrscheinlich. Ich hoffe, du hast daraus gelernt.“
Ein zaghaftes Lächeln legte sich auf seine Lippen. „Hab ich. Hab ich wirklich. Es wird sicher nie wieder vorkommen.“
Lily nickte langsam. Eigentlich war sie noch sauer auf ihn, weil er ihr den Sommer kaputt gemacht hatte, aber sie vermisste ihren besten Freund auch zu sehr, als dass sie ihn noch länger mit der kalten Schulter abweisen würde. „Dann ist gut“, sagte sie schließlich. „Komm, der Unterricht geht los.“ Es war nicht vergessen, was er gesagt und getan hatte, aber für die Zeit war es nach hinten geschoben. Sie freute sich, dass sie erst einmal wieder den Zaubertränkeunterricht mit Severus genießen konnte. Irgendwann würde sie schon eine weitere Unterhaltung mit ihm darüber führen, dass er seine Gefühle besser in den Griff bekommen musste, aber für den Moment, war es ihr Recht so.
Chapter 36: 36. Jahr 3: Eine Sache des Geistes
Chapter Text
James war überhaupt nicht eifersüchtig, dass Sirius sich gerade mit Lily Evans so gut verstand, dass sie Geheimnisse vor ihm hatten, ganz und gar nicht. Es freute ihn sogar, dass Sirius andere Freunde hatte. Es war ihm egal, dass Sirius ihm nicht sagen würde, worüber er und Lily gesprochen hatten und es kümmerte ihn noch weniger, dass nicht einmal Marlene ihm etwas verraten würde. Er hatte zumindest herausgefunden, dass es mit ihrer ersten Stunde Muggelkunde zu tun hatte, aber da hörten die Früchte seiner Detektivarbeit auch schon auf. Sirius, Marlene und Lily würden ihm nichts sagen und das war vollkommen okay für ihn. Er wollte es auch eigentlich gar nicht wissen.
„Remus“, fragte James leise. „Kannst du nicht –“
Ohne von seinen Hausaufgaben aufzublicken (Remus war so ziemlich der erste Drittklässler, der mit den Hausaufgaben für Zaubertränke angefangen hatte), erwiderte er: „Nein, James, ich werde sie nicht fragen. Wenn es etwas ist, was du wissen kannst, dann hätten sie es dir sicher erzählt, oder?“
„Ja, schon, aber was wenn sie in Schwierigkeiten stecken? Vielleicht haben sie –“
Seufzend legte Remus seine Feder beiseite und sah auf. „James, komm schon. Was soll das?“
James verschränkte die Arme vor der Brust. „Gar nichts“, murrte er. „Ich wollts nur wissen.“
„Das wirst du sicher irgendwann, aber nicht jetzt. Und jetzt“, fügte Remus an, ehe er mit dem Fuß gegen James´ Tasche trat, die unter dem Tisch lag, „fang mit deinem Aufsatz an.“
„Ja, Mutter“, erwiderte James einen tiefen Seufzer unterdrückend.
Es lag nicht in James´ Natur sich ausgeschlossen zu fühlen oder bei allem beteiligt zu sein, aber wenn es um Sirius ging, konnte er einfach nicht anders, als sich zu sorgen. Sirius war so ziemlich der wichtigste Mensch in seinem Leben, er wollte einfach nicht, dass er Schwierigkeiten hatte oder sich nicht wohl fühlte. Was die Sache mit Evans betraf… zum Teil wollte er wissen, was los war und ob er helfen konnte, zum Teil wollte er auch einfach nur wissen, was Sirius und Lily besprechen würden, was so geheim war, dass er es nicht erfahren konnte. Vielleicht planten sie eine geniale Überraschungsparty für ihn? Das könnte er bestimmt glauben, wenn sein Geburtstag nicht erst in sechs Monaten wäre und Lily ihn dafür auch ein wenig leiden könnte.
Was auch immer es war, dass Lily und Sirius verbunden hatte, James störte sich ganz und gar nicht daran.
Er hatte sich deswegen sicherlich auch keinen teuflischen Plan ausgedacht, mit dem er Sirius dazu bekommen würde, mit ihm zu reden. Am Nachmittag hatten sie ihre erste Stunde Pflege magischer Geschöpfe und da weder Lily noch Remus dieses Fach gewählt hatten, hatte James freie Bahn, um seinen Plan auch in die Tat umzusetzen. Er war sich nicht sicher, ob Sirius es direkt verstehen würde, aber sicher würde er im Laufe der Doppelstunde dahinter kommen.
Professor Kesselbrand war ein in die Jahre gekommener Mann, dem ein Bein und eine Hand fehlten. Als die Drittklässler sich zur ersten Stunde am Rand des Verbotenen Waldes sammelten, kam der Professor schnaufend aus dem Dickicht und schleppte einen schmutzigen Sack hinter sich. „Ah, da seid ihr ja, da seid ihr ja“, sagte er zur Begrüßung. „Willkommen zu Pflege magischer Geschöpfe. Ich hoffe, keiner von euch hat sich die Mühe gemacht, das Buch mitzuschleppen, das brauchen wir nicht. Also dann, stellt euch in Dreiergruppen auf und dann folgt ihr mir.“ Er wartete einen Augenblick, in dem keiner der Schüler Anstalten machte, sich zu bewegen, dann klatschte er mit seiner echten und einer hölzernen Hand zusammen und sagte: „Heute noch, wenn´s geht!“
Aus dem Augenwinkel konnte James bereits sehen, wie Sirius und Peter in seine Richtung linsten, doch James hatte einen Plan, den er umsetzen musste und dafür musste er das große Opfer bringen, seine erste Pflege-Stunde nicht meinen Freunden zu verbringen. Mit heiterer Miene drehte er sich zu Mary und Marlene, die hinter ihm gestanden hatten. „Wir sollten eine Gruppe bilden“, sagte er.
„Hat man dir zu stark auf den Hinterkopf geschlagen?“, fragte Marlene. „Sirius und Peter sind da vorne.“
„Ich weiß. Ich will aber lieber mit euch zusammenarbeiten.“
Mary runzelte die Stirn. „Was hast du vor?“
Er schenkte ihr ein breites Lächeln. „Gar nichts, Macdonald. Ich finde einfach nur, dass wir viel zu wenig Zeit miteinander verbringen.“
„Blödmann“, murrte Mary, bevor sie den Blick abwandte und die Arme verschränkte. „Meinetwegen, aber stell keinen Mist an.“
„Ich schwöre es hoch und heilig.“
Marlene blickte erst zu Mary, dann zu James und wieder zurück zu Mary, bevor sie seufzte. „Bin ich wohl überstimmt. Schön, aber dafür schuldest du mir was, Potter.“
„Autsch, McKinnon, ich wusste nicht, dass unsere Freundschaft mit Preisen versehen ist.“
„Dann weißt du es jetzt. Ich werde dieses Jahr dem Quidditch-Team beitreten und dafür verlange ich, dass du mir ein paar Tipps gibst.“
„Nicht so viel plaudern“, hallte Professor Kesselbrands Stimme über die Fläche. „Kommt schon, wir haben einiges zu tun. Folgt mir und dicht zusammen bleiben. Ich will nicht, dass einer verloren geht.“ Ohne darauf zu achten, ob seine Schüler ihm auch folgten, drehte der Professor sich um, schultere den schmutzigen Sack ein weiteres Mal und stapfte mit festen Schritten inmitten der Bäume des Verbotenen Waldes.
James wartete nicht auf eine zweite Einladung. Mit einer Hand zog er an Marys Ellbogen, mit der anderen drückte er Marlene am Rücken vorwärts und sagte: „Los, los! Wir wollen doch keinen wichtigen Unterrichtsstoff verpassen.“
„Ich bereue es jetzt schon“, murmelte Marlene, ehe sie die Schatten des Verbotenen Waldes betraten.
Nach den ersten Schritten, in denen es James vorkam, als wäre es kühler geworden, holten Peter und Sirius zu ihnen auf. „Hey, was soll denn das?“, fragte Sirius leise.
„Was meinst du?“, erwiderte James mit seiner besten Unschuldsstimme, die sicher sogar Remus reingelegt hätte, wenn er hier wäre.
„Du weißt, was ich meine. Warum bist du mit denen in einer Gruppe?“
„Wir können dich hören, Black“, zischte Mary neben James, die ihre Umgebung mit großen Augen betrachtete.
„Wie auch immer.“
„Ja, was haben wir getan, James?“, fragte Peter mit ebenso leiser Stimme. Es schien, als hätte jeder sich einstimmig dafür entschieden, dass man im Wald keine lauten Geräusche machen sollte. Einerseits würde es Professor Kesselbrand sicher nicht gefallen und andererseits wusste niemand, was sie hier alles hören konnte.
Nun, dachte James mit bitterem Beigeschmack, seine Gedanken bei Remus, Werwölfe würden es nicht sein. „Gar nichts“, erwiderte er wahrheitsgemäß. Zumindest war es die halbe Wahrheit. Sie hatten nichts getan, um James aufzuregen, aber das hieß nicht, dass er nicht trotzdem Strafen verteilen konnte. Besonders an seinen sogenannten besten Freund, der es wagte, Geheimnisse vor ihm zu haben. Die James natürlich nicht interessierten. „Ich hab nur gedacht, wir müssen auch mal mit den anderen was machen. Ich meine, wer sonst hätte sich bereit erklärt, diese zwei lieblichen Damen vor den Schrecken des – oof.“
Marlene, die James mit dem Ellbogen in den Magen geboxt hatte, drehte sich mit klimpernden Wimpern zu ihm um. „Oh, war ich das? Wie ungeschickt von dieser lieblichen Dame.“
„Schon klar“, presste er atemlos hervor. „Hab ich wohl verdient.“
„Komm schon, James“, sagte Sirius, „erst Remus und jetzt du? Verlass uns nicht auch noch.“
„Du wirst es überleben, Black“, meinte Mary. „Es gibt genügend andere Schüler hier, also hör auf uns unseren James klauen zu wollen.“
Sirius zog beide Augenbrauen in die Höhe, sodass sie an den Ansatz seiner dunklen Haare glitten. „Euren James?“
Mary wich seinem Blick nicht aus, sondern presste die Lippen zusammen und starrte zurück.
James hatte das Gefühl, dass er irgendwas verpasst hatte. „Ich erweitere einfach nur meinen Horizont, Kumpel. Es ist wirklich wichtig, auch mal was mit seinen weiblichen Leidensgenossen zu tun, nicht wahr?“
Es war offensichtlich, dass Sirius verstand, worauf James hinauswollte, aber er würde sich nicht die Blöße geben, es zuzugeben. Stattdessen nickte er einfach nur und seufzte theatralisch. „Aber wenn ich höre, dass sie dich nicht artgerecht behandeln, dann muss ich dich retten kommen.“
„Selbstverständlich“, grinste James. Phase Eins seines narrensicheren Plans hatte also einwandfrei funktioniert. Er beobachtete, wie Sirius und Peter ein paar Schritte weiter gingen und sich schließlich mit Benjy Fenwick zusammenschlossen. Erst danach drehte er sich zu seinen Partnerinnen um und sagte: „Also. Was gibt’s Neues?“
Marlene betrachtete ihn mit offenen Mund. „Was es Neues geben soll? Es ist der zweite Schultag, was soll schon großartig passiert sein.“
Schulterzuckend sagte er: „Hätte ja sein können, dass du zufällig ein paar interessante Gespräche mitangehört hast. Oder gesehen hättest, wie Geheimnisse gehalten werden.“
Dem Anschein nach hatte James Marlene gehörig unterschätzt, denn kaum hatte er das gesagt, verschränkte sie die Arme vor der Brust und legte die Stirn in Falten. „Darum geht es dir also, Potter. Ich hätte wissen müssen, dass du irgendwas vorhast.“
„Wie? Ich bin mir sicher, ich weiß nicht, wovon du redest“, erwiderte er unschuldig klingend.
Selbst Mary blickte ihn jetzt enttäuscht an. „Das ist wegen Lily und Sirius, ja?“, fragte sie leise. „Deswegen wolltest du unbedingt mit uns in einer Gruppe sein.“
„Was? Nein! Nein, das ist doch –“, James stockte, als er Marys enttäuschte Miene sah. Er biss sich auf die Zunge. „Na schön, das war der Anfangsplan“, gab er zu, „aber das heißt nicht, dass ich es nur deswegen mache! Immerhin sind wir ja auch Freunde und die arbeiten in der Klasse auch mal zusammen.“
Zu einer Antwort kam keine seiner Klassenkameradinnen mehr, denn Professor Kesselbrand war wieder aufgetaucht, nachdem er tiefer im Wald verschwunden war. In einer Hand hielt er ein Bündel aus Seilen und Stricken, die allesamt hinter ihm verliefen und, wie James nach ein paar weiteren Augenblicken feststellte, alle um die Körper von kleinen, pelzigen Biestern geschlungen waren. Im Gegensatz zu Mary, die noch nie einen gesehen hatte, erkannte James die Niffler sofort.
„Sind alle in einer Gruppe? Keiner mehr übrig?“ Der Professor wartete, ob jemand sich melden würde und fuhr fort, als es niemand tat. „Sehr gut. Für die erste Stunde mache ich jedes Jahr das Gleiche, damit ich auch denjenigen, die nicht mit magischen Wesen vertraut sind, eine gute Erfahrung geben kann. Also, kann mir jemand sagen, wie man diese kleinen Kerlchen hier nennt?“ Mit der hölzernen Hand deutete er auf die Niffler, die sich vor ihm tummelten, miteinander spielten oder mit breiten, flossenartigen Pfoten in der Walderde buddelten.
„Niffler, Sir!“, ertönte eine Stimme aus der ersten Reihe. „Das sind kleine Gräber, die von allem angezogen wird, was glänzt.“
„Ganz genau, das sind sie“, brummte Kesselbrand. „Niffler sind vielleicht liebreizend anzusehen, aber sie sind auch nicht ungefährlich. Wenn man mal einen frei graben lässt, dann kann er in Windeseile ein ganzes Haus untergraben und dann kann es passieren, dass es nicht mehr lang dauert, bis es in sich zusammenbricht. Also dann“, er warf den schmutzigen Sack vor sich auf den Boden, wo er klimpernd aufkam und sagte dann: „In dem Sack da sind ein paar Kopien von Schmuckteilen, die ich vor der Stunde hier in der Nähe vergraben habe. Jeweils drei von euch nehmen sich einen Niffler und dann könnt ihr ihn nach dem Schmuck graben lassen. Ihr könnt ihn einfach freie Fahrt lassen oder mit Zaubern nachhelfen, das ist mir Schnurz, solange nur keins der Tiere zu Schaden kommt, kapiert?“ es gab einstimmiges Gemurmel. „Gut, dann kommt mal her.“
James bot sich an, den Niffler für ihre Gruppe abzuholen. Er reihte sich mit den anderen Schülern vor Professor Kesselbrand, der bereits beschäftigt war, die Nifflerleinen zu entwirren und nur einen in eine Gruppe zu geben.
„Er wird nichts sagen“, murmelte plötzlich Peter hinter ihm, sodass er überrascht zu seinem Freund herumwirbelte. „Sirius meine ich.“
„Merlins Bart, Pettigrew, du kannst dich nicht einfach so anschleichen“, zischte James. „Wegen dir bekomme ich noch einen Herzinfarkt.“
Peter verdrehte die Augen. „Übertreib nicht. Aber du solltest es sein lassen. Sirius wird dir nicht sagen, was er und Evans besprochen haben. Das hat er mir deutlich zu verstehen gegeben, als ich ihn gefragt habe.“
„Siehst du“, meinte James, „da ist dein Problem. Du hast ihn direkt gefragt. Großer Fehler.“ Er schob sich eine Position in der Schlange nach vorne. „Aber ich kenne Sirius. Ich werde einfach –“
„Bist du ein Idiot, James?“, fragte Peter ihn mit barscher Stimme, sodass James ihn verdattert anblickte. „Tut mir leid“, warf der kleinere Junge schnell hinterher, „aber das muss gefragt werden. Ich meine, wenn du wirklich meinst, Sirius so gut zu kennen, dann solltest du eigentlich wissen, dass er alles mit dir teilt, was er teilen kann. Wenn er dir etwas nicht erzählt, dann nicht, weil du es nicht wissen darfst, sondern weil er es nicht soll. Hast du schon mal darüber nachgedacht, dass er und Lily vielleicht über etwas geredet haben, dass du einfach nicht wissen sollst? Und dass es wahrscheinlich Lilys Bitte war, dir nichts zu sagen? Oder eher niemandem etwas zu sagen?“ Peter schnalzte ungeduldig mit der Zunge und drückte James am Arm nach vorne. „Du solltest ihre Privatsphäre einfach respektieren und nicht versuchen, Mary und Marlene dafür auszunutzen. Das ist nämlich ihnen gegenüber alles andere als fair. Los.“
James war komplett erschlagen von Peters Worten und bekam deswegen erst mit, dass er an der Reihe war, als er ein Kratzen an seinem Bein verspürte. Er blickte nach unten in die schwarzen kleinen Augen eines dicken Nifflers, der versuchte an seiner Hose hochzuklettern.
„Nimm schon, Junge“, brummte Professor Kesselbrand und drückte ihm die Leine des Nifflers in die Hand. „Das kleine Kerlchen scheint dich ja schon zu mögen.“
Ohne die Möglichkeit zu haben, noch mal mit Peter zu reden oder wenigstens zu versuchen, sich zu rechtfertigen, ging James mit langsamen Schritten und dem dicken Niffler hinter sich auf Mary und Marlene zu. Er war kaum bei ihnen angekommen, als der Niffler, ein schwarzes, pelziges Exemplar, auf Mary zulief und an ihrem Bein begann zu kratzen.
„Ohhh, du bist so süß“, sagte sie, ging in die Hocke und ließ zu, dass der Niffler seine nasse Schnauze in ihre Hand drückte. Sie kicherte. „Das kitzelt doch, hör auf.“
James, mit dem Blick auf Marys Lachen und das leise Schnaufen des Nifflers, fühlte sich, als hätte man ihm eine verpasst. Er versuchte Peter zu finden, aber dieser war bereits wieder verschwunden. Schluckend sah er zu Marlene, die ebenfalls in die Hocke gegangen war und dem Niffler vorsichtig mit zwei Fingern über den Rücken strich. Hatte Peter Recht und James benahm sich wirklich wie ein Idiot? Eigentlich hatte er sich nicht viel bei der Sache gedacht, als er herausfinden wollte, was Sirius und Lily besprochen hatten, aber wenn er länger darüber nachdachte, dann ergaben Peters Worte unheimlich viel Sinn. Sicherlich war es Lily gewesen, die Sirius und wahrscheinlich auch Marlene darum gebeten hatte, niemandem etwas zu sagen, worum es auch immer gegangen war. Und er, James, hatte alles dafür getan, sich über diese Bitte hinwegzusetzen und seinen Willen durchzusetzen.
Einmal mehr musste James sich eingestehen, dass er das Problem gewesen war.
Er seufzte so laut, dass er sowohl Mary als auch Marlene aufblicken ließ. „Oh, tut mir leid“, sagte Mary rasch. „Du hast Recht, wir sollten anfangen.“
„Was?“
„Mit der Aufgabe“, meinte Marlene.
„Oh. Richtig, ja, genau, ich meine –“
„Schon gut, James“, unterbrach Marlene ihn lächelnd. „Schon kapiert.“
Mary streckte die Hand aus und nahm James mit vorsichtigen Fingern die Leine aus der Hand. Ihre Haut war überraschend warm auf seiner. „Also dann“, sagte sie ein wenig atemlos klingend. Ihre Wangen waren dunkler und sie mied es, in seine Richtung zu blicken, während sie das Gelände absuchte. „Wo sollen wir anfangen?“
***
Manchmal tat es James gut, eine Pause von seinen Freunden zu nehmen und sich von Peter sagen zu lassen, was er falsch gemacht hatte. Es war eine kleine, perfekte Symbiose, die er zu schätzen gelernt hatte, besonders nachdem er ihm so unsanft mitgeteilt hatte, was für ein privilegiertes Arsch er einmal mehr gewesen war. James wollte nicht zugeben, dass er schlicht und einfach eifersüchtig gewesen war, aber das war es gewesen und er wusste es. Marlene hatte es ihm auf dem Weg zurück ins Schloss ebenfalls noch einmal deutlich gemacht, dass sie nicht zusehen würde, wie er seine schlechtesten Eigenschaften herumposaunen würde, nur weil er glaubte, das Zentrum des Universiums zu sein.
Was in seiner Meinung ein wenig übertrieben war, denn wenn irgendjemand das Zentrum des Universums war, dann war es wahrscheinlich Sirius Black.
Was auch immer James dazu geritten hatte, seine Nase in Angelegenheiten zu stecken, die ihn nichts angingen (und die seine Freunde betrafen), es war vorbei und er war sich sicher, wieder sein altes, gutes Selbst zu sein. In der Großen Halle drehte er sich zu Sirius, der sich neben ihm Kartoffeln auf den Teller schaufelte. „Ich habe große Pläne dieses Jahr“, sagte er.
„Die hab ich auch und die fangen beim Abendessen an“, erwiderte sein Kumpel mit vollem Mund.
„Okay, du kannst nicht ewig sauer sein, weil ich mit Marlene und Mary in einer Gruppe war.“
„Kann ich sehr wohl“, brummte Sirius.
Peter verdrehte die Augen. „Jetzt krieg dich wieder ein, wir wissen, dass du das morgen früh sowieso vergessen hast.“
Sirius warf ihm einen giftigen Blick zu und Remus seufzte. „Da bin ich einmal nicht dabei und schon braucht ihr alle Paartherapie.“
„Du bist der schlimmste aller Verräter hier, Lupin“, maulte Sirius. „Immerhin hast du uns erst allein gelassen.“
Remus tat es Peter gleich, verdrehte die Augen und griff dann über den Tisch, um Sirius´ Arm zu streicheln. „Da, da, geht´s wieder besser?“
„Ihr seid Arschlöcher“, entgegnete Sirius, aber James konnte das Grinsen in seinen Augen erkennen.
„Da das jetzt geklärt wurde“, meinte er, „müssen wir unseren nächsten, genialen Schachzug einleiten. Das perfekte Opfer ist, selbstverständlich, schon ausgesucht.“ Er sah zwischen Remus und Peter vorbei an den Slytherin-Tisch, an dem ein gewisser schwarzhaariger Jemand gerade dabei war, sich im Flüsterton mit Avery und Mulciber zu unterhalten. James hatte nicht vergessen, was vor den Sommerferien geschehen war und er hatte sich geschworen, Schniefelus wissen zu lassen, dass er sich nicht mit ihm anlegen sollte. Er hatte seine Chance gehabt, James hatte versucht, sich mit ihm ausreden zu wollen, aber Snapes Mangel an Kooperation ließ ihm keine andere Wahl, als ihn weiterhin als Zielscheibe zu missbrauchen.
Es war auch kein Ausleben seiner schlechten Eigenschaften, redete James sich unschuldig ein, wenn es um Snape ging. (Dass es absolut das Ausleben seiner schlechten Eigenschaften war, ignorierte er rigoros. Er hatte keine Zeit, um mehrmals in einem Jahr seinen Charakter zu überdenken.)
Sirius folgte seinem Blick durch die Halle und das Grinsen erschien auf seinen Lippen. „Alles klar, ich mag, wie du denkst, Potter. Was hast du in Planung?“
„So einiges. Eins schlimmer als das andere. Natürlich nichts gefährliches oder wirklich traumatisches, keine Sorge“, fügte er an, als Remus bereits den Mund öffnete.
Dieser presste die Lippen zusammen. „Dann bin ich dabei“, erwiderte er leise.
„Ich sowieso!“, schalt Peter sich ein.
„Auf mich kannst du sowieso zählen“, meinte Sirius. „Und, wenn ich das so anmerken darf, ich habe auch schon so ein oder zwei nette Ideen, die mir den Sommer über zugeflogen sind. Es soll ja keiner behaupten, ich hätte die Extra-Tutor-Stunden nicht gut genutzt.“
James grinste und klopfte Sirius auf die Schultern. „Genau das wollte ich hören.“
Als wäre nie etwas gewesen, versammelten sich die Rumtreiber nach dem Abendessen in ihrem Schlafsaal. James hatte schweren Herzens Monty absagen müssen und ein zusätzliches Quidditch-Training auf den nächsten Morgen verschoben, damit er sich mit seinen Freunden beraten konnte. Diese lagen nun im Raum verteilt, Sirius auf seinem eigenen Bett, die Beine an die Wand gelehnt und ein paar Pergamentfetzen übers Gesicht gehalten, Peter hatte sich längs auf den Boden gelegt, hielt mit konzentrierter Miene seinen Zauberstab und murmelte immer wieder ein paar Verwünschungen, die er aufgeschnappt hatte, während Remus im Schneidersitz auf James´ Bett saß, ein paar Verwandlungsbücher neben sich, sowie ein kleiner Berg an Schokoladenverpackungsmaterial. Der Süßigkeitenvorrat, den er und Peter für die Anfangsparty aus dem Honigtopf geholt hatten, war mittlerweile auf ein Minimum reduziert und daran war er nicht ganz unschuldig. James hatte noch nicht auf die Mondtabelle geblickt, aber anhand Remus´ plötzlichem Heißhunger konnte er sich gut denken, dass der Vollmond sicher nicht weit war.
James selbst hatte es sich auf einem der Fenstersimse gemütlich gemacht, den Blick halb auf seine Notizen gerichtet, halb auf die Umrisse des Verbotenen Waldes. Obwohl er sich sicher war, dass kein böses Blut mehr zwischen ihm und irgendeinem seiner Klassenkameraden herrschte (die Slytherins mal ausgenommen), konnte er nicht anders, als daran zu denken, wie Marlene ihn sofort durchschaut hatte. Es schien, als hätte sie selbst ein paar gewählte Worte für ihn übrig gehabt, wenn Peters Kopfdusche nicht geholfen hätte. Ob die beiden unter einer Decke gesteckt hatten? James linste zu seinem am Boden liegenden Freund, der gerade eine schmuddelige Socke in einen krächzenden Raben verwandelt hatte.
„Oh, genial!“, meinte Peter begeistert von sich selbst, als der Vogel ein paar Flügelschläge unternahm. „Das ist – oh.“ Kaum hatte der Rabe an Höhe gewonnen, klappten die Flügel ihm wie weicher Stoff zusammen und er fiel kreischend zu Boden. Noch bevor der zerbrechliche Körper auf dem Holz hätte aufkommen können, war die Verwandlung aufgehoben. „Schade“, murmelte Peter. „Ich hab gedacht, ich könnte Avifors mit einer Verwandlung kombinieren.“
„Du hast die falsche Vokal-Reihenfolge genutzt“, meinte Sirius gelangweilt klingend. „Um einen Zauber mit einer Verwandlung zu kombinieren musst du die Vokale nach dem lateinischen Alphabet aneinanderreihen und dann in ihre Bestandteile zurückbringen. Hier.“ Sirius zog seinen Zauberstab, deutete ihn ohne hinzusehen auf seinen Nachttisch und murmelte Peters verbesserte Beschwörung. Sein Lehrbuch der Zaubersprüche Band 3, das er bisher kein einziges Mal angerührt hatte, drehte sich einmal um die eigene Achse, ehe es als dunkelgrauer Rabe in die Luft flog, ein paar Runden drehte und sich dann auf der Stütze von Remus´ Himmelbett niederließ. Mit intelligenten dunklen Augen betrachtete das Tier den Raum.
„Wahnsinn“, hauchte Peter beeindruckt. „Moment, lass mich mal versuchen.“ Er wiederholte die verbesserte Formel, deutete seinen Stab auf die Socke und hatte im nächsten Moment einen fast identischen Raben gezaubert.
Selbst Remus betrachtete Peters´ Verwandlung mit angezogenen Augenbrauen, als würde er auch darauf warten, dass etwas damit schiefgehen würde, doch statt das Tier wie zuvor in sich zusammenfiel, setzte er sich mit klackendem Schnabel zu Sirius´ Raben.
„Ich hab’s geschafft!“, rief Peter aus.
„Sehr gut“, murmelte Sirius gähnend. „Finite.“
Die Raben wurden zurückverwandelt und fielen mit einem dumpfen Laut zu Boden. Remus betrachtete das Buch und die Socke, dann sah er zu Sirius. „Wenn du dich im Unterricht auch so einbringen würdest, dann würde McGonagall dich zu ihrem Stellvertreter ernennen.“
Sirius schnaubte belustigt. „Nein, Danke. Solange ich mit dem Minimum an Arbeit durchkomme, werde ich mich nicht unnötig anstrengen. Dann hätte ich ja gar keine Energie mehr, um mich mit Streichen zu beschäftigen.“
„Was für eine traurige Welt das doch wäre.“
James blickte zurück auf seine Notizen. Er wurde manchmal nicht schlau aus den Dingen, die um ihn herum geschahen. Die ganze Lily und Sirius Sache, dann noch Marlene und Peter und Mary, die ihn in Pflege kaum in die Augen sehen konnte – manchmal glaubte er, die Welt würde sich anders drehen, wenn er nicht hinsah. Dass Dinge anders geschahen und er sich in seiner eigenen Wahrnehmung einfach nicht verstehen konnte, weil er nicht wie der Rest dachte. Es war dumm, das wusste er. James war sicherlich nicht so besonders, dass er anders wie alle anderen war, auch wenn er sich gerne einreden würde, dass er zumindest besser als einige war. Er atmete tief durch.
Und dann, als hätte man ihm eine britzelnde Glühbirne in den Kopf gesetzt, ging ihm ein Licht auf. James schwang die Beine vom Sims und rief aus: „Männer, ich weiß, was wir tun!“
„Wenn du Raben vorschlägst –“, fing Sirius an, aber James unterbrach ihn mit einem Handzeichen.
„Keine Raben. Nein, ich habe eine geniale Idee. Remus, was weißt du über Wahrnehmungs-Zauber?“, fragte James an seinen Freund gewandt.
„Wahrnehmungs-Zauber?“, wiederholte dieser irritiert. „Nicht viel, nur das, was Flitwick uns darüber erzählt hat. Die sind –“
„ – unglaublich kompliziert, oder?“, meinte Peter mit zusammengezogener Stirn. „Daran erinnere ich mich zumindest.“
„Vielleicht“, sagte James grinsend. „Aber zum Glück sind wir kleine Genies, die das schon hinbekommen, nicht wahr? Das wird so viel besser, als alles, was wir bisher geleistet haben. Kein stinkiger Rauchzauber mehr oder Wasserbomben, die über Schniefelus´ Kopf zerplatzen.“
„Ich fand die gut“, murrte Sirius beleidigt klingend.
„Wenn wir den Zauber so hinbekommen, wie ich mir das vorstelle, dann wird das in die Geschichte eingehen und höchstwahrscheinlich wird man uns Orden des Merlin erster Klasse überreichen.“
Remus zuckte mit den Mundwinkeln. „Höchstwahrscheinlich, ja?“
„Gut, vielleicht übertreibe ich“, gab James zu, „aber nur, damit ich weiß, damit ihr an Bord seid. Also?“
„Schön“, seufzte Remus, klappte sein Verwandlungsbuch zu und ließ den Müll auf seinem Bett mit einem Schwung seines Stabs in einem Ball durch den Raum in den Mülleimer fliegen. „Aber keine Verletzungen, klar?“
„Ehrenwort. Sirius, Peter, was sagt ihr?“ James konnte sich nicht helfen und grinste über beide Ohren, bis ihm die Mundwinkel schmerzten. Er konnte nicht glauben, dass seine eigenen Zweifel ihm so eine geniale Idee gebracht hatten. Das musste ein Wink des Schicksals sein, dachte er.
Sirius lachte, schwang die Beine von der Wand und setzte sich aufrecht hin. „Wenn du schon so aufgeregt bist, dann muss das ja was werden.“
„Genau“, erwiderte Peter mit hoher Stimme. „Also, wann fangen wir an?“
James grinste. „Jetzt sofort.“
***
Die Bibliothek war kaum besucht und die wenigen Schüler, die da waren, waren alles ältere, die so aussahen, als würden sie jeden Moment einen Nervenzusammenbruch erleiden. Die meisten hatten sich mit Büchern eingedeckt und schienen bereits an einem halben Dutzend Pergamentrollen gleichzeitig zu arbeiten, obwohl die erste Schulwoche kaum zur Hälfte rum war. Es gab Peter auf jeden Fall keine wirkliche Hoffnung für die kommenden Schuljahre.
„Also gut“, sagte James im Flüsterton, als sie sich in eine Ecke um einen der Tische versammelt hatten. „Pete, du weißt, wo du suchen musst?“
Stolz drückte er die Brust hervor. „Du kannst dich auf mich verlassen.“
James grinste. „Genial. Dann lasst uns loslegen.“
Die drei Jungs ließen Peter allein in der Ecke und kaum waren sie außer Sichtweite, zog Peter den Tarnumhang hervor, den er von James bekommen hatte. Er wartete, bis das Signal, ein schrilles, hupenartiges Geräusch, ertönte, dann warf er sich den Unsichtbarkeitsmantel über den Kopf und schlüpfte aus der Ecke. Mit eiligen Schritten ging er in den hinteren Bereich der Bibliothek, während Stimmen laut wurden.
„Was ist das bloß?“, konnte er James rufen hören, der seine besten Schauspielkünste auspackte.
„Sieht aus wie ein Monster!“, antwortete Sirius wenig überzeugt.
Peter konnte sich Remus´ enttäuschten Blick nur zu gut vorstellen.
„Also wirklich“, rief die Bibliothekarin Madam Pince über das schrille Hupen hinweg. „Finite! Finite!“
Die wenigen Minuten, die er hatte, nutzte er aus. Peter schlich sich unsichtbar an den verwirrt aussehenden Schülern vorbei, die in Richtung Eingang liefen und leise murmelten. Er zog den Stab unter dem Umhang hervor und, als er am Tor in die Verbotenen Abteilung angekommen war, deutete damit auf das Schloss. „Alohomora“, flüsterte er und das Schloss sprang leise klirrend auf. Anhand Remus´ Beschreibungen (er fragte sich noch immer, woher Remus überhaupt so viel über die Verbotene Abteilung wusste, aber der Junge wollte nichts verraten) fand er schnell seinen Weg zu den Verwünschungs-Regalen.
Ein unheimliches Flüstern hing in der Luft, genauso wie eine eisige Kälte, die nicht zu den warmen Spätsommertemperaturen passte. Ohne Licht konnte Peter zwar nicht allzu viel erkennen, aber er konnte sehen, dass die meisten Bücher keinen Titel hatten oder an dicken Ketten festgeschraubt waren. Ob das nun dafür da war, damit man die Bücher nicht entwenden konnte, oder aus gänzlich anderen Gründen, wollte er lieber gar nicht wissen. Dass es überhaupt dieses unheimliche Flüstern in der Abteilung gab, reichte ihm schon aus, damit ihm die Nackenhaare zu Bergen standen.
Peter eilte mit gezücktem Stab durch die Regalreihe, auf der Suche nach einem Buch, das dem Thema nahe kam, das sie als nächsten Streich festgelegt hatten. Er war nicht sonderlich erpicht darauf, sich an so schwierigen Zaubern zu versuchen, zumal er wusste, dass er sie wahrscheinlich sowieso nicht auf die Reihe bekommen würde, aber wenigstens hatte er seine Freunde dabei, wie ihm helfen konnten. Irgendwie war es sogar gut, dass sie es erst dieses Jahr versuchten – seine Schwester Phyllis hatte letztes Jahr ihren Schulabschluss gemacht und war nun drauf und dran das Ministerium zu erobern, womit sie natürlich keine Möglichkeit mehr hatte, ihrer Mum zu schreiben, wie Peter sich in der Schule anstellte oder ihn dafür zu schelten, weil er mit seinen Freunden Streiche spielte. Zwar vermisste er es irgendwie zu wissen, dass Phyllis nicht weit weg war, wenn er Probleme hatte, aber er würde sie immerhin zu den Weihnachtsferien wieder sehen. Sie hatte es versprochen.
Die Gedanken an seine Schwester schüttelte er ab und beeilte sich, die richtigen Bücher zu finden. Er wollte diese verdammte Abteilung so schnell wie möglich wieder verlassen. Laut Remus sollten es nicht allzu schwierig sein, Bücher mit Wahrnehmungszaubern in der Verbotenen Abteilung zu finden – Remus war allerdings nicht hier, um selbst danach zu suchen, sondern hatte sich James und Sirius angeschlossen, die Ablenkung durchzuziehen. Sie hatten Peter zum Bücher holen geschickt, weil er von ihnen der kleinste und schnellste war. Zumindest der schnellste, was das Schleichen anging. Peter war sich sicher, dass er haushoch verlieren würde, wenn sie wirklich versuchen würden herauszufinden, wer von ihnen am schnellsten laufen könnte. Seine Galleone war auf James.
Willkürlich hielt er vor einer Regalreihe an. Unerkenntliche Zeichen und Runen waren auf den meisten Titel zu sehen, die Buchrücken waren so dunkel verfärbt, dass er sie kaum entziffern konnte und auf den wenigsten Büchern stand überhaupt, wer es geschrieben hatte. Er bezweifelte, dass er ein Buch finden würde, dass zufällig Wahrnehmungszauber für Anfänger hieß, aber es würde nicht schaden, zumindest ein paar von den Wälzern aus dem Regal zu ziehen und sich anzusehen, was in ihnen stand. Peter zog ein breites, ledernes Buch auf Augenhöhe aus dem Regal, öffnete es und las sich rasch durch, was auf den ersten Seiten stand. Das Blut gefror ihm in den Adern, als er realisierte, was dort stand.
Es gibt keine schlimmere Magie, als die Form, der Körpererweckung, auch Inferius genannt. Ein Inferius ist die reinkarnierte Leiche eines Menschen, die mit dunkler Magie und einem bestimmten Willen gefüllt wird, sodass sie für verschiedene Zwecke missbraucht werden kann. In der Geschichte wurden die Inferi in vielen Kämpfen und Kriegen genutzt, um eine Seite langsam aber sicher in Tod zu ertränken, während die andere dadurch nur stärker wurde. Es kam auch vor, dass verwunschene Friedhöfe mit Inferi überrannt wurden und erst durch talentierte Hexen und Zauberer wurden gereinigt werden mussten. Einige dieser Friedhöfe gab es sogar in der Nähe der renommierten Hogwarts-Schule, die dazu geführt hatten, dass im frühen neunzehnten Jahrhundert einige Schüler zu Tode kamen. Zwar besteht mittlerweile kein Grund der Furcht mehr, dass sich die Inferi aus ihren Gräbern erheben, aber Zauberer und Hexen sollten es trotzdem meiden, dunkle Höhlen allein zu betreten, besonders dann nicht, wenn sie keine Feuer-Zauber beherrschen, die die einzige Schwachstelle der Inferi ist. Sollte man einem Inferi begegnen, sollte man sich gewiss sein, dass es nicht bei einem Exemplar bleiben wird.
Angewidert ließ Peter das Buch zusammenklappen und stopfte es mit raschem Atem zurück in die Lücke. Schweiß stand ihm auf der Stirn und eine Gänsehaut kroch seinen Rücken hinab. Er hatte schon von vielen dunklen Zaubern gehört, aber Totenerweckung musste der schlimmste sein. Er mochte sich gar nicht ausmalen, wie schrecklich eine Begegnung mit so einem Inferi sein musste – oder noch schlimmer, wie es sein musste, nach dem Tod in einen verwandelt zu werden. Gab es denn wirklich gar nichts, wovor dunkle Hexer und Hexen Halt machten?
Peter versuchte das imaginäre Bild von aus dem Grab aufstehenden Leichnamen zu vergessen und machte sich wieder auf die Suche nach Wahrnehmungszaubern. In der Verbotenen Abteilung konnte er kaum hören, was im vorderen Teil der Bibliothek los war, deswegen wusste er nicht, wie viel er Zeit er noch hatte oder jemand kommen würde, um nach dem Rechten zu sehen. Den Tarnumhang zog er etwas enger um den Körper und achtete darauf, dass sein Stab nicht herausschauen würde.
Vor dem nächsten Regal mit Verwünschungen machte er erneut Halt. Als würde selbst die Schule wollen, dass er endlich aus dieser Abteilung verschwand, stach ihm beinahe sofort ein riesiges, in schuppig grünes Leder gebundenes Buch ins Auge. Zwar trug es keinen Titel, aber Peter blätterte es trotzdem auf. Direkt auf der dritten Seite stand endlich, wonach er gesucht hatte.
Die Wahrnehmung ist ein sensibles und überaus komplexes System des Menschen, das nur mit äußerst mächtiger Magie außer Gefecht gesetzt werden kann. In diesem Buch wird Magie behandelt, die weit über die einfachen Verwirrungszauber gehen, die nur einen bestimmten Teil des Hirns angreifen. Blättern Sie weiter, um …
Ein Poltern ließ Peter zusammenschrecken. Das musste entweder heißen, dass jemand auf dem Weg zu ihm war, oder dass ihre Ablenkung in die letzte Phase übergegangen war – Peter hoffte auf Letzteres. Eine kleine Rauchbombe gefüllt mit einem langanhaltenden Klebezauber würde ihm genügend Zeit erschaffen, um sich unter dem Tarnumhang sogar an Madam Pince‘s Aderlaugen vorbeizuschleichen. Peter klemmte sich das massive Buch unter den Arm, wirbelte herum und begann seinen Rückweg aus der Verbotenen Abteilung, froh, endlich dem unheimlichen Flüstern zu entkommen, von dem er das Gefühl hatte, dass es ihn tiefer in die Schatten locken wollte. Er mochte sich gar nicht ausmalen, was für widerwärtige Bücher dort versteckt lagen.
Mit dem Buch unterm Arm stürmte Peter durch das Tor, verriegelte das Schloss erneut und stopfte sein Diebesgut hastig in seine Umhängetasche, die er an ihrem Tisch gelassen hatte. Wie er gehofft hatte, sah er dicken Rauch in der Nähe des Eingangs emporsteigen. Stimmengewirr wurde lauter, je näher er ihm kam.
„ – wirklich nicht, wo das herkommt!“, konnte er Sirius hören.
„Lügen Sie nicht, Black!“, spuckte die garstige Madam Pince zurück. „Erst diese kindische Verwandlung und dann eine Rauchbombe! Da ist überall Ihre Handschrift drauf zu sehen.“
„Meine Handschrift ist wesentlich ordentlicher als das, Madam.“
Die Bibliothekarin ließ einen vogelähnlichen Schrei entkommen, bevor sie hinterherrief: „Warten Sie nur ab, bis der Schulleiter davon erfährt!“
Durch den dichten Rauch war es nicht einfach zu erkennen, aber Peter kämpfte sich seinen Weg bis zum Eingang, wo Madam Pince, Sirius, Remus und James mit den restlichen Schülern aus der Bibliothek um das Pult der Bibliothekarin versammelt standen. Oder zumindest, was mal ihr Pult war. Etliche Holzstücke waren in der Gegend verteilt und es sah so aus, als wäre es von innen heraus explodiert. Peter vermutete, dass Sirius es mit seiner Verwandlung ein wenig übertrieben hatte.
Er schlich sich an Remus und James vorbei, wobei er darauf achtete, James das Signal zu geben, indem er ihm zwei Mal schnell gegen den Ellbogen tippte, dann eilte er aus der Bibliothek in den Gang dahinter, der glücklicherweise ausgestorben war. Kaum hatte er den Gang betreten, konnte er Remus´ Stimme hören: „Ich werde Professor McGonagall holen, Madam Pince.“
Einen Moment später erschien auch er im Gang. Flüsternd fragte er, einige Meter an Peter vorbeiblickend: „Pete?“
„Hier“, antwortete er grinsend. „Mit Beute.“
Remus seufzte erleichtert aus. „Sehr gut. Komm schon, James und Sirius werden nachkommen. Die Bombe sollte gleich noch mal hochgehen.“
Er und Remus waren kaum die ersten Treppe hinaufgeklettert, als Peter ein erneutes Poltern hörte. „Das war es wohl.“ Er streifte sich den Umhang vom Kopf und stopfte ihn ebenfalls hastig in seine Tasche, als nur wenige Momente später dicker schwarzer Rauch aus dem Gang hinter ihnen drang. Schritte und Rufen wurde laut.
„Ich lasse Sie alle von der Schule schmeißen!“, kreischte Madam Pince, aus deren Zauberstab ein schwaches Licht kam, während sie zerzaust aussehend aus dem Rauch stolperte, James, Sirius und die anderen Schüler hinten ihr. Jeder von ihnen sah aus, als hätten sie ihr Gesicht in den erkalteten Ruß im Kamin gesteckt. „In meiner gesamten Zeit an Hogwarts habe ich soetwas noch nie erlebt!“, zeterte sie, während sie an ihnen vorbeirannte, höchstwahrscheinlich selbst auf dem Weg zum Schulleiter.
James und Sirius grinsten über beide rußverschmierten Ohren. „Genial“, sagte Sirius. „Was für eine Ablenkung“, fügte er leise hinzu.
Die restlichen Schüler brummten und redeten angeregt darüber und schenkten ihnen kaum Beachtung, während sie sich langsam verteilten und entfernten. Peter konnte gut hören, wie einige von ihnen sich darüber beschwerten, dass sie jetzt im Gemeinschaftsraum lernen mussten. Ein wenig schuldig fühlte er sich, dass sie den hart arbeitenden Schülern ihren Rückzugsort genommen hatten, aber er hoffte, dass Dumbledore die Rauchbombe schnell entsorgen konnte. Außerdem hätte Remus niemals zugelassen, dass sie sowas in der Bibliothek veranstalten würden, wenn es nicht sicher genug wäre. Dafür war er selbst viel zu vernarrt in die Bibliothek von Hogwarts.
„Und?“, fragte James mit glänzenden Augen, nachdem er seine Brillengläser notdürftig an seinem Umhang abgewischt hatte. „Hast du was?“
Mit stolzem Grinsen zog Peter das geborgte Buch aus seiner Tasche, sodass seine Freunde einen Blick auf den ledernen Einband werfen konnten. „Ich glaube, es ist perfekt.“
„Guter Mann, Pete!“ James klopfte ihm anerkennend auf die Schulter und Peters Herz überschlug sich ein paar Mal. Er würde nie müde davon werden, für seine guten Leistungen gelobt zu werden.
„Aber in die Abteilung will ich nicht noch mal“, sagte er. Allein beim Gedanken daran schüttelte es ihn wieder. „Die Bücher dort sind unheimlich und überall steht so widerliches, schwarzmagisches Zeug. Es war so gruselig.“
„Dann solltest du nie die Bibliothek meines Vaters sehen“, meinte Sirius. Fleckiger Ruß bedeckte seine helle Haut und klebte in seinen schwarzen Haaren. Es war beinahe schon unfair, wie Sirius selbst das Nutzen konnte, um irgendwie besser als sie alle auszusehen. „Ich wette seine Sammlung macht der Verbotenen Abteilung richtig Konkurrenz.“
„Wir sollte lieber verschwinden“, sagte Remus leise, der unter dem ganzen Ruß noch blasser als sonst aussah. „Madam Pince kommt wieder.“
Peter versuchte nach der Bibliothekarin zu lauschen, konnte allerdings nichts außer dem Flüstern der Portraits und dem schabenden Geräusch der andockenden Treppen vernehmen. Remus´ grimmiger Gesichtsausdruck allerdings ließ ihn nicht weiter nachfragen. Das war vielleicht wieder sein sechster Werwolf-Sinn.
Die vier Rumtreiber drehten sich um die eigene Achse, James warf einen Wandteppich zur Seite und gemeinsam erklommen sie die enge Treppe, die sie direkt in den sechsten Stock führen würde. Inmitten seiner Freunde und mit ihrer Diebesbeute fest an seinen Körper gepresst, fühlte Peter sich wieder richtig wie zuhause.
Chapter 37: 37. Jahr 3: Bündnisse
Chapter Text
Remus hätte sich gewünscht, dass sein Körper weniger radikal auf den kommenden Vollmond reagierte, aber er befürchtete, es war egal, was er sich wünschte. Der Mond interessierte sich nicht für ihn und weder tat es der Wolf, der hinter seiner Haut wie ferner Donner grollte. Er konnte ihn hören, wenn er versuchte zu schlafen, konnte seinen Hungen spüren, wenn er zum Frühstück ging und noch viel mehr konnte er ihn fühlen, wenn er versuchte, an alles zu denken, außer den Wolf. Remus wollte im Unterricht aufpassen, wollte Aufsätze mit seinen Freunden schreiben und gemeinsam mit Lily lernen, aber alles, was sein Körper wollte, war freigelassen zu werden. Es war beängstigend, dass seine Freunde von seinem Problem wussten und ihn trotzdem in ihrem Leben haben wollte, denn noch beängstigender war es, was geschehen wäre, wenn sie es nicht gewollt hätten. Remus wusste, dass er sich immer auf James, Sirius und Peter verlassen konnte, aber was würde sein, wenn er es nicht mehr konnte. Würde man von seinem Geheimnis erfahren? Oder würden sie es, nobel und gut, wie sie waren, mit ins Grab nehmen?
Seinen Eltern hatte er nichts davon erzählt. Es hätte nur zwei mögliche Szenarien gegeben, die über die Sommerferien hätten geschehen können und keines davon hatte ihn sonderlich davon überzeugt, dass er es ihnen anvertrauen wollte. Er wusste, dass sein Vater ihn ohne Widerworte, ohne auch nur zu hören, was Remus zu sagen hatte, von der Schule genommen und erneut umgezogen wäre. Sie hätten ihr kleines Dorf zurückgelassen und er hätte Hogwarts nie wieder gesehen. Er hätte seine Freunde nie wieder gesehen und egal wie sehr er und seine Mutter sich geweigert hätten, am Ende hätten sie kleinbeigeben müssen, denn sein Vater war noch immer derjenige, der für sie sorgte. Er war es, der die Entscheidungen traf.
Die zweite Möglichkeit war noch viel angsteinflößender. Er hätte seinem Vater seine Freunde vorstellen müssen, damit dieser sich selbst davon überzeugt hätte, ob es vertretbar war, dass drei minderjährige Zauberer davon wussten, dass sein Sohn ein Werwolf war. Remus wusste, dass es alles nur aus Sorge und Liebe geschah, aber er wünschte sich, sein Vater würde zumindest für einen Tag vergessen, dass sein Sohn ein Monster war. Nur für einen Tag wollte er, dass sein Vater ihn ansah und ihn mit zum Wandern nahm, ohne dass beide wussten, dass Remus sich beim nächsten Vollmond das Fleisch von den Knochen beißen würde.
Erneut war es egal, was er sich wünschte. Die Welt kümmerte sich nicht um seine Wünsche.
Er war zumindest froh, dass er wieder in der Schule war. James´ Streichplanung bereitete ihm trotz der komplizierten Zauber und der vielen Nachforschungen eine Menge Freude und auch die Bibliothek, die nach ihrem Rauchüberfall für ein paar Tage unbetretbar war, hatte sich endlich wieder geöffnet, sodass er mit seinen Freunden seine Hausaufgaben erledigen konnte. Seine anderen Freunde, offensichtlich, denn James und Sirius hatten Nachsitzen aufgebrummt bekommen, weil Madam Pince aufgrund ihrer schlechten Schauspielkünste davon überzeugt war, dass es ihre Schuld gewesen war. Remus war, einmal mehr, mit einer Verwarnung davongekommen.
„Es überrascht mich eigentlich gar nicht“, sagte Emmeline Vance über ihren Zauberkunstaufsatz hinweg, „dass James und Sirius schon wieder Nachsitzen haben. Ich meine, ein neuer Rekord ist es aber glaube ich schon, oder?“
Lily schnaubte angriffslustig. „Wenn ich nicht wüsste, dass das komplett unsinnig wäre, würde ich ja hoffen, die beiden hätten ihre Lektion endlich mal gelernt.“
„Beruhig dich, Lily“, meinte Marlene lachend, „es ist ja niemand zu Schaden gekommen.“
„Sag das mal den Siebtklässlern, die die paar Tage nicht für ihre UTZs studieren konnten“ , entgegnete Dorcas Meadowes. „Im Gemeinschaftsraum war die Hölle los. Ich glaub, ich hab noch nie so viele Schüler auf einem Haufen gesehen, die kurz vorm Nervenzusammenbruch waren.“
„Wenn ihr weiter so Horrorgeschichten erzählt, dann hör ich nach diesem Jahr auf“, sagte Mary und legte ihre Feder beiseite.
Remus schenkte ihr ein schwaches Lächeln. „Keine Sorge, Mary, die Prüfungen hören sich schlimmer an, als sie sind.“
„Ich glaube dir kein Wort“, erwiderte sie.
„Er hat aber Recht“, fügte Emmeline an. „Es wird immer ein großes Gerede um die Prüfungen gemacht, aber die sind wirklich nicht so schlimm. Ich meine, klar, man muss ungefähr sechs Monate im Voraus anfangen zu lernen, weil irgendein Sadist sich ausgedacht hat, dass man Stoff aus allen sieben Schuljahren wissen muss, aber wenn man das mal außen vor lässt, dann sind die Prüfungen kaum mit unseren zu unterscheiden.“
„Muss man für die UTZ nicht auch weniger Prüfungen abschließen?“, fragte Lily. „Im siebten Jahr hat man doch nur noch seine qualifizierten Fächer, oder?“
„Genau“, meinte Marlene. „Im sechsten Jahr muss man zwar noch alle Fächer abschließen, die man in den ZAGs bestanden hat, aber fürs siebte Jahr sind nur noch die Fächer relevant, die man für seine ausgewählte Karriere braucht. Marek hat zum Beispiel im siebten Jahr nur noch Alte Runen, Arithmantik, Verteidigung, Verwandlung und Zaubertränke belegt, weil er nur die Prüfungen zum Fluchbrecher gebraucht hat. Er hat mir auch erzählt, dass es in seinem Jahrgang ein paar gab, die im ganzen Jahr nur für zwei Prüfungen lernen mussten, weil sie nicht mehr benötigt haben.“
Lily runzelte die Stirn und Mary tat es ihr gleich. „Aber“, fing Lily langsam an, „ist das nicht komisch? Ich meine, was ist, wenn ich im siebten Jahr noch nicht weiß, was ich nach der Schule machen will?“
„Dann machst du alle Pflichtfächer“, entgegnete Dorcas. „Wahlfachprüfungen kannst du zwar auch noch machen, aber das empfehle ich dir bei den UTZ nicht. Du wirst mit den Pflichtfächern schon genug zu tun haben.“
„Es ist aber schon sehr unwahrscheinlich, dass man nicht weiß, was man machen will. Im fünften Jahr geht die Berufsberatung los“, fügte Marlene an, „da hast du dann einen guten Überblick über alle möglichen Jobs, die man in der Zaubererwelt so machen kann.“
Lily blickte auf ihre zur Hälfte beschrieben Pergamentrolle und zuckte mit den Achseln. „Schätze schon.“
Remus presste die Lippen zusammen. Zwar war er sich sicher, dass Lily eine gute Aussicht auf Jobs hatte, aber er konnte verstehen, wie sie sich fühlte. Auch er wusste nicht, was er jemals nach der Schule anstellen sollte, aber nicht, weil er nicht wusste, was man alles arbeiten konnte, sondern weil er wusste, dass niemand ihn einstellen würde, sobald sie von seiner Kondition erführen. Wer würde schon einen Werwolf einstellen? Wer würde schon mit einem Werwolf arbeiten wollen? Er versuchte seine bitteren Gedanken beiseitezuschieben, doch der Vollmond machte es ihm schwer, nicht daran zu denken. Selbst jetzt, obwohl er mit seinen Freunden zusammensaß, wollte ihm der Wolf einen Strich durch die Rechnung machen.
Seine Gelenke schmerzten, sein Nacken war steif und ein fieser Kopfschmerz hämmerte mit jedem Herzschlag hinter seinen Augen, sodass er sich kaum auf das konzentrieren konnte, was in seinem Lehrbuch stand.
Scheinbar war ihm das auch deutlich anzusehen, denn Marlene beugte sich einen Moment später zu ihm, deutete mit dem Finger auf sein Pergament und sagte: „Ich glaub, du hast dich da verlesen. Die Koboldaufstände von 1612 fanden in der Umgebung von Hogsmeade statt, nicht in Holland. Und ich bin mir auch ziemlich sicher, dass keine Hauselfen als Kanonen benutzt wurden.“ Marlene versuchte ihr Lachen zu verstecken. „Bist du sicher, dass du den richtigen Text gelesen hast?“
Die Blicke der anderen wanderten zu ihm und Remus wurde sich schmerzlich bewusst, wie sehr sein Kopf hämmerte. „Äh“, fing er an, kam aber nicht weit, als er die Augen zusammenkneifen musste. Das sanfte Bibliothekslicht tat auf einmal zu sehr weh.
„Geht’s dir nicht gut, Remus?“, fragte Dorcas langsam. „Du bist echt blass.“
„Blasser als sonst“, fügte Emmeline an, die ebenfalls ein wenig besorgt klang.
„Remus?“, fragte Mary, als er nicht reagierte.
Vorsichtig hob er die Hände und wischte sich übers Gesicht. „Alles gut“, murrte er und zwang sich, ein Auge zu öffnen. Ein Blick zum Fenster verriet ihm, dass der Mond nur noch wenige Stunden entfernt war. Sein Plan, zumindest die Hausaufgaben für Geschichte der Zauberei abzuschließen, fiel damit wohl ins Wasser. „Mir ist nur ein wenig schummrig.“
„Komm schon.“ Eine warme, sanfte Berührung an seiner Schulter ließ ihn beinahe zusammenzucken, aber Lily nahm ihre Hand nicht weg. „Du gehörst in den Krankenflügel. Du siehst aus, als würdest du jeden Moment umkippen.“
„Ich komm schon zurecht“, murrte er, musste sich aber beim Aufstehen an Lilys Arm festkrallen, damit er nicht den Halt verlor.
„Schon klar“, gab sie murmelnd zu. „Ich bring ihn zu Madam Pomfrey. Passt ihr kurz auf meine Sachen auf?“
„Kein Problem, Lily“, sagte Mary.
„Ruh dich aus, Remus“, meinte Emmeline.
„Genau“, fügte Marlene an. „Und keine Sorge um deinen Aufsatz, ich kümmere mich darum.“
„Das musst du nicht –“, fing er an, aber sie unterbrach ihn mit einer erhobenen Hand.
Sie lächelte und antwortete: „Du würdest es auch für uns machen.“
„Komm mit, Remus.“ Lilys Hände an seiner Schulter und an seinem Ellbogen waren wie kleine, warme Anker, die ihn daran hinderten, über seine eigenen Füße zu stolpern. „Du wirst wirklich oft krank“, sagte sie, kaum dass sie die Bibliothek verlassen hatten. „Vielleicht solltest du mal einen Arzt fragen, ob dein Immunsystem geschädigt ist.“
Die Komik der Situation entging ihm nicht. Er bezweifelte, dass ein Muggel-Arzt ihm mit seinem Werwolf-Problem weiterhelfen könnte. „Vielleicht“, gab er vage zurück. „Du musst auch nicht mitkommen, Lily.“
„Nichts da“, erwiderte sie mit scharfer Stimme. „Ich werde sichergehen, dass du im Krankenflügel ankommst und eine angemessene Behandlung bekommst.“
Remus lächelte schwächlich. „Madam Pomfrey behandelt mich immer gut.“
„Das sollte sie besser, sonst lernt sie mich kennen.“
„Sie hätte bestimmt Angst vor dir.“
Lily stemmte eine Hand in die Hüfte und blickte ihn aus dem Augenwinkel an. „Bezweifelst du meine Bedrohlichkeit etwa?“
„Ganz und gar nicht. Ich habe richtig Angst vor dir. Wenn du noch bedrohlicher wärst, dann würde sich mein Immunsystem vor dir erschrecken.“ Eigentlich wollte Remus sichergehen, dass er Lily vor dem Krankenflügel abschütteln könnte, aber er war sich ziemlich sicher, dass seine Mitschülerin sich nicht einmal dann davor abbringen lassen würde, ihn sicher ins Krankenzimmer zu bringen, wenn die halbe Schule zusammenstürzen würde. Er hoffte nur, dass Madam Pomfrey sie irgendwie dazu bringen würde, zu gehen – Remus fühlte den Mond stärker nach sich rufen und er wollte Lily nicht wissen lassen, wie schlecht es ihm wirklich ging.
Sie führte ihn ein paar Schritte weiter, dann stockte sie plötzlich.
„Was ist?“
„Meinst du, Madam Pomfrey würde mich dabei zugucken lassen, wie sie dich behandelt?“, fragte sie langsam.
Remus fühlte sich, als hätte man ihm siedend heißes Wasser in den Nacken gekippt. „W-Was? Wieso das denn?“
„Vielleicht wäre ich ja eine gute Heilerin“, sagte sie. „Ich find es echt angsteinflößend, dass wir in zwei Jahren schon Berufsberatung haben, du nicht?“
„Schon, aber …“
„Und da dachte ich“, sprach sie weiter, „dass ich mir angucken kann, wie eine echte Heilerin arbeitet. Vielleicht wäre der Job ja was für mich. Ich meine, ich kann mir nicht wirklich vorstellen, irgendwas im Ministerium zu machen, das klingt für mich so, als würden die alle nur am Schreibtisch sitzen, da wäre nichts für mich. Aber Heilen klingt doch ganz interessant, nicht?“
Remus wäre dankbar, wenn man ihm einen Schreibtischjob anvertrauen könnte, aber er befürchtete, dass das Lily nicht sonderlich freuen würde. „Schätze schon“, sagte er stattdessen und versuchte sie mit sich zu ziehen. Seine Gelenke fühlten sich an, als wären sie aus Feuer und jeder seiner Schritte brachte ihm zischende Schmerzen ein, als würde er immer wieder auf spitze Steine treten. „Aber ich weiß nicht, ob Madam Pomfrey …“
„Ich werde sie einfach mal fragen.“ Lily ging weiter, ihre Schritte ein wenig federnder als zuvor. „Das wäre doch cool, oder nicht? Wenn ich wüsste, wie man jemanden ärztlich behandelt, dann könnte ich mir sicher sein, dass ich auch was erreiche, wenn ich aus der Schule bin. Ich kann mir immerhin keine guten Beziehungen oder Stellen einfach erkaufen, wie manch andere es könnten“, fügte sie mit bitterer Stimme an.
„Falls du James und Sirius meinst“, sagte er, „dann kann ich dich vergewissern, dass ihnen nicht viel daran liegt, ihr Privileg dafür zu nutzen. Ich glaube, besonders Sirius wird es nicht.“
Lily biss sich für einen Augenblick auf die Lippe, dann erwiderte sie: „Ich schätze mal nicht. Aber es ist trotzdem unfair.“
„Dass sie es könnten?“
Sie nickte.
„Wäre doch auch langweilig, wenn das Leben fair wäre“, murmelte er als Antwort, als sie der Tür zum Krankenflügel näher kamen. Obwohl er Lily liebend gern abwimmeln würde, wollte er auch ihre Gefühle nicht verletzen. Außerdem schien es eine wirklich gute Idee zu sein – nur ein gänzlich schlechter Zeitpunkt. Er hoffte, Madam Pomfrey würde ihr einfach einen anderen Tag anbieten, wenn er nicht kurz davor war, sich in ein Monster zu verwandeln.
Als sie an der Tür ankamen, konnte Remus Stimmen hören. Eine davon gehörte zu Madam Pomfrey, die er mittlerweile wahrscheinlich überall erkennen würde, die andere kannte er allerdings nicht.
Lily blieb ebenfalls stehen und sah Remus zögerlich an. „Sollen wir warten?“, fragte sie.
Es wäre sicherlich die höfliche Art und Weise, wenn sie solange warten würden, bis Madam Pomfrey ihr Gespräch beendet hatte, allerdings ging es Remus wirklich mies – und er war mit der Heilerin verabredet. Sie wusste, dass er kommen würde. Kopfschüttelnd sagte er: „Nein, lass uns reingehen.“
„Na schön“, murmelte sie. „Du musst dich wahrscheinlich wirklich ein bisschen hinlegen.“
Obwohl er am liebsten allein sein würde, war er irgendwie froh, dass Lily bei ihm war. Ihre Nähe war warm und vertraut, fast so, als würde sie wirklich wissen, was mit ihm los war und es würde sie trotzdem nicht interessieren. Wahrscheinlich wäre das sogar irgendwie wahr. Lily war muggelgeboren, sie würde gar nicht die ganzen Vorurteile gegen Menschen wie ihn kennen – vielleicht würde sie ihn wirklich so akzeptieren, wie er war, ohne ihn anders zu behandeln. Oder plötzlich Angst vor ihm zu haben.
Vorsichtig stieß Lily die halboffene Tür in den Krankenflügel auf.
„ – nur ein paar Monate dauern, allerhöchstens bis zum Ende des Schuljahres, dann sollten Sie – oh!“ Madam Pomfrey hielt inne, als sie Lily und Remus erkannte.
Mit der Heilerin im Raum stand eine Schülerin, die wohl in ihrem Alter sein musste, aber Remus konnte sie nicht wirklich einordnen. Sie hatte schulterlange blonde Haare, die ein wenig lockig aussahen und grüne Augen, mit denen sie Lily und Remus überrascht musterte, als wäre es eine absolute Neuheit, dass Schüler den Krankenflügel besuchten. „Hey, du bist doch mit Mary Macdonald befreundet, oder?“, fragte die Schülerin und ging einen Schritt weiter in den Raum, damit sie Lily und Remus entgegenkommen konnte.
„Und wenn ich es wäre?“, stellte Lily misstrauisch ihre Gegenfrage.
Die Schülerin grinste. „Richtig, du erkennst mich wahrscheinlich gar nicht. Ich bin Alana Morrison, Hufflepuff aus dem dritten Jahr. Deiner Freundin Mary bin ich am Anfang des Jahres zufällig über den Weg gelaufen und sie wollte sich noch für einen Gefallen bei mir revanchieren. Kannst du ihr vielleicht sagen, dass ich das gesagt habe?“
Lily blickte irritiert drein und auch Remus verstand nicht wirklich, was diese Alana sagte. Es schien, als hätte Mary Lily auch nichts von einem Treffen oder einem Gefallen mit ihr erzählt. „Kann ich machen“, sagte sie langsam, die Augenbrauen tief zusammengezogen. „Worum –“
„Nicht so wichtig“, erwiderte Alana mit einer wegwerfenden Handbewegung, ehe sie sich wieder an Madam Pomfrey wandte. „Danke schon einmal, das war wirklich hilfreich. Ich werde mich die nächsten Tage noch einmal melden, wenn das okay ist.“
„Absolut, meine Liebe, du kannst immer zu mir kommen.“
Alana schenkte der Heilerin ein breites, charmantes Lächeln, dann drehte sie sich mit wehenden Haaren um. „Wiedersehen! Oh, und gute Besserung!“
Sie war aus der Tür, bevor Remus hätte etwas erwidern können. Irgendwie fühlte er sich, als hätte er ein paar Minuten lang nichts mehr mitbekommen, nur um dann das Ende einer Konversation zu sehen. Er schüttelte kurz den Kopf.
Madam Pomfrey kam sofort auf ihn zugeeilt. „Danke, Miss Evans, ab hier übernehme ich.“ Sie legte Remus vorsichtig eine Hand auf die Schulter und führte zu einem der hinteren Betten, um das sie auch die Trennwände zog, kaum hatte er sich gesetzt. „Du bist spät dran“, sagte sie leise.
Er zuckte mit den Schultern.
Sie lächelte, tätschelte ihm kurz den Oberarm und wollte gerade etwas erwidern, als Lilys Stimme sie unterbrach: „Madam Pomfrey, wenn Sie nichts dagegen hätten, dann würde ich gerne bleiben.“ Sie tauchte hinter der Trennwand auf, die Hände vor sich verschlungen.
„Bleiben?“, fragte die Heilerin irritiert und blickte zwischen Remus und Lily hin und her. „Tut mir leid, Miss Evans, aber Mr. Lupin braucht seine Ruhe.“
„Ich weiß! Ich meine, ich würde“, Lily holte tief Luft, „ich würde gerne wissen, wie sie ihn behandeln.“
„Wie ich ihn behandle?“ Madam Pomfrey schien noch verwirrter zu sein, bis sie wieder zu Remus blickte. „Das heißt, sie –“
„Nein“, unterbrach er sie schnell.
Ihre Miene wurde weicher, während auf Lilys Gesicht Verwirrung und Verletzung zugleich blitzten. „Tut mir leid, Miss Evans“, meinte die Heilerin mit sanfter Stimme und ging einen Schritt auf sie zu. „Selbst wenn Sie bleiben würden, würden Sie nicht viel lernen. Ich werde Remus einen Schlaftrank geben und dann wird er die Nacht lang hierbleiben.“
„Oh.“ Lily presste die Lippen zusammen. „Verstehe.“
„Tut mir leid, Lily“, murmelte Remus ohne in ihre Richtung zu blicken. Er konnte es nicht ertragen, den Verrat in ihren Augen zu sehen, den sie fühlen musste. Sie konnte nicht wissen, warum er Nein gesagt hatte. Für Lily musste es so klingen, als ob Madam Pomfrey hatte fragen wollen, ob er sie dabei haben würde. Er krallte die Hände in die Decke, auch wenn ihm selbst diese Bewegung Schmerzen bereitete.
„Vielleicht ein andermal. Wenn Sie wollen, können Sie mich gerne morgen nach dem Unterricht besuchen und ich kann Ihnen zeigen, wie ich den Trank dosiere, falls es Sie interessiert.“ Madam Pomfrey legte auch Lily eine Hand an die Schulter, ein sanfter Ausdruck in den Augen. Obwohl die Heilerin selbst so aussah, als wäre sie kürzlich erst aus der Schule gekommen, hatte sie eine Art an sich, mit der sie die Schüler um sich herum sammeln konnte. Für Remus war klar, dass es ihre mütterliche Art war und wie sie sich um ihn kümmerte, wenn er nach dem Mond kaum stehen konnte. Sie hatte sich nicht ein einziges Mal beschwert und jeden seiner Wünsche erfüllt, manchmal ohne dass er fragen musste.
„Das wäre toll!“, sagte Lily, die wieder glücklicher drein sah. „Also gut. Gute Nacht, Remus! Erhol dich gut.“
„Mach ich. Nacht, Lily.“
Madam Pomfrey und Remus warteten, bis die Tür zum Krankenflügel wiederzugefallen war, dann drehte sich die Heilerin mit einer angehobenen Braue zu ihrem Patienten um. „Du und Lily, also, ja?“
„W-Was?“
Sie grinste in einer Art und Weise, die Remus bei ihr noch nie gesehen hatte. „Also bitte, ich erkenne es ja wohl, wenn da irgendwas funkt. Ich hab genügend Schüler über die Jahre gesehen, um zu wissen, wann da was im Gange ist.“
Remus schnaubte belustigt, auch wenn er sein heißes Gesicht nicht verhindern kann. „Dann ist Ihr Urteil nicht so gut, wie Sie denken, denn zwischen mir und Lily ist nichts. Wir sind nur Freunde. Das ist übrigens möglich.“
„Das sagst du jetzt“, erwiderte Madam Pomfrey mit schnalzender Zunge. „Aber warte nur ab, bis ihr alle so richtig in die Pubertät kommt. Ich sag dir, du wirst in den nächsten Jahren so viele Hormone im Körper haben, keiner von euch wird sich von irgendwelchen Schwärmen retten können.“
„Das bezweifle ich stark“, sagte Remus, der mehr als bezweifelte, dass er je Gefühle für jemanden entwickeln könnte, den er mit elf Jahren kennengelernt hatte. Er unterdrückte ein Gähnen, dann fügte er an: „Außerdem ist es irgendwie seltsam, wenn Lehrer sowas sagen.“
Madam Pomfrey lachte, bevor sie eine wegwerfende Handbewegung tat. „Wie gut, dass ich keine Lehrerin bin.“ Sie warf einen Blick aus dem Fenster, ehe sie sagte: „Du kannst dich noch ein wenig hinlegen, bevor wir zur Hütte gehen. Ich sorge dafür, dass keine weiteren… Freundinnen versuchen, dich zu besuchen.“
Remus verdrehte die Augen, als sie sich von seinem Bett entfernte.
Er wusste nicht, ob es daran lag, dass er sich noch hingelegt hatte, oder ob er es dem Gespräch mit Madam Pomfrey zu verdanken hatte, aber auf dem Weg in die Hütte fühlte Remus sich bereits besser. Zwar schmerzten seine Gelenke noch und seine Beine fühlten sich mit jedem Schritt wie Gummi an, aber er hatte kaum noch Kopfschmerzen und Drang, sich seine eigene Haut vom Körper zu reißen, war auch geringer geworden. Die Nachtluft war kühl auf seiner flammenden Haut und Remus genoss es ein wenig zu sehr, dass er in seinem Pyjama fror. Es gab ihm Gewissheit, dass er noch menschlich war. Welcher Wolf würde schon bei milden Herbsttemperaturen frieren?
In der Hütte geleitete ihn Madam Pomfrey zum Bett, drückte ihn sanft auf die Matratze und sagte dann: „Ich bin bei Morgengrauen wieder hier, ja?“
„So wie jeden Vollmond“, erinnerte er sie lächelnd.
Sie schnalzte mit der Zunge. „Ich musste einen ganzen Sommer lang bangen, ob du die Monde gut überstehst, Remus, lass mir diesen kleinen Moment.“
Remus wurde von einer Welle an Zuneigung und Scham überrollt. Es war für ihn noch immer unverständlich, wie die Heilerin sich so sehr in ihre Arbeit knien konnte, für einen Jungen, der keine Zukunft in der Zaubererwelt haben würde, für einen Jungen, den sie kaum genug kannte, damit er sie beim Vornamen nennen würde.
Nichts ergab Sinn, auch dann nicht, als Madam Pomfrey leise seufzte und ihre Arme für einen Moment um ihn schlang und ihn fest an ihren warmen Körper presste. „Hab eine gute Nacht.“
Er fühlte sich zu erschlagen, um etwas zu erwidern und konnte nur dümmlich an die Stelle starren, an der sie an der Treppe verschwunden war. Der Mond zerrte an seinem Fleisch, der Wolf wollte seinen Knochen brechen und Remus spürte seine Augenwinkel brennen.
Als er sich verwandelte, weinte er.
***
Lily wusste nicht, was sie denken sollte. Es war wohl ein offenes Geheimnis, dass Remus ein wenig seltsam war. Sie hatte es am ersten Tag bemerkt und bemerkte es jeden Tag erneut, den sie ihn sah. Sicher, er war clever und hatte einen schnellen Kopf, außerdem war er fleißig und war einer der wenigen Jungs, mit denen sie freiwillig Zeit verbrachte, aber er war ebenfalls geheimniskrämerisch, fand für jede Situation Ausreden und schien ein paar verkorkste Moralen zu besitzen. Zumindest konnte sie sich sonst nicht erklären, wieso ein netter, fleißiger Junge wie er mit Typen wie James Potter abhing und ihm half, diese dummen Streiche auf die Beine zu stellen. Es war zum Verrücktwerden.
Am Seltsamsten war aber seine Gesundheit. Am Anfang der Schulzeit war es ihr nicht sonderlich aufgefallen, aber mittlerweile war es recht offensichtlich, dass Remus ein kränklicher, anfälliger Junge war, bei dem sie Angst haben musste, dass er an einem Papierschnitt sterben würde. Dann waren da noch die Narben, die wohl am Schwierigsten waren, zu übersehen. Nicht nur schien er sie am ganzen Körper zu haben, sie spannten sich über sein Gesicht, rissen seine Haut in mehreren Linien auf und glänzten silbrig gegen seine Blässe. Lily hatte sich bisher mit Fragen zurückgehalten, aber das hieß nicht, dass sie nicht bereits mit ihren Freundinnen darüber spekuliert hatte, was wohl mit ihm passiert war, dass er so aussah. Sie wusste, es war nicht gerade die feine englische Art, aber sie war auch nur ein Mensch, dessen Neugier gestillt werden musste. Wenn sie wüsste, dass er nicht allzu sensibel auf seine Narben reagieren würde, dann würde sie ihn einfach danach fragen.
Nachdem sie Remus zum Krankenflügel begleitet hatte, hatte sie sich nicht wieder zur Bibliothek begeben, sondern den Weg in die Eulerei eingeschlagen. Sie vertraute darauf, dass Mary und Marlene ihre Sachen mitnehmen würden, wenn sie bereits in den Schlafsaal einkehren würden, aber für den Moment musste sie einfach allein sein. Die Reaktion, die Remus ihr gegeben hatte, als sie vorgeschlagen hatte, im Krankenflügel zu bleiben, war nicht einfach an ihr abgeperlt. Sie wusste nicht, ob er sie nicht dabei haben wollte, ob er sich schämte oder ob es doch etwas war, dass er vor ihr verbarg. Es würde sie nicht überraschen, wenn Remus Geheimnisse vor jedem hatte, aber es schmerzte sie doch, dass er ihr nach fast drei Jahren noch immer nicht genug vertraute, um ihr wenigstens den Grund zu nennen. Er musste sie für wirklich dumm halten, wenn er glaubte, seine schwächlichen Ausreden würden sie davon überzeugen, dass nichts los wäre.
Die Reaktion von Madam Pomfrey hatte ihr eigentlich nur bestätigt, was sie bereits vermutet hatte. Remus musste irgendeine Krankheit haben, die er vor allen geheim hielt. Madam Pomfrey musste davon wissen und ihm helfen, wenn es schlimmer wurde, was bedeutete, dass Dumbledore es wahrscheinlich auch wusste. Sicherlich wusste Professor McGonagall auch davon. Zwar konnte sie sie schlecht danach fragen, aber es war zumindest ein wenig beruhigend, dass es nichts so lebensbedrohliches – oder gefährliches – war, dass man ihn weiterhin an der Schule lassen konnte. Lily wusste nicht, was für Krankheiten es in der Zauberwelt so gab, aber sie konnte sich gut vorstellen, dass es welche gab, die jemanden immer wieder in regelmäßigen Abständen schwächer werden ließ.
In der Eulerei angekommen, rief sie ihre kleine Eule Pallas herunter, die sich sogleich freudig auf ihre Schulter setzte. Pallas schuhute glücklich und rieb ihren gefiederten Kopf an ihrer Schläfe. Über den Sommer hinweg hatte Lily festgestellt, dass Pallas nicht unbedingt größer, aber dafür wesentlich anhänglicher geworden war. Außerdem liebte ihre Eule es, wenn man sie am Kopf kraulte und Lily hatte nie eine Möglichkeit ausgelassen, genau das zu tun. Nicht nur gefiel es Pallas, es war auch für Lily wahnsinnig entspannend.
„Ich hab leider keine Eulenkekse für dich dabei“, sagte sie leise, als Pallas an ihrem Umhang zupfte.
Empört guckte die Eule sie an.
Lily lachte. „Ich weiß, ich bin schrecklich. Ich bring dir morgen welche mit, ja? Oder du kannst dir welche beim Frühstück holen, wenn du willst. Vielleicht geb ich dir dann auch gleich einen Brief für zu Hause mit.“
Pallas schuhute erneut, grub ihre Krallen ein wenig fester in Lilys Schulter und plusterte sich dann auf.
Lily wandte sich zu einem der Fenster und seufzte leise. „Ich bin hin und hergerissen“, sagte sie, auch wenn sie nicht ganz wusste, wieso sie überraupt redete. Eine Antwort konnte sie kaum erwarten. „Remus ist mein Freund, aber er benimmt sich immer so seltsam und ich weiß nicht, was ich tun soll. Einerseits will ich mich nicht in seine Privatsphäre einmischen, aber dann wiederrum wäre es doch wichtig, wenn etwas falsch wäre, nicht wahr? Was ist, wenn er ein Problem hat und ich ihm helfen könnte?“ Lily schüttelte den Kopf. „Das ist dämlich, oder?“
Wie zu erwarten war antwortete Pallas ihr nicht. Die kleine Eule drückte sich in ihr eigenes Federkleid und machte es ein wenig bequemer, bevor sie leise mit dem Schnabel klackte und die Augen schloss.
„Naja, ist wohl meine Schuld, wenn ich eine Eule um Rat frage“, sagte sie leise lachend. „Aber es ist wirklich seltsam, weißt du? Ich bin mir sicher, dass er etwas verbirgt, aber je länger ich darüber nachdenke, desto sicherer werde ich, dass seine dämlichen Freunde es zumindest wissen. Traut er ihnen mehr als mir?“
Es war eigentlich nicht sonderlich fair Remus gegenüber, dass sie so dachte und das wusste Lily auch. Nur weil sie mit ihm befreundet war, hieß das nicht, dass sie ein Recht dazu hatte, all seine Geheimnisse zu erfahren. Nur weil sie Freunde waren, bedeutete das noch lange nicht, dass er ihr alles erzählen musste, was in seinem Leben geschah. Er hatte die Entscheidung getroffen, es ihr nicht zu sagen, sie nicht in das einzuweihen, was ihn plagte und Lily musste das akzeptieren, auch wenn das bedeutete, dass sie ebenfalls akzeptieren musste, dass er es Idioten wie James Potter anvertraut hatte, dem sie nicht einmal einen Kieselstein anvertrauen würde. Sie wusste nicht, wieso es sie so aufregte.
Vielleicht lag es daran, dass sie nicht mehr wusste, ob Remus ihr vertraute oder vielleicht lag es daran, dass sie es gewohnt war, all die Geheimnisse ihrer Schwester zu wissen, die sich ihr ebenfalls nicht mehr anvertraute. Früher konnte Lily genau sagen, was Petunia gedacht hatte, doch heute war sie sich manchmal nicht mehr sicher, ob sie ihre Schwester überhaupt kannte. Wieso sollte es denn mit Remus anders sein? Klar, sie hatten keinen großen Streit gehabt, oder sich den gesamten Sommer über einfach nur angeschwiegen, aber es war für Lily manchmal nicht einfach zu erkennen, was in ihm vor sich ging. Von seinem zu Hause hatte er nie erzählt, sie wusste kaum etwas über seine Eltern und doch schien es, als würden seine Freunde aus dem Schlafsaal genau die Dinge kennen, die sie nicht kannte. Wieso traute er ihnen mehr als ihr?
Die Tür zur Eulerei wurde aufgestoßen und Lily blickte über die Schulter. Ihre Laune fiel noch mehr in sich zusammen, als die die unordentlichen schwarzen Haare und die leicht schief sitzende Brille erkannte, die James Potter ankündigten. Sie schnaubte, bevor sie sich wieder zum Fenster drehte, aber die Hoffnung, dass er nicht mit ihr reden würde, starb in der nächsten Sekunde.
„Evans, hey! Was machst du denn um die Uhrzeit noch hier?“
„Ich wusste nicht, dass du die Eulerei als deinen persönlichen Ort gemietet hast, Potter“, erwiderte sie zischend. Pallas schuhute ärgerlich und drückte sich gegen ihre Wange. Lily hob einen Finger und streichelte ihre Eule vorsichtig am Kopf.
„War nur verwundert“, murmelte er irgendwo hinter hier. Sie konnte seine Füße auf dem schmutzigen Steinboden hören, wie er die Hacken lausig hinter sich herzog, wie sein zu tief hängender Umhang über den Schmutz scheuerte. Petunia würde sich schütteln, wenn sie wüsste, wie er sich aufführte.
Sie antwortete nicht, sondern wartete, bis er wieder verschwand. Wie sie sich hätte allerdings denken können, hatte er nicht geplant, schnell zu verschwinden und Lily ihre Ruhe zu lassen.
Seine Stimme wehte leise an ihr Ohr, als er sagte: „Aridia, komm her! Zeit für dein Tonikum!“
Lily konnte nicht verhindern, dass sie über ihre Schulter linste und beobachtete, wie eine rotbraun-gefiederte Eule sich von ihrem Platz fallen ließ und grazil auf Potters ausgestrecktem Arm landete. Es war ein wirklich schönes Tier, musste Lily zugeben, mit dunklen Augen, die sich langsam blinzelnd immer wieder schlossen, während sie zuließ, dass er ihr Gefieder mit dem Finger entlangstrich.
„Wie geht’s deiner Kralle, hm? Sieht schon viel besser aus.“
Die Eule, Aridia, schuhute leise und als hätte er ein verstecktes Kommando gegeben, streckte sie ihre rechte Kralle in die Luft, sodass er einen Finger darunterheben konnte.
Potter betrachtete die scharfkantigen Krallen seiner Eule, dann sagte er lächelnd: „Dann ist das jetzt das letzte Mal, okay? Hier, stillhalten, dann bist du erlöst.“ Aus seiner Umhangtasche holte er mit der anderen Hand eine kleine, silberne Phiole hervor, deren Deckel er geschickt abzog. Lily fand, dass die Flüssigkeit in der Phiole ein wenig wie Mondwasser aussah.
Bevor sie es hatte verhindern können, fragte sie: „Was hat sie denn?“
Überrascht blickte Potter auf, bevor er grinste. „Nur eine entzündete Kralle, nichts Lebensbedrohliches. Sie hat sich im Sommer bei ´nem Ausflug verletzt und ich hab das hier“, er schüttelte mit der kleinen Phiole zwischen den Fingern, „bei der Magischen Menagiere geholt. Wirkt echt gut, muss ich sagen. Aridia ist wieder komplett die Alte.“ Mit gekonnten Bewegungen tropfte er ein wenig der silbrigen Flüssigkeit auf die Kralle der Eule, die sich für einen Moment aufplusterte und mit dem Schnabl nach seinem Ohr kniff. „Au, hey, ich hab doch gesagt, das ist das letzte Mal gewesen. Du kannst ruhig ein bisschen dankbar sein.“ Aridia kniff ihm erneut ins Ohr, dieses Mal wohl sanfter. „Schon besser.“ Potter korkte das Fläschchen wieder zu, ließ es in seinem Umhang verschwinden und strich seiner Eule dann mit der Hand über den Rücken.
Lily wusste nicht, was sie erwartet hatte, aber irgendwie hätte sie nicht gedacht, dass er so gut zu seiner Eule sein würde. Sie hätte ihm nicht unterstellt, dass er ihr was antat, aber dass er extra den ganzen Weg auf sich nahm, um ihr ein paar Tropfen auf die Kralle zu sprenkeln … irgendwie regte es sie auf, dass er sich so gut um Aridia kümmerte, aber das hatte gänzlich damit zu tun, dass er James Potter war und sie ihn nicht ausstehen konnte.
„Was machst du hier so allein, Evans?“, fragte er schließlich, die Finger immer noch sorgfältig über die rotbraunen Federn streichend.
„Ich wollte nachdenken“, sagte sie.
Er nickte, als würde er verstehen, was das überhaupt bedeutete. „Okay. Mary sucht dich. Hab sie auf dem Weg hierher gesehen, sie meinte, du hättest deine Tasche bei ihr gelassen und wolltest eigentlich wiederkommen.“ Er ließ eine kurze Pause, als würde er glauben, sie würde etwas erwidern, dann fragte er mit vorsichtiger Stimme: „Ist alles okay?“
Lily hasste es, wie ihr Körper reagierte. Sie hasste es, dass sie den Kopf zurück zum Fenster riss, sie hasste es, dass sie ihm nicht in die Augen sehen konnte, obwohl er eine sehr normale Frage gestellt hatte und sie hasste es noch mehr, dass sie ihm wirklich gerne davon erzählen würde, was sie dachte. Damit sie es nicht tat, biss sie sich heftig auf die Innenseite ihrer Wange, bis sie Blut schmeckte. „Alles bestens, Potter“, sagte sie knapp. „Ich wollte eigentlich allein sein.“
Es verging ein Moment, dann seufzte er kaum hörbar. „Schon klar. Ich stör nicht mehr lange.“
Sie konnte es erneut Rascheln hören und, weil sie es nicht lassen konnte, linste sie wieder über die Schulter, um zu sehen, was er trieb. Mit so leiser Stimme, dass sie nicht verstand, was er sagte, redete er auf seine Eule ein, bis diese das Bein ausstreckte und er einen dicken Briefumschlag darum binden konnte. Danach trug er sie zu einem der dutzenden offenen Fenster, strich ihr ein weiteres Mal über die Federn und murmelte etwas verständlicher: „Flieg langsam, okay?“ Seine Eule schuhute, bevor sie sich von seinem Arm erhob und in die Nacht flog. Ihr rotbrauner Körper wurde vom Licht des Vollmonds erhellt.
Als er sich vom Fenster drehte, tat Lily so, als müsste sie überprüfen, ob ihr Zauberstab noch an Ort und Stelle war, damit er nicht auf die dumme Idee kommen würde, sie würde ihn beobachten.
„Also dann“, sagte er leise. „Wir sehen uns, Evans. Ich sag Mary, dass sie sich keine Sorgen machen soll.“ Ohne ihr die Chance zu lassen, etwas zu erwidern oder auch nur eine weitere Sekunde in der Eulerei zu bleiben, verließ er mit eiligen Schritten den Turm und ließ sie in ihrer Einsamkeit zurück.
Kaum war er weg, fühlte Lily sich schlecht, dass sie ihn vergrault hatte. Es war nicht seine Schuld, dass sie sich nicht wichtig fühlte und es war auch nicht seine Schuld, dass Lily in ihrer eigenen Gedankenspirale gefangen war. Wenn sie daran dachte, würde sie sich vielleicht bei ihm entschuldigen.
Vielleicht würde sie aber auch weiterhin so tun, als hätte sie seine Stimme in der Umgebung nicht genossen.
***
Mary verfluchte sich selbst dafür, dass sie so eine gute Freundin war, aber noch mehr verfluchte sie Lily dafür, dass sie unbedingt ihre halbe Büchersammlung mitschleppen musste, egal wohin sie ging. Nachdem sie Remus in den Krankenflügel gebracht hatte, war sie einfach nicht wieder aufgetaucht und obwohl Mary hatte warten wollen, wurden sie und die anderen hungrig, also hatten sie beschlossen, dass sie zum Abendessen gehen und Lilys Sachen mitnehmen würden. Dass Lilys Tasche ungefähr genau soviel wie Lily wog, hatte Mary dabei nicht berechnet.
Noch machte sie sich keine Sorgen um Lilys Aufenthalt. Entweder sie war noch bei Remus und hatte die Zeit vergessen, oder sie hatte sich irgendwohin zurückverzogen und ihre Tasche vergessen. Egal was es war, Mary hatte nicht das Gefühl, dass sie direkt einen Suchtrupp losschicken müsste, um sie zu finden und sie wurde in ihren Gedanken bestätigt, als James, der auf dem Weg zu seinen Freunden an ihr und Marlene vorbeiging, ihr zu murmelte: „Lily geht’s gut. Sie will allein sein.“
Es war ein seltsames Gefühl, fand sie, als sie den Kopf streckte, um zu beobachten, wie James sich zu seinen Freunden setzte und direkt von Sirius begrüßt wurde, als hätten sie sich ewig nicht gewesen. Sie hatte James schon so oft gesehen und doch glaubte sie manchmal, dass er dieses Jahr irgendwie anders aussah. Obwohl sie sich geschworen hatte, dass sie diese verräterischen Gefühle für ihn nicht zulassen würde, erwischte sie sich immer wieder daran, wie sie ihm nicht in die Augen sehen konnte, oder wie sie ihm hinterherblickte, wenn er vor ihr ging. Es war lächerlich, mehr nicht. Mary konnte es sich nicht erlauben, Gefühle für James zu entwickeln, wenn es ihre Pflicht als beste Freundin war, dass sie James für Lilys Wohl nicht ausstehen konnte.
Es fiel ihr nur leider wirklich schwer, James wirklich nicht zu mögen, wenn sie jedes seiner Lachen aufsog, als wäre sie ein vertrockneter Schwamm.
Sie riss den Blick von ihm und sah zu Marlene. „Nächstes Mal kümmerst du dich um ihre Sachen.“
„Bitte?“
Mary stieß mit dem Fuß nach Lilys Tasche auf dem Boden. „Ich schlepp das Teil nicht noch mal in den siebten Stock. Nächstes Mal bist du dran.“
Marlene schnaubte belustigt. „Warte nur, bis ich Lily erzähle, dass du ihre arme, wehrlose Tasche getreten hast. Danach wird sie dich nie wieder damit beauftragen, darauf aufzupassen.“
„Vielleicht solltest du das wirklich tun“, murmelte sie und rührte appetitlos in ihrer Kartoffelsuppe herum. Das Schuljahr hatte zwar kaum begonnen, aber sie vermisste das Essen ihrer Mutter jetzt schon. Wieso konnte Hogwarts nicht auch ein internationaleres Essen anbieten? Wenn ihre Mum hier wäre, dann würde sie das Essen für die fehlenden Gewürze kritisieren und Mary könnte sich ihr nur anschließen. Wenn sie das nächste Mal zu Hause war, dann würde sie einfach ein paar der Gewürze ihrer Mutter klauen, ansonsten würde sie es kaum überstehen, das ganze Jahr über nur Kartoffeln und Nudeln zu essen, die kaum mit Salz in Berührungen gekommen waren. Vielleicht sollte sie auch den Hauselfen einen Besuch abstatten …
Mary hatte keine Zeit mehr, sich über die fehlenden Gerichte aus ihrer Heimat zu beschweren, denn einen Moment später ließ sich ein blondes Mädchen schwer seufzend neben sie fallen. „Hallo, Mary“, sagte sie. „Ich komme, um meinen Gefallen einzulösen.“
Es dauerte einen Augenblick, bis Mary sie als Alana erkannte, das Mädchen, das ihr am Anfang des Jahres gegen Mulciber und Avery geholfen hatte. Die schwarz-gelbe-Hufflepuffkrawatte hatte sie nur locker um den Hals geworfen und ein paar Tintenflecke auf ihren Fingern. Alana blickte sie abwartend an.
„Richtig“, sagte Mary.
„Tschuldige, wer bist du? Und was für ein Gefallen? Was hab ich verpasst?“, fragte Marlene irritiert, die von Mary zu Alana und wieder zurückblickte.
„Mein Fehler“, meinte Alana. „Alana Morrison, Hufflepuff. Ich bin auch im dritten Jahr wie ihr.“
Marlene runzelte die Stirn. „Echt?“, erwiderte sie. „Ich kann mich an keine Alana erinnern. Bist du neu?“
„So kann man es wohl sagen“, entgegnete Alana lachend, auch wenn Mary meinte, ein Seufzen in ihrer Stimme zu erkennen. „Den Namen hab ich mir erst über den Sommer geholt. Letztes Jahr war ich auch noch in einem anderen Schlafsaal.“
Falls sie die Hoffnung gehabt hatte, damit weniger verwirrend zu erklären, dass Alana trans war, dann hatte sie sich geschnitten. Marlene öffnete den Mund, schloss ihn wieder und sagte dann: „Hä?“
Dieses Mal seufzte Alana wirklich. „Nicht so wichtig.“
„Was für einen Gefallen soll ich dir denn tun?“, fragte Mary rasch, in der Hoffnung die seltsame Kennlernphase zu überspringen. Es fiel ihr schwer zu verstehen, was genau Alana überhaupt meinte, wenn sie trans sagte oder wenn sie sagte, dass sie letztes Jahr noch im Jungs-Schlafsaal geschlafen hatte. Für Mary war das nicht wirklich verständlich, aber sie vermutete auch, dass sie nicht alles wissen konnte, was es gab. Vielleicht handelte es sich dabei ja auch wieder um so eine Zauberersache, die sie einfach nicht verstand.
„Es ist wirklich gut, dass du das fragst, denn ich stecke ein wenig in der Klemme. Du hast ja auch Pflege magischer Geschöpfe als Wahlfach, oder?“
Mary nickte.
„Gut. Ich find die Hausaufgaben nämlich total klasse, aber mein künstlerisches Talent hält sich da leider echt in Grenzen. Kannst du mir helfen, das besser zu zeichnen? Bitte?“ Alana setzte einen Hundeblick auf, den Mary mit einem Lachen erwiderte.
„Klar, zeig mal her. Ich bin mit meiner schon fertig.“ Professor Kesselbrand hatte ihnen in der letzten Stunde aufgegeben, dass sie sich mit einem kleineren Geschöpf ihrer Wahl befassen und einen Anatomiebogen zeichnen sollten, der genau erklärte, wie dieses kleine Geschöpf aufgebaut war. Weil Mary sich so in die Niffler verliebt hatte, hatte sie auch die pelzigen Wesen für ihre Hausaufgabe gewählt.
„Du Lebensretterin“, meinte Alana, bevor sie ihre Tasche vom Rücken nach vorne zog, tief reingriff und einen leicht zerknitterten Pergamentbogen hervorzog. Sie glättete die Ecken ein wenig, bevor sie eine Schüssel mit Sauce beiseiteschob, um ihren Bogen auf den Tisch zu legen.
„Oh wow“, kommentierte Marlene.
Mary musste sich das Lachen ebenfalls verkneifen, als sie die mehr als kruden Striche erkannte, die Alana versucht hatte aufs Pergament zu bringen. Über der Skizze stand in leicht verschmierten Lettern Bowtruckle. Wenn Mary ein Auge zukniff und den Kopf schief legte, dann konnte sie die kleinen Baumbewohner sogar fast erkennen. Fast.
„Ich bin ein hoffnungsloser Fall“, seufzte Alana missmutig. „Das hätte ein Zweijähriger besser hinbekommen.“
„Wahrscheinlich schon“, lachte Marlene, ehe sie sich die Hand vor den Mund schlug. „Tschuldige.“
„Schon gut“, meinte Alana. „Ich seh es ja ein. Kunst ist einfach nicht meine Stärke. Vielleicht wäre sie das, wenn ich nicht zwei linke Daumen hätte, aber so wie es aussieht, muss ich einfach hoffen, dass ich noch andere Fähigkeiten in der Zukunft entwickle. Kunstlehrerin werde ich damit schon mal nicht.“ Mit einem Nicken deutete sie auf die kaum erkennbare Skizze.
Mary lächelte, ehe sie Alanas Pergament einrollte. „Keine Sorge, ich mach dir das schön.“
„Aber mach es nicht zu schön“ sagte sie. „Sonst denkt Kesselbrand noch, ich hätte Talent und dann muss ich sowas ständig abgeben. Kannst du – kannst du es zumindest so zeichnen, dass man erkennen kann, dass es ein Bowtruckle werden soll?“
„Das bekomm ich hin“, erwiderte Mary und ließ den Bogen in ihre Tasche gleiten. „Ich geb ihn dir Freitag vor der ersten Stunde, ja?“
Alana seufzte erleichtert. „Du bist wirklich eine Lebensretterin. Wenn das nicht mein eingelöster Gefallen wäre, dann würde ich glatt sagen, ich werde mich dafür revanchieren. Wirklich, danke, Mary.“
Mit einer wegwerfenden Handbewegung meinte sie: „Keine große Sache. So machen sich die ganzen Stunden bezahlt, die meine Mum damit verbracht hat, mit mir zu zeichnen, als ich noch klein war.“
„Ich wünschte, meine Mum hätte das gemacht“, murmelte Alana, „aber nein, stattdessen musste sie sichergehen, dass ich weiß, wie man einfache Haushaltszauber anwendet, bevor ich überhaupt meinen ersten Zauberstab hatte.“ Sie verdrehte die Augen. „Na wenigstens beherrsche ich sechs verschiedene Putzzauber im Schlaf, also sind meine Zauberkunst-Noten echt gut.“
„Meine Mum hat mich nicht einmal in die Nähe eines Zauberstabs gelassen“, sagte Marlene seufzend. „Und ich bin fest davon überzeugt, dass nur mein Bruder daran schuld war, weil er immer nur Unsinn angestellt hat.“
„Dafür seid ihr immerhin mit Magie aufgewachsen“, erwiderte Mary schulterzuckend. „Ich hatte keine Ahnung, dass ich eine Hexe bin.“
Marlene verzerrte das Gesicht zur Grimasse. „Sorry.“
„Sei ruhig“, konterte Mary lachend. „Ich bin auch nur ein bisschen neidisch.“
„Ich weiß ja nicht“, sagte Alana langsam. „Es ist nicht immer nur vom Vorteil, wenn man mit Magie aufwächst. Ich meine, für mich ist sie nicht wirklich was Besonderes, weißt du, weil ich so sehr dran gewöhnt bin. Magie ist einfach schon immer da gewesen, aber du hast die Möglichkeit, sie komplett neu zu entdecken.“
„Was auch sicherlich cool wäre, wenn es nicht Idioten wie Mulciber und Avery geben würde, die mich liebend gern im Schwarzen See versenken würden.“
Alana verdrehte erneut die Augen. „Wem sagst du das. Aber ganz ehrlich, auf diese Typen darfst du nichts geben. Die sind nur ein unbedeutender Teil der Zauberwelt.“
Mary tippte mit dem Finger auf eine Ausgabe des Abendpropheten, die von einem älteren Schüler liegengelassen wurde. „Aber sie sind nicht allein und das reicht schon aus.“
„Was für eine Art, die Stimmung zu ruinieren“, murmelte Marlene leise.
„Tut mir leid“, lachte Mary hohl, „ich denke einfach nicht mehr daran, dass mich ein Teil der Zauberwelt lieber tot sehen will, als überhaupt Magie zu beherrschen.“
Marlene presste die Lippen zusammen. „So meinte ich das nicht, Mary, das weißt du auch.“
„Weiß ich es?“
„Ja, tust du. Du weißt genau, dass ich nicht denke, dass du es nicht verdienst Magie zu haben, also weiß ich nicht, warum du mich deswegen so anfeindest.“
Mary schloss für einen Moment die Augen und versuchte die Geräusche in der großen Halle auszublenden, ehe sie einen tiefen Atemzug nahm. „Tut mir leid“, wiederholte sie und dieses Mal meinte sie es auch.
„Schon gut“, sagte Marlene, die ebenfalls wieder lächelte.
„Wow, ich wünschte, ich hätte Freunde, mit denen ich mich so schnell streiten und vertragen kann“, meinte Alana.
Mary lachte. „Wenn man seit fast drei Jahren aufeinanderhängt, dann lernt man das. Verstehst du dich mit deinen Mitbewohnern denn nicht so?“
Alana zog eine Grimasse. „Naja, meine alten Mitbewohner finden mich merkwürdig und meine neuen Mitbewohner denken, das ist alles ein dummer Scherz, also hat mir Professor Sprout ein eigenes Zimmer bereitgestellt. Aber ganz ehrlich, das ist mir auch lieber so“, fügte sie rasch hinzu, als Mary den Mund öffnete. „Ich bin eh lieber allein, wenn ich schlafe oder mich umziehe, also haben wir alle gewonnen.“
„Das“, sagte Marlene vorsichtig, „klingt nach einer guten Lösung.“
„Total.“
Mary biss sich auf die Zunge und sagte nichts und auch Marlene schien nichts mehr einzufallen. Eine unangenehme Stille legte sich über sie, während keine der drei Mädchen wusste, was sie als nächstes sagen sollte. Um sie herum lachten und redeten ihre Mitschüler und das Geklirr und Gekratze von Besteck erfüllte die Luft. Mary und Marlene tauschten einen raschen Blick, aber keine von ihnen wusste, was man darauf hin erwidern sollte. Es war offensichtlich, dass Alana nicht unbedingt glücklich über die Zustände war, aber Mary wusste auch nicht, wie sie sie darauf ansprechen sollte, ohne es seltsam zu machen, zumal sie auch nicht wirklich verstand, was das überhaupt bedeutete. Was sie sich bisher zusammenreimen konnte, bedeutete auch nur, dass sie vermutete, dass Alana letztes Jahr noch im Jungsschlafsaal gewohnt hatte und jetzt zu den Mädchen gehörte. Sie wusste nicht, dass sowas möglich war, noch wusste sie, wie sie das überhaupt angestellt hatte. Sicher gab es irgendeinen Zauber dafür, oder nicht? Soweit sie wusste, war es Jungs nämlich verboten, überhaupt den Mädchenschlafsaal zu betreten, also musste Alana irgendwas getan haben, damit sie zugelassen wurde.
Mary wollte nicht unhöflich sein, aber sie verstand es nicht wirklich. Bedeutete das denn, dass Alana immer ein Mädchen gewesen war, oder war sie erst kürzlich zu der Entscheidung gekommen? Hatte der Zauber, der auf den Schlafsälen lag, das erkannt oder musste man sie irgendwie zulassen? Es gab so viele Fragen, auf die sie keine Antworten fand, weil sie den Mund nicht öffnen wollte. Um die unangenehme Stille nicht noch weiter auszuweiten, fragte Mary: „Wir wollten morgen nach der ersten Doppelstunde in die Bibliothek gehen und unsere Hausaufgaben erledigen. Hast du Lust mitzukommen?“
Als hätte sie ihr den Hauspokal erreicht, hellte sich Alanas zerknirschte Miene sofort auf. „Echt? Das wäre großartig!“
Lächelnd fügte Mary an: „Dann kannst du mir vielleicht bei Zauberkunst helfen, denn irgendwie bin ich darin eine komplette Niete.“
Alana strahlte. „Abgemacht!“
Mary hatte das unschöne Gefühl, dass es das erste Mal in drei Schuljahren war, dass jemand Alana eingeladen hatte, zusammen Hausaufgaben zu machen.
Chapter 38: 38. Jahr 3: Alte Pläne, Neue Gefühle
Chapter Text
Es gab ungefähr einhundert spannendere Plätze, an denen Lily ihren Samstagmorgen hätte verbringen können, aber leider war sie eine gute Freundin und hatte Marlene versprochen, dass sie sie bei den Quidditch-Auswahlspielen anfeuern würde. Nicht, dass sie irgendwie verstehen würde, wie die überhaupt abliefen, aber sie hatte es versprochen, also musste sie in den sauren Apfel beißen.
Für Mitte September war es erstaunlich warm, besonders wenn Lily bedachte, dass sie sich im Norden Schottlands befanden, inmitten von Bergen und Wäldern und Seen. Sie hatte die Ärmel ihres Umhangs aufgerollt und sich die Haare in einen raschen Zopf gebunden. So früh am Morgen hatte sie sowieso nicht vor, mit irgendjemandem zu reden, der nicht bereits wusste, wie sie aussah, wenn sie frisch aus dem Bett gestiegen war, deswegen kümmerte es sie nicht weiter, dass sie schlaftrunken und erschöpft aussah. Wenn es nach Lily gegangen wäre, dann wäre sie auch nicht erst halb zwei eingeschlafen, aber eine gewisse Mitbewohnerin, die sie namentlich nicht nennen wollte, weil sie unterstützend für sie sein wollte, konnte es nicht lassen, nervös all ihre Manöver und Tricks durchzugehen, mit denen sie den Kapitän der Quidditch-Mannschaft beeindrucken wollte.
Auf dem Feld stand ebendieser bereits. Lily wusste nicht viel über Patrick, außer das James ihn für einen Gott auf dem Spielfeld hielt und das Marlene manchmal dachte, dass er ein wenig parteiisch war. Von ihrem Platz aus konnte sie nur erkennen, dass er breite Schultern und kurzgeschorene dunkle Haare hatte, womit er so ziemlich in das Bild eines Quidditch-Spielers passte, das Lily sich zurechtgelegt hatte. Wenn sie bereits in dem Alter wäre, in dem sie Jungs süß finden würde, dann würde sie bestimmt denken, dass Patrick mit seinen markanten Wangenknochen und den ausdrucksstarken Augenbrauen ganz süß wäre.
Gott sei Dank war sie aber noch nicht in dem Alter und hatte auch keine warmen Wangen bekommen, nachdem sie die Reihe an gutaussehenden Jungs betrachtet hatte, die sich alle fürs Team qualifizieren wollten. Mit einem klappernden Krachen ließ Marlene sich erschöpft neben sie fallen und Lily schrak zusammen.
„Um Gottes Willen, Marlene“, zischte sie leise.
„Tut mir leid, hat die Treiber-Ausrüstung nicht laut genug geklappert, als ich mich angekündigt habe? Nächstes Mal schick ich Pallas los, dann kann sie dafür sorgen, dass dir nicht die Augen rausfallen, weil du zu sehr damit beschäftigt bist, die Jungs anzustarren“, grinste ihre Freundin.
Lilys Wangen wurden ein wenig wärmer. „Ich hab keine Ahnung was du meinst. Ich war in Gedanken.“
„Hm, ganz sicher. Wolltest du nicht lesen, bis ich dran bin?“ Mit einem unnötigen Nicken deutete Marlene auf das aufgeschlagene Buch in Lilys Schoß, von welchem sie nicht einmal das Lesezeichen entfernt hatte.
„Ich fang gleich an“, murrte sie.
Marlene lachte. „Schon gut, Lily.“ Sie nahm einen tiefen Atemzug, dann drückte sie die Schultern durch und drehte sich in ihrem Platz, sodass sie Lily direkt ansehen konnte. „Also, wie seh ich aus?“
Die einzigen Male, die Lily die Ausrüstung der Treiber gesehen hatte, war auf dem Spielfeld gewesen, deswegen hatte sie nicht die besten Erinnerungen daran, aber selbst sie wusste, dass die Treiber keinen klobigen Helm und Knie- sowie Ellbogenschützen trugen, die ihre Bewegungen limitierten. „Als hättest du Qualität für Quidditch ausgeraubt.“
Marlene zog eine Grimasse. „Das sind offizielle Quidditch-Ausrüstungen, die sie in den offiziellen Teams tragen um bei offiziellen Spielen mitzumachen.“
„Ja und es sieht offiziell bescheuert an dir aus“, erwiderte Lily. „Noch dazu trägt niemand anderes sowas. Und ich glaube nicht, dass du damit Pluspunkte bei Patrick sammelst.“
„Das will ich auch gar nicht“, murmelte sie.
„Schon klar.“
„Ich meins ernst! Außerdem warst du es ja wohl, die ihn gerade mit den Augen fast ausgezog-“
„Marlene!“
„Die Wahrheit tut weh, oder?“
Lily verschränkte die Arme. „Wenn du weiterhin willst, dass ich dir zugucke, dann solltest du netter zu mir sein.“
„Okay, schön“, erwiderte Marlene augenverdrehend. Für einen Moment klimperte sie mit den Wimpern. „Oh bitte, bitte, liebste Lily, würdest du mir nicht die Ehre erweisen, mich anzufeuern? Es würde mein kleines Leben so viel besser machen.“
Das Grinsen konnte sie nicht verhindern, als Lily antwortete: „So klingt das schon besser. Und jetzt zieh dir diese komischen Knieschützer aus, sonst wirst du deinen Besen nicht mal besteigen können.“
Ohne Murren und Meckern tat Marlene, wie ihr geheißen wurde und ließ ihre Schützer sowie den Helm auf der Bank liegen. „Na schön“, sagte sie und schüttelte sich die langen Haare aus dem Gesicht. „Besser?“
Lily zog die Augenbrauen kraus. „Moment noch, gleich.“ Aus ihrer Umhangstasche fischte sie ein zusätzliches Haargummi hervor (eins der billigen, von denen Petunia ihr mal fünfzig Stück zum Geburtstag geschenkt hatte) und hielt es Marlene hin. „Sonst siehst du nichts in der Luft.“
„Du bist die Beste, Lils.“ Dankbar nahm Marlene das Haargummi an und band sich die unbändigen Haare zusammen. Kaum hatte sie das getan, entkamen einige der dicken Strähnen bereits wieder und fielen ihr in die Augen. Sie pustete nach oben. „Vielleicht sollte ich Patrick nachmachen und mir auch den Kopf rasieren.“
„Sicherlich nicht“, erwiderte Lily lachend. Sie stieß Marlene gegen den Oberarm. „Jetzt geh da runter. Er wird sicher nicht ewig auf dich warten.“
„Okay“, sagte Marlene ein wenig atemlos. „Wünsch mir Glück.“ Sie schenkte ihr ein letztes, strahlendes Lächeln, dann wandte Marlene sich um und eilte die Treppen der Tribüne runter.
Auf dem Spielfeld hatten sich bereits eine ganze Menge Schüler versammelt. Patrick, der mit Abstand der Größte von ihnen war, hatte seinen Besen locker in der einen Hand und ein Klemmbrett in der anderen. Neben ihm standen die wiederkehrenden Teammitglieder; die Sucherin Danielle Westings, Treiber Oliver Jones (den Marlene nicht ausstehen konnte, weil er wohl grauenvoll war), Hüter Monty und Jäger James. Mit Patrick, der ebenfalls Jäger spielte, fehlte dem Team ein weiterer Treiber und ein weiterer Jäger. Lily hoffte, dass Marlene ihre Wunschstelle bekam. Ansonsten dürfte sie sich sicherlich das nächste Jahr erneut anhören, was für ein verborgener Sexist Patrick doch war, weil er wieder nur ein Mädchen in der Mannschaft hatte. Zwar stimmte Lily ihr irgendwie zu, aber sie hatte auch letztes Jahr gesehen, dass kaum Mädchen vorgespielt hatten. Vielleicht war es manchmal einfach nicht so, wie man es sich auslegen wollte.
Von ihrem Tribünenplatz aus konnte sie nicht hören, was auf dem Feld gesagt wurde, aber es hatte den Anschein, als würden die Auswahlspiele endlich beginnen. Die Schüler, die angetreten waren, versammelten sich zu einer großen Gruppe und jeder von ihnen stieg auf den Besen. Es schien, als wären einige bereits damit überfordert. Lily konnte Besenfliegen selbst nicht sonderlich viel abgewinnen, aber sie war sich ziemlich sicher, dass sie eine bessere Figur abgeben würde. Ein Junge fiel zur Seite, als er sich hingesetzt hatte und ein anderer Junge wurde von seinem Besen wie bei einem bockigen Pferd geworfen. Ohne viel Federlesen schickte Patrick die beiden vom Feld, wobei ihnen ein paar weitere direkt folgten.
Als die restlichen Schüler sich allesamt in die Luft erhoben, wurde zumindest klar, dass sie die Grundlagen des Besenflugs verstanden hatten. Einige waren schnell, bekamen die Kurven aber nicht so gut hin, andere hingegen flogen etwas langsamer, konnten dafür aber rasante Wendungen hinlegen, bei denen Lily sicherlich vom Besen geflogen wäre. Als Lily den Blick durch die Luft streifen ließ, um sich alle Flieger anzuschauen, bemerkte sie zwei ihr bekannte Gestalten auf den Tribünen gegenüber. Wenn ihre Augen sie nicht täuschten, dann waren das Dorcas und Emmeline. Einen Moment überlegte sie, ob sie nicht zu ihnen rübergehen sollte, damit sie die Auswahlspiele nicht allein verbringen sollte, entschied sich aber dagegen. Sie hatte sich ihr Buch nicht umsonst mitgenommen.
Lily atmete tief durch, dann blickte sie endlich auf ihren Roman. Es war die spannendste Stelle bisher, fand sie. Ein neuer Charakter war gerade aufgetreten, ein mysteriöser Mann, gutaussehend und magisch und sie wollte unbedingt mehr über ihn erfahren. Sie war zwar den Romanen aus der Bibliothek skeptisch gegenüber, aber bisher gefiel ihr dieser. Das letzte Buch, das sie sich von Madam Pince hatte empfehlen lassen, hatte sie nach einhundert Seiten abbrechen müssen.
Mit dem Finger versuchte sie die Stelle wiederzufinden, an der sie aufgehört hatte und versuchte das leise Rascheln zu ignorieren, das um sie herum aufkam. Unruhig rutschte sie auf den harten Tribünen hin und her. Zum nächsten Mal nahm sie sich vor, den Kissenzauber zu lernen, ansonsten würde sie sich einfach eines aus dem Gemeinschaftsraum mitnehmen, aber anders konnte sie die Sitze nicht länger ertragen. Zauberschule hin oder her, ein wenig mehr Komfort wäre sicherlich nicht verkehrt. Frustriert seufzte sie auf, als ein Windstoß ihr die Seite aus den Fingern riss und umblätterte.
Erneut raschelte es und Lily blickte genervt auf. Mit verengten Augen betrachtete sie die Tribüne, fand aber nichts, das sie als Täter darstellen konnte und drückte den Kopf wieder runter. Aus dem Augenwinkel nahm sie eine schwache Bewegung klar und schlug blindlings nach dem Blatt, das sie vermutete. Als ihre Finger nur Luft streiften, blickte sie direkt an die Stelle und schrie auf, als ihr ein dunkelgrüner Blick begegnete.
„Bitte nicht schreien!“, zischte der Junge, der unter den Tribünen hockte.
„Komm da sofort raus, du Widerling!“, sagte Lily mit lauter Stimme. Sie war aufgesprungen und deutete mit ihrem Zauberstab auf die Stelle zwischen den Sitzen, bei denen sie sein verschattetes Gesicht erkennen konnte.
„Ich hab nicht dich beobachtet, falls das hilft“, erwiderte er leise.
Lily antwortete nicht, sondern drückte ihren Stab näher an sein Gesicht. Ihr Herz raste und ihre Handinnenflächen waren klamm und feucht. Das Buch lag vergessen auf der Tribüne, die Seiten immer wieder vom Wind umhergestoßen.
„Okay, tut mir leid“, murmelte der Junge. Ein paar Momente vergingen, in denen er sich unter lautem Ächzen, Schnaufen und Rascheln zwischen den Sitzreihen hervorquetschte, bis er mit Spinnweben im Haar und einer roten Schramme im Gesicht vor ihr stand. Als erstes fiel Lily auf, dass er unnormal groß war, wahrscheinlich noch größer als James Potter, der über den Sommer einen gigantischen Wachstumsschub gehabt hatte. Er sah so aus, als wäre er in ihrem Jahr und Lily konnte sich vage an seine Gesichtszüge erinnern, aber dann wiederum war sie sich ziemlich sicher, dass er zuvor noch eine ganze Menge Babyspeck in den Wangen gehabt hatte. Seine blonden Haare waren zerzaust und unordentlich und seine Augen waren dunkelgrün.
„Ich kenn dich“, sagte sie leise. „Du bist in Slytherin, oder?“
Er lächelte halb, ehe er sich die Spinnweben aus den Haaren rieb. „Darren Harper“, erwiderte er. „Du bist Lily Evans. Du bist mit Snape befreundet.“ Seine Stimme hatte bereits die anfänglichen Pubertätsklänge hinter sich und er klang kaum wie ein Drittklässler, sondern eher wie ein Fünftklässler.
Sie zog die Augenbrauen zusammen. „Bin ich. Was soll das hier werden?“ Lily wusste nicht ganz, was sie von ihm halten sollte, auch wenn sie zugeben musste, dass er nett anzusehen war. Der Babyspeck hatte scharf geschnittene Wangenknochen verdeckt, die jetzt besonders gut zur Geltung kamen.
Eine leichte Röte zog sich in Darrens Wangen und er kratzte sich an der Wange. „Äh – ganz sicher keine Spionage.“
„So sieht es aber aus“, meinte sie.
„Okay, okay“, sagte er seufzend und setzte sich auf die Tribüne. „Ich wollte mir angucken, wie die Auswahlspiele hier so laufen, weil ich auch ins Team kommen will. Von Slytherin natürlich.“
„Und deswegen dachtest du, du versteckst dich einfach unter der Tribüne und guckst zwischen meinen Beinen zu oder was?“, fragte sie aufgebracht. „Ich sollte Patrick sofort –“
„Nein!“, rief er aus, bevor er die Lippen zusammenpresste. „Ich meine, bitte nicht. Ich hab auch nicht zwischen deinen Beinen zugeguckt. Sondern daneben. Was es nicht unbedingt besser macht, wie ich gerade feststelle. Tut mir leid“, fügte er leise murmelnd hinzu.
Vorsichtig ließ Lily sich mit gewissem Abstand ebenfalls auf der Bank nieder. „Gib mir einen Grund, wieso ich Professor McGonagall oder Professor Slughorn nicht darüber informieren sollte.“
Darren blickte zerknirscht auf. „Es ist nicht verboten“, meinte er leise. „Nein, wirklich. Ich hab’s überprüft. Ich darf bei anderen Häusern zugucken, sofern ich nichts tue, um deren Training zu stören. Und das tue ich nicht. Glaub ich. Du bist nicht im Team, oder?“
Lily schnaubte. „Nicht in hundert Jahren. Ich bin eine Vollniete auf dem Besen.“
Erleichtert lächelte er, wobei er ein kaum erkennbares Grübchen preis gab, das Lily zu verspotten schien. „Sehr gut. Ich meine, nicht sehr gut. Tut mir leid für dich. Also, nicht dass es irgendwie zu bemitleiden wäre, oder so, aber – wow. Ich sollte aufhören zu reden.“
Gegen ihren Willen musste Lily lachen. Langsam ließ sie den Zauberstab sinken. „Schon gut“, sagte sie. „Aber wenn es nicht verboten ist, warum versteckst du dich bitte unter den Tribünen – und dann auch noch unter meiner.“
„Fairerweise war ich zuerst hier“, sagte er. „Du kamst dazu, als ich schon lange hier drunter hockte.“ Erneut lächelte er. „Aber ich bin nur hier drunter, weil ich nicht glaube, dass dein Team mich gerne hier sieht. Ich meine, Slytherins und Gryffindors sind nicht unbedingt dafür bekannt, immer fair zueinander zu sein, oder? Was glaubst du wohl, was der Kapitän gemacht hätte, wenn er mich gesehen hätte?“
„Er hätte wahrscheinlich einen Professor gerufen“, gab sie zu. „Na schön, noch hast du dich rausreden können.“
„Falls es dich beruhigt“, meinte Darren leise, „ich fühlte mich ziemlich unwohl da unten.“
Lily lachte. „Ein wenig. Es geschieht dir auch irgendwie recht.“
Er grinste sie an, wobei sie einen guten Blick auf sein Grübchen und die etwas zu großen Vorderzähne hatte, die ihn irgendwie niedlich aussehen ließen. Für andere, selbstverständlich. Lily fand Jungs nicht niedlich. Schon gar nicht die mit verwuschelten blonden Haaren und Wangenknochen, die deutliche Schatten auf ihre Haut warfen.
Schnaubend wandte sie den Blick von ihm ab und blickte wieder aufs Feld. Noch hatte niemand mitbekommen, dass ein vermeintlicher Spion sich aufs Feld geschlichen hatte. Patrick war zu sehr damit beschäftigt, die Schüler in Gruppen einzuteilen und ihre Fertigkeiten nach und nach zu testen, als dass er sehen würde, was auf einer der vielen Tribünen vor sich ging. „Wenn die dich da unten sehen, dann solltest du lieber schnell rennen können.“
„Oh, keine Sorge, ich hab die Sommerferien damit verbracht, um den See in meiner Stadt zu laufen, das bekomm ich hin.“
Kopfschüttelnd blickte Lily wieder zu ihm. „Ihr Quidditch-Leute seid echt alle gleich“, sagte sie.
Darren lachte. „Wir sind eben gern ausgeglichen.“
„Nein, ihr seid verrückt. Freiwillig um den See rennen. Wofür? Der Besen macht doch eh die meiste Arbeit.“
„Ah, da liegst du aber falsch“, erwiderte Darren. „Ein schneller Besen ist zwar schön und gut, aber er bringt dir nichts, wenn du selbst nicht agil genug bist, um ihn nutzen zu können. Außerdem könnte ich mich kaum einen Sportler nennen, wenn ich selbst keinen Sport treiben würde, oder? Das wäre ein bisschen so, als würdest du dich eine Hexe nennen, aber niemals zaubern.“ Mit einem Nicken deutete er auf Lilys Buch, das noch immer auf dem Boden der Tribüne lag. „Zumindest tut die Protagonistin in dem Buch es, oder?“
Überrascht blickte sie vom Buch zu Darren. „Du hast es gelesen?“, fragte sie.
„Klar“, meinte er achselzuckend. „Ich les echt viel. In meinem Schlafsaal stehen so ungefähr einhundert verschiedene Bücher und keins davon ist für die Schule wichtig, wenn du verstehst.“
„Wahnsinn“, gab sie zurück. „Damit bist du einer von zwei Jungs an dieser Schule, die freiwillig ein Buch lesen.“
Darren lachte ein weiteres Mal. Es war ein angenehmes Lachen. Leise und nur für sie, nicht so, als würde er unbedingt die ganze Welt daran teilhabe lassen. „Das nehme ich mal als ziemliches Kompliment, Lily.“ Als er ihren Namen sagte, war Lily sich nicht ganz sicher, was sie fühlte, aber ihre Handinnenflächen wurden wieder klamm. „Wenn du willst, kann ich dir was ausleihen. Die Bücher aus der Bibliothek sind schon echt alt und es gibt hier nicht ein einziges, das von einem Muggel geschrieben wurde.“
„Moment mal, du liest Muggel-Bücher?“, fragte Lily mit zusammengezogenen Augenbraue. Tiefe Furchen bohrten sich in ihre Stirn. „Aber du bist in Slytherin.“
„Okay, und?“, stellte er lachend die Gegenfrage. „Nicht alle in Slytherin haben was gegen Muggel oder sind Reinblut-Fanatiker. Dein Kumpel Snape ist doch auch ein Halbblut, nicht?“
Hitze stieg ihr in die Wangen, als ihr das auch klar wurde. „Stimmt. Tut mir leid, ich wollte nicht –“
Darren unterbrach sie mit einer wegwerfenden Handbewegung. „Schon okay, das ist das elende Los, das ich gezogen habe, als der Hut mich ins Haus meiner Eltern gesteckt hat. Es macht mir aber nichts aus. Und“, Lily war sich nicht sicher, ob es Einbildung oder nicht war, aber er zwinkerte ihr zu, „ich hab auch nichts gegen Gryffindor. Wenn ich hätte wählen können, dann wäre ich wahrscheinlich lieber ein Gryffindor gewesen.“ Er zuckte mit den Schultern. „Wie auch immer. Ich hoffe, du bist nicht immer noch davon überzeugt, dass ich irgendein Widerling bin, der gerne unter der Tribüne sitzt.“
„Das kommt darauf an“, sagte sie langsam. „Wie oft sitzt du denn unter der Tribüne?“
Er grinste. „Nicht so oft, dass es zur Gewohnheit wird.“
Kopfschüttelnd blickte sie wieder zum Feld. Marlene war noch nicht an der Reihe. Gegenüber auf den Tribünen schienen weder Emmeline noch Dorcas mitbekommen zu haben, dass Lily nicht mehr allein war. Sie hoffte, dass es so bleiben würde. Sie hatte keine Lust, irgendwelche Fragen zu beantworten, noch hatte sie Lust, dass James und Sirius es irgendwie mitbekamen – sie konnte sich nur zu gut vorstellen, was die beiden sagen und tun würden, wenn sie wüssten, dass sie mit dem Feind anbändelte. Auch wenn sie nicht mit Darren anbändelte. Sie unterhielt sich nur mit ihm. Das konnte sie tun. Er war nur ein Junge.
„Haben deine Eltern dir erlaubt, dieses Jahr nach Hogsmeade zu gehen?“, fragte er plötzlich und Lily riss den Kopf zurück.
„Haben sie“, gab sie langsam zurück. „Wieso?“
Darren rieb sich den Hinterkopf. „Es gibt einen echt guten Buchladen im Dorf“, sagte er. „Und in die Drei Besen wollte ich sowieso gehen, also … äh, also was ich fragen wollte, war wohl, ob du nicht Lust hättest, dir den Buchladen mit mir anzugucken. Die haben auch Muggel-Bücher, falls das deine Entscheidung beeinflusst.“
Lily öffnete den Mund, aber kein Laut entkam ihr. Wenn er gerade wirklich das gefragt hatte, was er gefragt hatte, dann war Lily sich ziemlich sicher, dass er sie um ein Date gebeten hatte. Sie. Um ein Date. In Hogsmeade. Dem kleinen, idyllischen Zauberdorf am Rande der Berge. Lily hatte genug Bilder davon gesehen und genug darüber gehört um zu wissen, dass ältere Schüler dort immer zu zweit hingingen. Als Dates.
Ihre Hände wurden wieder feucht. „Oh. Das ist – das ist wirklich lieb von dir, aber ich hab meinen Freundinnen schon versprochen, dass ich das erste Mal mit ihnen gehe.“ Das war nicht wirklich gelogen. Zwar hatten sie nicht ein einziges Mal bisher über Hogsmeade gesprochen, aber Lily wollte den ersten Dorfbesuch lieber mit Mary und Marlene verbringen, als mit jemand anderem. Auch wenn dieser jemand anderes ein Grübchen hatte. Sie schluckte schwer. „Tut mir leid“, fügte sie an und meinte es auch so.
Darren schüttelte den Kopf. „Schon gut, war nur – ich meine, es war nur eine Idee, die ich gerade hatte. Aber dann beim nächsten Mal vielleicht. Vor dem ersten Spiel ist noch ein Wochenende, falls du da nicht auch schon Pläne hast. Ich meine, ich würde es verstehen, wenn, du hast bestimmt einen ziemlich gut gefüllten Terminkalender und so, aber – okay, ich hör auf zu reden.“ Er presste die Lippen zusammen, aber sie konnte sein Lächeln trotzdem sehen.
„Vor dem Spiel hab ich noch nichts vor“, sagte sie ein wenig atemlos. „Und ich bin mir sicher, dass ich ein paar neue Bücher gebrauchen könnte.“
„Perfekt“, entgegnete Darren schnell. „Ich bin auch wirklich gut darin, Bücher zu tragen.“
Lily lachte und Darren lachte ebenfalls und dann wurde es still um sie herum. Für ein paar Augenblicke sagte keiner etwas, dann erhob Darren sich.
„Ich sollte lieber abhauen“, sagte er. „Bevor einer der Spieler mich noch sieht. Ähm. Es war – ich meine, mich hat – also, was ich eigentlich sagen will –“, er stockte und holte tief Luft. „Wir sehen uns, Lily.“
Sie hob die Hand zum Abschied und beobachtete, wie er die Treppen der Tribüne runterstieg. Als sie sich sicher war, dass er sie nicht mehr hören konnte, holte sie ebenfalls tief Luft und seufzte, bevor sich zurücklehnte. Mit einer Hand wischte sie sich über die Stirn, um die Strähnen aus ihren Augen zu bekommen. Eigentlich sollte es sie mehr mitnehmen, dass Darren sie nur in ihrem schnell gebundenen Zopf gesehen hatte, aber das tat es nicht. Er hatte Spinnweben im Haar gehabt. Sie lächelte und schnaubte. Wie unsinnig von ihr.
Sie konnte es kaum erwarten, Mary und Marlene davon zu erzählen.
***
„Ich kann nicht glauben, dass du fast verpasst hättest, mir zuzugucken wie ich vorspiele, weil du unbedingt mit einem Jungen flirten musstest. Mit einem Slytherin noch dazu.“ Marlene echauffierte sich bereits seit einer halben Stunde lautstark darüber, dass sie es nicht ins Team geschafft hatte, weil Patrick lieber einem seiner Freunde die Position des Jägers gegeben hatte und dass Lily die größte Verräterin war, die sie je getroffen hatte. Dass Lily jede Sekunde ihres Vorspielens mitbekommen und ihr genau sagen konnte, wie sie geflogen war, interessierte Marlene dabei nicht unbedingt. Ihr ging es wohl viel mehr ums Prinzip, nicht, dass Lily etwas dagegen sagen könnte. Es war nun einmal wirklich seltsam von ihr, das musste sie zugeben.
„Ich habe nicht mit ihm geflirtet“, erwiderte sie. „Zumindest nicht absichtlich.“
„Ja, klar, deswegen hat er dich auch auf ein Date eingeladen, Lily“, schnaubte Mary neben ihr.
Obwohl sie sich mit ihren Freundinnen in der Bibliothek verabredet hatte, hatte bisher keine von ihnen sonderlich viel arbeiten können. Es war außerdem nur Lilys guter Beziehung zur Bibliothekarin zu verdanken, dass sie bis jetzt noch nicht rausgeflogen waren. Lily war sich ziemlich sicher, dass man Marlene überall hören konnte. Ihr Gesicht wurde bei dem Gedanken warm und sie versuchte nicht daran zu denken, wie viele Schüler jetzt wohl wussten, dass sie auf den Tribünen mit Darren Harper gesprochen hatte – geflirtet, wenn es nach Mary ging.
„Jungs können mich auf Dates einladen, auch wenn ich nicht mit ihnen flirte“, gab Lily zurück. „Nicht, dass es bisher jemand getan hätte. Aber das könnten sie.“
„Natürlich könnten sie. Und wenn es dann mal endlich einer macht, dann kneifst du“, kommentierte Marlene säuerlich.
„Ich habe nicht gekniffen.“
„Du hast ihn abserviert!“
„Hab ich nicht!“, sagte sie mit warmen Wangen. „Ich hab – ich hab ihm nur gesagt, dass ich das erste Wochenende nicht kann, aber beim zweiten noch nichts vor habe. Wenn er mich noch mal fragt, dann …“
„Dann wirst du ja wohl hoffentlich zusagen“, meinte Mary mit zusammengezogenen Brauen. „Du kannst nicht die erste von uns sein, die einen potenziellen Freund hat und dann kneifen, also echt.“
Lily prustete die Wangen auf, ehe sie lauthals die Luft ausblies. „Was soll das denn heißen, potenzieller Freund? Er war einfach nur nett zu mir.“
Mary starrte Lily für ein paar Sekunden an, dann drehte sie den Kopf zu Marlene. „Sie ist irre, oder? Die ganze frische Luft hat ihr nicht gutgetan.“
„Vielleicht hat ein Klatscher sie am Kopf getroffen“, meinte Marlene. „Zumindest würde das erklären, wieso sie denkt, dass er nur nett war.“ Sie schnaubte ungehalten. „Nur nett, also wirklich. Welcher Junge lädt dich bitte in seinen liebsten Buchladen ein, wenn er nur nett ist?“
„Und dazu auch noch Butterbier. Wenn er nur nett war, was sind dann die Jungs aus unserem Haus? Irgendwelche Barbaren, die McGonagall im Verbotenen Wald gefunden hat?“ Mary schüttelte den Kopf, dann erkannte sie Lilys Existenz wieder an. „Wirklich, Lily. Wenn das, was du erzählt hast, alles stimmt, dann hat er nicht nur mit dir geflirtet, weil er dich davon ablenken wollte, dass er Spionagearbeit betrieben hat.“
Lily verdrehte die Augen. „Schrottige Spionagearbeit.“
„Wie auch immer“, meinte Marlene. „Er hat spioniert und mit dir geflirtet. Das sind zwei Dinge, die ich hierbei festgestellt habe.“
„Okay.“ Lily seufzte, bevor sie sich übers Gesicht rieb. „Was soll mir das jetzt sagen? Ich soll ihn daten? Wie macht man das überhaupt? Meine Schwester hat zwar einen Freund, aber sie erzählt nichts von ihm oder was sie so machen.“
Mary schnaubte belustigt. „Bei deiner Schwester sieht ein Date wahrscheinlich auch so aus, dass sie zusammen in den Schreibwarenladen gehen und einen besonders grauen Füller aussuchen.“ Auf Lilys giftigen Blick hin hob Mary beschwichtigend die Hände. „Okay, tut mir leid. Bestimmt sind sie dabei total romantisch.“
„Keine Hilfe.“
Marlene zuckte mit den Schultern. „Ganz ehrlich, ich hab auch keine Ahnung. Aber Dates in Filmen und Büchern sind immer total romantisch und der Junge lädt das Mädchen zum Essen ein. Sowas eben. Meinst du, Darren macht sowas?“
„Vielleicht kauft er mir ein Butterbier“, überlegte Lily, ehe sie den Kopf schüttelte. „Was komplett unsinnig wäre. Ich bin viel zu jung zum Daten. Ich meine, ich bin erst dreizehn. Was soll ich denn mit Jungs schon großartig anfangen?“
Mary und Marlene tauschten einen nachdenklichen Blick, dann sagte Mary: „Gute Frage.“
„Ich finde, du solltest es einfach versuchen. Was soll schon groß passieren?“
Lily verzog das Gesicht. „Was ist, wenn er erwartet, dass ich ihn küsse oder so?“, meinte sie leise und konnte ihren Ekel nicht ganz verbergen. Der Gedanke, dass sie einen Jungen küssen sollte, so wie ihr Dad ihre Mutter küsste, wenn er von der Arbeit kam, war ihr mehr als zuwider. Was sollte das schon groß bringen? Bei ihren Eltern war das irgendwie normal, weil die verheiratet waren und das machen mussten, aber Lily würde sicherlich nicht damit anfangen, irgendwelche Jungs zu küssen, selbst wenn sie ihr eine ganze Bücherei kaufen würden.
„Tritt ihm zwischen die Beine“, meinte Marlene im gleichen Moment, in dem Mary sagte: „Iss ein Minzbonbon.“
Die drei Mädchen starrten sich an, dann brachen sie in Gelächter aus. Damit brachten sie zwar das Fass für Madam Pince zum Überlaufen, die ihnen mit einem lauten Zungeschnalzen zu verstehen gab, dass sie ab jetzt ruhig sein sollten, aber das war es wert gewesen, fand Lily. Sie hielt sich den Bauch, als sie antwortete: „Für den Moment hab ich wirklich genug gehört. So nett er auch war, aber ich werde nicht auf ein Date mit einem Jungen gehen, nur weil er nett zu mir ist. Und schon gar nicht, wenn ich erst dreizehn bin. Dad würde mich von der Schule nehmen, wenn er das wüsste.“
„Wie langweilig“, seufzte Marlene, bevor sie sich bückte und ihre Tasche vom Boden auf den Tisch hob. „Aber gut, da kann man wohl nichts machen.“
„Wisst ihr, ich hab auch nicht wirklich Lust jemanden zu daten“, sagte Mary mit zusammengezogenen Augenbrauen. Sie kratzte sich mit einem Fingernagel an der Wange. „Noch dazu jemanden, den ich schon so lange kenne. Da wäre es auch egal, wenn ich Gefühle für jemanden hätte.“
Marlene hob eine Augenbraue an. „Wer hat denn was von Gefühlen gesagt?“
Es könnte das schummrige Licht sein, aber Lily war sich ziemlich sicher, dass Marys Wangen ein wenig dunkler wurden. „Ich meine ja nur“, murrte sie. „Das ist irgendwie ein absurder Gedanke, findet ihr nicht?“
„Schon“, sagte Lily.
Nach kurzer Überlegung gab Marlene ein brummendes Geräusch von sich. „Ich glaube, das würde darauf ankommen. Vielleicht ist es ja wahre Liebe.“
Lily konnte ihr Lachen nicht zurückhalten. „Schon klar, ich finde die wahre Liebe mit einem der Jungs, mit denen ich zur Schule gehe. Lieber bleibe ich auf ewig allein und schaff mir neun Katzen an, als dass ich mit jemandem ausgehen, den ich kenne, seit ich elf bin. Das ist sogar mir zu absurd.“
***
Es schien, als wäre Lily in den kommenden Tagen vom Pech verfolgt, zumindest wenn sie soweit gehen würde, Darren Harper als Pech zu bezeichnen. Wo sie ihn zuvor nie wahrgenommen hatte, tauchte er nun überall auf, wo sie auch war. Erst auf dem Weg in die Große Halle, als er ihr direkt an der Tür begegnete (und sie auch anlächeln musste, dieser Verräter), dann vor dem Klassenzimmer für Zaubertränke und schließlich auch noch auf dem Weg zurück in die Große Halle zum Mittagessen. Egal, wohin Lily ging, an jeder Ecke musste sie unbedingt den einzigen Slytherin sehen, der nett zu ihr war.
Ihr war das alles ein Rätsel. Sie hatte ihn in den letzten zwei Jahren kaum bis nie gesehen, aber auf einmal musste er ihr jedes Mal über den Weg laufen, wenn sie den Gemeinschaftsraum verließ? Wenn sie nicht glauben würde, dass das komplett an den Haaren herbeigezogen wäre, dann würde sie noch glauben, dass er ihr absichtlich auflauerte, um sie allein zu erwischen. Das war immerhin nicht nur Lily aufgefallen. Unter dem kühlen Schatten der großen Eiche am Seeufer hatte sie es sich mit Severus gemütlich gemacht, um gemeinsam an ihrem Zaubertränkeaufsatz zu arbeiten, als Severus rasch den Kopf hob.
„Der schon wieder“, murrte er leise. „Was ist denn sein Problem?“
Lily folgte seinem Blick und selbstverständlich musste sie den unordentlichen blonden Haarschopf von Darren erkennen, der so aussah, als hätte er sich schnell umgedreht, um in der Schülermenge unterzugehen. Sie schüttelte den Kopf und blickte zurück auf ihr Buch. „Ich weiß auch nicht. Glaube, er will mich unbedingt allein erwischen.“
Eis bohrte sich in Severus´ Blick. „Wie bitte?“, fragte er.
„Nicht so wild“, sagte sie mit wegwerfender Handbewegung. „Ich hab mich mit ihm auf dem Quidditch-Feld unterhalten und da hat er es sich wohl in den Kopf gesetzt, dass er unbedingt mit mir nach Hogsmeade gehen muss.“
„Ich dachte wir gehen zusammen nach Hogsmeade“, sagte Sev. „Ich hab dir immerhin von den ganzen Läden erzählt.“
Lily blickte auf. „Machen wir doch auf. Ich geh erst mit dir durchs Dorf und dann treff ich Mary und Marlene. Du kannst auch mitkommen, weißt du?“
„Nein, Danke“, erwiderte er mürrisch klingend. „Da würde ich mich nur fehl am Platz fühlen.“
Das wollte Lily zwar nicht unterstützen, aber sie konnte auch nur eingestehen, dass er recht hatte. Bisher hatte er sich nicht ein einziges Mal mit ihren Freundinnen unterhalten, ohne dass es seltsam gewirkt hätte und Lily hatte das Gefühl, dass sie noch lange darauf warten könnte, dass ihr bester Freund und ihre Freundinnen sich miteinander verstanden. Eher würde sie wahrscheinlich zustimmen, auf ein Date mit Darren zu gehen. Sie schüttelte kurz den Kopf.
„Was wollte er denn überhaupt von dir?“, fragte Severus. „Harper, meine ich. Was wollte er?“
Vielleicht bildete sie es sich ein, aber Severus´ Stimme klang bitterer als sonst. Ob das schon sein Stimmbruch war? „Nichts Besonderes“, gab sie zurück. „Ich hab ihn beim Spionieren erwischt – vom Quidditch, keine Sorge – und dann sind wir ins Gespräch gekommen. Es war … normal, würde ich sagen.“
„Normal?“ Er hob eine Augenbraue an.
„Naja, du weißt schon, es war nicht wie mit dir oder mit Remus. Er hat mich nicht ständig zum Lachen gebracht, oder was auch immer man machen soll. Es war normal, eben.“
„Verstehe“, sagte er, auch wenn Lily sich sicher war, dass er es nicht verstanden hatte. „Aber gut, du musst ja nicht nochmal mit ihm reden.“
„Hm? Wieso das?“
Severus stieß kaum merklich den Atem aus. „Ich meinte ja nur. Wenn es nur normal war, dann musst du nicht wieder mit ihm reden. Das wäre nur Zeitverschwendung.“
„Okay, also so würde ich es nicht bezeichnen“, erwiderte Lily, die einen Blick über die Schulter warf. Darrens Kopf war aus der Masse verschwunden. Sie zuckte mit den Schultern. Beim Abendessen würde er ihr bestimmt wieder über den Weg laufen. „Er war nett zu mir.“
„Das bin ich auch“, sagte Severus mit dunklen Wangen. „Heißt ja nicht, dass du gleich mit jedem ausgehen musst, der nett zu dir ist, Lily. Du musst auch ein bisschen Anstand haben.“
„Bitte was muss ich haben?“, fragte sie. Wo sie zuvor noch gelangweilt war, weil sie das gleiche Thema ein weiteres Mal durchgehen musste, war sie jetzt sauer. „Anstand?“, fügte sie hitzig an. Mit einem Knall klappte sie ihr Buch zu. „Und was hat das bitte zu bedeuteten, Severus?“
Severus schreckte zurück und die Blässe in seiner Haut wurde deutlicher als zuvor. „Ich – ich meinte – also, du weißt schon. Dass du nicht mit jedem ausgehst. Das ist –“
„Was ist das?“, unterbrach Lily ihn mit lauterer Stimme als beabsichtig. „Möchtest du es laut aussprechen, oder reicht es dir, wenn du es nur über deine beste Freundin denkst?“
Er presste die Lippen zusammen. „So meinte ich es nicht, Lily.“
„Ich weiß genau, was du meintest, Sev. Wenn ich will, dann kann ich mit jedem Jungen auf der Schule ausgehen, das heißt aber nicht, dass ich keinen Anstand habe.“ Lily schnappte sich ihr Buch und rollte ihren angefangenen Aufsatz zusammen, dann stopfte sie beides in ihre Tasche, bevor sie aufstand. „Und zu deiner Information, ich hatte überhaupt nicht vor, auf irgendein Date mit irgendeinem Jungen zu gehen!“ Mit peitschendem Pferdeschwanz drehte sie sich um und ignorierte, wie Severus ihren Namen rief.
Lily stapfte übers Gras bis sie zum Eingangstor der Schule kam. Auf dem gepflasterten Innenhof holte sie tief Luft, bevor sie sich am Brunnen niederließ und ihren Aufsatz wieder hervorholte. Ein wenig der frischen Tinte war verschmiert und sie hatte einen gewaltigen Knick im Pergament, weil sie ihn so grob eingesteckt hatte. Seufzend zog sie den Stab hervor und drückte ihn auf die verschmierte Stelle. Die überschüssige Tinte wurde vom Pergament gesogen, sodass nur noch ihre letzten geschriebenen Worte übrig blieben.
„Das ist beeindruckende Stabarbeit“, sagte jemand hinter ihr und Lily schreckte zusammen. Hinter ihr lachte Darren leise. „Tut mir leid, wollte dich nicht erschrecken.“
Grummelnd erwiderte sie: „Hast du überhaupt nicht“, ehe sie ihren Stab aufhob, den sie fallen gelassen hatte. „Verfolgst du mich?“
Darren ließ sich mit den Händen in seinen Hosentaschen neben ihr auf dem Brunnen nieder. „Das unterstellst du mir?“
Sie hob die Augenbraue an.
„Na schön“, sagte er seufzend. „Ich hab vielleicht gehofft, dich noch mal allein zu erwischen.“
„Wieso?“
„Weil ich mit dir reden wollte.“
„Worüber?“
Darren lachte leise und schüttelte den Kopf. „Einfach nur so“, erwiderte er. „Ich fand es sehr erfrischend mit dir zu reden. Deswegen wollte ich das wiederholen, wenn du nichts dagegen hast.“
„Ich weiß ja nicht“, meinte sie lächelnd. „Hast du dir einen Termin geholt?“
„Mist“, sagte er. „Ich wusste nicht, dass ich mich anmelden muss.“
Nickend antwortete sie: „Doch, mindestens einen Monat vorher, sonst beschuldigt mich Marlene wieder, dass ich ihr nicht beim Quidditch zusehen würde.“
„Ich will natürlich keinen Keil zwischen dir und deinen Freundinnen bohren. Tut mir leid, ich werde mich dann in einem Monat melden, okay?“
Lily konnte nicht anders, als zu lachen. Mit ihrem Stab reinigte sie den Knick in ihrem Aufsatz, dann rollte sie ihn wieder zusammen. „Ganz zufällig habe ich jetzt sogar Zeit. Mein … ich meine, ich bin fertig mit den Hausaufgaben.“
Aus dem Augenwinkel konnte sie sehen, wie er sich auf die Lippe biss. „Das sah so aber nicht aus“, sagte Darren mit etwas leiserer Stimme. „Es geht mich zwar nichts an, aber es sah so aus, als hättest du dich mit Snape gestritten.“
Seufzend ließ sie die Schultern fallen. „Schätze schon“, sagte sie. „Aber das ist nicht weiter wild, wir liegen uns ständig in den Haaren. Das ist bei besten Freunden normal so.“ Wenn sie sich mit Mary und Marlene auch ständig so streiten würde, dann wäre es nicht mal gelogen. Lily wusste selbst, dass sie und Severus sich viel zu oft stritten, dass sie viel zu oft im Zwist lagen, seit sie an die Schule gekommen waren. Sie wusste nicht, woran es lag. Bevor sie auf Hogwarts waren, hatten sie sich nie gestritten, aber jetzt … es schien, als wäre er in vielen Dingen eine gänzlich andere Person.
„Da ist wohl was dran“, meinte Darren langsam. „Aber – also, keine Ahnung, das ist wahrscheinlich nicht meine Aufgabe oder so, aber wenn du darüber reden willst, dann hab ich ein offenes Ohr. Nur wenn du willst, natürlich! Ich bin auch froh, schweigend nebeneinander zu sitzen, auch wenn das ein bisschen seltsam klingt. Weißt du was? Vergiss das. Schweigen ist doof. Lass uns einfach – ich sollte die Klappe halten, oder?“
Lily lachte leise, ehe sie sich die Hand von den Mund legte. „Schon gut“, meinte sie und konnte nicht umhin, als sein Lächeln zu bemerken, das auch in seinen Augen erkennbar war. Erneut konnte sie den Hinweis an ein Grübchen erkennen.
Mit einer Hand fuhr er sich durch die unordentlichen Haare, die irgendwie verwegen aussahen, als wäre er gerade durch einen Sturm geflogen, dann sagte er: „Ich bin immer ein bisschen nervös, wenn ich neue Leute kennenlerne. Oder mit hübschen Mädchen rede.“
Nicht einmal Lily würde sich hierbei noch versuchen rauszureden. Darren flirtete definitiv mit ihr und obwohl sie handfest behauptet hatte, dass sie nicht bereit fürs Daten war und schon gar nicht mit jemandem ausgehen wollte, mit dem sie zur Schule ging, konnte sie nicht anders, als erneut zu lächeln. Es war irgendwie süß, fand sie. Süß und ein wenig beängstigend. Wenn er solche Dinge zu ihr sagen konnte, was sagte ihr dann, dass er das nicht zu allen anderen Mädchen auch sagen konnte? Warum konnte er überhaupt sowas schon mit dreizehn sagen? War er vielleicht schon vierzehn? In Lilys Augen war vierzehn ein sehr erfahrenes Alter. Es war ein paar Monate hin, bis sie vierzehn werden würde. Ob sie dann auch erfahren war und daten würde? Vierzehn war nicht mehr dreizehn. Sie hatte Mary und Marlene gesagt, dass sie mit dreizehn nicht daten wollte. Aber sie hatte nichts von vierzehn gesagt.
Sie versuchte Darrens Blick aufzufangen. „Ist das so, ja?“
Es beruhigte sie, dass er zumindest rote Wangen bekam, auch wenn das sehr wohl nur ein Schatten auf seiner Haut sein könnte, den der Wasserspeier am Brunnen warf. „Oh, absolut. Ich bin wirklich nicht gut darin, ruhig zu bleiben, wenn sowas passiert. Bei der Fahrt hierher im ersten Jahr hab ich ein paar Viertklässler fast die gesamte Strecke über mit meiner Anwesenheit genervt, weil ich so nervös war und nicht still sitzen konnte. Einer von denen wollte mir die Beine zusammenhexen.“
„War wohl ein Slytherin“, murmelte Lily, bevor sie sich beherrschen konnte. „Ich meinte – oh Gott, tut mir leid.“
Darren lachte nur. „Es war wirklich ein Slytherin-Schüler, keine Sorge. Um ehrlich zu sein würde ich es auch nur Slytherins zutrauen. Na, ein paar Gryffindors auch.“
Lily dachte unweigerlich an James und seine Bande. „Absolut.“
„Du würdest sowas hoffentlich nicht machen“, sagte er.
„Vielleicht schon, wenn man mich zu sehr nervt“, gab sie zurück.
Darren grinste. „Dann muss ich mich ja richtig in Acht nehmen vor dir. Aber gut, ich wusste ja schon vorher, dass mit dir nicht zu spaßen ist. Du hast Avery mal eine in der Großen Halle verpasst, oder?“
Ihr gesamtes Gesicht heizte sich auf und Lily verbarg es einen Moment später in den Händen. „Einmal“, murmelte sie zwischen ihren Fingern. „Und ich wollte es nicht. Er hat mich nur so genervt, da bin ich – ich hab einfach die Kontrolle verloren. Aber ich schwöre dir, diese Tage sind vorbei. Ich habe seit Ewigkeiten niemandem mehr eine verpasst.“
„Falls du rückfällig wirst, würde ich trotzdem noch mit reden wollen“, erwiderte er.
Lily war froh, dass sie ihr Gesicht vor ihm verbarg, denn sie war sich sicher, dass ein dümmliches Grinsen auf ihren Lippen erschien. Sie versuchte es abzuschütteln, indem sie sagte: „Was ist, wenn ich dir eine verpasse?“
„Dann hab ich es wahrscheinlich verdient. Ich kann mir kaum vorstellen, dass du jemandem eine verpasst, wenn er es nicht verdient hat und ich denke, wenn du es bei mir machst, dann muss ich irgendwas angestellt haben. Das tut mir übrigens jetzt schon leid, falls es hilft, dass du nicht so hart zuschlägst.“
Lachend blickte sie ihn zwischen den Fingern an. „Entschuldigung angenommen“, sagte sie leise.
„Gut“, meinte Darren lächelnd, bevor er sich langsam erhob und ihr die Hand ausstreckte. „Ich würde mich nicht mit dir streiten wollen. Dafür ist die Zeit viel zu kostbar.“
Lily ließ ihre Hände vom Gesicht fallen und ließ sich dann von Darren auf die Beine ziehen. Sie schnappte sich ihre Tasche und folgte ihm den Rest des Weges zur Eingangshalle. „Das ist süß“, sagte sie ehrlicherweise.
„Nur die Wahrheit“, entgegnete er achselzuckend, auch wenn er sich danach den Nacken rieb. „Ich – ich weiß nicht, vielleicht können wir ja mal zusammen lernen. Oder zu Abend essen.“
Eigentlich sollte sie abgeschreckt von seiner Direktheit sein, aber Lily fand es eher charmant. Außerdem war sie ja fast vierzehn. Es würde nicht schaden, wenn sie ein paar Monate vorher schon üben würde, wie es wäre, mit einem Jungen zu reden, den sie irgendwie mochte. Nicht, dass sie Darren besonders mochte. Aber das könnte sie, wenn er weiterhin solche Dinge zu ihr sagen würde. „Ich bin jeden Abend in der Großen Halle.“
Er grinste. „Das trifft sich gut, ich auch.“
„Wir laufen uns bestimmt über den Weg.“
„Wenn du nicht schon allzu viele Pläne mit deinen Freundinnen gemacht hast, dann würde ich mich darüber freuen.“
„Ich mich auch, Darren.“ Sein Name glitt wie von allein von ihrer Zunge. Lily hatte das Gefühl, als würde ihr Kopf in Flammen stehen. „Ich muss jetzt – meine Freundinnen warten.“
Sein kaum sichtbares Grübchen verspottete sie, als er lächelnd rasch den Kopf schüttelte. „Das dachte ich mir. Keine Sorge. Ich hol mir bald einen Termin, damit wir reden können. Mindestens ein Monat, ja?“
„Ich bin mir sicher, ich kann dich irgendwie zwischenquetschen“, erwiderte sie mit matter Stimme, auch wenn sie nicht wusste, wieso.
Darren lächelte ein wenig breiter. „Aber bitte nicht so, dass deine Freundinnen sauer auf mich sind und mich verhexen. Ich hänge an meinem Gesicht.“
Das solltest du auch, dachte Lily, bevor sie den Kopf schüttelte. „Keine Sorge, ich halte sie zurück. Wir sehen uns?“ Langsam bewegte sie sich auf die Treppenstufen zur Marmortreppe zu.
„Definitiv.“ Er hob die Hand, als sie sich umwandte und die Stufen hinaufeilte.
Als Lily um die Ecke in den ersten Stock bog, raste ihr Herz und ihre Handinnenflächen waren klamm. Sie wusste nicht, was das sollte. Warum er? Warum jetzt? Vor den Sommerferien hatte sie auf keinen einzigen Jungen so reagiert, aber auf einmal hatte sie das Gefühl, dass sie mehr Zeit mit Darren Harper verbringen wollte, obwohl sie ihre Interaktionen in den Jahren zuvor an einer Hand abzählen konnte. Woran lag es? Der Wachstumsspurt oder der verlorene Babyspeck? War es die fast schon goldene Färbung seiner Haare, wenn sie Sonne richtig darauf schien? Lily war sich nicht sicher und sie wusste auch nicht, ob sie eine Antwort hören wollte. Sie wusste, was Marlene sagen würde. Sie wusste, was Mary sagen würde.
Seufzend eilte sie die Treppe weiter hoch. So hatte sie sich ihr drittes Jahr eigentlich nicht vorgestellt, aber … mit dem Gedanken an Darrens Grübchen konnte sie sich auch nicht wirklich beschweren.
Chapter 39: 39. Jahr 3: Hogsmeade
Chapter Text
Es gab nur wenige Sachen, die James vor seiner Ankunft in Hogsmeade unbedingt tun wollte und, in keiner Reihenfolge, hatten sie immer so ausgesehen: dem Quidditch-Team beitreten, ins Büro des Schulleiters einbrechen, jeden Geheimgang finden und nutzen, den besten Streich der Welt spielen, Hogsmeade mit seinen Freunden besuchen. Von seinem Vater hatte er eigentlich nur gutes über das Zauberdorf gehört, aber sein Vater und auch seine Mutter hatten sich immer geweigert, ihn vorher ins Dorf zu lassen. Es würde zur Hogwarts-Erfahrung gehören, hatten sie gesagt. James hatte das zwar immer ziemlich dämlich gefunden, aber er vermutete, dass er ihnen auch irgendwie dankbar sein sollte. Hogsmeade das erste Mal (legal) mit seinen Freunden zu erkunden, wäre so viel besser, als es mit seinen Eltern zu sehen.
Zwar hatten er und die anderen Rumtreiber bereits den Keller des Süßigkeitengeschäftes betreten, aber das reichte ihm noch lange nicht. James wollte alles sehen, was Hogsmeade zu bieten hatte. Er wollte den Honigtopf wie jeder normale Schüler betreten, er wollte zu Zonkos gehen und sich die Scherzartikel ansehen, er wollte Butterbier in den Drei Besen trinken. Außerdem wollte er die Heulende Hütte sehen. Von einigen der älteren Schülern wusste er, dass es ein altes, heruntergekommenes Haus auf einem Hügel nahe des Dorfes war, indem wütende Geister spuken sollten. James kribbelte es bereits in den Fingern, sich irgendwie in das Haus zu schleichen und die Geister selbst zu sehen.
Auf dem Innenhof hatten sich alle Drittklässler, deren Eltern das Formular unterzeichnet hatten, dass sie das Dorf besuchen durften, versammelt. Die älteren Schüler waren bereits losgezogen, allerdings bestand Professor McGonagall mit der Hilfe von Mr. Filch darauf, dass sie jedes Formular selbst überprüfen würde und erst dann durften sie losgehen.
James trat ungeduldig von einem Fuß auf den anderen. „Sie verschwendet unsere ganze Zeit“, murmelte er.
„Beruhige dich, das Frühstück ist noch nicht mal vorbei“, sagte Remus neben ihm, der sich die Wartezeit mit einem Buch über Heilzauber vertrieb.
James verdrehte die Augen. „Eigentlich sollen wir heute Spaß haben und das Dorf unsicher machen. Warum nimmst du bitte ein Buch mit?“
„Madam Pomfrey hat es mir geliehen“, erwiderte er ohne aufzublicken. „Es ist wirklich interessant. Es könnte dich auch –“
„Ganz sicher nicht“, unterbrach Sirius ihn. „Du wirst meinen armen James nicht mit deiner Bücherkrankheit anstecken, Lupin.“
Remus schüttelte den Kopf. „Es könnte ihm aber nicht schaden, auch mal in ein Buch zu gucken.“
„Was soll das denn heißen?“, fragte James empört. „Ich gucke regelmäßig in meine Bücher!“
Peter schnaubte leise hinter ihm. „Ja, weil du Ideen für Streiche sammelst, nicht weil du deine Schularbeiten erledigst.“
„Also wirklich“, murmelte James kopfschüttelnd, „womit habe ich diese Anschuldigungen verdient? Ich bin ein gebildeter junger Mann, das muss ich mir nicht gefallen lassen.“
„Was auch immer das bedeuten soll“, entgegnete Remus grinsend.
„Hey!“
Zu einer weiteren Erwiderung kam James nicht, denn Professor McGonagall und der Hausmeister hatten endlich das letzte Formular überprüft. Die Professorin ergriff das Wort. „In Hogsmeade gelten gewisse Regeln. Wenn mir zu Ohren kommt, dass jemand von euch die Ruhe der Bewohner stört oder Unfug anstellt, dann wird euch das Privileg des Dorfbesuches wieder entrissen, habt ihr verstanden? Es ist keine Selbstverständlichkeit, dass ihr das Dorf aufsuchen könnt. Wenn die Bewohner euch bitten, Ruhe zu geben oder etwas nicht zu tun, dann habt ihr auf sie zu hören. Das Betreten von Geschäften und Lokalen, die auf eine erwachsene Zielgruppe zugeschnitten sind, ist minderjährigen Schülern untersagt. Magie ist ebenfalls nur limitiert einzusetzen. Ihr seid auf einem Ausflug und keiner Meuterei, also benehmt euch nicht wie eine Bande von Schimpansen.“ McGonagall ließ ihren Blick noch einmal über die Schüler gleiten, dann rollte sie eine Pergamentrollte zusammen, die zuvor auf dem Boden gehangen hatte. „Ihr könnt gehen. Zum Abendessen sind alle zurück. Die Vertrauensschüler werden dafür sorgen.“
„Na endlich“, sagte James leise. „Kommt schon, Männer.“
„Auf ewig der Sexist, nicht wahr, James?“, ertönte die belustigte Stimme von Marlene neben ihm, als sie sich in Begleitung von Mary und Lily an ihnen vorbeidrückte.
James lachte leise. „Das glaubst du ja wohl selbst nicht.“
„Komm schon, Mar“, murmelte Lily und griff nach Marlenes Arm. „Verschwende nicht so viel Zeit. Wir wollen doch alles sehen.“
„Ist ja gut, ist ja gut. Wir sehen uns.“ Marlene winkte ihnen über die Schulter hinweg zu, Lily würdigte ihnen keinen einzigen Blick und Mary wich James´ Blick gezielt aus.
„Mädchen“, murmelte er kopfschüttelnd. „Die werden auch mit jedem Jahr seltsamer, oder?“
„Sag das nicht zu laut, sonst verhext Lily dich wieder“, erwiderte Remus.
James schnaubte, antwortete aber nicht. Aufgeregt machten die vier Jungs sich daran, den Weg vom Schloss zum Dorf zu gehen. In einer sich sanft biegenden Pflasterstraße, führte der Weg sie am Verbotenen Wald und am Schwarzen See vorbei, bis sie schließlich eine weite Wiese passierten, von der aus man die ersten Häuserspitzen des Dorfes bereits erkennen konnte.
Hogsmeade sah aus, als wäre es wie Hogwarts aus allen möglichen Häusern, Stockwerken und Dächern zusammengesetzt, die man nur finden konnte. Einige Häuser waren schief und wirkten so, als würden sie jeden Moment umkippen, andere waren breit gezogen und nahmen die komplette Straße ein. Eine kleine, überdachte Brücke führte über einen steinigen Bach, der das Dorf umfloss, bis zur Hauptstraße, die bereits mit Wohnhäusern und Geschäften gesäumt war. Auf der einen Seite standen wacklig aussehende Häuser, mit spitzen Dächern und blumigen Vorhängen, auf der anderen prangte ein großes, hölzernes Schild über der Eingangstür, das verkündete, dass es sich um einen Laden für Bücher, Pergament und Federn handelte.
Die Hauptstraße krümmte und bog sich in alle Richtungen; kleine Abhänge, Treppen und Zäune führten überall ab, mal zu gepflegt aussehenden Gärten, mal zu schmalen Gassen, die zu noch weiteren Geschäften führten, mal zu verschlossenen Kellertüren, die nur darauf warteten, dass James und seine Freunde sie erkundeten. Was es wohl für geheime Pfade gab, wenn sie die Keller erkundeten?
Der breite, gepflasterte Weg, der sie wie ein Fluss durchs Dorf führte, führte an den bekanntesten Geschäften vorbei, bevor er sich in einen Hauptplatz ergoss, auf dem sich bereits dutzende Schüler und Dorfbewohner aufhielten. Schmale Steinbänke standen an allen Ecken, geschmückt mit Blumenkübeln und glänzenden Laternen, eine schicke, marmorne Statue eines Zauberers stand im Zentrum des Hauptplatzes und das wohl bekannteste Geschäft ganz Hogsmeades war wie ein alles überragendes Ungetüm in der Mitte des Dorfes zu sehen: die Drei Besen.
„Das ist Hengis von Woodcroft“, sagte Remus und deutete auf die Statue des Zauberers. „Er hat das Dorf gegründet und soll früher im Drei Besen gelebt haben.“
„Hey, Lupin. Nein“, erwiderte Sirius, der mit dem Finger auf ihn deutete. „Das hier ist keine Geschichtsstunde. Wir werden hier Spaß haben, okay?“
Remus verdrehte die Augen, seufzte und sagte dann: „Also schön. Spaß. Was wollen wir als Erstes sehen?“
„Zonkos, ist doch klar“, meinte Peter. „Meine Mum hat mir ein bisschen mehr Taschengeld mitgegeben. Ich kanns kaum erwarten, all die Neuigkeiten zu sehen.“
„Das ist die richtige Einstellung, Pete“, erwiderte James, der ihm auf die Schulter klopfte.
Peter strahlte. „Muss ja. Ich muss doch meine Sammlung an Dungbomben wieder auffüllen, nachdem wir so viele für die Bibliothek verbraucht haben.“
Die Rumtreiber kämpften sich durch die Schülergruppen auf dem Hauptplatz und fanden sich nur Momente später in einem vollgestopften und überquellenden Laden wieder, der bereits von außen mit seiner knallorangefarbenen Fassade geglänzt hatte. Durch die breiten Schaufenster fiel zwar eine Menge Sonnenlicht, aber trotzdem wurde es fast gänzlich von den Massen an Schülern verschluckt, die die selbe Idee wie sie hatten.
„Ich bin so froh, dass ich nie in bedrohliche Situationen wegen euch gerate“, murmelte Remus, der Schwierigkeiten hatte, sich zwischen einer Bande an Sechstklässlern und einem der Regale zu befreien.
James verdrehte die Augen, griff nach seinem Arm und zerrte ihn zu sich. „Stell dich nicht so an, Lupin. Das bisschen Sauerstoffmangel wird dir schon nicht schaden.“
„So sicher wäre ich mir da nicht.“
„Wo sind denn hier die Neuigkeiten?“, fragte Sirius über James´ Kopf hinweg. „Ich seh – Au! Hey, pass doch auf!“ Sirius funkelte den älteren Slytherin an, der ihm gerade einen Ellbogen gegen die Schulter gedonnert hatte.
„Steh halt nicht im Weg, Zwerg“, erwiderte dieser. „Scheiß Drittklässler.“ Der Slytherin verschwand in der Menge.
Sirius drehte sich zu James. „Wir haben viel zu tun, Potter. Los jetzt.“
„Also schön. Ich würde sagen, wir teilen uns auf. Peter, du holst die Dungbomben, Sirius und ich suchen nach den Neuheiten und Remus, du holst ein paar Juckpastillen und am besten ein wenig von diesem Warzenpulver. Wir treffen uns dann an der Kasse, okay?“
„Hab ich eine Chance, Nein zu sagen?“, fragte Remus.
„Nein“, antworteten James und Sirius unisono, grinsten und quetschten sich dann durch die Schüler.
Es war zwar keine Neuheit, dass kleine Streiche und ein paar Scherzartikel gerne ihren Weg in die Hallen von Hogwarts fanden, aber James hätte sich nicht denken können, dass ein Großteil der Schule sich auf einmal in Zonkos pressen würde. Zumal er sich sicher war, dass die meisten von den Anwesenden noch nie auch nur einen originellen Streich gespielt hatten. Als er an einer Gruppe von Viertklässlern vorbeiging, die sich aufgeregt die neuste Version einer fangzähnigen Frisbee zeigten, wurden seine Bedenken bestätigt. Alles nur Amateure.
Das Neuheiten-Regal glänzte mit ein paar wirklich nützlichen Dingen, die Sirius und James sich in die Arme luden. Mit Rülps-Tabletten, einem 24-Stunden-Haarfärbe-Mittel, das gegen jegliche Zauber immun war und einem ganzen Sortiment an Knallfeuerwerken, Knallbonbons und Knallbomben mit verschieden farbigem Rauch, kämpften die beiden sich ihren Weg zurück zur Kasse, wo sie auf Peter, vollbeladen mit Dungbomben aller Art, und Remus, der zumindest die Juckpastillen in den Händen hatte, trafen.
„Warzenpulver war aus“, sagte er, bevor James fragen konnte.
„Mist.“
„Wir bestellen einfach was“, erwiderte Sirius. „So wichtig ist es auch nicht.“
„Aber ich wollte es eigentlich Schniefelus in den Umhang kippen, wenn er in Zaubertränke wieder nicht aufpasst“, murrte James.
Sirius grinste, während sie bezahlten. „Dafür haben wir doch die hier.“ Er deutete auf die Rülps-Tabletten. „Dem ollen Schniefelus wird noch jedweder Appetit vergehen.“
„Seid ihr sicher, dass die ungefährlich sind?“, fragte Peter zweifelnd. „Auf der Packung steht, dass es zu Nebenwirkungen kommen kann.“
„Und wenn schon“, sagte Sirius. „Ist nur Schniefelus. Wäre kein großartiger Verlust, wenn er“, er linste auf die Packung und grinste, „plötzlich Haarausfall bekäme, oder?“
„Vielleicht würde es die Welt zu einem besseren Ort machen“, murmelte Remus leise.
James schnaubte. „Und du willst Moral-Apostel spielen, schon klar, Lupin.“
Mit dunklen Wangen grinste Remus ihn an. Als sie sich endlich wieder aus dem Laden gekämpft hatten, waren ein paar dicke Wolken am Himmel aufgezogen. Der Hauptplatz hatte sich noch nicht wirklich geleert und auch die Drei Besen sahen so aus, als würden sie jeden Moment aus allen Nähten platzen. Den Honigtopf konnten sie noch später aufsuchen und in den Federkielladen mussten sie nun wirklich nicht gehen. Auch ein Laden nur für magische Pflanzen und Samen schien James eine Zeitverschwendung zu sein, auch wenn er bemerkte, dass Peter das Schild einen Moment länger als nötig betrachtete. Gut, sicher könnten sie dem Laden später einen Besuch abstatten.
„Ich weiß, wo wir jetzt hingehen“, verkündete James, nachdem sie sich unentschlossen auf dem Hauptplatz umgesehen hatten.
„Wenn du den Quidditch-Laden vorschlägst“, brummte Peter missmutig klingend.
„Wo denkst du nur hin, Pete?“, erwiderte James, auch wenn er zugeben musste, dass er sich den Laden schon gerne mal von innen ansehen würde. „Nein, etwas viel Besseres. Etwas, von dem ich weiß, dass kaum einer da sein wird.“
„Madam Puddifoots?“, fragte Sirius, der das Gesicht zur Grimasse gezogen hatte.
James schlug ihn mit der Tüte von Zonkos. „Idiot. Doch nicht beim ersten Date.“
„Achso, tschuldige, ich wusste nicht, dass du so ein alter Romantiker bist“, grinste Sirius ihn an.
„Du kennst all meine Seiten noch gar nicht, Black, also sieh dich besser vor.“
„Ich zittere.“
„Und wir warten“, erinnerte Peter ihn.
„Oh, richtig. Nein, wir können zur Heulenden Hütte gehen!“, sagte James aufgeregt. „Ich hab gehört, dass es in den letzten Jahren richtig gespukt haben soll und dass die Dorfbewohner sich gar nicht in die Nähe trauen, weil sie Angst haben, von blutrünstigen Geistern oder so gefressen zu werden.“
„Was?“ Remus blickte ihn mit aufgerissenen Augen an, die Wangen blass, der Mund leicht offen stehend.
James´ Enthusiasmus fiel ein bisschen in sich zusammen. „Keine Sorge, Remus, Geister können niemanden fressen. Glaub ich. Jedenfalls sind das bestimmt nur Märchen, um Schüler fernzuhalten, aber davon lassen wir uns doch nicht abhalten, oder?“
„Ich weiß nicht“, murmelte Peter, der ebenfalls ein wenig käsig aussah. „Was ist, wenn da doch was dran ist? Ich will nicht von irgendeinem Monster gefressen werden, das man in der Hütte ausgesetzt hat.“
„Also bitte, Pete, jetzt stell dich nicht so“, sagte Sirius und rollte mit den Augen. „Wenn wir alle zusammen gehen, dann wird sich schon kein dummes Monster raustrauen. Wahrscheinlich hat das eher Angst vor uns.“
Peter sah nicht überzeugt aus, auch wenn er lächelte. „Wenn du das sagst.“
„Ich glaube, ich verzichte lieber, Leute. Geht ruhig ohne mich“, sagte Remus leise.
„Das geht nicht, Remus. Wir sind doch ein Team. Eine Bande. Eine Familie, sogar!“, sagte James. „Wenn einer geht, dann gehen alle. Das ist Rumtreiber-Kodex.“
„Seit wann das denn?“, fragte Peter.
„Seit schon immer.“
„Nein, wirklich nicht. Das ist –“ Remus wurde von Sirius unterbrochen, der ihm einen Arm um den Schulter warf und ihn an sich drückte.
„Keine Sorge, Remus, ich werde dich beschützen. Du kannst auch meine Hand halten, wenn es dir dann besser geht“, meinte er grinsend.
Remus verzog das Gesicht zur Grimasse und ließ die Schultern sinken. Seine Haut war schrecklich blass, auch wenn James nicht sicher war, ob das nicht einfach Normalzustand bei ihm war, und er biss sich auf die Lippen, sodass diese noch dünner aussahen. Mit einem Fuß schürfte er ein wenig Schmutz vom gepflasterten Boden auf, dann seufzte er leise.
„Großartig!“, rief Sirius aus und drückte ihn noch einmal an sich. „Dann los, Männer!“
Die Heulende Hütte lag außerhalb des Hauptpfades von Hogsmeade. Der Pflasterweg wurde durch Erde ersetzt, die schiefen Wohnhäuser wurden immer weniger, bis schließlich nur noch der wacklig aussehende Zaun den Weg begrenzte, den sie gehen konnte. Eine steinerne Brücke führte ein zweites Mal über den Bach, dann mussten sie einen Hügel erklimmen. Auf der anderen Seite stand die Hütte in voller Pracht.
Für James war es das missratendste Gebäude, das er je gesehen hatte. Es war klein, zweistöckig und, so sah es zumindest aus, komplett aus morschem Holz gebaut worden. Die wenigen Fenster waren mit Bretten zugenagelt, das Dach war schief und voller Löcher und der Schornstein, der als einziges Bauteil des Hauses aus Stein bestand, war zerbröckelt und lag zum Großteil auf dem Boden in dem Bereich, in dem wohl mal ein Garten gelegen hatten. James konnte sich kaum vorstellen, dass irgendjemand mal in diesem Haus gewohnt haben sollte. Es war so klein und hässlich, dass er lieber im Verbotenen Wald übernachten würde als darin. Vom Heulen war allerdings nichts zu hören, genauso wenig von wütenden Geistern.
„Enttäuschend“, sagte Sirius. „Ich dachte, hier kommt jetzt eine Bande von Blutigen Baronen aus dem Fenster geschossen und wir Duellieren uns mit denen.“
„Du kannst dich nicht mit Geistern duellieren“, erwiderte Peter.
„Wer sagt das?“
„Alle?“
Sirius verdrehte die Augen. „Trotzdem. Was soll an dem Haus denn spuken?“
„Vielleicht ist das Monster grad nicht da“, murmelte Remus neben ihm, der überall hinsah, aber nicht zur Hütte. „Vielleicht es ist draußen.“
„Dann soll es sich mal beeilen und zurückkommen. So ist das doch nur die Hütte. Die ist nicht gruselig.“
„Wetten, du traust dich nicht, reinzugehen?“, fragte James seinen besten Freund.
Sirius ließ sofort von Remus´ Schulter und drehte sich zu ihm. „Ach ja? Um was Wetten wir?“ Er fuhr sich mit einer Hand durch die schwarzen Haare, bevor er seinen Zauberstab zog. „Ein paar Galleonen oder was?“
„Das ist doch langweilig“, erwiderte James. „Wir könnten –“
„Tut das nicht“, unterbrach Remus die beiden leise.
James drehte sich zu ihm und wollte bereits erwidern, dass es alles nur Spaß war, als er bemerkte, dass Remus die Augen zusammengekniffen und die Lippen zusammengepresst hatte. Seine Hände waren zu Fäusten an seiner Seite geballt, so heftig, dass er jede seiner Fingerknöchel erkennen konnte. James´ Schulter sackten ein wenig zusammen. „Hey, Remus, keine Sorge, wir gehen nicht –“
„Die Hütte heult wegen mir.“
Hätte James nicht gesehen, dass Remus den Mund bewegt hätte, dann würde er denken, er hätte Halluzinationen. Die Hand, mit der er die Zonkos-Tüte festhielt, sackte ein wenig ab und es knisterte, als das Plastik gegen seine Hose stieß. Eiskalt lief es ihm den Rücken hinunter. „Was?“
„Die Heulende Hütte“, wiederholte Remus so leise, dass es fast schon im Wind unterging. „Es sind keine Geister. Ich bin es. Jeden Monat.“
Sirius starrte ihn von der Seite her an, Peter hatte jegliche Farbe im Gesicht verloren und James wusste nicht, wie man atmete.
Es klang fast schon verzweifelt, als Remus die Augen öffnete und lachte. „Ich bin das Monster, das im Dorf gefürchtet ist.“ Bevor James die Hand hätte ausstrecken können, drehte Remus sich mit wehendem Umhang um und stapfte den Hügel wieder hinunter.
„Remus!“, rief James ihm hinterher, seine Stimme brechend, aber Peter hielt seinen Arm fest. „Lass mich –“
„Lass ihn“, sagte Peter atemlos klingend. „Ich glaube, er braucht ein paar Minuten.“
„Das ist doch dämlich“, knurrte Sirius, der den Kopf zur Hütte gerissen hatte. „All die Zeit war Remus einfach nur da drin? Dumbledore hat es nicht für nötig gehalten, ihn irgendwo unterzubringen, wo er es gemütlicher hat?“ Er presste die zitternden Hände an die Seite. „Ich dachte, er wäre jeden Monat irgendwo, wo er sicher ist und wo niemand hören muss, wie er leidet. Warum …“
James schluckte schwer, aber er hatte noch immer nicht wiedererlernt, wie man richtig atmete. Ein faustgroßer Stein steckte in seiner Kehle fest. Auf einmal sah die Heulende Hütte nicht mehr klein und hässlich aus, sondern trostlos. Leer. Allein. Er hatte sich schon vorher nicht vorstellen können, wie es sein würde, dort leben zu müssen, aber jetzt … wie hielt Remus es jeden Monat nur aus? Wie konnte er jeden Monat in dieses heruntergekommene Loch zurückkehren und sich verwandeln? Warum hatte Dumbledore ihm nicht einen Ort gesucht, an dem Remus sicherer war? Warum so nah am Dorf, wo ihn jeder hören konnte? Die Dorfbewohner waren ihm egal, sollten die doch Angs haben, dachte er mit bitterer Galle im Hals. Aber Remus? Remus würde sich das nie verzeihen, dass er dafür verantwortlich war. Dass er derjenige war, der das Dorf in Angst versetzte, wenn es in der Hütte heulte.
James ballte die Hände zu Fäusten. „Das ist nicht, was Dumbledore versprochen hat“, sagte er leise.
„Zur Hölle mit Dumbledore!“, rief Sirius wutentbrannt aus. Bevor Peter oder James ihn hätten greifen können, drückte er sich an ihnen vorbei. „Remus! Remus, warte!“ Er verschwand wie Remus schon vorher hinterm Hügel und ließ Peter und James zurück.
Er konnte Sirius´ Wut nur zu gut nachvollziehen. James drehte den Kopf zurück zur Hütte. Zu dem Haus, das hier nicht stehen sollte. Er presste die Fäuste noch fester zusammen, sodass seine Fingernägel in sein Fleisch drückten. Der Schmerz brannte sich durch seine Haut, half aber nicht, damit der eiskalte Schauer ihn verließ. Er konnte nicht verstehen, wie Dumbledore Remus jeden Monat in die Hütte sperren konnte. Er konnte nicht verstehen, wieso er noch mehr leiden musste, als er ohnehin musste. James versuchte zu atmen. Seine Augenwinkel brannten.
„Es ist nicht deine Schuld, James“, sagte Peter leise neben ihm.
„Ich wollte hierher“, gab er zurück. „Es ist meine Schuld.“
***
Nach Remus´ verschnellter Abreise und James´ Miesepeterei, konnte Peter es für den Tag nicht mehr ertragen. Er tischte James die Lüge auf, dass er im Schloss nach Remus suchen würde und hatte sich stattdessen auf den Weg in die Drei Besen gemacht. Im Wirtshaus war es sowieso unendlich voll, sodass ihn niemand beachten würde und er hatte irgendwie die leise Hoffnung, dass Remus sich auch hierher geflüchtet hatte. In dem Gebäude war es so voller Schüler, dass Peter ihn wahrscheinlich nur dann gesehen hätte, wenn er ihm direkt vor die Füße gesprungen wäre. Ein wenig fühlte er sich schlecht, dass er James allein gelassen hatte, aber manchmal konnte er nicht ertragen, wie sehr es nach seinem Willen und seinem Befinden gehen musste. Keiner seiner Freunde hatte bisher gefragt, in welchen Laden er gehen wollte.
In den Drei Besen war es so überfüllt, dass Peter sich sicher war, dass der Laden mit Magie verlängert werden musste, andernfalls konnte er sich nicht erklären, wie ungefähr ganz Hogwarts einen Platz gefunden hatte. Es gab eine langgezogene Bar, an der ein paar ältere Schüler und Dorfbewohner direkt an der Quelle saßen, sowie ungefähr drei Dutzend Tische und Sitznischen, die bis auf den letzten Stuhl gefüllt waren. Peter war sich nicht ganz sicher, ob er sich nicht einfach an die Wand stellen müsste, wenn er etwas trinken wollte, aber er wollte nicht auf die Erfahrung eines Butterbiers verzichten, nur weil seine Freunde sich dazu entschieden hatten, dass sie lieber dramatisch sein wollten. Die Tüte mit den Dungbomben fest in der Hand umklammert, drückte er sich an anderen wartenden Schülern vorbei, die Bar immer im Blick, als er plötzlich seinen Namen vernahm.
„Hey, Peter! Wo hast du deine Unruhestifterfreunde gelassen?“ Aus einer der Ecke streckte sich eine Hand in die Höhe und einen Moment später folgte der Kopf von Emmeline Vance, die langen, schwarzen Haare zu einem aufwendigen Schwanz gebunden und einen Krug voll mit bernsteinfarbenem Butterbier in der Hand.
„Bin auf Solo-Mission“, erwiderte er grinsend, ehe er sich durch die Menge zu Emmeline und, wie er erkannte, als er sich an mehreren Tischen vorbeigequetscht hatte, Dorcas und Benjy machte. Noch bevor er bei ihnen angekommen war, hatte Benjy einen vierten Stuhl neben sich gestellt, sodass Peter sich direkt niederlassen konnte. Seitdem das Jahr angefangen hatte, hatte er kaum Chancen gehabt, mit Benjy oder den anderen zu reden. Ihm war aufgefallen, dass Emmeline den Sommer über viel in der Sonne verbracht haben musste und dass Dorcas ihre krausen Locken für dieses Jahr in festgebundenen Braids trug, aber Benjy schien sich von all seinen Freunden am wenigsten verändert zu haben. Er war noch immer recht dürr, seine Brille war immer noch mit ein wenig Klebeband fixiert und er schien sich lediglich den Sommer über die Haare abrasiert zu haben. Irgendwie zufrieden hatte Peter auch festgestellt, dass er dieses Jahr größer als Benjy war.
„Wo hast du die anderen gelassen?“, fragte Dorcas. „Ich hab Lupin gesehen, wie er allein durch die Straßen gestapft ist.“
Peter wurde erst warm, dann kalt, dann wieder warm. „Oh. Er wollte nur – ihr wisst schon. Kurz aufs Klo.“
Dorcas und Emmeline tauschten einen wissenden Blick, aber gingen nicht weiter darauf ein, worüber er sehr dankbar war. „Wie läuft es bisher bei dir? Deine Freunde spannen dich mal wieder ziemlich ein, oder?“
„Es geht“, meinte er achselzuckend. „Ich häng ein bisschen mit den Aufgaben zurück.“
„So wie immer“, schnaubte Benjy belustigt, ehe er Peter mit dem Ellbogen anstieß. „Ich aber auch. Glaub, Verwandlung tötet mich dieses Jahr. Ich hab’s immer noch nicht hinbekommen, mein Sitzkissen in ´nen Hund zu verwandeln.“
Emmeline lachte hinter vorgehaltener Hand. „Sein letzter Versuch war so gut, dass das Kissen immerhin gebellt hat, wenn man es hochgehoben hat.“
Benjy verdrehte die Augen. „Lach du nur.“
„Ich kann dir dabei helfen, wenn du willst“, sagte Peter, der sich an Sirius´ Tipps erinnerte, mit denen sogar er es geschafft hatte, eine fortgeschrittene Verwandlungstechnik hinzubekommen. „Ich hab den Dreh endlich richtig raus.“
„Oh. Ich meine, klar. Wenn es dir nichts ausmacht. Das wär cool.“ Peter meinte einen dunklen Schimmer auf Benjys Wangen zu erkennen, den er sich sehr gut aber auch hätte einbilden können. Die von der Decke hängenden Kronleuchter schwankten und sandten immer wieder Schatten durch den gesamten Laden. Es hatte etwas Hypnotisierendes an sich, fand er.
„Das ist eine wirklich gute Idee“, sagte Emmeline mit lauter Stimme.
„Ja, echt!“, fügte Dorcas hinzu.
Benjy warf den beiden einen giftigen Blick zu und zischte etwas, dass sich für Peter sehr nach: „Klappe halten“, anhörte.
Bevor er hätte fragen können, was das bedeuten sollte, kam eine junge, blonde Frau mit vollbeladenem Tablett an ihren Tisch. „Lasst mich raten“, fragte sie mit fröhlicher Stimme. „Einmal auffüllen, ja?“
Dorcas und Benjy hoben ihre Gläser an. „Bitte!“
„Für dich auch?“, fragte die Frau, bevor sie ein leeres Glas vor Peter abstellte. Sie nahm ihren Zauberstab aus einem Knoten in ihren Haaren und hielt die Spitze wie einen Zapfhahn über die Gläser, sodass bernsteinfarbene, schäumende Flüssigkeit daraus goss. Als sie alle Gläser gefüllt hatte, lächelte sie sie an und verschwand mit gefährlich klirrendem Tablett und im Schwung ihrer Schritte wackelnden Hüften. Peter konnte nicht anders als ihr hinterherzustarren.
„Das ist Madam Rosmerta“, meinte Emmeline grinsend, als Peter sich wieder zu ihnen drehte. „Sie ist die neue Wirtin.“
„Du bist nicht der Einzige, der ihr hinterherguckt“, sagte Dorcas augenverdrehend.
Damit hatte sie aber auch nicht ganz Unrecht. Überall, wo Madam Rosmerta hinging, folgten ihr die Blicke der größtenteils männlichen Schüler, wobei sie die Aufmerksamkeit wohl ziemlich genoss. Peter konnte ein breites Grinsen auf ihren Lippen erkennen.
„Weiß nicht, was man an ihr findet“, murmelte Benjy, der seinen Butterbierkrug mit beiden Händen umklammerte und einen großen Schluck daraus nahm. „Sie ist auch nur ´ne Frau, oder?“ Ein wenig von dem hellen Schaum klebte an seiner Oberlippe.
Emmeline rollte mit den Augen und warf ihn mit einer Serviette ab. „Nur weil du nicht auf - äh.“ Sie brach mitten im Satz ab. „Nicht so wichtig“, fügte sie auf Peters fragenden Blick an. „Aber sie ist schon hübsch, oder? Madam Rosmerta?“
„Sicher“, murmelte er leise, obwohl er genau wusste, wie hübsch sie wirklich war. Peter hatte sich zwar bisher noch nicht allzu viele Gedanken um Mädchen gemacht, aber selbst er konnte eine hübsche Frau erkennen, wenn sie ihm Butterbier einschenkte. Und Madam Rosmerta war dabei mehr als hübsch gewesen. Um die Stille zu überbrücken, nahm er einen Schluck des wärmenden Gebräus. Eine Note an Karamell und das Gefühl, als würde er im Inneren von einem Kaminfeuer erwärmt werde, machte sich in ihm breit und er seufzte zufrieden. „Das tut richtig gut.“
„Das Butterbier oder Madam Rosmerta?“, fragte Emmeline grinsend.
„Gott, habt ihr auch ein anderes Thema?“, erwiderte Benjy mit genervter Stimme. „Vielleicht solltet ihr sie lieber um ein Date fragen.“ Er schnaubte, ehe er sich tiefer in seinen Stuhl sinken ließ, die Arme verschränkt und ein düsterer Blick in den Augen.
Emmeline und Dorcas tauschten einen überraschten Blick miteinander und Peter schluckte schwer. „Tut mir leid“, meinte Emmeline leise. „Ich wollte nicht –“
„Nein, schon gut. Mir tuts leid“, unterbrach Benjy sie seufzend. „Das war mies.“
„Vielleicht, aber du hast auch Recht“, sagte Dorcas, die eine wesentlich sanftere Stimme an den Tag legte als ihre Freundin. „Okay, lasst uns über was anderes reden.“ Sie drehte den Kopf zu Peter, der direkt ein schlechtes Gewissen bekam, weil er einfach so in ihre Runde geplatzt war. „Weißt du zufällig, wann das Gryffindor-Team so ihre Trainingszeiten hat?“
Peter hob eine Augenbraue. „Willst du etwa spionieren?“
„Das brauch ich gar nicht“, erwiderte Dorcas mit einer wegwerfenden Handbewegung. „Aber ich muss doch sehen, wie sich Marlene so anstellt. Nachdem sie bei den Auswahlspielen so eine gute Figur gemacht hat, will ich mich davon überzeugen, ob das nicht alles nur ein Glückstreffer war.“
„Ich fürchte, da kann ich nichts machen“, sagte er. „Schon gar nicht für jemandem, der im gegnerischen Team spielt.“ Dorcas öffnete sofort den Mund, aber Peter unterbrach sie mit einem Lachen. „Was, glaubst du, nur du kannst bei den Auswahlspielen anderer Häuser zugucken?“
„Du warst da?“, fragte Emmeline mit überraschtem Ausdruck. „Ich hab dich nirgends gesehen.“
„Ich auch nicht“, fügte Benjy leise an. „Hast du dich versteckt, oder was?“
„Das kann man so sagen“, erwiderte Peter mit dem Gedanken an James´ Unsichtbarkeitsumhang, den er sich für die Auswahlspiele geborgt hatte. Natürlich nur mit der Bedingung, dass Peter ihm erzählen würde, wer es ins Team geschafft hatte und wie die Aufstellung aussehen würde. „Aber keine Sorge, meine Lippen sind versiegelt“, log er.
Benjy schnaubte. „Dir glaub ich kein Wort, Pettigrew.“
„Du verletzt meine Gefühle, Benjy.“
„Oh, booh, heul dich bei Madam Pomfrey aus“, erwiderte er grinsend.
Peter lachte. „Vielleicht solltest du aufhören, mit den beiden abzuhängen“, er deutete auf Dorcas und Emmeline, die geschockt taten, „sie sind ein ganz schlechter Einfluss auf dich.“
„Ach, aber deine Freunde sind besser?“, wollte Emmeline wissen. „Ich weiß, dass ihr das mit der Bibliothek wart, Peter.“
„Du hast keine Beweise.“
„Aber du gibst es zu, oder?“, fragte Dorcas. „Ihr wart das?“
Peter wischte sich mit dem Finger über die Lippen. „Kein Wort dazu.“
Benjy verdrehte die Augen. „Schon gut, wir wissen es sowieso. Dungbomben sind doch mittlerweile sowas wie dein Markenzeichen geworden. Hilft übrigens deiner Unschuld nicht, dass du mit einer großen Tüte damit rumrennst“, fügte er an, deutete auf die Zonkos-Tüte, die Peter zu seinen Füßen abgelegt hatte und grinste, als Peters Wangen dunkelrot wurden.
„Wer sagt, dass ich die für mich gekauft habe?“, fragte er, auch wenn er wusste, dass er bereits aufgeflogen war. Daran hatte er zugegeben nie gedacht. Vielleicht sollte er sein Repertoire erweitern und ein paar andere Ablenkungsmanöver nutzen, damit es nicht direkt klar sein würde, wer denn für die Dungbomben in der Bibliothek oder im Mädchenklo verantwortlich war. Nicht, dass er nochmal Dungbomben ins Mädchenklo werfen würde. Eine Sechstklässlerin hatte ihn mit so einem starken Beinbindezauber belegt, dass er kaum die Treppen hochgekommen war. Das war wahrscheinlich noch demütigender gewesen, als im ersten Jahr mit Kürbisinnereien bespritzt zu werden.
Peter blieb noch ein paar Stunden mit Emmeline, Dorcas und Benjy in den Drei Besen, nicht wirklich darüber besorgt, was James tat oder wo Remus und Sirius hin verschwunden waren. Es tat ihm gut, endlich mal wieder mit seinen anderen Freunden was zu unternehmen, selbst wenn es nur an einem Tisch sitzen und Butterbier trinken war. Er hatte die drei Ravenclaws so lange nicht mehr richtig gesehen, er hatte fast schon vergessen, wie viel Spaß es machte, mit ihnen zu reden und nicht damit beschäftigt zu sein, irgendeinen neuen Streich zu entwickeln.
Als es langsam Abend wurde, machten sie sich auf den Rückwegs zum Schloss. Peter hatte erfolgreich verdrängt, dass Remus sie an der Heulenden Hütte verlassen hatte und er hatte erfolgreich verdrängt, dass es Remus war, der in der Heulenden Hütte sitzen und sich verwandeln musste, aber je näher sie dem Schloss und dem Wald kamen, desto eher traten diese Gedanken wieder auf. Er fragte sich, was er tun könnte, um seinem Freund zu helfen. Sie konnten schlecht mit ihm in die Hütte gehen, noch konnten sie ihm eine bessere Hütte bauen, also was konnten sie überhaupt tun? Dumbledore hatte gesagt, es würde reichen, wenn sie weiter für Remus da sein würden, aber würde es das? Würde es wirklich reichen, nur seine Freunde zu sein, während er sich jeden Moment in einem zerfallenen Loch die Haut vom Fleisch biss? Peter schüttelte sich bei dem Gedanken.
In der Großen Halle verabschiedete er sich von Emmeline, Dorcas und Benjy und setzte sich an den Gryffindor-Tisch. Kaum hatte er seinen Teller befüllt, quetschte sich James neben ihn. „Da bist du ja“, sagte er leise. „Wo hast du gesteckt? Hast du Remus gefunden?“
Er erinnerte sich an seine Lüge, mit der er losgekommen war und ihm wurde warm im Gesicht. „Äh – Nein. Nirgends. Du?“
James seufzte neben ihm, bevor er sich ein Stück Brot nahm und es in Peters Karottensuppe tunkte. Mit vollem Mund sagte er: „Dafür aber Sirius.“
„Hat Sirius ihn gefunden?“
„Will er nicht sagen.“
Peter runzelte die Stirn. „Warum das?“
„Keine Ahnung“, meinte James und schluckte den Rest herunter. „Ich hoffe, ich bekomm nach dem Training was aus ihm raus.“
„Training?“
„Quidditch“, sagte James.
„Sirius ist aber nicht im Team, James.“ Peter war sich nicht sicher, ob James das wusste oder ob er sich einfach seine Traumwelt zusammengesponnen hatte, indem alles nach seinen Wünschen geschah. „Er hat nicht mal vorgespielt.“
James verdrehte die Augen, ehe er einen großen Schluck Kürbissaft aus Peters Becher nahm. „Das weiß ich, Danke. Ich war dabei. Sirius soll sich trotzdem nicht gehen lassen. Man weiß nie, wann man einen Ersatzspieler braucht, und ich wette, er könnte mindestens so gut wie McKinnon werden, wenn er ein bisschen an sich arbeitet. Ich meine, dafür müsste er ein wenig mehr Kondition entwickeln und wenn ich ehrlich bin, ist McKinnon nicht grad die Schnellste auf dem Besen, aber sie hat gute Kontrolle und –“
„Komm zum Punkt, James!“, unterbrach Peter ihn laut und schob sicherheitshalber seinen Becher beiseite. James hatte die Tendenzen, mit den Händen zu reden, wenn es ums Quidditch ging.
„Oh, richtig. Sorry“, fügte er grinsend an. „Jedenfalls will ich, dass Sirius sich richtig auspowert und dann kann ich hoffentlich aus ihm herausquetschen, was mit Remus war. Falls das nicht klappt …“ Den Rest ließ er ungesagt, aber Peter kannte ihn mittlerweile gut genug, damit er wusste, was er fragen wollte.
Seufzend sagte er: „Schon klar. Ich such nach Remus.“
„Bist der Beste!“, rief James halb im Aufstehen, ehe er sich den Rest vom Brot in den Mund stopfte und die Große Halle entlang joggte.
***
Es war für Severus´ Geschmack viel zu warm draußen. Die Septembersonne brutzelte auf sie herab und obwohl es bereits Abend war, hatte es nicht sonderlich viel an Hitze verloren. Die Dorfbewohner waren noch immer munter und schienen sich nicht daran zu stören, ihr Dorf mit den Schülern teilen zu müssen und obwohl Severus sich wesentlich besseres vorstellen könnte, dass er mit seiner Freizeit anstellte, folgte er der schmutzigen Steinstraße, die Mulciber ihm beschrieben hatte. Auf den ersten Blick hin war das Dorf nett gewesen; die schiefen Gebäude und die verwinkelten Straßen hatten ihn seltsam an Spinner´s End erinnert, die Straße, in der er lebte, aber es hatte schnell begriffen, dass er hier keinen miserablen Fabrikschornstein entdecken würde, der die Luft mit dicklichem Rauch verpestete. Der kleine Bach war kristallklar und plätscherte vor sich hin, während der Fluss in Cokesworth aussah, als würde man davon krank werden, wenn man nur in der Nähe stand.
Hogsmeade schien all das zu sein, was Spinner´s End mal sein wollte und trotzdem konnte Severus sich nicht wirklich dafür begeistern, dass er das Dorf endlich besuchen konnte. Was nützte ihm die Freizeit in dem Zaubererdorf schon, wenn seine beste Freundin lieber mit ihren Gryffindor-Freundinnen abhing, statt ihre Zeit mit ihm zu verbringen? Was nützte es, wenn er gesehen hatte, wie sie mit Darren Harper gelacht hatte, obwohl sie ihm beteuert hatte, dass da nichts mit ihnen war? Severus war es egal, was Lily tat. Sollte sie doch mit ihre Zeit verschwenden. Es war ihm alles sowas von egal.
Entlang der Straße fand Severus schließlich das Ladenschild, das Mulciber ihm beschrieben hatte. Es war heruntergekommen und die Fenster sahen aus, als wären sie schon lange nicht mehr geputzt worden. Im Inneren hingen dunkle Vorhänge und auf den drei Stufen, die zur Tür führten, lagen allerlei Schmutz und Müll. Severus blieb vor der Tür stehen und runzelte die Stirn. Hatte Mulciber ihm einen Bären aufgebunden? Oder sollte er ihn wirklich hier treffen? Der Laden sah so unbenutzt und ungepflegt aus, dass Severus nichts außer dem fast verwaschenen Stern am Schild erkennen konnte. Einen Namen suchte er vergebens; die Jahre hatten ihr Werk getan und alles verschwinden lassen, was nicht gepflegt wurde. Er nahm einen tiefen Atemzug und schloss die Augen. Wenigstens würde er hier nicht Gefahr laufen, Lily und ihren Freundinnen oder dem dämlichen Harper über den Weg zu laufen.
Er nahm die drei Stufen auf einmal und drückte die Tür auf, von dessen Holz der Lack bereits abblätterte. Ein wenig der Farbe blieb an seinen Fingerspitzen hängen, sodass er sie rasch an seiner Hose abwischte, ehe er eintrat. Im Inneren war es, wie zu erwarten, düster und staubig. Im wenigen Sonnenlicht, das durch die Tür fiel, konnte er die Staubschwaden sehen, die in der Luft schwebten. Er rümpfte die Nase und zog den Zauberstab. „Lumos.“ Mit der brennenden Spitze seines Stabes in der Hand ging er vorsichtig weiter, die Augen suchend über den Boden und die Wände gleitend.
Das Innere des Geschäftes sah aus, als wäre es abgebrannt. Rußverfärbtes Holz, halb zerstörte Regale und kaputte Gläser, die den Boden bedeckten, zählten zu den größten Indizien. Was früher einmal reichlich bestückte Theken und Regale gewesen sein mussten, waren heute nur noch schwarze Holzstäbe, die kaum stabil genug waren, um einen Kessel zu halten. Was auch immer hier verkauft wurde, es war alles entweder zerstört oder weggebracht worden.
Severus ging ein paar Schritte weiter und unter seinem Fuß knarzte eine Diele.
„Wer ist das?“, hörte er einen Augenblick später jemanden zischen. „Hast du noch jemanden eingeladen?“
„Das muss Snape sein“, antwortete die träge Stimme Mulcibers. Kaum einen Herzschlag später erschien Mulcibers Kopf hinter einer Ecke. Seine Miene erhellte sich kaum merklich, als er Severus erkannte. „Da bist du ja. Komm, wir wollen anfangen.“
„Ich dachte, das hier wäre ein Laden für Zaubertrankzutaten?“, fragte Severus leise, ehe er Mulciber folgte.
Dieser führte ihn um eine Ecke, ein umgefallenes Regal und dann einige morsch aussehende Stufen nach unten in den Keller. Orangenes Fackellicht erhellte die Umgebung und sorgte dafür, dass Mulciber einen unheimlichen Ausdruck im Gesicht annahm. „Irgendwie musste ich dich ja herlocken, Snape“, sagte er lachend. „Keine Sorge, wir haben nicht vor, dich um die Ecke zu bringen.“
Wer wir waren, musste Severus nicht fragen. Er folgte Mulciber durch eine halb herausgerissene Tür in einen Raum, der so gut beleuchtet und gewärmt war, dass es kaum zu glauben war, dass er sich noch im gleichen Laden befand. Die steinernen Wände waren mit Fackeln und Regalen voller Weinflachen bestückt, es gab einen massiven, teuer aussehenden Holztisch, mit gut einem Dutzend gemütlich aussehendem Stühlen mit hohen Lehnen und schwarzem Stoff. Der Tisch war bereits gut besetzt, als Mulciber und Severus den Raum betraten.
Direkt an der Tür saß Avery, der ihm ein Grinsen zuwarf. Neben Avery saß eine hochgewachsene Frau mit krausen, schwarzen Locken, direkt neben ihr ein Mann mit eingefallenen Augen und abgesenkten Schultern, sowie ein Mann, der diesem ziemlich ähnlich sah, nur dass sein Haar ein wenig länger und dünner war. Brüder, nahm Severus an. Auf der anderen Seite von Avery waren vier Stühle frei, dann konnte Severus einen Mann mit langen blonden Haaren und stechend grauen Augen erkennen. Neben ihm saß eine Frau, die er wenigstens erkannte; es war Narzissa Black – oder eher Narzissa Malfoy, wenn er dem Ring an ihrem Finger glauben konnte. Sie hatte eine Miene aufgesetzt, als würde sie liebend gerne überall außer hier sein.
Mulciber wartete nicht lange, sondern drückte Severus auf den Stuhl neben Avery, ehe er sich neben ihm niederließ. Im Fackellicht sahen seine dunklen Haare wie Pech aus. Schatten tanzten über seine blasse Haut, die Severus einen Schauer über den Rücken schickten.
„Damit sind wir für den Moment vollzählig“, sagte Mulciber an den Mann mit den blonden Haaren gewandt. „Black und Rosier sind noch zu jung fürs Dorf.“
„Das ist zwar schade, aber wir werden auch ohne sie klarkommen“, erwiderte der Mann. Seine stechenden Augen landeten auf Severus und er zog die Augenbrauen kraus. „Du musst mir meine Manieren verzeihen, junger Mann, aber ich fürchte, ich kann dein Gesicht nicht zuordnen. Aus welcher Familie stammst du?“
Als Severus neben sich das unterdrückte, schnaubende Kichern von Avery vernahm, wurde ihm unangenehm warm im Gesicht. Er drückte den Rücken durch. „Aus keiner der Reinblutfamilien, falls es das ist, was du wissen willst.“
„Was soll er dann hier?“, zischte die schwarzhaarige Frau mit peitschender Stimme. „Wir sind – “
„Ich bürge für Severus“, unterbrach Mulciber sie mit seiner trägen Art. Er wandte den Blick erst an Severus, dann zu der Frau. Ein schmales Lächeln erschien auf seinen Lippen. „Das sollte doch reichen, oder nicht, Bellatrix?“
Mit fest verschränkten Armen funkelte sie den wesentlich jüngeren Schüler an. „Von dir brauche ich mir eigentlich gar nichts sagen zu lassen, Mulciber. Du kannst froh sein, dass du überhaupt von der ganzen Sache weißt. Es wäre wesentlich besser, wenn ihr alle wieder in die Schule geht und spielt. Das ist eine Angelegenheit der Erwachsenen.“
Sie bekam ein zustimmendes Grunzen von dem Mann, der neben ihr saß, aber der Mann mit den blonden Haaren schüttelte schnalzend den Kopf. „Na, na, Bella, wir wollen doch unsere neuen Rekruten nicht gleich vergraulen, nicht wahr? Natürlich seid ihr alle herzlich willkommen, auch wenn ihr noch minderjährig seid.“
Bellatrix schnaubte lauthals. „Rekruten“, sagte sie abwertend. „Das sind Kinder, mehr nicht.“
„Du hast die Schule auch erst vor Kurzem abgeschlossen, Bella“, sagte Narzissa leise, aber schneidend. „Lass sie bleiben. Der – der dunkle Lord hat klare Anweisungen gegeben, oder?“
Erneut sah Bellatrix so aus, als hätte sie ein paar ausgewählte Worte übrig, ließ es allerdings überraschenderweise bleiben. Mit den verschränkten Armen lehnte sie sich zurück. „Meinetwegen.“
„Geht doch“, sagte Mulciber lächelnd, ehe er sich an den Mann mit blonden Haaren wandte. „Fangen wir dann an, Lucius?“
Für einen Moment blitzte es in seinem Gesicht auf, als könnte er es kaum wagen, dass ein Kind ihn direkt ansprach, aber dann erschien auch auf Lucius´ Gesicht ein Lächeln. In einer geschmeidigen Geste legte er eine seiner Hände auf den Tisch, wobei er einen lächerlich langen Zauberstab eingebettet in einem Gehstock mit sich brachte. Beinahe schon krachend kam Holz auf Holz auf. Narzissa neben ihm zuckte kaum merklich zusammen.
„Für diejenigen unter euch, die mich nicht kennen“, er blickte eindeutig nur Severus an, der seinem Blick allerdings standhielt, „mein Name ist Lucius Malfoy, ich bin der derzeitige Erbe der Malfoys und baldiges Oberhaupt der Familie. Das neben mir ist meine liebliche Frau Narzissa. Uns gegenüber, mit den dunklen Haaren, ist Bellatrix, meine Schwägerin.“
Bellatrix sah genauso begeistert darüber aus, wie Lucius klang.
„Neben ihr sind die Brüder Rabastan und Rodolphus Lestrange. Und Ennis Mulciber und Nestor Avery kennst du ja bereits, nicht wahr?“, fügte Lucius mit einem breiten Lächeln an. Er hob eine Augenbraue an, ehe er sagte: „Deinen Namen musst du uns allerdings noch mitteilen. Wir kennen nicht so viele … Halbblüter.“
Es war offensichtlich, dass Severus in den Augen von Bellatrix und Lucius nicht viel wert war, aber das war er gewohnt. Mit einer Mutter aufzuwachsen, die ihre Magie verabscheute und einem Vater, der mehr Alkohol als Blut im Körper hatte, hatte er Übung darin, das Kinn erhoben zu halten und seinen eigenen Wert zu kennen. Er war vielleicht kein Reinblüter wie alle anderen Anwesenden hier, deren Name er bereits auf den Listen der Heiligen Achtundzwanzig oder der alten Reinblutfamilien gelesen hatte, aber er war trotzdem hier. Severus würde nicht an diesem Tisch sitzen, wenn man ihn nicht für gut genug halten würde und darauf baute er. „Severus Snape“, erwiderte er knapp. „Wer ist dieser dunkle Lord?“
Er hatte Gerüchte darüber gehört, Geflüster in der Winkelgasse und am Slytherin-Tisch, aber niemand hatte ihm wirklich gesagt, wer dieser Lord war und wofür er stand. Mittlerweile hatte Severus sich zusammenreimen können, dass er für die ganzen Angriffe auf Muggel zuständig war. Ein seltsamer Stolz ergriff ihn dabei.
„Er wagt es“, zischte Bellatrix mit manischer Stimme. „Du solltest froh sein, dass ich – “
„Bella“, unterbrach Lucius sie. „Du musst ihr verzeihen“, sprach er weiter, nachdem Bellatrix sich wieder zurück in ihren Stuhl gelehnt hatte, „sie kann sehr aufbrausend sein. Ich fürchte, eine genaue Auskunft können wir dir nicht geben – Geheimnisse müssen schließlich geheim bleiben, das verstehst du sicherlich. Wenn jedermann sie kennen würde, dann wären sie nicht mehr geheim, ha!“ Lucius ließ ein gefälschtes Lachen von sich, in welches Rabastan und Rodolphus miteinstimmten. Er warf ihnen einen giftigen Blick zu. „Jedenfalls ist der dunkle Lord ein großartiger Zauberer. Ich bin mir sicher, dass er die magische Welt, wie wir sie jetzt kennen, revolutionieren wird. Wenn alles nach Plan verläuft, dann müssen wir nicht mehr in unseren Verstecken leben. Dann leben wir an der Sonne, dann nehmen wir unseren Platz wieder ein, der uns vor Ewigkeiten genommen wurde.“
„Tötet er deswegen Muggel?“, fragte Severus.
Neben ihm zischte Avery auf, aber Mulciber schnaubte belustigt. „Ich sag ja, er ist klug.“
Severus hob eine Augenbraue, als er Lucius´ Blick entgegnete. „Ich kann zwischen den Zeilen lesen. Dieser dunkle Lord ist derjenige, der für die Angriffe über die letzten zwei Jahre hinweg verantwortlich ist, nicht wahr?“
Lucius fing sich schneller, als er erwartet hatte. „Da hast du Recht. Wer hat dir das gesagt?“
„Das musste niemand. Es war offensichtlich, sobald ich davon Wind bekommen habe. Wenn es wirklich ein Geheimnis sein soll, dass der dunkle Lord für diese Dinge zuständig ist, dann solltet ihr das auch jedem sagen, der davon weiß. Geheimnisse werden schnell zu Gerüchten, wenn man nicht aufpasst, wer sie kennt.“
Lucius und Narzissa starrten ihn mit aufgerissenen Augen an und dieses Mal fing Narzissa sich schneller. „Da ist was dran“, murmelte sie. „Wir werden das überprüfen müssen, Lucius.“
„Ich weiß“, zischte er in ihre Richtung, ehe er rasch den Kopf schüttelte, um die langen Strähnen aus den Augen zu rütteln. „Vielen Dank“, sagte er mit geschürzten Lippen in Severus´ Richtung, „für deine Observation.“
„Wer auch immer geplaudert hat, wird dafür bestraft werden“, sagte Bellatrix leise. „Darauf kannst du dich verlassen, kleines Halbblut.“
Severus lächelte nur schwach, auch wenn ihm eiskalte Schauer über den ganzen Körper tanzten. Er hatte das Gefühl, als wäre er komplett in Eis getaucht, während es in seinem Kopf auch Hochtouren arbeitete. In den wenigen Sekunden, die er hatte, versuchte er, alles zu verbinden, was er gelernt hatte, versuchte etwas herauszufinden, das niemand ihm gesagt hatte, aber alles, was er hatte, war ein Wirrwarr an Informationen. Er biss sich auf die Innenseite der Wange, bis Mulciber ihm mit dem Ellbogen in die Seite stieß.
„Falls noch immer Zweifel bestehen“, sagte er mehr in die Runde als zu Severus, „dann sollte wohl erwähnt werden, dass Severus der beste Tränkebrauer ist, den diese Schule seit Slughorn gesehen hat.“
Lucius hob eine Augenbraue und selbst die Lestrange-Brüder wirkten beeindruckt.
Lächelnd fuhr Mulciber fort: „Wir sind vielleicht nur Kinder – noch, zumindest – aber ich bin mir ziemlich sicher, dass wir für den dunklen Lord von Nutzen sein können. Oder habt ihr sonst einen Zugang in die Schule, von dem wir nichts wissen? Narzissa hat noch dieses Jahr, aber dann wird es auch für sie nicht einfach sein, in Hogwarts ein und aus zu gehen. Und wir wissen doch alle, wie sehr der dunkle Lord seine Einfachheit schätzt. Wir“, er deutete mit dem Daumen auf Avery, Severus und sich selbst, „haben allerdings noch ungefilterten Zutritt. Avery und sich sind vielleicht stärker mit der Sache verbunden, Severus hingegen hat einen Vorteil dabei. Niemand kennt ihn und seine Familie. Nichts für ungut, Snape.“
Er wusste, dass Mulciber es teilweise als Angriff gemeint hatte, aber Severus kannte ihn mittlerweile gut genug, damit er wusste, sich nicht angegriffen zu fühlen. Wenn er Mulciber keine Blöße zeigte – so klein sie auch war – dann konnte er weiterhin den Respekt des älteren Jungen für sich behalten. Es war nicht viel, soviel war er sich auch klar, aber es war besser, Beziehungen aufrechtzuerhalten, die ihm nur wenige Vorteile brachten, als Beziehungen zu verfolgen, die er nie erreichen würde.
„Da ist was dran“, sagte Lucius nachdenklich klingend. „Ich gebe zu, so habe ich es noch nicht gesehen, Mulciber.“ Er wandte den Kopf zu Bellatrix, die Stirn in Falten gelegt. „Bella, würdest du dem dunklen Lord eine Nachricht zukommen lassen?“
Bellatrix reckte das Kinn in die Höhe. „Selbstverständlich, Lucius. Ich kann es immerhin.“
Er überging den Kommentar. „Gut, dann nenn ihm bitte die Namen derjenigen, die heute hier waren und teile ihm mit, was wir besprochen haben. Wenn er seinen Segen gibt, dann haben wir drei neue Mitglieder.“
„Und wenn nicht?“, fragte Avery mit trotziger Stimme. „Unsere Eltern sind sowieso dabei.“
Lucius knirschte unangenehm mit den Zähnen. „Seine aber nicht. Und für den Moment ist er der Außenseiter.“
Aus dem Augenwinkel nahm Severus Mulcibers Blick wahr. Er drehte kaum merklich den Kopf und beobachtete, wie Mulciber ihn mit einem Zucken ansah. Ein schwaches Lächeln war auf seinen Lippen erschienen. „Das ist kein Problem, nicht wahr, Severus?“, fragte Mulciber laut. „Ich bin mir sicher, er kann ein Geheimnis für sich bewahren.“
Die Galleone fiel, als er hörte, wie Mulciber das Wort Geheimnis betonte. Er meinte seine Legilimentik. Severus schluckte, aber setzte ebenfalls ein Lächeln auf. „Meine Lippen sind versiegelt, ich schwöre es.“ Er war sich nicht sicher, ob er bereits auf einen Angriff auf seinen Geist vorbereitet war. Bisher hatte er es lediglich hinbekommen, Gedanken und Erinnerungen zu trennen und in Bereiche seines Geistes zu schieben, an die er nicht herankam. Er wusste nicht, was passieren würde, wenn jemand versuchen würde, gewaltsam diese Erinnerungen hervorzuziehen.
„Wenn auch nur ein Wort deinen dreckigen kleinen Mund verlässt“, zischte Bellatrix in seine Richtung, „dann wirst du dir wünschen, dass du mich nie getroffen hast.“
Severus hatte das Gefühl, als würde man ihm bei lebendigen Leibe einfrieren, aber er hielt Bellatrix´ stechenden Blick stand. „Wem sollte ich schon etwas sagen?“, fragte er leise. „Immerhin bin ich nur ein unbekannter Halbblüter.“
Mulcibers leises Lachen war wie die Belohnung, die er sich nie gewünscht hatte.
Chapter 40: 40. Jahr 3: Blacks und ihre Freunde
Chapter Text
Professor Lehanan ging mit hinter dem Rücken verschränken Armen langsam durch die Reihen der Tische, während die Schüler verzweifelt versuchten, noch eine letzte Antwort auf ihr Pergament zu kritzeln. Auf den Überraschungstest war wirklich niemand vorbereites gewesen, doch es war wohl dem Glück zu danken, dass der Professor lediglich Fragen über die Einfachheiten gestellt hatte. Wahrscheinlich wollte er sehen, wer wirklich aufgepasst hatte und wer Muggelkunde nur gewählt hatte, um sich eine schnelle, sichere Note zu verdienen.
Sirius hatte sein Pergament bereits seit zehn Minuten beiseitegeschoben. Nicht nur hatte er alle Antworten gewusst, er war sich auch ziemlich sicher, dass er sie alle richtig hatte. Neben ihm war Lily noch immer fast schon panisch dabei, auch ihre letzte Ecke vollzukritzeln, während Marlene einen Platz weiter damit beschäftigt war, einen Origami-Schwan zu basteln. Ihre nicht so gelungenen Versuche lagen bereits zerknüllt in ihrer Tasche.
„Und Federn weglegen“, sagte der Professor, als er in der hinteren Reihe angekommen war. Er hob seinen Zauberstab und ein gutes Dutzend Pergamentrollen flogen in seine ausgestreckte Hand.
„Verdammt“, murmelte Lily, die ihre Feder mit tintenverschmierten Fingern beiseitelegte. „Ich hab den Satz nicht beenden können.“
„Du hast den halben Pergamentvorrat von Hogwarts aufgebacht, ich bin mir sicher du hast den Test bestanden“, meinte Marlene, die ebenfalls ihren Zauberstab hervorholte und Lilys Finger mit einem Schwenk säuberte.
„Danke, aber da wäre ich mir nicht so sicher.“ Lily seufzte.
„Wieso? Wenn einer was von Muggeln versteht, dann ja wohl du“, meinte Sirius flüsternd, als Professor Lehanan an ihnen vorbeiging und sich wieder an sein Pult stellte.
Die grauen Strähnen in seinen dunklen Haaren wirkten besonders hell, als er unter der von der Decke hängenden Fackel stehen blieb. Es war nicht wirklich eine Fackel, zumindest konnte Sirius kein Feuer erkennen, aber es spendete Licht und sah aus, als würde es irgendwie brennen. Die lange Schnur endete in einem kleinen, birnenförmigen Ding, in dem Licht immer wieder flackerte, wie bei einer Fackel. Der Professor hatte bisher keinen Kommentar darüber verloren.
„Also schön“, fing er an, „das war nicht so schwierig, oder?“ Einheitliches Gemurmel und Brummen erreichte ihn als Antwort und er zog die Lippen zu einem Lächeln. „Gut, wenn das so ist, dann gehen wir den Test kurz durch. Vielleicht seid ihr dann etwas antwortfreudiger.“ Er zog eine zufällige Pergamentrolle aus dem Stapel hervor, entrollte sie und räusperte sich. „Frage Nummer Eins: Können Muggel Zaubertränke nutzen?“
Vereinzelt gab es Gemurmel, aber niemand schien sich melden zu wollen. Lily schien noch immer damit beschäftigt zu sein, sich in ihrem eigenen Sud zu wälzen, also seufzte Sirius leise und hob die Hand.
„Ah, Mr. Black?“
„Muggel können Zaubertränke einnehmen, sie aber nicht selbst herstellen. Dazu fehlt ihnen die Magie, die dafür zuständig ist, dass die Zutaten ihre Wirkungen entfalten. Wenn ein Zauberer den Trank braut und ein Muggel das letzte Mal den Kessel herumrühren würde, dann würde der Trank trotzdem keine Wirkung zeigen. Es ist ein altes magisches Gesetz.“
Professor Lehanan strahlte. „Ganz genau! Nehmen Sie fünf Punkte für Gryffindor, Mr. Black. Zweite Frage: Welche Arten der Transportation haben Muggel erfunden?“ Der Muggelkundeprofessor stellte eine nach dem anderen die zehn Fragen, die er für den Überraschungstest vorbereitet hatte, wartete, bis ein Schüler sie beantwortete und machte dann mit der nächsten weiter. Bei einigen verbesserte er direkt, andere ließ er kommentarlos. Bei der letzten Frage („Wieso denken Sie, dass Muggel solch eine Faszination mit der Magie haben?“) ging er die Klasse durch und ließ jeden etwas sagen. Bei Lily hielt er kurz inne, dann fragte er: „Und was denken Sie, Miss Evans?“
Lily schürzte kaum merklich die Lippen. „Eifersucht“, sagte sie knapp angebunden.
„Möchten Sie dazu noch etwas ausführlicher werden?“
„Manche Muggel sind so fasziniert von der Magie, die sie nicht verstehen, dass sie sie unbedingt für sich selbst haben wollen. Dabei ist ihnen egal, wie sie mit der Hexe oder dem Zauberer umgehen. Die Eifersucht, nicht selbst im Besitz dieser Kräfte zu sein, lässt sie schreckliche Dinge tun oder sagen“, meinte Lily mit bitterer Stimme. „Es ist nicht wichtig, ob man zur Familie gehört oder jemand Fremdes ist, Eifersucht lässt einen die Welt nicht mehr klarsehen. Eifersucht kann sich auch schnell in Angst entwickeln.“
Der Professor blickte sie für einen Moment lang an, die Augenbrauen zusammengezogen, einige Falten auf der Stirn. In seinen normalerweise freundlichen Augen hatte sich ein trüber Glanz eingenistet. „Interessant, Miss Evans, vielen Dank. Miss McKinnon, was denken Sie?“
Während Marlene antwortete, beugte Sirius sich etwas weiter vor und flüsterte in Lilys Richtung: „Geht’s dir gut, Evans?“
„Blendend“, zischte sie. „Was sollte schon los sein?“
Sirius hob eine Augenbraue und sie seufzte. „Schon klar.“
„Nur meine Schwester“, flüsterte sie zurück. „Manchmal treibt sie mich in den Wahnsinn.“
„Das kenn ich“, erwiderte er, das Gesicht zur Grimasse ziehend und an Regulus denkend. „Geschwister sind ätzend, hm?“
Lily lächelte müde. „Manchmal zumindest.“
Professor Lehanan riss die Aufmerksamkeit wieder an sich, indem er laut in die Hände klatschte. Die Pergamentrollen ließ er mit dem Schwenk seines Stabs verschwinden, dann deutete er mit der Spitze auf die hängende Birne über ihm. „Heute möchte ich mich Ihnen die Grundlagen der Elektrizität durchgehen. Wer kann mir denn sagen, was …“
Über eine Stunde später rauchte Sirius´ Kopf. Er hatte das Gefühl, als würde er jeden Moment explodieren und all die Informationen, die er gerade aufgenommen hatte, an den Wänden verteilen. Der Professor hatte ihnen lang und breit die Geschichte der Eklezität erklärt, aber Sirius hatte noch immer nicht verstanden, was das eigentlich war oder wie sie funktionierte. Er war fest überzeugt, dass es einfach nur Magie war, anders konnte er sich nicht erklären, wie Licht einfach so entstehen sollte oder wie diese Ekleziträt genutzt werden konnte, um schwere Dinge zu bewegen. Entweder die Muggel waren doch magisch und es hatten alle vor ihm verheimlicht, oder sie besaßen wirklich irgendwelches Wissen über die Welt, dass er sich nicht mal erträumen konnte.
Nach der Stunde wollte er sich so schnell wie möglich zur Großen Halle begeben, doch sein Plan wurde zunichte gemacht, als er vor dem Klassenzimmer für Muggelkunde zwei allzu bekannte Gesichter erkannte, die nur auf ihn warten konnten. Narzissa hatte die Hände an der Seite verkrampft und Regulus sah aus, als würde er liebend gerne überall sein außer hier. Er beobachtete die anderen Schüler mit beinahe schon angewidertem Blick, als sie sich über die Stunde unterhielten.
„Was wollt ihr?“, fragte Sirius laut, sodass beide ihm den Blick zuwandten. Lily und Marlene blieben in einiger Entfernung stehen, als sie bemerkten, dass Sirius nicht mehr neben ihnen war.
„Ich möchte mit euch beiden reden“, sagte Narzissa und verzog das Gesicht. „Allein“, fügte sie hinzu.
„Was auch immer du sagen willst, sag es hier oder gar nicht“, meinte Sirius, verschränkte die Arme und starrte seiner Cousine pointiert ins Gesicht. Er konnte es nicht leiden, wenn sie so tat, als wäre sie eine Heilige in der Familie, wenn er doch genau wusste, dass sie genau wie ihre Schwester Andromeda war – ansonsten würde sie sich nicht mit Alice Fortescue treffen. Sirius fragte sich nicht zum ersten Mal, ob Andromeda versucht hatte, Narzissa dazu zu bringen, mit ihr zu kommen.
Narzissa ließ sich nichts anmerken, als sie redete. „Das ist nicht für die Ohren von… Ihresgleichen gedacht.“ Mit einer Hand deutete sie in die vage Richtung in der Lily und Marlene sich befanden, ganz darauf achtend, nicht zu ihnen zu sehen.
„Was auch du immer sagen willst, muss wohl vor Ihresgleichen geschehen“, erwiderte er trotzig. „Marlene und Lily sind meine Freunde.“
„Das ist –“, fing Narzissa an, aber Regulus unterbrach sie.
„Ich wusste ja, dass du unseren Eltern alles vorgelogen hast, aber dass du so dreist wärst“, sagte er leise, ehe seine Augen zu Lily huschten. „Selbst du solltest wissen, dass du dich nicht mit Schlammblütern abgegeben solltest, Sirius.“
Sirius hatte seinen Zauberstab gezückt, bevor Regulus ausgesprochen hatte. Mit der Spitze auf die Brust seines kleinen Bruders gerichtet, sagte er: „Halt den Rand, Reggie.“
Regulus´ blasse Haut wurde fleckig und rot. „Nimm den Stab runter.“
„Sirius“, sagte Narzissa. „Stell keine Dummheiten an.“
„Das liegt mir aber im Blut“, entgegnete er mit gerecktem Kinn. „Und wenn jemand meine Freunde beleidigt, dann muss ich sie verteidigen. Ist Ehre nicht ein Teil der Lehren des Hauses Blacks? Oder hast du das schon vergessen, Zissy?“
„Du vergisst wohl, mit wem du redest, Sirius“, erwiderte sie mit leiser Stimme. Ihre Wangen waren hell, aber ihr Blick dunkel. „Zwing mich nicht Tante Walburga davon zu berichten.“
Sirius verschränkte die Arme. „Das musst du nicht. Ihr Schoßhund macht das“, meinte er mit bitterer Stimme. „Nicht wahr, Reggie?“
„Ich weiß nicht, wovon du redest, Sirius.“ Sein Bruder vermied es, in seine Richtung zu blicken. Stattdessen drehte er den Kopf zu Lily und Marlene, die an der Ecke standen und warteten. „Mum würde es nicht gutheißen, mit wem du Kontakt pflegst.“
„Mum interessiert mich nicht“, sagte Sirius. „Entweder ihr sagt jetzt, was ihr wollt oder ich gehe zum Mittagessen. Ich hab echt Kohldampf.“
Narzissa zog eine Miene, als hätte sie in eine Zitrone gebissen. „Also schön.“ Sie drückte den Rücken durch. „Eure Mutter hat mir den Auftrag gegeben, dich und Regulus zum diesjährigen Zusammenkommen der Zaubererfamilien einzuladen. Es findet am 13. Oktober auf Malfoy Manor statt. Eure Anwesenheit ist Pflicht“, fügte sie an, Sirius bereits den Mund öffnete, um zu widersprechen.
„Wieso?“, fragte er. „Mum weiß genau, dass sowas nichts für uns ist.“
„Das interessiert sie nicht“, echote Narzissa Sirius´ Worte. „Tante Walburga will sicherstellen, dass jeder weiß, dass das Haus Black noch immer an der Spitze steht und dafür braucht sie die Anwesenheit der Erben der Familie. Wir wissen alle, dass du nicht das Zeug dafür hast, Sirius, deswegen ist Regulus auch erwünscht.“
Regulus, der so aussah, als wäre er auch nicht der größte Fan der ganzen Sache, sagte: „Es ist ein Abend, Sirius. Das wirst du durchstehen. Dafür musst du auch deinen Geburtstag nicht mit uns verbringen.“
Zwar würde Sirius lieber mit Snape zusammen Kessel auskratzen oder Slughorn dabei zuhören, wie er über seine unfassbare Familiengeschichte sprach, aber er musste zugeben, dass es ein verlockendes Angebot war. „Was ist mit Weihnachten?“, fragte er.
„Was soll mit Weihnachten sein?“, erwiderte Narzissa mit verengten Augen. „Dieses Jahr sind die Fawleys dran, das Fest auszurichten, es wird natürlich –“
„Ich komme zu eurem dämlichen Familienfest, wenn ich dafür Weihnachten an Hogwarts bleiben kann“, unterbrach Sirius sie rasch. Er konnte den irritierten Blick in Narzissas Augen sehen, aber das interessierte ihn nicht. „Ich benehme mich auch. Zeig mich von der besten Seite. Kannst du das arrangieren?“
„Das liegt nicht an mir, Sirius“, sagte seine Cousine, fügte allerdings nach einer kurzen Pause an: „Ich werde sehe, was ich tun kann.“
Sofort hellte sich sein Gemüt auf. „Danke, Zissy! Das wars dann, ja?“
„Das war, was ich sagen wollte, ja.“ Narzissa blickte kurz zu Regulus, dann wieder zu Sirius.
Bevor sie noch etwas sagen konnte, was Sirius nicht hören wollte und bevor er noch etwas sagte, womit er sich womöglich die Chancen ruinierte, Weihnachten in der Schule zu verbringen, drehte er sich in Lily und Marlenes Richtung. „Dann sehen wir uns wohl Oktober. Zissy, Reggie.“ Aus dem Augenwinkel sah er noch, wie sein Bruder das Gesicht verzog, aber er ging mit so schnellen Schritten weiter, dass er nicht mehr verstand, was seine Cousine zu ihm sagte. „Lasst uns bloß verschwinden“, murmelte zu Lily, drückte sie und Marlene an den Armen weiter und folgte ihnen schnell den Gang entlang.
„Geht’s dir gut?“, fragte Marlene.
„Bestens. Wenn meine Cousine das für mich rausschlagen kann, dann kann ich mich auch für einen Abend benehmen. Weihnachten an Hogwarts wäre wahrscheinlich das Beste, was mir je passiert wäre.“ Er schenkte Marlene ein beruhigendes Lächeln. „Wirklich.“
„Dein Bruder scheint… anders als du zu sein“, sagte Lily vorsichtig, als sie die Eingangshalle erreichten.
Sirius musste sein Lachen unterdrücken. „Wem sagst du das. Meine Mutter hat nur ein Jahr gebraucht, um ihn komplett für sich zu gewinnen, als ich hier war. Vorher war er immer auf meiner Seite, aber… naja. Was soll´s.“
Lily biss sich auf die Lippe, folgte Sirius aber in die Große Halle. „Ich schätze, das ist bei Geschwistern wohl normal.“ Auf seinen fragenden Blick hin, fügte sie mit einem trüben Lächeln hinzu: „Meine Schwester und ich waren vorher auch unzertrennlich, aber als wir erfahren haben, dass ich eine Hexe bin, wurde es immer schwieriger zwischen uns. Ich glaub, im Sommer hab ich mir letztendlich alles mit ihr ruiniert.“
„Tut mir leid, Evans.“
„Schon okay.“ Sie sah nicht so aus, als wäre es okay, aber Sirius wusste es mittlerweile besser, als Lily zu etwas zu bedrängen, das sie nicht besprechen wollte. Er konnte sich nur zu gut daran erinnern, wie sie es ihm und den anderen heimgezahlt hatte, als sie nicht damit gerechnet hatten. Den Plappertrank würde er nie vergessen. Lily schenkte ihm ein Lächeln, als sie sich mit Marlene zu Mary und einem Mädchen mit blonden Haaren setzte, das Sirius nicht kannte. „Wir sehen uns später.“
„Schätze schon“, murmelte er, ehe er seinen Weg zu James und den anderen machte. Es war seltsam, fand er, als er sich neben seinen besten Freund setzte. Etwas gemeinsam mit Lily zu haben, schien ihm fast unmöglich, wenn er bedachte, wie unterschiedlich sie waren und trotzdem verband diese eine Sache sie mehr, als sie alles andere unterschied. Wahrscheinlich hatte Lily doch Recht. Außer der Magie unterschieden Muggel und Zauberer sich wirklich nicht sonderlich voneinander.
***
Regulus könnte sich selbst in den Schwarzen See werfen, wenn er nicht wüsste, wie schlecht er schwimmen konnte. Seinen Bruder bei jeder Begegnung zu antagonisieren würde ihm nicht helfen, irgendwann wieder eine normale Beziehung zu Sirius aufzubauen, auch wenn er fast schon befürchtete, dass es dafür schon zu spät war. Wenn Sirius wirklich noch einen Deut der Black-Ehre in sich tragen würde, dann würde er sicherlich nicht mit Blutsverrätern und Schlammblütern abhängen, noch dazu den Muggelkundeunterricht besuchen. Es war fast schon lachhaft, fand Regulus, wie sehr Sirius versuchte, sich von seiner Familie loszulösen, während diese mit jeder Rebellion nur fester an den Strängen zogen.
Walburga Black hätte niemals erlaubt, dass ihr ältester Sohn Muggelkunde in der Schule wählen würde, selbst wenn es das einzige Wahlfach sein würde. Irgendetwas musste Sirius angestellt haben, damit er ihre Mutter davon hätte überzeugen können – oder er musste sie ausgetrickst haben. Regulus wusste noch nicht, was er mit dieser Information anfangen wollte. Es wäre einfach, seiner Mutter einen Brief zu schreiben und sie davon zu unterrichten, aber das wäre auch ein wirklich tiefer Schlag gegen seinen Bruder. Damit wäre dann sowieso jede Hoffnung verloren, dass sie irgendwann wieder freundlich sein würden.
Dann wiederum wusste er nicht, wieso er überhaupt noch an der Hoffnung festklammerte, wenn es doch mehr als offensichtlich war, dass sein Bruder dieser Familie den Rücken kehrte. Muggelkunde wählen und sich mit Schlammblütern verbinden war eine Sache, aber die fast schon heiligen Weihnachtsfeiern ausfallen lassen wollen? Damit er in der Schule bleiben konnte? Sirius war verloren, dachte Regulus.
„Oje, oje, da hat wohl jemand ein paar Stachelschweinpastillen zu viel dazugegeben, nicht wahr?“, riss Professor Slughorns Stimme ihn aus den trüben Gedanken an seinen Bruder.
Regulus blickte auf und konnte gerade noch sehen, wie der Zaubertrankprofessor seinen Zauberstab über den Kessel von Evan und Barty hielt, um dicklichen, schwarzen Rauch aufzusaugen. Evan hatte Ruß im Gesicht und Bartys frisch schwarz gefärbten Haare standen in alle Richtungen ab. Dass sie bei ihrem Zaubertrank versagt hatten, schien seine Freunde wenig zu stören. Sie grinsten um die Wette und Barty stieß Evan auch noch in die Seite, als Slughorn sich umwandte.
„Sie sollten nun mit der Fertigstellung anfangen“, tönte Slughorns laute Stimme durch das Kerkerzimmer. „In ein paar Minuten möchte ich die fertigen Tränke sehen, genau!“
Seine Zaubertrankpartnerin, Hestia Jones, ein dunkelhaariges Mädchen mit ziemlich pinken Wangen, stupste ihn vorsichtig mit dem Zauberstab an. „Kannst du die Fledermausaugen mahlen? Ich find das eklig.“
Regulus unterdrückte den Drang, die Augen zu verdrehen und nahm ihr die Mörserschale ab. „Klar.“
Sie lächelte dankbar. „Perfekt. Wir haben auch keine Stachelschweinpastillen hinzugegeben, oder?“ Sie zuckte mit den Augen zu Evan und Barty, die immernoch miteinander lachten, als hätten sie nicht fast für ihre eigene Rauchvergiftung gesorgt.
„Nicht unbedingt“, meinte Regulus knapp. „Auch wenn ich nicht weiß, was du so hinter meinem Rücken in den Kessel geworfen hast.“
Hestia schüttelte den Kopf, wobei ihre schulterlangen Haare hin und her wippten. „Was du mir unterstellst. Wenn ich schon mit dir gepaart werde, dann werd ich das sicher nicht manipulieren. Ich könnte ein Ohnegleichen zur Abwechslung mal gebrauchen.“
„Also nutzt du mich nur für meine genialen Zaubertrankfähigkeiten aus“, kommentierte er trocken, während er ein paar der Fledermausaugen zermahlte. Er wusste nicht, was Hestia dagegen hatte - es war ja nicht so, als hätte er den Fledermäusen die Augen selbst entnommen. Auch wenn er sich nicht sicher war, ob er sich dann auch ekeln würde. Ihre magischen Eigenschaften waren wirklich beeindruckend.
Obwohl er damit keinen Witz gemacht hatte, lachte Hestia, ehe sie sich die Hand vor den Mund schlug, um nicht noch mehr Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. „Vielleicht“, gab sie schließlich zu. „Du kannst dafür gerne bei Verteidigung gegen die dunklen Künste von mir abschreiben.“
„Nein Danke, ich würde gerne die richtigen Hausaufgaben abgeben.“
Mit der flachen Hand schlug Hestia ihm kaum merklich gegen den Oberarm, aber es reichte trotzdem aus, damit Regulus zusammenzuckte und mit dem Ellbogen gegen eine Phiole voll mit Krötenschleim stieß, die vom Tisch rollte und auf dem Boden zerplatzte. Nur nebenbei bekam er mit, wie Hestia sich lauthals entschuldigte und wie Slughorn gutmütig lachte, während er den Schleim entferne. Ihre Stimmen kamen nicht wirklich an seinen Ohren an.
Ihre Hand hatte ihn kaum berührt, aber hatte trotzdem brennende Echos hinterlassen, die Erinnerungen daran, als wäre er wieder zehn und würde allein im Büro seines Vaters stehen. Regulus kniff die Augen zusammen, als er das Brennen in seinen Augenwinkeln spürte und schüttelte so fest den Kopf, dass sein Nacken schmerzte. Sein ganzer Arm schien in Flammen zu stehen und er konnte seine eigene Stimme hören, wie sie schrie und bettelte und heulte und –
„Regulus?“ Mit wesentlich sanfterer Berührung riss Hestia ihn wieder aus der Erinnerung. „Alles okay?“
Seine knappe, schnapphafte Atmung hallte unnatürlich laut in seinen Ohren wider. „Alles gut“, würgte er hervor, bevor er den Blick nach unten zwang. Noch immer fühlte es sich an, als würde sein Arm in Flammen stehen, als hätte er gerade erst die Hand seines Vaters gespürt, als würde seine eigene Stimme noch in ihm widerhallen und betteln, dass er aufhören sollte. Regulus presste seine Finger so fest um den Mörser, dass sie schmerzten.
„Bist du sicher, dass –“, fing Hestia mit leiser, besorgter Stimme an.
„Mir geht’s gut“, knurrte er in ihre Richtung. Er wollte – er konnte sich nicht von solchen Kleinigkeiten aufhalten lassen. Das war nichts, womit er nicht fertig werden würde. Er wusste, dass seine Eltern ihn liebten und dass er nie bestraft wurde, weil er nicht gut genug war. Es musste geschehen. Die Narben hatte er, weil er sie verdient hatte. „Tut mir leid“, fügte er leise murmelnd hinzu, als er aus dem Augenwinkel Hestias Gesicht sah.
Sie hatte die Augenbrauen zusammengezogen und die dunklen Augen verschattet. „Ich wollte dir nicht wehtun“, sagte sie.
Regulus konnte nicht verhindern, dass er belustigt schnaubte. „Soviel Kraft hast du jetzt auch wieder nicht. Ich –“ Vor einer Ausrede wurde er gerettet, denn Slughorns Stimme ertönte erneut laut im Kerker.
„Sie sollten jetzt die letzte Zutat hinzufügen! Und nicht vergessen ein paar Mal umzudrehen, sonst endet es im Desaster!“ Er lachte, als hätte er einen grandiosen Witz erzählt.
Mit spitzen Fingern schob er Hestia die gemahlenen Fledermausaugen hin. Er versuchte sich an einem Lächeln, als er sagte: „Du darfst den Rest machen.“
Es war ihr anzusehen, dass sie noch immer nicht gänzlich überzeugt war, dass es Regulus wirklich gut ging, aber sie nahm sich trotzdem den Mörser und befolgte unter Regulus´ Argusaugen die letzten Handlungsschritte für den Trank. Je länger sie umrührte, desto eher schien sie zu vergessen, was passiert war, wofür Regulus nur allzu dankbar war. Er hatte keine Lust, sich irgendwelche Ausreden einfallen zu lassen, noch wüsste er nicht, wieso er ihr überhaupt etwas erzählen musste. Nur weil er manchmal von den Erinnerungen übermannt wurde, hieß das nicht, dass sie sich darin einmischen konnte. Barty und Evan taten das auch nicht und das waren seine besten Freunde an Hogwarts.
Während Hestia arbeitete, versuchte Regulus seine Atmung zu regulieren. Er rief sich die Bilder zurück ins Gedächtnis, die er gesehen hatte, damit er sie kategorisieren konnte. Sein Vater, das Arbeitszimmer, die zugezogenen Vorhänge, Kreacher, der vor der Tür gewartet hatte und der Flammenzauber auf seiner Haut. Wenn er die Teile auseinanderzog und in unterschiedliche Ecken seines Gehirns steckte, dann konnte er besser erkennen, was passiert war und würde nicht wieder in alte Erinnerungen gezogen werden, die ihm nichts anhaben konnten. Er konnte es sich nicht erlauben, Zeit damit zu verlieren, zumal er sowieso nichts daran ändern würde. Seinem Vater würde er es auch nicht vorhalten – Orion Black hatte ihm verboten, im Flur mit dem Zauberstab zu rennen und er hatte es trotzdem getan. Es war nur natürlich, dass er dafür bestraft werden musste. Danach war er nicht erneut mit dem Stab gerannt.
Regulus schob die Bilder in ihre Ecken zurück, dann schüttelte er kaum merklich den Kopf. Der Kessel vor ihm spie den gewünschten grünlichen Rauch aus, der im Buch beschrieben war und als Slughorn endlich in die Hände klatschte und Hestia die Kelle fallen ließ, atmete er tief durch. Die dunstigen Dämpfe der dutzenden Kessel vermischten sich mit der kühlen, ein wenig modrigen Kerkerluft und erfüllten seine Lunge. Regulus sah zu, wie Slughorn vor jedem Kessel stehenblieb und sich eine Phiole befüllte, während er seine Kommentare abgab. Bei Evan und Barty schüttelte er lediglich den Kopf, bevor er weiterging, was seine Freunde nur zum Anlass nahmen, um erneut lautlos zu lachen.
Als der dickliche Lehrer vor ihrem Kessel stehenblieb, drückte Regulus die Schultern durch. Slughorn füllte seine Phiole auf, schüttelte sie vor seinen Augen ein wenig hin und her und rührte dann mit der Kelle im Kessel herum. „Geschmeidig und weich, so wie er sein soll!“, verkündete er. „Hervorragende Arbeit, Mr. Black, Miss Jones. Nehmen sie je fünf Punkte für Slytherin.“ Er zwinkerte seinen Schülern zu, bevor er sich zum nächsten Kessel wandte.
„Das waren die ersten Punkte, die ich in Zaubertränke verdient habe“, flüsterte Hestia aufgeregt neben ihm.
Regulus zwang sich zu einem Lächeln. „Die du dir erschlichen hast, meinst du.“
Hestia starrte ihn für einen Augenblick an, dann lockerte sich ihre Miene. „Ich hab echt gut umgerührt, ja?“ Sie grinste und fügte dann an: „Noch mal, tut mir leid wegen vorhin, ich wollte nicht –“
„Wirklich, kein Thema“, unterbrach er sie. Das war es auch. Es war egal, es war vorbei und er hatte die Erinnerung auseinandergenommen. Sie würde ihm nicht erneut den Kopf vernebeln. „Ich mach den Kessel sauber, du räumst die Zutaten weg?“
Sie beäugte mit angewidertem Blick die Schale voll Fledermausaugen. „Kann ich nicht den Kessel säubern?“
„Nein, ich denke nicht.“
„Du bist wirklich fies, Reg“, murmelte sie, ehe sie mit spitzen Fingern nach der Schale griff und den Inhalt zurück in seinen Flakon schüttete.
Regulus sah für einen Moment dabei zu, wie sie die Zutaten sortierte, dann flüsterte er: „Nur meine Freunde nennen mich Reg.“
Hestia blickte nicht auf, während sie den restlichen Krötenschleim zurück in sein Glas tropfen ließ. „Ich weiß.“
Darauf wusste er nicht, was er sagen sollte.
Vor dem Klassenzimmer schloss er sich Evan und Barty an, die immer noch über was auch immer lachten. Hestia hatte sich nur bei ihm verabschiedet und war dann mit ihren eigenen Freundinnen bereits vorgegangen, während Regulus nicht wusste, was er hätte sagen sollen. Noch dazu wusste er wirklich nicht, was er von ihr halten sollte. Im letzten Jahr hatte er so gut wie nichts mit ihr zu tun gehabt und jetzt hatten sie drei Zaubertrankstunden zusammengearbeitet und sie dachte, sie könnte sie herausnehmen, ihn Reg zu nennen. Beim nächsten Mal würde er sie darauf ansprechen müssen, soviel stand fest.
Auf dem Weg zur Großen Halle, um zum Abendessen zu gelangen, sagte Evan: „Es muss wirklich nervig sein mit Jones zusammenzuarbeiten, oder?“
Barty grinste an seiner Seite, eher er in einer ziemlich guten Imitation von Hestias Stimme erwiderte: „Oh, Reg, bitte, bitte, kannst du nicht die ekligen Dinge für mich übernehmen, ich kann das gar nicht ab, denn ich bin so ein kleinliches Mädchen.“ Er brach ab und schnaubte lachend. „Echt, so klingt die.“
Regulus wusste nicht warum, aber er hatte das Bedürfnis sie zu verteidigen. „So schlimm ist sie nicht.“
„Das sagst du nur, weil du den ganzen Trank allein machen durftest. Wenn du weiter so machst, dann fällt Sluggy bald in Ohnmacht, wenn du das Zimmer betrittst.“
In der Eingangshalle angekommen erwiderte Regulus augenrollend: „Übertreib nicht.“
„Hat er dich eigentlich noch mal eingeladen?“, fragte Barty, der sich mit einer Hand durch die dunklen Haare fuhr. Seitdem er sich die Haare schwarz gefärbt hatte, ging das schon so, hatte Regulus festgestellt; plötzlich war Barty unfassbar versessen darauf, dass seine Haare immer ein wenig unordentlich aussahen, immer ein wenig so, als wäre er gerade vom Besen gesprungen. Evan meinte, er wollte damit unbedingt ein Mädchen aus der Dritten beeindrucken, auch wenn keiner von ihnen wusste, wer das sein sollte. Ihm war es Recht, solange es nicht das Evans-Mädchen war.
„Bisher nicht“, gab Regulus zurück, als sie die Halle betraten. „Ich hoffe auch, dass er es sein lässt.“
„Wird er sowieso nicht, aber ich glaube, er wird warten, bis wir älter sind. Hab gehört, dass er normalerweise erst ab der Fünften Schüler in seinen komischen Club lädt. Und wenn er mich eingeladen hat, dann hat er bei dir nicht kleinbeigeben“, antwortete Evan. „Oh Merlin, was will die denn jetzt“, fügte er murmelnd hinzu.
Regulus musste nicht fragen, was er meinte. Sie hatten kaum den Slytherin-Tisch erreicht, als Hestia Jones aufgestanden und auf sie zugeeilt war. Sie blieb vor ihnen stehen, als würde sie Evan und Bartys abweisende Mienen nicht bemerken.
„Reg, hey, ich wollte dich noch fragen, ob wir den Zaubertrankaufsatz zusammen schreiben wollen. Immerhin haben wir auch den Trank ziemlich gut hinbekommen, oder?“
Es war mehr als irritierend, fand Regulus, dass Hestia mit ihm sprach, als wären sie Freunde – als wären sie schon die ganze Zeit über Freunde gewesen. Regulus konnte sich nicht daran erinnern, wann das passiert sein sollte, noch konnte er sich daran erinnern, jemals wirklich nett zu ihr gewesen zu sein. Er könnte sie einfach abweisen und sagen, dass er nicht mit ihr arbeiten wollte, aber stattdessen hörte er sich sagen: „Wir können nach dem Essen anfangen, wenn du willst.“
Evan starrte ihn mit hängendem Mund an und Barty schien sich in lautlosem Gekicher zu verlieren. Entweder Hestia bemerkte seine Freunde nicht oder war es schon gewohnt, dass die beiden in seiner Nähe immer nur Unsinn anstellten. Sie strahlte ihn an. „Wunderbar! Ich seh dich dann im Gemeinschaftsraum!“ Damit drehte sie sich mit wehenden, dunklen Locken um und eilte zurück zu ihrem Platz, wo sie direkt den Kopf mit ihren Freundinnen zusammensteckte.
Regulus konnte sich nicht einmal an ihre Namen erinnern, obwohl sie seine Klassenkameradinnen waren. Er schüttelte kurz den Kopf, dann zog er seine Freunde mit schleppenden Schritten in sicherer Entfernung von Hestia zu freien Plätzen. „Was ist?“, motzte er Evan an, der noch immer nichts anderes tat, außer ihn anzustarren.
„Was ist?“, wiederholte dieser tonlos. „Das könnte ich dich fragen. Das werde ich auch. Was ist mit dir, Reg? Warum bitte stimmst du zu mit Jones zu arbeiten? Sie ist super nervig – noch dazu ist sie Halbblut. Hast du nicht gehört, dass ihr Vater von einem Schlammblut abstammt?“ Er zog die Augenbrauen zusammen, sodass sich tiefe Furchen in seine Stirn gruben. „Sag bloß nicht, dein irrer Bruder färbt plötzlich auf dich ab.“
„Erzähl nicht so einen Scheiß“, brummte Regulus. „Ich mach nur Hausaufgaben mit ihr. Ihr könnt auch einfach dabeibleiben.“
„Lieber nicht“, grinste Barty, der sich erneut durch die Haare fuhr. „Wir wollen doch deine Alleinzeit mit deiner Freundin nicht stören.“
Es war lediglich seiner Abstammung und den vielen, endlosen Stunden mit seiner Mutter und den Regeln des Hauses Black zu verdanken, dass er nicht rot wurde. Auch wenn es keinen Grund dazu gab. Er mochte Hestia nicht – zumindest nicht so, wie Barty es sich vorstellte. „Ihr seid gestört“, sagte er nur, bevor er sich seinem Abendessen widmete.
Er war sich sicher, dass Evan und Barty nicht fertig damit waren, ihn aufzuziehen, aber wie immer stand bei ihnen auch das Essen an erster Stelle. Obwohl sie ihn manchmal zur Weißglut trieben und sich immer darauf verstanden, ihn mit jeder Kleinigkeit – wie mit einem Mädchen Hausaufgaben zu machen, Merlin bewahre – aufzuziehen, war er doch dankbar, dass er sie hatte. Sie waren nicht nur seine besten Freunde, sondern sorgten auch dafür, dass er sich irgendwie normal fühlte. Laut seiner Mutter war Regulus beinahe schon der wichtigste Zauberer, der zurzeit nach Hogwarts ging. Niemand außer ihm trug solch eine Krone wie die der Blacks. Zwar war er offiziell nicht der Erbe, aber es war sowieso weithin bekannt, dass man ihm das Erbrecht übertragen würde, wenn Sirius sich nicht bald aus seiner rebellischen Phase befreite. Und so wie Regulus das sah, würde diese Phase kein Ende finden.
Es war ziemlich selbstsüchtig, aber er hatte gehofft, Sirius würde sich wirklich zusammenreißen. Der Sommer hatte ihm gezeigt, dass sein Bruder dazu fähig war, sich in der Nähe seiner Familie zu benehmen, dass er sogar bereit war, den emotionalen Ausbrüchen seiner Mutter entgegenzustehen und nicht kleinbeizugeben. Es war fast schon beängstigend, wie gut Sirius sich eine Maske aufsetzen und eine Person spielen konnte, die er offensichtlich nicht war, wenn Regulus Schwierigkeiten hatte, nicht mit der Maske zu verschmelzen, die seine Mutter versuchte aus ihm zu machen. Regulus musste perfekt sein, das wusste er, aber wenigstens in der Schule konnte er ein wenig Luft holen. Hier hatte er Evan und Barty und konnte sich trotz seiner Lasten und Pflichten wie ein normaler Zwölfjähriger aufführen. Wenn sein Bruder einfach weiterhin die Person spielen würde, die alle von ihm erwarteten, dann würde niemand von ihnen ein Problem haben, aber Regulus befürchtete, dass Sirius aufhören würde, den Wünschen seiner Eltern nachzukommen, sobald nichts mehr für ihn dabei herausspringen würde. Privater Verwandlungsunterricht, Zugang zur Bibliothek ihres Vaters, Weihnachten an Hogwarts – was würde er als nächstes versuchen zu verlangen? Würde man es ihm gewähren, in der Hoffnung, ihn wieder einholen zu können, oder würde Sirius sich irgendwann mit der Wahrheit konfrontiert sehen? Dass er nicht auf ewig etwas von seinen Eltern verlangen konnte, dass er nicht ewig den Sohn spielen konnte, den sie wollten? Sie wussten beide, dass es ein Ende dafür geben würde. Regulus wusste nur noch nicht, wann dieses Ende kommen würde.
Sein Blick glitt fast automatisch herüber zum Gryffindor-Tisch. Umringt, wie immer, von seinen lauten Freunden, saß sein Bruder, das Kinn erhoben, die grauen Augen im Glanz. Wenn er nicht die Farben eines falschen Hauses tragen würde, dann wäre er das Ebenbild des Black-Erben, sogar mit der leicht schief hängenden Krawatte. Neben Sirius saß selbstverständlich James Potter. Regulus´ Körper zog sich beim Anblick des dunkelhaarigen Jungen zusammen, wie er seinem Bruder den Arm über die Schulter warf. Es war Verrat, nichts anderes. Sirius hatte ihn für James verraten. Es wäre so einfach, Sirius dafür zu hassen, James dafür zu hassen, aber stattdessen fand Regulus sich in der Bitterkeit wieder, in der Bitterkeit und der Eifersucht, die er nur dann verspürte, wenn er seinen Bruder mit James Potter sah.
Es erfüllte Regulus mit den negativsten aller Emotionen, wenn er daran dachte, aber irgendwie war er auch froh, dass Sirius James hatte. Wenn er der Familie wirklich den Rücken kehren wollte, dann war er froh, wenn er jemanden hatte, der ihn auffangen würde. Aber noch war dieser Tag nicht. Noch war das Ende nicht erreicht, das Regulus befürchtete. Und es gab eine einzige Chance, dieses Ende im gesamten zu verhindern – wenn Regulus James dazu überreden konnte, seinem Bruder zuzureden, dann könnte das gesamte Drama rund um das Erbe der Black vermieden werden. Dann würde Sirius sein Erbe antraten und Regulus müsste nicht aus seinem Schatten treten und irgendwann könnten sie darüber lachen, wie rebellisch er sich benommen hatte. Einmal hatte er es bereits versucht und versagt. Ein weiteres Mal würde er James nicht davonkommen lassen.
Es war nur allzu gut, dass Durchsetzungsvermögen auch eine der Lehren des Hauses Blacks waren.
***
Eine dampfende Tasse wurde Narzissa in die Hände gedrückt und einen Augenblick später ließ sich Alice neben ihr auf dem kühlen Steinsims nieder. Späte Septemberluft presste sich durch die Ritzen im Stein und die undichten Fenster und ließ die Frauen ein wenig enger zusammensitzen. Langsam zog der Herbst übers Land und mit ihm kam Narzissas unbeliebteste Tätigkeit – Frieren.
„Du hast deinen Schal schon wieder nicht mit“, sagte Alice neben ihr, ihre Stimme kaum mehr ein Flüstern. Es war nicht verboten, dass sie sich außerhalb der Sperrstunde im Schloss aufhielten, immerhin war Alice Vertrauensschülerin und mit dem Schulsprecher zusammen und Narzissa war weithin dafür bekannt, dass sie von allen Lehrern so sehr gemocht wurde, dass man ihr einiges durchgehen ließ. Wenn Alice dann auch noch für sie lügen würde, dann konnte ihr niemand Punkte abziehen, selbst wenn sie jede Schulregel brach, die existierte.
„So kann ich ihn nicht wieder vergessen“, entgegnete Narzissa schnaubend. „Ich kann gut darauf verzichten, erneut von irgendwelchen Zweitklässlern entdeckt zu werden.“
Alice lächelte, ehe sie einen Schluck ihres Tees nahm. „Sie haben aber immerhin ihr Wort gehalten, oder?“
„Haben sie“, gab sie zu, auch wenn es ihr kein gutes Gefühl gab, damit noch ein wenig mehr in Sirius´ Schuld zu stehen. Noch mehr als sie es hasste, dass sie und Alice keine Freundinnen sein konnten, wenn die Sonne schien. Vielleicht würden sie den dutzenden Ohren und Augen entkommen, wenn sie die Schule endlich abgeschlossen hatten.
Als würde Alice ihre Gedanken lesen, sagte sie: „Frank und ich haben schon nach Wohnungen in London geguckt. Seine Mutter ist zwar bereit, dass er noch länger bei ihr wohnen kann, aber ganz ehrlich, wir wollen endlich unsere eigenen Zimmer haben. Selbst hier haben wir kaum Privatsphäre, weil die Schulsprecherin sich weigert, uns mal eine Nacht die Schulsprecherräume zu überlassen.“
Es wäre für Narzissa so einfach, ihre ganze Beziehung zu Alice auf den Fakt aufzubauen, dass sie ebenfalls eine Reinblüterin war, dass sie einfach nur mit ihr befreundet war, weil in ihr die gleiche Reinheit zu finden war, die man in ihrer Familie so sehr schätzte, aber sie wusste, dass das eine Lüge war. Alice´ Familie wurde nicht umsonst als Blutsverräter bezeichnet, auch wenn es Alice nicht sonderlich etwas ausmachte. Aber Narzissa schätzte, dass das eines der Vorteile war, wenn man mit Muggelgeborenen aufwächst. Für Alice waren sie Familie.
„Hat er denn schon eine Zusage vom Ministerium?“, fragte sie, die sich an ihre letzte Unterhaltung mit Alice erinnerte. „Oder warten die bis nach den UTZs?“
„Scheint so“, meinte sie seufzend. „Er lässt es sich sicherlich nicht anmerken, aber er wird langsam echt frustriert. Aber ich glaube, das liegt hauptsächlich daran, dass Augusta ihm so sehr im Nacken hängt. Hab ich dir erzählt, dass sie ihm gesagt hat, dass er doch nicht für die Auroren-Ausbildung gemacht ist und lieber einen Job wie sein Vater nehmen sollte?“
Narzissa schnaubte. „Das klingt ganz nach Augusta“, erwiderte sie. Zwar hatte sie Frank Longbottoms Mutter bisher nur zwei Mal getroffen, aber das hatte gereicht, um zu sehen, was für eine Art Person sie war. Wenn sie genau darüber nachdachte, dann war das wahrscheinlich auch der Grund, wieso man sie nicht mehr zu den Versammlung der Heiligen Achtundzwanzig einlud, obwohl sie selbst noch dem Stand der Reinblüter entsprach. Vielleicht besudelte aber auch die Beziehung ihres Sohnes ihr Ansehen. Narzissa blickte zur Seite, bis sie Alice´ Gesicht sehen konnte, ihre glatte Haut vom Mondlicht beleuchtet und ihr dichtes, blondes Haare unförmig zusammengebunden, damit es ihr nicht in die Augen hängen würde. In Momenten wie diesen hasste sie es, wie sehr die Reinheit des Blutes geehrt wurde.
„Leider.“ Alice schob ihre Finger ein wenig enger um ihre Teetasse, ehe sie die Wange auf ihre Schulter legte und zu Narzissa blickte. Ihre Augen trafen sich, sie lächelte und fragte: „Wie geht es Lucius?“
Ein wenig überrascht hob Narzissa die Augenbrauen. „Warum fragst du?“
Alice zuckte mit den Schultern, sodass sie ihren eigenen Kopf hob und senkte. „Er ist dein Mann, oder nicht? Ich möchte wissen, wie es ihm geht.“
„Tu nicht so, als wärst du plötzlich nicht mehr gegen meine Ehe mit Lucius“, erwiderte Narzissa mit zusammengepressten Lippen. „Du hast mir sehr offenkundig gesagt, was du davon hältst.“
„Ich halte auch immer noch nicht viel davon, aber du bist meine Freundin und solange du nicht im Elend versinkst, kann ich mich zumindest für dich freuen, oder? Also, ich frage jetzt noch einmal“, fügte sie grinsend an, woraufhin Narzissa die Augen verdrehte, „wie geht es Lucius?“
Wenn sie ehrlich mit ihr sein könnte, dann würde sie es sein, aber Narzissa fürchtete, dass sie dann eine weitere Freundin verlieren würde. Die Gedanken an Lucius waren zwar mit Zuneigung und Ehrfurcht und Wärme gefüllt, aber sie wusste, dass sie keine Ehe führten, wie sie im Buche stand. Sie hatten nicht geheiratet, weil sie sich so innig liebten. Sie hatten geheiratet, weil ihr Vater es für ein gutes Arrangement gehalten hatte und weil Abraxas, Lucius´ Vater, den Titel des Familienoberhauptes endlich abgeben wollte. Narzissa hatte Lucius immer gemocht, aber sie hätte sich nie vorgestellt, dass sie ihn heiraten würde. „Ihm geht es gut“, sagte sie schließlich, weil sie Alice nicht sagen konnte, dass sie eine lieblose Ehe führte und ihren Mann seit dem Sommer nur ein einziges Mal gesehen hatte, als sie sich in einem abgebrannten Keller mit den Söhnen anderer Reinblutfamilien getroffen hatten. „Er arbeitet hart und verdient sich im Ministerium immer mehr Ansehen.“
„Das freut mich zu hören“, erwiderte Alice, die eine bessere Freundin war, als Narzissa sie verdient hatte.
„Ich hoffe, wir können irgendwann mal alle gemeinsam zu Abend essen“, sagte Narzissa. „Du und Frank und ich und Lucius. Ihr könntet zum Malfoy Manor kommen. Die Hauselfen dort kochen ganz vorzüglich.“
„Klingt gut.“
Beide Frauen wussten, dass es nie geschehen würde. Wahrscheinlich würden Frank und Lucius erst dann gemeinsam einen Raum betreten, wenn der andere tot war. Narzissa war sich nicht sicher, warum sie es überhaupt vorgeschlagen hatte, aber wenn sie es aussprach, dann klang es nicht ganz so absurd, wie es war. Sie konnte sich einfach vorstellen, dass es irgendwann Realität werden würde, das genügte für den Moment.
„Hast du eigentlich etwas von deiner Schwester gehört?“, fragte Alice aus dem Blau heraus, sodass Narzissa sie für einen Moment wie erstarrt ansah. Alice lächelte lediglich und wartete, bis sie sich gefangen hatte.
„Sie hat mir einen Brief geschickt. Diesen Sommer“, gab sie zu. „Ich soll sie doch mal besuchen kommen, wenn ich kann. Sie würde gerne mit mir reden.“
„Und? Wirst du sie besuchen?“
„Das kann ich nicht“, entgegnete sie knapp.
Alice schnaubte. „Unsinn, Zissa. Wir wissen beide, dass du sie gerne sehen willst.“
„Es ist aber leider egal, was ich will“, erwiderte Narzissa mit scharfer Stimme. „Wenn dem so wäre, dann könnten wir uns auch in der Großen Halle darüber unterhalten, oder?“
„Touché.“ Alice lachte, aber ihre Miene fiel schnell in sich zusammen. „Hey, ich meine es nur gut.“
Narzissa seufzte, ehe sie sich mit der freien Hand über die Stirn rieb. Der harte Steinsims wurde langsam unbequem und ihr Tee war beinahe leer. „Ich weiß“, murmelte sie. „Ich weiß, tut mir leid. Ich wollte nicht – tut mir leid.“
„Schon okay“, meinte sie, ehe sie Narzissa mit der Schulter anstieß. „Es reicht wahrscheinlich für deine Familie, wenn sie ein Mitglied haben, das sich mit Blutsverrätern verbündet, oder?“
„Das ist nicht witzig, Alice“, zischte sie.
„Ein wenig schon.“ Alice zuckte erneut mit den Schultern, ehe sie den Kopf wieder anhob und ihren Tee mit einem Zug leerte Sie gab ein zufriedenes Geräusch von sich, ehe sie anfügte: „Ich meine, wir wissen beide, wie dämlich es ist, was die Leute sagen und trotzdem sitzen wir hier, nachts und versteckt, ganz darauf bedacht, dass uns keiner sieht. Wenn das nicht wenigstens ein bisschen lustig ist, dann weiß ich doch auch nicht weiter.“
Narzissa blieb still. Ihr war die Komik der gesamten Situation nicht entfallen, dafür hätte sie wirklich die emotionslose Hexe sein müssen, für die Sirius sie manchmal hielt. Während sie sich damit brüstete, dass sie ein Vorzeigebild der Familie war, tat sie hinter den Kulissen genau das, was sie von ihr nicht wollten. Sich mit der Tochter einer Familie anzufreunden, die in den Augen ihrer eigenen nichts weiter als Blutsverräter waren, war vielleicht nicht der größte Verrat, den sie begehen konnte, aber wenn sie selbst dafür bekannt war, die Beziehungen ihrer anderen Familienmitglieder in dieser Hinsicht zu verachten und öffentlich zu kritisieren, dann war es nicht länger nur ein Spaß. Man hatte ihre Schwester aus dem Stammbaum gestrichen, sie wusste sehr wohl, was sie mit Sirius tun würden, wenn er sich nicht beweisen würde – sie konnte nur ahnen, was für eine Strafe sie befallen würde, sollte man herausfinden, mit wem sie befreundet war, wie sie über ihre Ehe dachte.
„Wenn du sie nicht sehen kannst“, sagte Alice, als es zu still um sie herum wurde, „dann solltest du ihr wenigstens schreiben. Du und Andromeda wart doch immer eng miteinander.“
„Das dachte ich“, erwiderte Narzissa bitter. „Aber ich schätze, ich habe sie doch nicht gut genug gekannt, sonst hätte sie sich mir anvertraut.“ Aus dem Augenwinkel konnte sie Alice´ Blick sehen, aber Narzissa tat ihr Bestes, um zu ignorieren, wie ihre heimliche Freundin sie besorgt betrachtete. „Das ist jetzt auch egal“, fügte sie an. „Andy hat ihren Weg gewählt, ich meinen. Wenn wir keine Schwestern mehr sind, dann ist das so. Ich werde mich ihr nicht aufzwingen.“
Ein paar Momente wartete Alice noch, dann antwortete sie, als sie sich sicher war, dass Narzissa nichts mehr sagen würde: „Sollte ich etwas von ihr hören, lass ich es dich wissen.“
Eine gute Freundin würde Danke sagen und lächeln, aber alles, was Narzissa herausbrachte, war ein undefinierter Laut und ein Seufzen.
Alice verstand trotzdem. „Schon gut. Ich bin mir sicher, dass du dasselbe für mich tun würdest, wenn ich eine Schwester hätte.“ Sie seufzte ebenfalls. „Manchmal wünschte ich mir echt, ich wäre kein Einzelkind.“
„Tust du nicht“, erwiderte Narzissa mit einem forcierten Lächeln auf den Lippen. „In der Theorie klingen Schwestern großartig, aber sie wirklich zu haben ist wie die reinste Folter. Du würdest es keinen Tag mit Bella aushalten.“
„Nun.“ Alice lachte leise, ehe sie die Lippen zusammendrückte. „Das hat wohl auch eher mit Bellas… einnehmender Persönlichkeit zu tun.“
Narzissa konnte nicht anders, als zu lachen. „So kann man es sicherlich nennen, ja. Bella ist sehr einnehmend.“
„Ich glaube, dich hätte ich gerne als Schwester gehabt“, sagte Alice. „Du kennst dich immerhin mit Frisuren aus und hättest mir davon abraten können, mir im vierten Jahr diesen schrecklichen Kurzhaarschnitt zu holen.“
„Oh Merlin, ich erinnere mich daran“, lachte Narzissa. Das Geräusch hallte wie ein fremdes Echo im dunklen Gang wider. „Für ein paar Tage dachte ich, Gryffindor hätte einen neuen Austauschschüler, ehe ich erkannt hab, dass du das warst.“
Alice verdeckte das Gesicht in den Händen. „Ich weiß, es war schlimm. Und kannst du glauben, dass Frank meinte, ich soll sie mir nochmal so schneiden? Weil er das hübsch fand? Der hat sie doch nicht mehr alle.“
„Vielleicht hat er ja einen Faible für Frauen mit kurzen Haaren“, überlegte Narzissa laut. „Es würde zumindest erklären, warum er dich in der vierten das erste Mal ausgeführt hat.“
Mit Horror im Gesicht blickte Alice zwischen den Fingern hervor. „Du hast Recht“, hauchte sie, ehe sie sich schüttelte. „Das ist ja grauenvoll. Wieso musstest du mich daran erinnern? Ich kann Frank nie wieder in die Augen sehen! Meinst du, er will, dass ich mir die Haare kurz schneide, damit es im Bett aufregender wird?“
Narzissa verzog das Gesicht. „Daran möchte ich wirklich nicht denken.“
Alice lachte und nahm die Hände vom Gesicht. „Komm schon, ich wette Lucius hat auch irgendwelche seltsamen Vorlieben, die du bald herausfindest. Vielleicht steht er ja total auf Blondinen“, fügte sie mit Blick auf Narzissas gefärbte Haare hinzu. „Bestimmt, weil sie ihn an sich selbst erinnern.“
„Alice!“
Obwohl es mitten in der Nacht war und die beiden Frauen nicht miteinander in Assoziation gebracht werden sollten, konnte man ihr Lachen durch das ganze Schloss hallen hören.
Chapter 41: 41. Jahr 2: Neue Chancen
Chapter Text
Remus hatte schon bessere Anfangswochen in Hogwarts gehabt. Er wusste nicht, ob er übertrieb oder ob er in seiner Reaktion gerechtfertigt war, aber nachdem er mit James und den anderen die Heulende Hütte vom Dorf aus gesehen hatte, hatte er sein Bestes getan, um seine Freunde zu meiden, wann es ging. Er konnte ihnen im Moment nicht in die Augen sehen, nicht wenn sie wussten, in was für einem Zustand er sich verwandeln musste und wie sehr er die Welt um sich herum bereits verändert hatte. Remus fühlte sich schrecklich, jedes Mal, wenn er daran dachte, was James über die Hütte gesagt hatte. Wie sonst sollte er sich fühlen, wissend, dass er dafür verantwortlich war, ein ganzes Dorf in Schrecken zu versetzen?
Am Tag des ersten Hogsmeade-Besuchs hatte er Sirius noch abwimmeln können, hatte ihm noch ein paar einfach aufgetischte Lügen erzählen können, die ihn davon überzeugt hatten, dass es Remus gut ging, nur um danach seinen eigenen Weg zu gehen. Remus wusste, dass Sirius genug Probleme hatte, es gab keinen Grund, wieso er sich auch noch für seine interessieren sollte. Er hatte sich an den einen Ort zurückgezogen, von dem er wusste, dass seine Freunde ihn dort nicht suchen würden.
Auf dem Weg in die Hütte hatte er Madam Pomfrey oft genug dabei beobachtet, wie sie die Peitschende Weide dazu gebracht hatte, still zu stehen, dass es einfach für ihn gewesen war, herauszufinden, welchen Zauber sie dafür nutzte. Auch wenn der Weg bis in die Heulende Hütte nicht unbedingt angenehm war, hatte er sich wohl in seiner Einsamkeit gefühlt. Mitten im modrigen, feuchten Tunnel, der unter dem Dorf hindurchführte, bis er die Falltür zur Hütte erreichte. Es war kühl und ruhig und niemand würde ihn finden.
Vor und nach den Verwandlungen hatte er genügend Zeit, sich die Zerstörung anzusehen, die er jeden Vollmond anrichtete und obwohl er mit ihr bekannt war, war es kein leichter Anblick. Die Bettpfosten waren alle durchgebrochen und zerbissen, Stühle, die zuvor unschuldig vor dem verbretterten Fenster gestanden hatten, lagen zertrümmert auf dem Boden und Kratz- sowie Bissspuren bedeckten die Wände. Es kribbelte ihm in den Fingern, als er mit dem Nagel einen tiefen Riss im Holz nachfuhr. Wenn er bedachte, dass er dafür verantwortlich war, dann wunderte es ihn kaum, dass die Dorfbewohner zu verängstigt waren, um der Hütte näher zu kommen. Es musste schrecklich klingen. Als würde er gefoltert werden. Wahrscheinlich war selbst ein wütender Geist nur eine bequeme Ausrede für die Dorfbewohner, damit sie sich nicht weiter damit befassen mussten.
Remus hatte sich mit Büchern und Hausarbeiten eingedeckt in die Hütte zurückgezogen, doch schaffte es kaum, eine Seite zu lesen. Der Staub in der Luft ließ ihn immer wieder husten und das Bett war kaum bequem genug, um fünf Minuten sitzen zu können. Er wusste, dass er vollkommen allein war, aber er hatte trotzdem das Gefühl, beobachtet zu werden und manchmal meinte er, leise Schritte zu hören. Wenn das alte Holz knarrte, schreckte er zusammen.
Wenn seine Freunde ihn suchen würden, dann würden sie ihn nicht finden. Dieses Mal versteckte er sich nicht in der Bibliothek oder konnte sich hinter einem der Vorhänge im Krankenflügel verbergen. Selbst wenn sie Lily sehen würden, könnte diese ihnen auch nicht sagen, wo er war. Niemand würde ihn hier finden und das war richtig so. Remus musste allein sein. Es wäre besser für alle, wen er einfach nur allein sein würde. Dann müssten James, Sirius und Peter sich nicht damit abfinden, dass sie mit einem Monster befreundet waren und dann müssten sie keine Angst haben, etwas Falsches in seiner Nähe zu sagen. Er hatte die Blicke bemerkt, die sie ihm an der Hütte zugeworfen hatten. Ängstlich, nachdenklich, abwartend. Als hätten sie erwartet, Remus würde sich noch im Dorf in den Werwolf verwandeln und ihnen das Fleisch von den Knochen nagen. Manchmal hatte er Träume, dass er das tat.
Die morschen Dielen der Hütte knarzten ein weiteres Mal und Remus hielt inne. Vielleicht würde das Dach einstürzen und ihn begraben. Ob ihn dann jemand finden würde? Vielleicht wäre es besser, wenn er einfach in der Hütte bleiben würde. Dann würde er niemandem Sorgen bereiten, niemand hätte Angst vor ihm und er könnte sein Leben leben. Ob er sich dazu zwingen könnte, für immer zum Wolf zu werden und in den Wald zu rennen? Wenn die Gerüchte stimmten, dass es Verbotenen Wald Werwölfe gab, dann würde er zumindest nicht allein sein. Remus presste die Augen zusammen und versuchte sich ein Leben als Wolf vorzustellen. Er könnte jeden Morgen ein Kaninchen fressen und dann unter der Mittagssonne schlafen. Vielleicht würde er sich mit anderen Wölfen zusammentun und eine Familie finden, die wie er war. Er würde durch die Bäume laufen und Vieh jagen, Wild reißen und sich immer näher an die Schule trauen. Irgendwann würde er einen verirrten Schüler finden und töten und dann würde Dumbledore kommen und ihn verfluchen und –
Remus riss die Augen auf, kalter Schweiß auf seiner Stirn. Er lehnte sich auf dem Bett zurück, bis er mit dem Rücken am zerbissenen Pfosten ankam. Sein Atem ging schwer und schnell. Seine Augenwinkel brannten und er hatte das Gefühl, sich übergeben zu wollen. Die Hütte schloss sich um ihn, die Wände schrumpften und engten ihn ein. Jede Diele richtete sich auf, um ihn zu umarmen und die Bretter vor den Fenster sprangen aus den Nägeln, um ihn zu umwickeln, das ganze Gebäude war dabei, ihn unter sich zu begraben und –
Ein brennender Schmerz an seiner Wange ließ Remus aufblicken und die Luft anhalten. „Was zum –“ Entgegen all seiner Erwartungen blickte er in die sturmgrauem Augen Sirius Blacks, der mit schreckgeweitetem Blick über ihm stand, die Hand noch immer zum Schlag erhaben, der Arm zitternd.
„Bist du übergeschnappt?“, fragte Sirius anklagend, ehe er einen Schritt nach hinten ging. „Was machst du hier bitte?“
Remus versuchte den Mund zu öffnen, fand sich aber unfähig, seinen eigenen Körper zu kontrollieren. Er nahm ein paar tiefe, kratzende Atemzüge, dann würgte er hervor: „Bist du wirklich hier?“
Sirius zog die Stirn in Falten. „Natürlich bin ich das“, erwiderte er. „Ich hab dich überall gesucht, Lupin.“
„Wieso?“, krächzte Remus.
„Wieso“, wiederholte Sirius schnaubend, bevor er sich aufs Bett niederließ und ein ganzes Stück in die alte Matratze sank. „Weil du uns aus dem Weg gehst und keiner weiß, wo du bist, du Idiot. Was machst du bitte hier ganz allein?“
Remus wusste nicht, was er sagen sollte und wie er überhaupt antworten sollte, während Sirius ihn ansah. Er drehte den Kopf zur Seite, bis er zum Fenster blickte. Die wenigen Sonnenstrahlen, die sich durch die Bretter kämpften, taten ihr Bestes, um die Hütte zu erhellen. Im wenigen Licht sahen die Kratzspuren noch tiefer, noch dunkler aus. „Ich wollte allein sein.“
„Dann geh in die verdammte Bibliothek oder such dir ein Gewächshaus“, antwortete Sirius mit lauter Stimme. „Du kannst nicht –“
„Du hast keine Ahnung“, unterbrach Remus ihn bitter. „Du hast keine Ahnung, was ich kann und was ich nicht kann. Sieh dich doch um! Das war ich alles, hier gehöre ich wirklich hin. Hier hab ich mein Zeichen hinterlassen. Wir wissen beide, dass Hogwarts kein Ort für einen Werwolf ist, geschweige denn ein Ort, an dem ein Werwolf Freunde finden kann. Meinst du nicht, ich weiß nicht, wie ihr guckt, wenn ihr denkt, ich sehe es nicht? Ihr habt Angst vor mir, ihr glaubt wahrscheinlich, ich töte euch im Schlaf oder was auch immer. Und wahrscheinlich hab ihr Recht. Wer sagt mir denn, dass ich mich kontrollieren kann, wenn ich älter werde? Niemand weiß, wie Werwölfe sich verhalten, wenn sie wachsen, ich weiß – ich weiß gar nichts darüber, was kommen wird. Man wird mich hier einsperren“, fügte er leise an, „und ich sollte hier drin einfach eingesperrt bleiben.“
Ein paar Augenblicke war es still, die Luft nur erfüllt von ihrem Atem und dem morschen Knarzen der Dielen, dann erwiderte Sirius ebenso leise, wie Remus geendet hatte: „Weglaufen hilft dir auch nicht.“ Vorsichtig und langsam, als hätte er Angst, Remus wurde fliehen (oder ihn angreifen), schob Sirius sich auf dem staubigen Laken näher an Remus, bis er direkt vor ihm saß und einer seiner Hände in seine betten konnte. Die Wärme seiner Haut war fast schon erschreckend. „Wir sind deine Freunde. Du kannst mit uns reden, wenn irgendwas ist.“
„Ihr würdet es nicht verstehen.“
„Keiner von euch versteht, wie mein Leben in meiner Familie ist, trotzdem heule ich mich regelmäßig bei euch aus“, erwiderte Sirius trocken. „Dafür sind Freunde da, Lupin. Wir müssen es nicht verstehen, wir können dir trotzdem zuhören. Außerdem fühlst du dich sicher besser, nachdem du mich angeschrien hast, oder?“
Schuldbewusst biss Remus sich auf die Lippe. „Ein wenig. Hör zu, ich –“
„Nein, keine Entschuldigung. Ich nehm sie nicht an. Was auch du immer brauchst, du sollst nicht glauben, dass du es nicht bekommen kannst. Wenn es dir hilft, mich anzuschreien, dann bin ich gerne bereit, mich den ganzen Tag von dir anschreien zu lassen. Aber dafür musst du auch bei uns bleiben, Remus“, fügte er mit sanfter Stimme an und drückte Remus´ Hand.
Erschlagen von Sirius´ Fürsorge, wusste Remus nicht, wie er antworten sollte. Er öffnete den Mund, aber nichts wollte entkommen, also presste er die Lippen wieder zusammen. Es gab so viel, was er sagen sollte und was er sagen wollte, aber er konnte einfach nicht.
Sirius verstand ihn trotzdem. „James macht sich Sorgen“, sagte er. „Willst du zurück, um ihm zu zeigen, dass du ihn noch liebhast?“
Ein leises Lachen entkam seiner Kehle und mit festgeschnürtem Hals nickte er. „Ich würde nicht wollen, dass er traurig ist.“
„Oh, keine Sorge. Du musst nur einmal erwähnen, dass du ihn beim Quidditch-Spiel nächstes Wochenende anfeuerst und er hat alles wieder vergessen.“
***
Niemand hätte Lily auf die Hitze vorbereiten können, die ihre Haut erreichen konnte, nachdem Darren Harper sie nach der letzten Stunde Verteidigung gegen die dunklen Künste abgefangen hatte. Schlimm genug war es natürlich gewesen, dass er es vor all ihren Klassenkameraden getan hatte – Mary und Marlene, die sofort angefangen hatten, sich wissende Blicke zuzuwerfen, sowie James und seine Freunde, die selbstverständlich nichts Besseres zu tun hatten, als Lily mit offenem Mund anzustarren, als hätte sie persönlich dafür gesorgt, dass der Quidditch-Pokal abgeschafft werden würde.
„Hey, Lily, ich hatte gehofft, dass ich kurz mit dir reden könnte?“ Darren stach in seiner grün-silbernen Quidditch-Uniform noch mehr heraus, als er es ohnehin schon getan hätte. Statt Schulbüchern und Pergament hatte er einen Besen über die Schulter gelegt und blickte Lily fast schon herausfordernd an.
„Äh – sicher. Ich meine, klar.“
Sein Gesicht hellte sich auf. „Cool. Gehen wir ein Stück?“
Lily nickte, warf ihren Freundinnen einen giftigen Blick zu und eilte dann an Darrens Seite, der mit ihr in Richtung der Eingangshalle ging. Seine Schritte waren langsam und bedacht, als würde er nur darauf warten, dass Lily stehenblieb. Als sie in einiger Entfernungen zu den restlichen Gryffindors waren, fragte er geradeheraus: „Begleitest du mich morgen nach Hogsmeade?“
Es war zwar genau das gewesen, was sie erwartet hatte, aber trotzdem erwischte sie die Frage wie ein zu lautes Wecker klingeln. Sie hoffte, dass sie kein allzu seltsames Gesicht zog. „Das kommt darauf an“, hörte Lily sich antworten, „wo du hin gehen willst. In das Quidditch-Geschäft setze ich nämlich keinen Fuß.“
Darren lachte leise. „Und das, obwohl du doch so viel Zeit auf den Tribünen verbringst.“
„Was soll ich sagen, ich mag es einfach, mich selbst zu quälen.“
„Eine reizende Eigenschaft. Sicher stehen die Jungs Schlange bei dir, um mit dir ausgehen zu können.“
Lily presste die Lippen zusammen. „Wenn eine Schlange auch aus einer Person besteht, dann ja.“
Er blickte sie ehrlich überrascht an. „Oh. Wenn das so ist.“ Lächelnd fragte er erneut: „Begleitest du mich dann nach Hogsmeade, Lily? Ich habe auch nicht vor, irgendwelche Quidditch-Läden zu besuchen. Wenn, dann würde ich dir gerne den Buchladen zeigen wollen, wenn du ihn nicht schon gefunden hast.“
Wahrscheinlich sollte sie absagen und ihm keine Hoffnungen machen. Lily war sich ziemlich sicher, dass Darren ehrlich an ihr interessiert war, aber sie wollte nicht, dass er dachte, dass sie auch an ihm interessiert war. Sicher, er war süß und hatte mit ihr über ihre Interessen gesprochen und hatte ihr bisher noch keinen dämlichen Streich gespielt, noch dazu übte er keinen Druck auf sie aus, aber… Lily wusste nicht, ob sie schon bereit war, sich auf jemanden einzulassen. Sie war erst dreizehn, bei Merlins Bart und sie war definitiv noch nicht bereit für eine ernste Beziehung. Sie wusste ja nicht einmal, was man in einer Beziehung so machte und sie hatte kaum die Möglichkeit, Petunia um Hilfe zu bitten. Wahrscheinlich würde ihre Schwester sie sowieso nur ignorieren, wenn sie ihr einen Brief schickte.
Noch dazu wusste Lily nicht, wie ihr Umfeld reagiere würde, wenn sie Darren eine Chance gab. Eigentlich sollte es sie nicht interessieren, was andere Leute dachten, aber trotzdem konnte sie nicht anders, als sich der Blicke bewusst zu werden, dem Getuschel ihren Namen hinzuzufügen oder zu denken, alle würden sich hinter ihrem Rücken die Mäuler zerreißen. James Potter würde es tun. Er würde dumme Kommentare machen und ihr noch dümmere Fragen stellen, das wusste sie jetzt schon. Aber was war mit allen anderen? Was war mit Sev? Er hatte es mehr als deutlich gemacht, wo sein Punkt bei der ganzen Sache war und sie hatte seitdem auch nicht mehr mit ihm darüber geredet. Ihre Freundschaft war fragil, aber Lily klammerte sich an die Hoffnung, dass sie sich fangen würden. Sie waren beide nicht einfach, aber sie waren eine Zeit lang das einzige gewesen, was sie hatten. Lily war nicht bereit, das aufzugeben.
Lily wusste, dass sie Darren klar sagen sollte, dass sie nicht mit ihm auf ein Date gehen wollte, aber dann wiederrum wusste sie nicht, ob mit einem Jungen nach Hogsmeade zu gehen bereits als Date zählte. Wenn sie lediglich mit Sev gehen würde, dann wäre es ja auch kein Date. Und sicher würde er sie auch in einen Buchladen schleppen. „Liebend gern“, sagte sie. „Aber ich übernehme keine Garantie dafür, dass ich nicht deinetwegen den ganzen Laden leer kaufe.“
Darren schenkte ihr ein zähneblitzendes Lächeln, eines der Sorte, die Lily schon bei James viel zu oft gesehen hatte. Es irritierte sie nur halb so sehr. „Keine Sorge, ich kann sicher auch ein paar Tüten tragen. Das verkauf ich dem Kapitän einfach als Training.“
Erst jetzt klickte es in Lilys Kopf und sie realisierte, was die Quidditch-Uniform bedeutete, die er trug. „Oh, warte, du hast es ins Team geschafft?“
„Jep!“, gab er grinsend zurück. „Meine Spionage-Arbeit hat sich wohl richtig bezahlt gemacht.“
Kurz vor der Treppe in die Eingangshalle blieb Lily stehen. „Ich würde dich ja beglückwünschen, aber ich fürchte, damit würde ich mein Haus verraten.“
„Keine Sorge“, erwiderte er, „das würde ich nicht wollen. Ich weiß es sowieso sehr zu schätzen, dass du mich nicht verpfiffen hast. Ich muss jetzt sowieso runter zum Feld, vor dem Essen noch ein paar Runden fliegen, aber ich wollte dich vorher fragen.“
Lilys Magen vollführte einen kleinen Salto. „Das ist sehr aufmerksam von dir.“
„Das hab ich von meiner Mum“, meinte er mit einer wegwerfenden Handbewegung, wobei der Besen über seiner Schulter ein wenig hin und her rollte. „Keine Ahnung, was in ihrem Kopf manchmal vor sich geht, aber sie hat immerhin ´nen echt guten Job gemacht, mir Manieren beizubringen.“
Wenn doch nur alle Mütter darauf achten würden, dass ihre Söhne Manieren an den Tag legten, dachte Lily bitter, aber ließ sich nichts anmerken. Sie lächelte und antwortete: „Treffen wir uns dann einfach Morgen wieder hier?“
„Auf jeden Fall.“ Darren begann die Stufen zur Eingangshalle herunterzugehen, drehte sich dann aber noch ein weiteres Mal zu Lily um. „Danke für die Chance, Lily“, meinte er mit rot angelaufenen Wangen. Seine freie Hand fand den Weg zu seinem Nacken. „Ich weiß, dass Gryffindor und Slytherin nicht immer gut auskommen, aber… ich hatte gehofft, dass du zustimmen würdest.“
„Oh.“ Lily schalt sich selbst eine Idiotin, dass ihr keine bessere Antwort eingefallen war, aber sie konnte nicht anders. Ihr ganzer Kopf schien wie leergefegt, während sie nur den Jungen vor sich anstarren konnte, der ihr nichts außer Freundlichkeit und Humor entgegengebracht hatte. Wenn sie sich schon in einen Jungen verlieben sollte – so absurd das alles auch war – dann würde sie wollen, dass er wie Darren war. Dass es Darren war. Vielleicht war ihr der Unterschied nicht bewusst.
„Dann bis morgen!“, rief Darren, drehte sich rasch um und eilte die letzten Stufen hinunter, bis er in der Menge der Schüler in der Eingangshalle unterging.
Um nicht dümmlich auf der Treppe stehenzubleiben, befahl Lily ihren Füßen, sich in Bewegung zu setzen und sie in die Große Halle zu führen. Sie hoffte inständig, dass sie nicht rot im Gesicht war.
Am nächsten Morgen hätte man glauben können, Lily würde sich für ihre eigene Hochzeit fertig machen müssen, so aufgeregt wuselten Mary und Marlene um sie herum. Lily wollte eigentlich nur einen langen Pullover und eine bequeme Hose anziehen, aber ihren Freundinnen war das nicht gut genug. Sie hatten ihren gesamten Schrank ausgeräumt und Outfits zusammengestellt und wieder verworfen, bis Lily ganz schwindlig geworden war.
Mary bestand darauf, dass Lily eines ihrer Kleider anzog, während Marlene der festen Überzeugung war, dass sie nichts mit einer Kombination aus Bluse und Rock falsch machen konnte. Dass Lily weder das eine noch das andere wollte, war den beiden relativ egal.
„Es geht ums Prinzip, Lily“, sagte Mary, während sie versuche, fünf Kleider gleichzeitig auszubreiten. „Du bist die erste von uns, die auf ein Vielleicht-Date geht. Dafür muss man sich schon ordentlich anziehen. Ansonsten kannst du dich auch gleich in der Bibliothek mit ihm treffen und für den nächsten Verwandlungs-Test lernen.“
„Was wäre denn damit verkehrt?“, fragte Lily, die langsam keine Lust mehr hatte.
„Dass du das überhaupt fragst, ist genau der Grund, wieso wir dir beistehen müssen“, erwiderte Marlene, die eine beigefarbene Bluse über eines von Marys ausgebreiteten Kleidern legte.
Sicher hätte Lily den beiden in einem unbedachten Moment einen Kitzelfluch aufhalsen und flüchten können, aber irgendwie wollte sie selbst wissen, wie sie aussehen würde, wenn sie sich wirklich schick machte. Noch dazu wäre es sicher ein interessanter Anblick, wenn Darren sie sehen würde. In den Filmen, die Lily zu Hause guckte, wusste der Mann immer nicht, was er sagen sollte, wenn er die Frau sah. Vielleicht würde Darren auch sprachlos sein.
In ihrem ausgesuchten Outfit (sie hatten sich darauf geeinigt, dass Lily eine schicke rote Bluse anziehen würde, hatten ihr aber gestattet, dazu eine Hose zu tragen), betrachtete sie sich ein letztes Mal im Spiegel, bevor sie sich ihre Tasche schnappte und mit leicht weichen Knien auf den Weg in die Eingangshalle machte. Lilys Herz schlug schneller, je näher sie kam und mehr als einmal wischte sie ihre schwitzigen Hände an ihrer Hose ab. Sie hoffte inständig, dass Darren ihre Hand nicht halten wollen würde. Das wäre ihr viel zu seltsam und peinlich.
Vor der Treppe zur Eingangshalle blieb sie stehen und holte tief Luft. Noch hätte sie Zeit sich umzudrehen und zurück in den Schlafsaal zu gehen. Sie könnte so tun, als hätte sie verschlafen. Sie müsste nicht damit konfrontiert werden, dass ein Junge darauf wartete, mit ihr auf ein Date zu gehen, das sie nicht als Date ansehen wollte und sie musste nicht darüber nachdenken, dass sie diesen Jungen eigentlich gern haben könnte. Wieso war älter werden so kompliziert? Hätte Tuni sie nicht wenigstens davor warnen können, bevor sie nicht mehr miteinander sprachen?
Lily sammelte ihren Mut zusammen und ging die Stufen hinunter. Es wäre nicht sehr Gryffindor von ihr gewesen, wenn sie jetzt den Kopf eingezogen hätte. Sie würde diesen Tag überstehen, würde eine angenehme Zeit mit Darren verbringen und am Ende würden sie einfach nur zwei Schüler sein, die das Dorf gemeinsam besuchten. Nicht mehr, nicht weniger und schon gar nichts, in das man etwas hineininterpretieren könnte. Ein Junge, ein Mädchen – das war nicht der Untergang der Welt. Lily konnte mit Darren befreundet sein, wenn sie wollte. Nur weil er süß war und sie zum Lachen brachte, hieß das noch gar nichts.
Kopfschüttelnd stellte sie sich in der Eingangshalle ein wenig aufrechter hin. Sie betrachtete die anderen Schüler um sie herum, die sich für den Tag vorbereiteten und bemerkte, wie viele von den älteren so aussahen, als würden sie wirklich auf Dates gehen. Überall konnte sie sehen, wie die Jungs sich die Haare richteten oder die Mädchen sich die Rockfalten glattstrichen, wie sich angelächelt und die Hände ausgestreckt wurden. Ein paar umarmten sich lange. Einige küssten sich sogar. Lily versuchte nicht in deren Richtung zu gucken.
„Lily, hey, da bin ich! Tut mir leid, falls du warten musstest.“ Darren Harper erschien zwischen der Schülermenge vor ihr und blieb zwei Schritte lächelnd vor ihr stehen. Ob er nun wie die anderen Jungs seine Haare ordentlich frisiert hatte oder nicht, konnte Lily nicht erkennen, aber irgendwie fand es sie auch nicht schlimm. Es hatte seinen ganz eigenen Charme, wenn er so aussah, als wäre er geradewegs durch ein paar niedrighängende Äste gelaufen. Seine normale Hogwartsuniform hatte er gegen einen dunkelroten Pullover mit Jeansjacke und eine verwaschen aussehende Jeans getauscht. Dazu hatte er schwarze Stiefel an, die sicherlich nicht im Dresscode der Schule erlaubt waren. Lily fand, dass er aussah, wie ein Schauspieler, den sie mal im Fernsehen gesehen hatte.
Lily fühlte sich in ihrem eigenen Outfit plötzlich sehr blass neben ihm. „Nur kurz“, gab sie zurück.
Für einen Augenblick betrachtete Darren sie von Kopf bis Fuß, dann wurde sein Lächeln ein wenig breiter. „Das kommt wahrscheinlich nicht sehr überzeugend, aber ich schwöre, ich hab nicht spioniert, um herauszufinden, was du anziehen wirst, damit ich mich farblich darauf abstimmen kann.“ Er realisierte, was er gesagt hatte und wurde dunkelrot wie sein Pullover im Gesicht. „Ich meine – oh Gott, also ich hab natürlich nicht spioniert, wie du dich angezogen hast! Das wäre extrem seltsam und – okay, cool, alles klar, ich sollte mich einfach umdrehen und wir tun so, als hätte ich das nie gesagt.“
Ihre eigenen Wangen fühlten sich ebenfalls ziemlich warm an, als sie den Kopf schüttelte. „Mittlerweile bin ich mir fast sicher, dass ich weiß, was du ernst meinst und was du sagst, weil du zu schnell denkst.“
„Da bin ich erleichtert“, erwiderte er seufzend. „Tut mir leid, falls das seltsam war.“
„Nicht viel seltsamer als das, was du davor gesagt hast“, entgegnete Lily lächelnd. „Aber es würde bestimmt die Top 5 Liste erreichen, wenn du es dabei belässt.“
„Ich bin nicht sicher, ob ich noch seltsamer sein will, oder ob ich es lieber dabei belassen will. Beides klingt nicht so, als würde es mich in ein gutes Licht werfen, oder?“ Er bewegte sich langsam Richtung Eichenholztor und Lily war froh, dass er nicht darauf bestand, ihre Hand zu nehmen oder sie zu umarmen.
Dann wiederum war das natürlich kein Date, also war es außer Frage, dass er sowas tat. „Das kommt ganz darauf an, was du heute so vor hast. Ich werde es natürlich bis in kleinste mit Mary und Marlene auseinandernehmen müssen, aber sofern du dich nicht komplett blamierst, hast du noch gute Chancen.“
„Damit kann ich dann leben. Ich könnte es mir wohl nicht verzeihen, wenn ich das jetzt schon vergeigen würde.“ Für einen kurzen Augenblick zuckte seine Hand neben ihr auf, aber bevor Lily hätte in Panik verfallen können, stopfte er sie in die Tasche seiner Jeansjacke. „Ist dir gar nicht kalt?“, fragte er, als sie nach draußen traten.
Der warme September hatte sich endgültig verabschiedet und war in den kühlen, nassen Oktober übergegangen. Die Wolken war rar, aber grau über ihnen und ein beißender Wind wehte durch das dichte Gras am Boden und de wiegenden Kronen der Bäume in der Entfernung. Lily zückte ihren Zauberstab aus ihrer Hosentasche. „Keine Sorge, ich bin bestens vorbereitet.“ Nicht umsonst hatte sie mehrere Tage damit verbracht, den Zauber zu üben, dann würde sie ihn jetzt auch anwenden. Mit der Spitze ihres Stabs tippte sie einmal auf ihren linken Oberarm, murmelte den Zauberspruch und vollführte dann eine schleifenähnliche Bewegung in der Luft. Keine Sekunde später hing ihre mit Daunen gefütterte Jacke über ihrem Arm.
„Beeindruckend“, sagte Darren. „Das ist ziemlich fortgeschrittene Magie, oder?“
„Professor McGonagall hat es mir beigebracht“, gab sie zurück, als sie sich die Jacke überwarf und damit den kühlen Oktober-Biss vertrieb. „Sie meinte, mit der richtigen Konzentration kann man alles schaffen.“
„Da ist was dran, auch wenn sie mir damit wohl meinen Plan vermiest hat, dir ganz gentlemanlike meine Jacke anzubieten.“
Eine kaum zu erkennende Röte schlich sich in seine Wangen und Lily tat so, als würde sie von der kalten Luft kommen. „Vielleicht hast du im Winter ja die Chance dazu“, sagte sie, während sie dem steinernen Weg in Richtung Hogsmeade folgten. Lily konnte die Stimmen der anderen Schüler vor und hinter sich hören, aber seltsamerweise nahm sie nichts davon wirklich wahr. Zu fokussiert war sie damit, ihr Herz nicht viel zu laut, viel zu schnell klopfen zu lassen.
„Dann werde ich darauf zurückkommen. Soll ich mir direkt einen Termin holen, damit nichts dazwischenkommt?“
Lily lachte. „Keine Sorge, ich werd Platz für dich machen.“ Die Worte hatten ihre Lippen verlassen, bevor sie sich daran hindern können.
Darren sah aus, als wäre Weihnachten vorgezogen worden. „Ich nehme das einfach mal als wahnsinnig großes Kompliment auf.“
„Du kannst es auffassen, wie du möchtest“, erwiderte sie, auch wenn sie nicht wusste, wo die Worte herkamen. Ihr Hirn schien wie von allein Antworten auszuspucken. Lilys Wangen wurden warm und sie senkte den Blick. Was war denn nur los mit ihr?
Den restlichen Weg ins Dorf schaffte Lily es sich zurückzuhalten, während sie und Darren sich über die Schulfächer unterhielten. Er erzählte ihr, dass er ziemlich gut in Verwandlung, aber dafür unterirdisch in Zauberkunst war. Als sie das Dorf betraten, sagte er: „Ich kann es echt kaum erwarten, bis meine Schwester auch nach Hogwarts kommt. Dann kann ich ihr alles zeigen und sichergehen, dass sie sich in ihren ersten Tagen nicht komplett verläuft und plötzlich im Büro des Hausmeisters landet.“
„Ich wusste nicht, dass du eine Schwester hast“, meinte Lily, während sie neben ihm herschlenderte. Es war entspannend, fand sie. Sich mit Darren zu unterhalten hatte etwas beruhigendes, fast schon friedliches an sich. Sie wusste nicht ganz, was sie davon halten sollte, war sich aber ziemlich sicher, dass es eher positiv war. Er war ganz anders als jeder Junge, mit dem sie bisher gesprochen hatte, obwohl Lily nicht einmal bewusst gewesen war, dass es dort Unterschiede geben konnte.
„Sie ist sehr viel jünger als ich“, erwiderte er. „Eigentlich ist sie auch nur meine Halbschwester, aber da ich sie schon kenne, seit sie geboren worden ist, sehe ich da keinen wirklichen Unterschied.“ Sie schien einen irritierten Gesichtsaufdruck aufgesetzt zu haben, denn Darren lächelte und fügte an: „Meine Eltern haben sich getrennt und mein Vater hat neu geheiratet. Deswegen nur Halbschwester.“
„Oh, ich wollte nicht –“, versuchte Lily sich rauszureden, wurde aber von Darren unterbrochen.
„Quatsch, ist doch nichts bei. Du darfst ruhig neugierig sein und Fragen stellen, Lily.“
Lily presste die Lippen zusammen und nickte langsam. „Ich war nur überrascht“, gab sie vorsichtig zu. „Ich bin davon ausgegangen, dass die Ehe bei magischen Familien irgendwie… ich weiß auch nicht, heilig ist, oder so? Vorher hab ich von noch keinen magischen Familien gehört, die sich hätten scheiden lassen.“
„Ich schätze mal, es ist etwas seltsam im Vergleich zu all den anderen Familien, aber so wild finde ich es nicht. Die Muggel lassen sich ja auch scheiden, oder?“
Mit langsamen Schritten gingen sie an den hochgebauten, teilweise schiefen Häusern vorbei, die Hauptstraße immer vor sich. Lily konnte die vielen Stimmen der anderen Schüler kaum noch ausblenden, während sie immer tiefer ins Dorf vordrangen. Bei ihrem ersten Besuch war sie bereits komplett überwältigt von dem Zaubererdorf gewesen und auch der zweite Besuch hatte ihre Aufregung nicht gedämpft. Schon dann nicht, wenn Darren ihr einen besonderen Buchladen zeigen wollte.
„Es kommt vor“, sagte sie, die es nur nebenbei von ehemaligen Schulkameraden mitbekommen hatte. „Aber ich kenne auch nicht so viele Leute, um eine komplette Liste anfertigen zu können.“
Er zuckte belustigt mit den Augenbrauen. „Das wäre doch mal eine Idee für ein Ferien-Projekt.“
Lily schnaubte. „Ja, klar, ich lauf bei mir in der Stadt rum und frag alle Nachbarn nach dem Stand ihrer Ehen. Dann werde ich bestimmt nicht direkt von der Polizei nach Hause gebracht.“ Einen Augenblick blieb sie still, dann fügte sie an: „Wobei mich ein Großteil der Nachbarn wahrscheinlich sowieso schon für irgendeine Kleinkriminelle halten. Wahrscheinlich erzählt meine große Schwester Petunia in der Schule herum, ich müsste auf ein Internat für verhaltensgestörte Jugendliche gehen oder so. Das würde ich ihr zumindest zutrauen.“
Darren bog in eine etwas schmalere Seitenstraße, in der sie zwar noch nebeneinander gehen konnten, aber immer mal wieder mit dem Ellbogen aneinander stießen. Er schob seine Hand tiefer in die Tasche seiner Jeansjacke, dann fragte er: „Du hast wohl kein so gutes Verhältnis zu deiner Schwester?“
Seufzend nickte sie, ehe sie ihm knapp erzählte, was im Sommer mit ihr, Petunia und Severus vorgefallen war.
Als sie endete, war er eine Zeit lang ruhig. „Das ist ziemlich dämlich“, sagte er schließlich, sein Blick in ihre Richtung drehend. „Ich könnte mir keinen Grund vorstellen, wieso ich dich jemals so behandeln sollte.“
Erneut wurden Lilys Wangen warm und sie war froh, dass er einen Moment später vor einer recht schäbig bemalten Holztür anhielt. Die goldene Farbe blätterte an so vielen Stellen bereits ab, dass es kaum noch so aussah, als wäre der Laden überhaupt geöffnet. Aus den Fensterscheiben allerdings ergoss sich gleißendes Licht und sie konnte hinter schiefen Türmen aus Büchern und einigen ausgelegten Exemplaren einige Kunden erkennen. Darren streckte die Hand aus, öffnete die Tür und hielt sie ihr auf.
Lily trat ein und wurde mit warmer Luft und dem Geruch nach alten Seiten begrüßt. Eine kleine Glocke erklang über ihrem Kopf. Der Boden war bedeckt mit einem weichem, dunklen Teppich und überall, wo keine Regale oder Schränke standen, stapelten sich lose Bücher oder Pergamentrollen in hohen Glasflaschen bis zur Decke. In der Mitte des eher schmalen Ladens führte eine Wendeltreppe in einen zweiten Stock, der ebenfalls mit Büchern vollgestopft schien. Hinter der Treppe befand sich ein fast schon winziger Tresen, der kaum genug Ablagefläche bot, um ein zusammengerolltes Pergament darauf abzulegen.
Über ihrem Kopf hörte sie ein leises Rascheln und sah gerade noch, wie ein Buch mit flatternden Seiten wie ein Vogel durch die Luft rauschte, die Treppe hochflog und dann im zweiten Stock verschwand. Im hinteren Bereich konnte sie einen Stapel Fibeln sehen, der sich von allein in ein vollgestopftes Regal einsortierte und eine Uhr an der Wand hinter dem Tresen zeigte weder die Uhrzeit noch etwas anderes an, sondern ließ immer mal wieder ein surrendes Geräusch von sich.
„Deinem Staunen nach zu urteilen, gefällt es dir“, sagte Darren neben ihr, der die Tür hinter sich zufallen ließ.
Lily hatte nicht einmal bemerkt, wie fasziniert sie von dem Laden gewesen war, bis Darren es erwähnt hatte. Sie riss sich von den umherfliegenden Büchern los und blickte zu ihm, die Hände tief in seine Jackentaschen geschoben, ein Glänzen in den Augen und ein Grinsen auf den Lippen. Das Licht der Öllampen im Laden ließ seine Haare aussehen, als würde sie in Flammen stehen. Lily schluckte schwer und sagte: „Es ist wirklich schön hier.“
Sie hätte noch ungefähr einhundert andere Beschreibungen für den Laden gefunden, wenn er ihr die Zeit lassen würde. Alles hier verinnerlichte die kleinen Buchhandlungen, die Lily in Cokesworth so gerne besucht hatte, bevor sie nach und nach geschlossen hatten und nur noch eine große Kette übriggelassen hatten, die alles in sterile Regale und weiße Böden getaucht hatte. Sie war seit Jahren nicht mehr so aufgeregt gewesen, einen Buchladen zu erkunden.
„Großartig“, erwiderte Darren grinsend. „Da hinten gibt es Lehrbücher über verschiedene Zauberarten und im zweiten Stock gibt es Unmengen an Büchern von Muggeln. Was willst du zuerst sehen?“
Überrascht drehte sie sich zu ihm. Sie wusste nicht, ob sie sich das nur einbildete oder nicht, aber sie hatte das Gefühl, als wäre er der erste Junge, der gefragt hatte, was Lily als Erstes machen wollte. Sie konnte sich zumindest nicht daran erinnern, dass Sev sich jemals so eine Mühe gemacht hatte. Die bittere Galle in ihrem Hals brannte, als sie erneut schwer schluckte, dann erwiderte sie: „Zeig mir dein Lieblingsbuch.“
Darren hob eine Augenbraue. „Sicher?“ Er wartete, bis sie genickt hatte, dann tat er es ihr gleich. „Okay. Dann mir nach.“ Mit zielsicheren Schritten führte Darren sie zur schmalen Wendeltreppe, hoch in den zweiten Stock und vorbei an etlichen Regalen voll mit Büchern, Lexiken und Fibeln, Stapeln an Magazinen und Schränken voll mit interessant aussehenden Pergamentrollen. An den wenigen freien Flächen an der Wand hingen Karten von Ländern, die Lily noch nie gesehen hatte und beschrieben Orte, die sie sich höchstens in ihrer Fantasie hätte ausdenken können und es dauerte ein paar Momente, bis sie feststellte, dass es genau das war – es waren Karten von ausgedachten Ländern und Welten, die wahrscheinlich in den Büchern vorkamen, die überall verteilt standen. Darren blieb vor einem der vielen Regale stehen und blickte es suchend an, bis er schließlich eine Hand aus der Tasche holte und ein dünnes Buch aus der Reihe hervorzog. Mit beinahe schon feierlicher Miene überreichte er es Lily.
„Das Erbe der Korallen“, las sie den Titel vor und drehte es um. „Worum geht´s da?“
Es war fast, als hätte sie einen Schalter in seinem Hirn umgelegt; als wenn er nur darauf gewartet hätte, dass sie fragte, ging Darren in eine ellenlange Erzählung über, wie die Figuren aus dem Buch hießen, was sie in der Welt zu tun hatten und welche Beziehungen sie miteinander führten. Er erzählte ihr von zwei Schwestern, die die Magie der Korallen in sich trugen, aber auf unterschiedliche Wege geraten waren, er erwähnte einen Jungen, der mit den Fischen reden und sie befehligen konnte und von einer bösen Königin, die das Korallenriff zerstören wollte, um ihren Palast zu bauen. Seine Augen glänzten, während er ihr von seinen Lieblingsstellen und seinen Lieblingsfiguren erzählte. „Meine Mum hat mir das Buch vorgelesen, als ich vor ein paar Jahren richtig krank war“, sagte er mit sich beinahe überschlagender Stimme. „Sie hat jeder Figur eine andere Stimme gegeben und mich damit stundenlang beschäftigt. Ich hab sogar von den beiden Schwester geträumt und mir vorgestellt, wie es wäre, wenn ich auch die Magie der Korallen hätte.“ Wie um es zu demonstrieren, hob er eine Hand über den Kopf und spreizte die Finger. „Ich hab mir dann vorgestellt, Korallen würden aus meinen Händen wachsen und ich könnte das ganze Haus damit einschließen.“ Er lachte leise. „Das ist wahrscheinlich ziemlich kindisch, oder?“
„Überhaupt nicht“, erwiderte sie, die sich nur liebend gern vorstellte, wie ein jüngerer Darren noch immer mit dem Babyspeck in seinen Wangen durchs Haus rannte und so tat, als wäre er unter Wasser. „Meine Schwester und ich haben früher auch sowas gespielt. Ich musste aber immer die böse Königin spielen, während Tuni die Prinzessin war.“
Ein leises Lachen entkam ihm, bevor er ihr mit vorsichtigen Fingern das Buch aus der Hand nahm und es zurück in seinen Platz schob. „Wenn du wie die böse Königin aus dem Buch wärst, dann hättest du immerhin Chance, gegen die Prinzessin zu gewinnen.“
„Jetzt verrat doch nicht alles, sonst muss ich es überhaupt nicht mehr lesen“, entgegnete sie.
„Oh, du musst es nicht lesen, wenn du nicht willst!“, sagte er sofort. „Es war nur – ich meine, ich hab´s dir nur gezeigt, weil du gefragt hast, nicht weil du – also, das soll nicht heißen, dass du es nicht lesen kannst, wenn du willst, aber eben nur wenn du willst, weißt du? Du musst es nicht lesen, nur weil ich es mag. Das wäre komisch. Glaube ich. Also vielleicht auch nicht. Nein, es wäre gar nicht komisch, aber du musst es wirklich nicht –“
Lily hob eine Hand und drückte sie Darren auf den Mund, damit er aufhören würde zu reden. Sie lachte, als er erstarrt innehielt. „Ruhig atmen“, sagte sie. „Ein und aus, bloß nicht durchdrehen.“ Langsam nahm sie die Hand wieder herunter und sah zu, wie einen tiefen Atemzug nahm. „Besser?“
„Keine Ahnung, wo das herkam“, meinte er und kratzte sich verlegen am Kinn.
„Schon gut“, erwiderte Lily, ehe sie sein Lieblingsbuch aus dem Regal zog und es in der Hand behielt. „Aber jetzt muss ich es umso schneller lesen, dann kann ich mich davon überzeugen, ob ich wirklich wie die böse Königin aus dem Buch bin.“
„Hey, das hab ich nicht gesagt!“
Sie lachte und er grinste breit.
„Du bist die erste, die sich nicht darüber lustig macht, was ich gerne lese“, sagte er schließlich, nachdem sie sich den Rest der Bücher im Regal angesehen hatten. Seine Stimme war leise und zaghaft, aber als Lily zu ihm sah, hielt er ihrem Blick stand. „Ich schätze, es ist auch nicht unbedingt das Buch, was man von einem Jungen erwartet, oder?“
Lily blickte auf den märchenhaften, in rosa und violett Tönen gehaltenen Buchumschlag in ihren Händen und legte den Kopf ein wenig schief. „Ich glaube, du kannst lesen, was du willst. Es stört ja niemanden. Außer du hast jetzt vor, ganz Hogwarts in dein Korallenschloss zu verwandeln, dann solltest du vielleicht eine Auszeit nehmen.“
Er schüttelte belustigt den Kopf. „Wenn ich das vorhätte, dann könntest du trotzdem die Königin sein.“ Für zwei Sekunden blickte er sie an, dann nahm sein gesamtes Gesicht die Farbe einer überreifen Tomate an. „Oh mein Gott, so war das nicht gemeint! Das soll nicht heißen, dass du meine – nicht, dass ich nicht glaube, dass du nicht dazu fähig wärst, ich meine nur – okay, wow. Ich sollte wirklich nicht so viel reden, wenn ich in deiner Nähe bin.“
Es wäre einfach, ihn für einen der anderen idiotischen Jungs zu halten, die nur redeten und nie nachdachten, aber Lily fand sich fast schon ein wenig verzaubert von seinem nervösen Charme. „Ich glaube, ich würde eine großartige Königin abgeben“, sagte sie deswegen nur, bevor sie sich von ihm abwandte und wieder zum Regal blickte. „Aber ich fürchte, als erste Amtshandlung würde ich Quidditch verbieten müssen.“
Aus dem Augenwinkel konnte sie nur sehen, wie er empört den Mund aufriss und sie entgeistert anstarrte. „Du Tyrannin“, hauchte er. „Dann müsste ich eine Rebellion anleiten, um dich zu stürzen.“
„Das will ich sehen“, entgegnete sie.
Er schüttelte den Kopf und erwiderte grinsend: „Ich hätte nicht gedacht, dass sich so eine fiese Seite in dir versteckt, Lily Evans.“
„Was soll ich sagen, ich stecke voller Geheimnisse, Darren Harper.“
„Ich bin nicht sicher, ob ich wirklich alle davon kennen will.“
Lily warf ihm über die Schulter ein Lächeln zu, dann drehte sie sich vom Regal ab und ging zum nächsten, um dort nach weiteren Büchern zu suchen. Sie und Darren zogen immer mal wieder Exemplare aus ihrem Platz, lasen sich die Inhaltsgaben vor und spekulierten, ob es sich lohnen würde, das Buch zu lesen oder nicht, ehe sie sich in den meisten Fällen dazu entschieden, es einfach mitzunehmen. Als er gesagt hatte, dass er gut darin war, Bücher zu tragen, hatte Darren zumindest nicht gelogen; ohne sich zu beschweren oder ihr zu sagen, dass seine Arme langsam müde wurden, trug er einen ganzen Stapel an Geschichten auf den Händen und folgte ihr mit gemächlichen Schritten durch den obersten Stock. Sie hatten kaum die Hälfte durch, als Lily sich sicher war, dass sie bereits ihr gesamtes Budget ausgefüllt hatte.
Das Erdgeschoss ließ Lily vorerst unergründet. Sie konnte es sich nicht leisten, noch mehr Bücher ihrem Stapel hinzuzufügen und noch weniger konnte sie es Darren antun, dessen Mundwinkel immer wieder vor Anstrengung zuckten, wenn er dachte, dass sie nicht hinsah. Lily zog ihn zum Tresen, zahlte ihren Einkauf und ließ sich die Bücher in zwei reißfeste, schrumpfende Beutel füllen. Einen gab sie Darren, einen trug sie selbst und mit dem Gefühl, viel zu viel Geld ausgegeben zu haben, verließen sie den kleinen Buchladen.
Seit sie das erste Regal verlassen hatten, hatten sich Lilys Wangen nicht mehr abgekühlt. Sie schielte immer wieder zu Darren hinüber, der ihr gerade in raschen Worten erzählte, wie sein Auswahlspiel gelaufen war und sie konnte nicht anders, als sich zu fragen, wieso er noch nicht versucht hatte, nach ihrer Hand zu greifen. Nicht, dass sie das wollen würde oder überhaupt dachte, dass es sich hierbei um ein Date handelte, aber sie fand es doch irritierend, dass er unbedingt mit ihr ins Dorf gehen wollte, aber… er hielt weiterhin seinen Abstand, auf eine verwirrend respektvolle Weise. In ihrem Kopf kam sie auf keinen klaren Gedanken oder überhaupt eine Antwort. Sie wusste nicht, was sie denken sollte, noch was sie von ihm halten sollte.
Lily müsste sich schon selbst vollends belügen, wenn sie behaupten würde, dass sie Darren nicht irgendwie mochte. Er war witzig und süß und höflich und sie hatte noch nie einen Tag mit einem Jungen verbracht, ohne dass es irgendwie darin geendet war, dass sie gestritten oder stundenlang vor irgendwelchen Textbüchern angeschwiegen hatten. Vielleicht hatte Mary doch Recht und sie wollte es einfach zulassen. Sollte einfach akzeptieren, dass sie auch mit dreizehn jemanden daten könnte und dann würde sie sehen, wohin es führte. Sie holte tief Luft, kam aber nicht dazu, etwas zu sagen.
Eine schneidende Stimme durchriss die Luft hinter ihnen, sodass Lily wie Eis erstarrte. „Wenn das mal nicht Darren Harper mit dem Schlammblut Evans ist.“ Die drückende Art zu Reden würde Lily überall wiedererkennen.
Sie wirbelte herum und wurde mit dem Anblick von Mulciber und Avery belohnt, die die Hände in den Taschen vergraben hatten und ihnen vom Ende der Straße aus entgegenstarrten. In seinem dunklen Mantel mit dem hochgeschlagenen Kragen und dem gut halben Kopf Größenunterschied, den Mulciber zu ihnen hatte, wirkte er kaum wie ein Drittklässler.
„Hat es nicht gereicht, dass du unserem armen Sev den Kopf verwirrst, Evans?“, fragte Avery hämisch grinsend. Er und Mulciber kamen ein paar Schritte näher. „Oder reicht dir einer nicht?“
„Hey, seid ein wenig netter zu Lily“, sagte Darren, aber er hätte genauso gut schweigen können, so leiste hatte er gesprochen.
„Lasst uns in Ruhe“, gab Lily zurück, lauter und aggressiver, sodass Mulciber eine Augenbraue anhob. „Habt ihr nichts anderes zu tun, als uns hinterherzulaufen?“
„Was ist denn das für ein Ton, mit dem du uns begegnest, Evans?“ Seine verdammte Art zu Reden brachte Lily schon auf die Palme, wenn sie nur in seiner Nähe war. Einer seiner Mundwinkel zuckte. „Du solltest doch mittlerweile schon gelernt haben, wie man mit den Menschen redet, die einfach besser sind als man selbst, oder nicht?“
„Und trotzdem kannst du dein Maul nicht halten, wenn du mich siehst“, spuckte sie ihm entgegen. „Lasst uns ins Ruhe, Ihr Versager.“ Sie wirbelte herum und griff nach Darrens Unterarm, der sie mit aufgerissenen Augen ansah.
„Du wagst es wirklich, so mit uns zu reden?“, konnte sie Avery zischen hören und einen Moment später: „Incarcerus!“
Lily hatte keine Zeit, ihren Zauberstab zu ziehen, während sie Darrens Arm und ihren Beutel hielt. Dicke Seile schlangen sich so fest um ihre Beine, dass sie den Halt verlor und mit dem Gesicht voran auf den harten Steinboden geknallt wäre, wenn Darren sie nicht gefangen hätte.
„Hey, lass den Scheiß!“, rief er über seine Schulter. „Alles okay?“
„Widerliche Arroganz“, spuckte Avery. „Lass die Finger von dem Schlammblut Harper, oder – “
„Oppugno!“ Lily hatte ihren Zauberstab aus ihrer Hosentasche zerren können, ihn auf Avery gedeutet und einen ganzen Schwarm an kleinen, gelben Vögeln heraufbeschworen, die sich mit blitzenden Schnäbeln und Krallen auf ihn stürzten. „Finite.“ Die dicken Seile fielen von ihren Beine und sie ließ sich von Darren aufrecht helfen. „Lass uns abhauen“, zischte sie.
Sie wartete nicht darauf, dass Avery und Mulciber die Vögel vertrieben oder den Zauber lösten und wartete auch nicht, ob sie sie verfolgten oder nicht. Mit den Fingern umschloss sie Darrens Handgelenk und zog ihn mit sich, während sie die Straße entlangliefen. Ihre eigenen Schritte und ihr Atem hallten laut in ihren Ohren nach, aber dazu mischte sich die brennende Euphorie, die sie darüber verspürte, es Avery erneut gezeigt zu haben. Das würde er sich zwar nicht gefallen lassen, das wusste sie und sie konnte jetzt schon damit rechnen, dass er es in naher Zukunft erneut versuchen würde, aber für den Moment hatte sie ihn vertrieben.
„Hier rein!“ Darren zog an ihrem Arm und sie ließ zu, dass er sie durch eine unscheinbare Holztür führte. Im Inneren des Ladens war es schummrig und leise, sodass ihr lauter Atem das einzige war, was man hören konnte. Darren drückte die Tür hinter Lily zu und lehnte sich gegen die Wand. „Das war knapp.“
Auf den ersten Blick sah es so aus, als hätten sie einen verlassenen Laden betreten, doch auf den zweiten erkannte Lily, dass sie in einem Geschäft für Zaubertrankzutaten waren. Dunkle Regale voll mit Einmachgläsern und Fässern voller glitschiger, wabernder Dinger, die sie nicht näher betrachten wollte, füllten die nahe Umgebung, während das einzige Licht von einer flackernden, halb heruntergebrannten Öllampe stammte. Der Laden war klein und eng und hatte kaum genug Platz, damit man mit einem Kessel bequem arbeiten könnte.
„Diese beiden Idioten lernen es aber auch nicht“, sagte Lily, bückte sich und rieb sich die Knöchel. „Leider hat Avery gelernt, wie man zielt.“ Zwar hatte das Seil ihr nicht die Haut aufgescheuert, aber es hatte sich trotzdem so fest um sie geschlungen, dass sie ein paar rote Abdrücke erkennen konnte.
„Du hast dich aber ziemlich gut allein geschlagen“, gab er mit leiser Stimme zurück.
Lily schnaubte. „Musste ich ja wohl.“
Darren zuckte kaum merklich zusammen. „Tut mir leid“, murmelte er in die schummrige Dunkelheit. „Ich war wohl keine große Hilfe.“
„Das kannst du laut sagen“, entgegnete sie bitter. „Was sollte das? Bei denen kannst du nicht versuchen, nett zu sein, das klappt nicht. Das hab ich im ersten Jahr schon versucht und gelernt, dass es nichts bringt.“
Er presste die Lippen zusammen und Lily seufzte leise.
Sie wusste nicht, was sie erwartet hatte. In den Büchern kam der männliche Held der Frau immer zur Rettung und besiegte die bösen Jungs im Alleingang, aber das war kein Buch. Lily war auch keine hilflose Prinzessin, die gerettet werden musste. Sie konnte sich sehr gut allein wehren und brauchte keinen Mann, der ihr zur Hilfe eilte. Aber… zu wissen, dass er da gewesen wäre, wenn sie ihn gebraucht hätte, zu wissen, dass er ihr helfen würde, wenn sie in Gefahr wäre, das wäre gut gewesen. Sie versuchte die Enttäuschung zu verstecken und versuchte nicht allzu sehr daran zu denken, dass jeder Gryffindor, den sie kannte, ihr sofort zu Hilfe gekommen wäre, aber sie konnte nicht anders. Darren war lieb und interessant, er war süß und aufmerksam, aber würde er ihr wirklich zu Hilfe eilen, wenn sie sich mal nicht verteidigen konnte?
„Ich mische mich ungern in Konfrontationen ein“, gab er schließlich nach einiger Zeit zu. „Wenn es… ich meine, ich stelle mich solchen Auseinandersetzungen lieber nicht in den Weg.“
„Auseinandersetzungen“, wiederholte Lily hohl. „Konfrontation. Dass sie mich als Schlammblut beleidigt und mich angegriffen haben, nennst du eine Auseinandersetzung?“
Als hätte er in eine extra saure Zitrone gebissen, verzog Darren das Gesicht zur Grimasse. „So war das nicht –“
„Wenn ich jemanden brauche, der die Augen vor sowas verschließt, dann weiß ich ja, zu wem ich gehen kann“, sagte sie mit zusammengebissenen Zähnen. Enttäuschung flutete sie wie bittere Medizin, ließ ihre Zunge kribbeln und ihren Rachen brennen. Lily schnappte sich mit spitzen Fingern die Tasche aus seiner Hand und drehte sich wirbelnd zur Tür um. Sie hatte die Hand bereits an der Klinke, als er nach ihrem Oberarm griff.
„Lily, warte, bitte.“ Ihr tobender Blick reichte aus, damit er die Hand von ihr nahm. „Ich hab dir doch gesagt, ich bin nicht wie die anderen Slytherin. Mir macht es nichts aus. Ich mache mir auch nichts aus diesem dämlichen Konflikt zwischen unseren Häusern.“
„Es nur zu sagen bringt mir nichts“, spuckte sie ihm entgegen. „Du kannst meinetwegen den ganzen Tag lang sagen, dass es dir nichts ausmacht, aber wenn es dann hart auf hart kommt und du den Schwanz einziehst, dann bringen mir deine Worte auch nichts. Wenn ich allein gewesen wäre, dann hätten Mulciber und Avery mir nicht mal die Chance gelassen, mich zu verteidigen, sie hätten sich auch nicht angekündigt. Du sagst, du bist nicht die alle anderen Leute in deinem Haus, die auf diese Blutfanatik abgehen, aber bist du wirklich so viel besser, wenn du es nicht hinbekommst, mir zu helfen?“
Darren sah aus, als hätte sie ihm mehrmals ins Gesicht geschlagen. Sein Mund öffnete und schloss sich wieder, aber er bekam keinen Ton heraus. Ein beinahe flehender Ausdruck lag in seinen Augen, aber Lily konnte sich nicht dazu bringen, herauszufinden, was er von ihr wollte.
Jedwedes warme Gefühl, das sie noch im Buchladen verspürt hatte, jedweder seltsame Wunsch, dass er den Mut haben würde, nach ihrer Hand zu greifen, damit sie wissen würde, wie es sich anfühlte, war verschwunden. Für den Moment wollte sie einfach weg von ihm. Sie ließ ihm keine weitere Chance, sich herauszureden, sondern riss die schäbige Tür auf und trat mit wehenden Haaren raus auf die Straße. Sie folgte dem Weg, bis sie auf dem Hauptplatz angekommen war, aber sie fühlte sich nicht bereit, sich unter so viele Menschen zu begeben. Am liebsten würde sie allein sein und in den Himmel schreien. Sie könnte bereits zurück zum Schloss laufen, aber entschied sich im Bruchteil einer Sekunde dagegen, als sie einen leicht heruntergekommenen Weg erkannte, der sich zwischen den schiefen Häusern hindurchschlängelte. Ohne darauf zu achten, wohin er überhaupt führte, folgte sie ihm.
Die Häuser an ihren Seiten wurde kleiner und rarer, bis sie schließlich nur noch einen bröckligen Zaun zu ihrer Linken und den offenen Weg in die Hügel zu ihrer Rechten hatte. In der ferne konnte sie die wogenden Kronen von dicht aneinander stehenden Bäumen und eine heruntergekommene Turmspitze erkennen. Wahrscheinlich die Ruine einer alten Kirche, dachte sie, als sie ihre Schritte verlangsamte. Das Gewicht der beiden Bücherbeutel zerrte an ihren Armen. Vorsichtig legte sie sie auf dem Boden ab, ehe sie sich auf eine freie, wenn auch unsicher aussehender Stelle auf dem Steinzaun setzte. Sie seufzte, noch bevor sich aufgekommen war und vergrub das Gesicht in den Händen.
Sie wusste, sie hätte auf ihren eigenen Kopf hören und Darren überhaupt nicht erst zustimmen sollen. Es war zu früh für sowas, sie war zu jung, er war offensichtlich auch zu jung. Lily fühlte sich schrecklich dumm, weil sie überhaupt gedacht hatte, sie könnte sich für ein paar Momente lang älter fühlen, als sie eigentlich war. Wie dumm sie gewesen war, mit einem Jungen auszugehen, den sie kaum kannte. Wie dumm sie war, zu hoffen, dass er nicht wie der Rest sein würde.
***
In Marys und Marlenes Augen war Darren bereits so gut wie tot. Lily hatte ihren Freundinnen von dem Aufeinandertreffen mit Mulciber und Avery erzählt und davon, was Darren alles nicht getan hatte und für Mary war es da schon genug gewesen, damit sie aufspringen und ihn selbst aufsuchen wollte. Als sie dann noch erzählt hatte, was er im Trankladen gesagt hatte, war Marlene bereits dabei, einen Ort für sein Grab zu suchen. Lily hatte sie nur kläglich aufgehalten.
Die nächste Woche über hatte Lily alles in ihrer Macht stehende getan, um Darren aus dem Weg zu gehen, wann immer sie ihn gesehen hatte. Wenn er in der Eingangshalle war, hatte sie sich umgedreht und war zurück in den ersten Stock gegangen. Vor dem Klassenzimmer für Zaubertränkte hatte sie so lange gewartet, bis Slughorn endlich die Tür öffnen würde, damit sie sich ebenfalls dazustellen würde. Wenn er zufällig im gleichen Gang wie sie sein würde, dann hatte sie kein Problem damit, zufällige Türen zu öffnen und zu verschwinden. Ein paar Mal war sie damit zwar in Klassenzimmer von älteren Klassen gelandet, aber das kümmerte sie nicht weiter. Alles war ihr lieber, als mit Darren konfrontiert zu sein, der seinen Worten keine Taten folgen konnte und sie hasste sich selbst dafür, dass sie trotzdem noch schwitzige Hände bekam, wann immer sie seinen unordentlichen Haarschopf in der Menge erkannte. Sie hasste, dass ihr Herz schneller schlug, wenn sie ihm ausweichen musste. Sie hasste, dass sie auf ihn reagierte, wenn sie ihn nicht sehen wollte.
Am Tag des ersten Quidditch-Spiels des Jahres war Lily drauf und dran den Schlafsaal nicht zu verlassen. War das unsinniges und kindisches Verhalten? Absolut. Das fanden Mary und Marlene auch, die davon abgesehen hatten, ihren Mitschüler heimlich ins Gewächshaus zu locken und als Futter für die Venemosa Tentacula liegen zu lassen, weswegen sie Lily schließlich dazu überredet hatten, das Spiel anzusehen.
„Du verpasst nicht den Start der Quidditch-Saison, nur weil du irgendeinem Typen aus dem Weg gehen willst“, hatte Marlene gesagt, die bereits rote und goldene Streifen auf ihren Wangen gemalt hatte. „Außerdem würdest du dann nicht sehen können, wie ich James besteche, ihn aus Versehen vom Besen zu stoßen.“
Zwar wollte Lily nicht, das Darren auf mysteriöse Weise als Pflanzenfutter endete oder mit einem Schädelbruch im Krankenflügel landete, aber sie musste zugeben, dass es ihr sicherlich helfen würde, wenn sie sehen würde, wie jemand ihn auf dem Spielfeld fertig machte. Sie vertraute den Fähigkeiten ihres Hauses und sie vertraute darauf, dass sie Darren sowieso kaum sehen würde. Selbst wenn er auf dem Spielfeld war, er würde wohl kaum versuchen mitten im Spiel zu ihr zu fliegen.
Wie bereits in den vorherigen Jahren verkündete die Schiedsrichterin, Madam Hooch, dass sie ein faires, schönes Spiel sehen wollte, wobei niemand übersah, dass sie besonders dem Slytherin-Team dabei einen zusätzlichen Blick zuwarf. Sie eröffnete die Quidditch-Saison, in dem sie den Quaffel hoch in die Luft warf und einmal laut ihre Pfeife im Stadion erklingen ließ.
Lily hatte in den letzten Monaten nicht sonderlich viel dazu gelernt, was Quidditch anging. Sie wusste grob, wer welche Rolle einnahm und sie verstand auch, was ihre Aufgaben waren, aber die Spielregeln ergaben für sie noch immer keinen Sinn und sie hatte mittlerweile auch aufgegeben, einen Sinn darin zu finden. Es war eines dieser magischen Dinge, die sie einfach nicht verstehen und akzeptieren musste. Die meiste Zeit über hatte sie sowieso nur Augen für die Treiber, die mit einem kleinen Schläger bewaffnet durch die Lüfte flog und dabei Ähnlichkeit mit schlagfreudigen Hummeln hatten. Jedes Mal, wenn einer der tiefschwarzen Klatscher in ihre Nähe geriet, wurde dieser mit einem kräftigen Schwung auf den nächsten Slytherin geschleudert, der in den meisten Fällen ganz zufällig Darren war, der dann jedes Mal Kontrolle über den Quaffel verlor. Marlene schien die Bestechung ziemlich ernst genommen haben.
Auch wenn es entgegen Lilys Natur war, jubelte sie mit Mary, Marlene und den Jungs mit, wenn James ein Tor Schoss. Sie klatschte laut, wenn er eine Ehrenrunde drehte und sie verdrehte die Augen, wenn er einen Looping mit dem Besen vorführte, aber selbst sein übergroßes Ego konnte ihr die Laune nicht vermiesen. Irgendwie fand sie es sogar ganz witzig, auch wenn sie das niemals laut zugeben würde.
An das letzte Spiel Gryffindor gegen Slytherin erinnerte Lily sich schon gar nicht mehr, aber sie vermutete, dass es ähnlich aufregend gewesen war. Nach über zwei Stunden des Tore schießen, Klatscher prügeln und Looping drehen war es vorbei – die Gryffindor-Sucherin Danielle hatte den Schnatz direkt unter der Nase des Slytherin-Suchers geschnappt und damit das Spiel für die Löwen entschieden. Lily schloss sich dem lauten Jubelgeschrei an, als der Kommentator schließlich den Sieg mit 280 zu 50 für Gryffindor verkündete.
„Den haben wir es aber gezeigt“, rief Sirius mit lauter Stimme, als wäre er selbst dafür verantwortlich, dass sie gewonnen hatten. „Das schreit nach einer Party, finde ich!“
„Ich bin dabei“, schrie Mary, die die Augen noch nicht vom Spielfeld genommen hatte.
Lily folgte ihrem Blick und sah James in einem Knäuel aus Armen und Besenstielen, während er versuchte sich aus einer freudestrahlenden Umarmung mit dem gesamten Team zu reißen, ohne dabei in die Tiefe zu stürzen. Kopfschüttelnd betrachtete sie ihren Mitschüler, der durch den Sieg im Gesicht zu strahlen schien. Sie versuchte wegzugucken.
„Solange es nicht wieder so übertrieben wird wie letztes Jahr“, meinte Remus.
„Also bitte, wann haben wir jemals übertrieben, Lupin?“, konterte Sirius.
„Jedes Mal, wenn du atmest?“
„Autsch, du verletzt mich.“
„Tu ein Pflaster drauf.“
„Vielleicht brauche ich ja direkt Erste Hilfe. Du solltest mich zu Madam Pomfrey bringen.“
„Lieber nicht.“
„Du würdest mich also sterben lassen? An meinem gebrochenen Herzen, Lupin?“, fragte Sirius theatralisch und legte sich eine Hand auf die Brust. Er tat so, als würde er ohnmächtig werden und sackte gegen Remus, der nicht mal versuchte, ihn aufzufangen.
„Ich kann euch beide wirklich nirgends mitnehmen“, murrte Peter neben ihnen.
„Oh Gott, Lily“, Marys Hand umklammerte sich fest um Lilys Arm, „guck doch!“
„Aua, Mann, Mary, was soll denn –“ Lily stockte, als sie Marys ausgestrecktem Finger folgte und eine grün und silbern gekleidete Figur auf einem Besen erkannte, die langsam aber stetig immer näher zu ihrer Tribüne kam. Für einen Augenblick hatte sie die Hoffnung, es würde sich einfach um einen der anderen Spieler handeln, die die Kontrolle über den Besen verloren hatten, aber sie wurde in dem Moment enttäuscht, in dem sie die verwüsteten blonden Haare von Darren erkannte. Lily versuchte den massiven Kloß in ihrem Hals herunterzuschlucken. „Oh Gott“, murmelte sie ebenfalls.
Es gab kein Entkommen für sie; die Tribüne war vollgestopft mit jubelnden, kreischenden und applaudierenden Schülern, den Weg zur Treppe nach unten müsste sie sich freikämpfen und einen Sprung über die Reling würde sie höchstwahrscheinlich nicht überleben. Es war verlockend, sich einfach unter die Tribünensitze zu quetschen, so wie er es bei ihrem ersten Treffen getan hatte, aber Lily hatte keine Lust, stecken zu bleiben oder verirrte Füße ins Gesicht zu bekommen. Es blieb ihr eigentlich nichts anderes übrig, als mit eiskalten Händen darauf zu warten, dass Darren Harper vor ihr in der Luft stehen blieb.
Er war schweißnass und atmete schwer, das Trikot klebte ihm an der Haut und er sah aus, als würde er jeden Moment erschöpft zur Seite fallen. Mit einer Hand hielt er sich an der hölzernen Reling fest, damit er nicht davongleiten würde, mit der anderen hielt er den Besen gerade. Dass er die Blicke der gesamten Tribüne auf sich zog, schien ihn nicht großartig zu stören, auch wenn Lily am liebsten durch den Dielenboden sinken würde.
„Ich wollte mit dir reden“, sagte er zwischen schweren Atemzügen.
„Lily will aber nicht mit dir reden“, erwiderte Mary, die bereits ihren Zauberstab gezogen und auf sein gerötetes Gesicht gedeutet hatte. „Verschwinde einfach, Harper, oder ich halse dir ein paar von diesen Flederwichtflüchen auf.“
Trotz der Drohung erschien ein schmales Lächeln auf seinen Lippen. „Das hätte ich verdient, oder?“
Lily tat alles, um ihm nicht in die Augen sehen zu müssen. „Was möchtest du, Darren?“, fragte sie knapp.
„Mit dir reden.“
„Das tust du gerade“, ertönte Sirius´ schnippische Antwort. „Auch wenn ich nicht weiß, warum du überhaupt noch hier bist. Es ist ja wohl offensichtlich, dass Evans nicht mit dir reden will.“
„Lass gut sein, Sirius“, sagte sie. Mit Mühe schaffte sie es, den Blick zu heben und begegnete mit den beinahe flehenden Augen von Darren. Seine Knöchel an der Reling stachen weiß hervor. „Ich dachte, du hättest alles gesagt, was du sagen wolltest. Es war ja sowieso nicht viel.“
Er zuckte zurück, als hätte sie ihm eine verpasst. „Ich weiß, dass ich mich nicht gerade vorbildlich benommen habe, Lily, aber – “
„Ich glaube nicht, dass hier die Zeit für ein Aber ist“, unterbrach Marlene ihn drohend. „Außerdem solltest du dich beeilen, wenn du lebendig auf dem Boden ankommen willst.“ Ihr Blick zuckte über seine Schulter.
Nur wenige Meter von ihnen entfernt hatte sich das Gryffindor-Team in der Luft versammelt, als würden sie nur darauf warten, dass jemand ihnen ein Signal gab. Lily vermutete, dass James schuld daran war. Sie unterdrückte ein Seufzen, dann wandte sie den Blick wieder zu Darren. „Falls du dich nur rausreden willst, dann solltest du es einfach lassen“, sagte sie. „Dazu habe ich keine Lust.“
Kopfschüttelnd erwiderte er: „Ich wollte mich entschuldigen und dir sagen, dass du Recht hast. Ich meine natürlich hattest du Recht, das war ja klar, aber trotzdem wollte ich es sagen. Du hattest Recht, Lily. Ich war ein ziemlicher Idiot.“
„War“, schnaubte Mary.
„Bin“, sagte er. „Ich bin ein ziemlicher Idiot.“ Das Lächeln kämpfte sich zurück auf seine Lippen. „Ich erwarte nicht, dass du mir verzeihst oder mir eine zweite Chance gibst, denn ich würde vollkommen verstehen, wenn du das nicht willst, aber ich wollte dir das trotzdem sagen und ich hoffe, dass du zumindest sehen kannst, dass ich es ernst meine.“
Ein wohlig-warmes Gefühl breitete sich in ihrer Brust aus und für den Moment hatte Lily das Gefühl, als würde sie ebenso fliegen. Ihre Handinnenflächen wurden klamm und feucht und ihr Herz setzte ein paar Schläge aus, ehe es mit doppelter Geschwindigkeit weitermachte. Sie versuchte zu ignorieren, wie es sie fühlen ließ, dass er seinen Fehler eingesehen hatte, aber sie konnte nicht. Sie konnte nicht so tun, als würde sie ihn nicht mögen, wenn er Gefahr lief, vom gesamten Gryffindor-Haus verhext zu werden und trotzdem den direkten Weg zu ihr gewählt hatte. Lily war sich fast sicher, dass sie, wenn sie in einer dieser romantischen Komödien wären, die sie und Tuni immer mit ihrer Mum geguckt hatten, ihm jetzt lachend um den Hals fallen und ihn küssen sollte, aber dafür war sie nach wie vor nicht bereit.
Sie war aber bereit, ihm zu vergeben und Darren eine zweite Chance zu geben. „Okay“, sagte sie leise. „Beim nächsten Fehltritt hetze ich dir aber Mary auf den Hals, verstanden?“
Das Grinsen auf seinem Gesicht reichte aus, um das gesamte Stadion zu erfüllen. „Absolut. Du wirst es nicht bereuen, Lily.“
Chapter 42: 42. Jahr 3: Ein Grund zum Feiern
Chapter Text
Eigentlich sollte Mary sich darüber freuen, dass Lily sich doch auf Darren Harper eingelassen, ihm eine zweite Chance gegeben hatte und damit kein Auge dafür haben würde, wenn Mary tatsächlich genug Mumm haben würde, James nach Hogsmeade einzuladen. Sie sollte glücklich darüber sein, dass ihre Freundin es so gut getroffen hatte und sie sollte glücklich sein, dass Lily sie nicht in einen trockenen Ball aus Gras verwandeln würde, wenn sie erfahren würde, dass sie sich in James verguckt hatte, aber Mary konnte nicht anders, als einen neidischen Zwist in der Magengegend zu spüren. Natürlich freute sie sich, dass die ganze Sache mit Lily und Darren noch mal gut ausgegangen war und dass er aus seinem Fehler gelernt hatte, aber trotzdem fragte sie sich, wieso nur Lily bisher auf ein Date gefragt wurde und sie nicht.
Mary seufzte laut und ausgiebig. Eigentlich sollte es ihr wirklich egal sein. Irgendwie hatte Lily ja auch recht. Sie waren viel zu jung, um ans Daten zu denken oder sich überhaupt in irgendwelche Jungs zu verlieben. Sich diesem Fakt bewusst zu sein und seinen eigenen Körper daran zu hindern, warm zu werden, wenn man diesen einen Jungen dann in der Großen Halle sah, war aber etwas vollkommen anderes.
Es war ihr fast schon unangenehm, wenn sie darüber nachdachte. Mary wollte eine gute Freundin sein und James Potter aus Prinzip nicht mögen, aber sie konnte diesen haselnussbraunen Augen nicht echt böse sein. Und seinem Lachen konnte sie sowieso nicht widerstehen. Sie war nur froh, dass noch keine ihrer Freundinnen herausgefunden hatte, was für ein schreckliches Geheimnis sie hatte, ansonsten müsste sie sich wahrscheinlich einen neuen Schlafsaal suchen. Zwar war sie sich eigentlich sicher, dass Lily ihr nicht die Freundschaft kündigen und ihr wahrscheinlich auch noch viel Glück wünschen würde, wenn sie erfahren würde, dass sie sich in James verguckt hatte, aber sie wollte es nicht darauf ankommen lassen. Sie hatte sich so sehr daran gewohnt, mit Lily und Marlene in einem Zimmer zu schlafen, dass sie sie sogar in den Ferien sich gegenseitig besuchten, damit sie damit weitermachen konnten. Ob Lily die Ferien jetzt lieber nutzen würde, um ihren Freund zu besuchen?
Mary kniff sich selbst in den Unterarm, um sich von den unsinnigen Gedanken abzulenken. Es war dumm von ihr, jetzt schon davon auszugehen, dass Lily sie vergessen würde, nur weil sie mit einem Jungen ausgegangen war. Lily hatte ihr und Marlene erzählt, dass sie Darren nicht als ihren Freund bezeichnen würde, nur weil sie Spaß zusammen hatten. Sie würde ihn erst dann ihren Freund nennen, wenn es wirklich zu einer Beziehung kommen würde, aber, wie sie nicht müde wurde, zu erwähnen, sie war einfach zu jung für eine Beziehung. Wenn sie weiterhin nicht die einzige aus ihrem Jahrgang sein würde, die mit dem anderen Geschlecht in einer nicht freundschaftlichen Art interagieren würde, dann könnte Mary ihr das sogar irgendwie glauben.
„Versuch es noch mal“, sagte Alana ihr gegenüber, die im Schneidersitz auf dem harten Steinboden saß. Das Licht aus dem Fenster hinter ihr ließ ihre blonden Haare fast weißlich wirken. „Na los, und die Zauberstabbewegung nicht vergessen.“
„Ist ja gut“, murrte Mary. Sie hob ihren Zauberstab an, vollführte eine gradlinige Bewegung nach unten, bevor sie den Stab kreisförmig wieder nach oben zog. Dazu murmelte sie: „Calefactum.“ Statt der wohligen Wärme, die sich eigentlich um sie herum ausbreiten sollte, spürte Mary lediglich den Stein unter sich. Frustriert warf sie den Stab auf ihre Tasche. „Das klappt einfach nicht.“
Alana runzelte die Stirn. „Dabei hast du die Bewegung echt drauf… hast du dich auch konzentriert?“
„Ich bin super konzentriert“, sagte sie. „Denke an nichts anderes außer diesen dämlichen Wärmezauber. Flitwick wird mich durchfallen lassen, ich weiß es.“ Mary lehnte den Rücken an die Mauer und ließ sich ein wenig zusammensacken. Sie wusste nicht, wieso sie den Zauber nicht hinbekam. Es war nicht sonderlich kompliziert, noch war es ein starkes Stück Magie. Es war ein einfacher Wärmezauber, kaum genug, um als fortschrittliche Magie zu gelten.
„Ich glaube kaum, dass er dich für einen Zauber durchfallen lässt, der dieses Jahr noch gar nicht dran ist“, meinte Alana mit schiefem Lächeln.
„Dann eben nächstes Jahr.“
„Komm schon, ich weiß nicht, was du hast. Du hast den Kältezauber doch auch hinbekommen!“ Alana hob ihren eigenen Stab, vollführte die gleiche Stabbewegung, sagte die Zauberformel und sofort umschloss wohlig warme Luft die beiden Mädchen.
Es half nicht, damit Mary sich besser fühlte. „Für dich ist das einfach“, brummte sie. „Du Zauberkunst-Genie.“
„Dafür kannst du klasse zeichnen und schreiben“, erwiderte die Hufflepuff schulterzuckend. „Wir können nicht alle alles können.“
„Ich will auch nicht alles können. Ich will diesen verdammten Wärmezauber können. Mützen ruinieren mir die Haare und ich hasse Handschuhe.“
„Ich habe noch nie jemanden getroffen, der solch starke Gefühle Handschuhen gegenüber hatte.“
Mary schnaubte belustigt, auch wenn die Frustration in ihr brodelte. „Meine Mum sagt immer, dass das daran liegt, dass ich zu früh geboren wurde. Ich hätte Skorpion werden sollen, aber wollte zu früh raus, also bin ich Waage geworden und hab damit meinen kompletten Gefühlshaushalt durcheinandergebracht.“
„Wow“, kommentierte Alana trocken. „Und ich dachte immer, Astronomie wäre langweilig. Wenn Professor Sinistra so unterrichten würde, dann würde ich wahrscheinlich auch mal aufpassen.“
„Ich würde nicht auf das hören, was meine Mum zu dem Thema zu sagen hat. Ihr gesamtes Wissen zu Horoskopen, Sternen und dem ganzen Kram hat sie nur aus Klatschblättern. Wenn ihr eigenes Horoskop mal nicht mit ihr übereinstimmt, dann sagt sie auch immer nur, dass das ja eigentlich nur Unsinn ist, aber wenn es auch nur annährend zu ihr passt, dann will sie mir immer direkt sagen, dass sie es ja immer gewusst hat, dass wir von den Sternen gelenkt werden.“ Mary schüttelte belustigt den Kopf und nahm ihren Stab wieder auf. „Außerdem ist sie auch fest davon überzeugt, dass ich nur deswegen eine Hexe geworden bin, weil sie während ihrer Schwangerschaft einmal zur Wahrsagerin gegangen ist und für eine blendende Zukunft für mich gewünscht hat.“
„Seit wann kann man sich denn bei Wahrsagern was wünschen?“, fragte Alana mit gerunzelter Stirn. „Ich dachte, die gucken in ihre Kristallkugeln und sagen dir nur das, was du eigentlich nicht hören willst.“
Müde zuckte Mary mit den Schultern. „Ganz ehrlich, ich weiß es nicht. Ich würde es aber auch nicht versuchen meiner Mum zu erklären, nachher glaubt sie noch, sie hätte mein Leben verflucht oder so.“
Alana schnaubte, bevor sie ihren Stab ein wenig in der Luft wirbeln ließ. „Also schön, versuch den Wärmezauber noch mal. Konzentrier dich richtig auf das, was du haben willst und denk mit jeder Stabbewegung an irgendwas Warmes. Vielleicht klappt es dann.“
Widerwillig nahm Mary ihren Stab auf. Sie hatte wenig Lust darauf, ein weiteres Mal zu versagen und die gesamten letzten zwei Stunden als Zeitverschwendung abzustempeln. Zur perfekten Konzentration presste sie die Augen zusammen und versuchte sich an ihren Sommerurlaub in Frankreich zurückzuerinnern. Wie warm die Luft gewesen war, wie heiß der Sand unter ihren Zehen, als sie den Strand erkundet hatten. Sie versuchte sich daran zu erinnern, wie es war, als sie mit ihrer gesamten Familie über den flimmernden Asphalt gelaufen war, wie sie nach einem Eisstand gesucht hatten und wie sie mit ihrer Tante darum gewettet hatte, wer den gigantischen Schoko-Creme-Becher als Erster verputzen konnte. Mary malte sich in Gedanken das heiße Wetter nach, dann hob sie ihren Stab, vollführte die Bewegung und murmelte ein weiteres Mal: „Calefactum.“
Ein Schwall an warmer Luft umschloss ihre Arme und Mary riss begeistert die Augen auf. „Ich hab‘s geschafft!“, rief sie aus, ihre Stimme ein Echo im leeren Gang. „Oh mein Gott, endlich.“
„Großartig“, grinste Alana und klappte ihr Zauberkunstlehrbuch zu. „Professor Flitwick wird sicher aus dem Häuschen sein, wenn er das sieht.“
„Er kippt besser vor Freude von seinem Bücherstapel“, sagte Mary, „ansonsten übe ich nie wieder etwas, das wir nicht beherrschen sollen. Ich hätte die letzten Stunden auch wesentlich sinnvoller nutzen können.“
„Zum Beispiel?“
„Die neue Hexenwoche durchblättern“, erwiderte sie achselzuckend und warf ihre Sachen in die Tasche. „Es gibt ein selbstwässerndes Bonsai-Set bei der neusten Ausgabe, das wollte ich mir auch noch angucken.“
„Ich glaub die Hexenwoche ist bisher an mir vorbeigegangen“, meinte Alana nach kurzem Überlegen. „Ist das wie der Prophet?“
„Hm?“ Mary musste sich zusammenreißen, damit ihr nicht die Kinnlade runterfiel. Sie war zwar selbst nicht gerade versiert, was Sachen aus der Zaubererwelt anging, besonders nicht bei denen, die als normal galten, aber selbst sie kannte die Hexenwoche. „Du kennst die echt nicht? Wie das denn?“
Alana zog sich an der Fensterbank hoch, klopfte sich ein wenig Staub vom Rock und zuckte mit den Achseln. „Meine Mum liest nur den Propheten, andere Zeitungen oder Zeitschriften findet sie dämlich. Und die Jungs haben die nicht gelesen, also…“ Sie ließ den Rest ungesagt.
Mary fand sich einmal mehr irritiert von dem anderen Mädchen. Sie hatte sich so ziemlich zusammenreimen können, was genau denn mit ihr los war, aber so richtig sicher war sie sich auch nicht und einfach fragen wollte sie auch nicht. Einerseits wollte sie Alana nicht zu nahetreten, denn so gut kannte sie sie noch nicht und andererseits wäre es extrem seltsam, wenn sie es doch falsch verstanden hatte. Ihr fiel zwar kein anderer Grund ein, wieso jemand einen neuen Namen und Schlafsaal haben würde, aber trotzdem… wie bitte sollte sie Alana fragen, ob sie ihr alles genau erklären könnte, was trans bedeutete, ohne verletzend zu sein?
„Das müssen wir ändern“, sagte sie stattdessen, fasste ihre Tasche um die Schulter und deutete mit dem Kopf in Richtung Treppen. „Wir gehen jetzt sofort in den Gryffindor-Turm und dann kannst du in den Genuss der besten Zeitschrift kommen, die es in der Zaubererwelt gibt. Sie gehört quasi zum Leben jeder anständigen Hexe dazu.“
„Oh, okay.“ Alana folgte ihr den Gang entlang, wenn auch einen halben Schritt langsamer.
Mary realisierte erst, was sie gesagt hatte, als sie auf der Treppe stand. „Oh mein Gott“, sagte sie und drehte sich zu Alana um, die beinahe in sie reingelaufen wäre. Das andere Mädchen blickte ihr erschrocken entgegen. „Nicht, dass du keine anständige Hexe bist! So war das nicht gemeint, ich schwöre! Du bist natürlich eine anständige Hexe! Ich meine, wieso auch nicht? Immerhin bist du – also, eigentlich wollte ich nur sagen, dass –“
Alana hob die Hände an, um Mary zu unterbrechen. „Schon gut, schon gut, ich nehm’s dir nicht übel, Mary. Ich weiß ja selbst, dass ich in Sachen Hexe sein noch einiges Lernen muss.“ Sie schenkte ihr ein Lächeln, auch wenn es ihre Augen nicht ganz erreichte. Das sonst so lockere Glänzen fehlte, fiel Mary auf.
Sie biss sich auf die Lippe. „Hexe zu sein kann man nicht lernen“, sagte sie und ging die Stufe wieder herunter, damit sie direkt neben Alana stehen konnte. Sie lächelte sie strahlend an, in der Hoffnung, dass sie das andere Mädchen damit auf bessere Gedanken brachte. „Man ist einfach eine Hexe. Es gibt ja kein Regelbuch oder einen Kodex oder so und selbst wenn, wer sollte dafür sorgen, dass man es nicht einfach so macht, wie man es für richtig hält? Deine Version einer Hexe ist genauso cool und echt wie meine. Ich glaube nicht, dass du noch irgendwas dazu lernen musst.“
„Meinst du?“, fragte Alana mit leiserer Stimme. „Ich habe nämlich ziemlich oft das Gefühl, als würde ich alles falsch machen.“
„Unsinn“, erwiderte Mary und wedelte dabei mit der Hand. „Das Einzige, was du falsch gemacht hast, waren die Zeichnungen von deinem Bowtruckle. Anatomisch gesehen war das eine reine Katastrophe.“
„Hey!“
Mary lachte und Alana schloss sich dem schnell an. „Also, was sagst du? Bist du bereit, von der Hexenwoche erleuchtet zu werden?“, fragte Mary. „Ich lass dich auch das Quiz machen, das rausfinden soll, welcher Typ Zauberer am besten zu deinem Kleidungsstil passt.“
„Na Merlin sei Dank, was würde ich nur ohne dieses Wissen anstellen?“
„Eben!“
***
Remus hatte sich noch nie so sehr in seinem Leben gewünscht, dass er jemand anderes, wo anders wäre als jetzt. Er saß in der Bibliothek, der Platz links neben ihm frei, rechts neben ihm Severus Snape, aus dessen Augen flüssige Säure zu spritzen schien. Ihnen gegenüber saßen, seelenruhig in ihre Hausarbeit vertieft, Lily Evans, und neben ihr, blass und sichtlich unwohl mit der Situation, Darren Harper, neuerdings Slytherin-Jäger und anscheinend sowas wie Lilys Freund. Wieso Lily so grausam war, Darren und Snape in einen Raum einzuladen und Remus dann noch als Zeuge dazu zupacken, wusste er nicht, aber er vermutete, dass sie es nicht aus Ignoranz getan hatte.
„Hat jemand schon die Lösung für den Zaubertränke-Aufsatz?“, fragte Lily, hob den Kopf und lächelte geduldig. „Ich hab zwei verschiedene Rezepte gefunden und weiß nicht, welches davon richtig ist.“ Sie blickte erst zu Remus, der mit den Schultern zuckte, dann zu Snape, der noch immer mehr als mordlustig dreinsah. Lily runzelte die Stirn. „Alles gut mit dir, Sev? Du bist echt käsig.“
„Bestens“, presste er zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor, auch wenn er den tödlichen Blick nicht von Darren sah, der alles tat, aber nicht aufblicken.
Remus hatte das ungute Gefühl, dass sie lebenslang Bibliotheks-Verbot bekommen würden, wenn Darren den Fehler machen würde, Snape anzusehen. Wahrscheinlich reichte es schon, dass er in seiner Nähe atmete und neben Lily saß, dass Snape sich zurückhalten musste, nicht den gesamten Raum abzufackeln. Es war ein seltsamer Vergleich, das war ihm mehr als bewusst, aber in diesem Fall dachte Remus, dass Snape und James sich sehr ähnlich waren.
„Hast du die Lösung dann schon?“, fragte Lily fröhlich.
„Nein.“
„Oh, okay. Remus, du?“
Kopfschüttelnd betrachtete er die Gryffindor-Drittklässlerin ihm gegenüber. Es war absolut unsinnig zu glauben, Lily würde das alles nicht bemerken, geschweige denn zu denken, sie hätte es absichtlich so arrangiert. So wie Remus sie mittlerweile kannte, versuchte sie wahrscheinlich, ihre zwei Welten einmal mehr kollidieren zu lassen, in dem sie Snape dazu zwang, mit ihren neuen Freunden zu interagieren. Wo er mit Remus noch auf einer höflichen Ich-tue-so-als-würdest-du-nicht-existieren-Basis war, war es sehr weithergeholt, dass Snape mit der bloßen Existenz von Darren einverstanden sein würde, wenn es doch mehr als offensichtlich war, dass Darren Lily mochte. Selbst ohne seinen kleinen Stunt beim ersten Quidditch-Spiel des Jahres hatte es jeder gesehen, sogar James, der noch begriffsstutziger war, wenn es um Gefühle ging als Sirius.
Natürlich hatte James es als den größten Verrat der Welt abgestempelt und eine halbe Stunde im Schlafsaal darüber gewettert, wie unverschämt es doch war, dass Lily sich mit dem Feind einließ, wenn sie doch eineinhalb Freunde im Quidditch-Team hatte (er hatte sich gütigerweise selbst nur als halben Freund gezählt), weswegen er es einfach nicht gutheißen konnte, was sie dort tat. Als Remus ihn darauf hingewiesen hatte, dass Lily sich überhaupt nicht für Quidditch interessierte, hatte James ihm ausdrücklich erklärt, dass es ihm grundsätzlich nur ums Prinzip ging und nicht darüber, mit wem Lily was machte. Es war ihm nämlich total egal, was Lily mit wem machte. Remus war sich in dem Moment sicher gewesen, dass die letzte Person, die herausfinden würde, dass James Gefühle für Lily hatte, James selber sein würde.
„Ich bin noch bei Kräuterkunde bei“, erwiderte Remus murmelnd.
„Ah, Mist. Darr-“ Lily kam nicht dazu, seinen Namen auszusprechen.
„Ich muss mal aufs Klo!“, unterbrach er sie laut, sprang noch während des Redens auf und huschte dann an der Bank vorbei, bis seine raschen Schritte hinter den Regalen verklangen.
„Oh. Dann mach ich einfach weiter. Meint ihr Slughorn weiß, dass hier zwei verschiedene Rezepte drinstehen?“
„Was soll der Mist, Lily?“, fragte Severus mit zischender Stimme. Er hatte sich soweit über den Tisch gebeugt, dass seine dunklen Haare einen Vorhang vor seinem Profil bildeten und Remus die Sicht versperrten. „Wieso ist der Typ hier?“
Lilys fröhliche Miene fiel in sich zusammen. „Ich dachte, du und Remus kommt miteinander klar?“
„Nicht er“, erwiderte Snape. „Harper.“
Langsam lehnte Lily sich in ihrem Stuhl zurück und verschränkte die Arme vor der Brust. „Was soll mit ihm sein?“, fragte sie, ihre Stimme gefährlich leise und eine kaum erkennbare Falte auf ihrer Stirn.
„Du hast mir gesagt, dass du – dass du – du weißt schon!“, zischte er und wedelte dabei heftig mit der Hand. „Was macht er also hier?“
„Darf ich nicht mit anderen Slytherins befreundet sein, Sev?“ Lily zog eine Augenbraue in die Höhe. „Ich dachte nämlich, ich habe mich klar ausgedrückt, als ich gesagt habe –“
„Er will aber nicht nur befreundet sein“, unterbrach Snape sie leise. „Komm schon, Lily, du bist nicht dumm, du weißt, dass Harper was von dir will.“
Remus wünschte sich, er hätte bereits den Zauber gelernt, mit dem man feste Gegenstände in Flüssigkeit verwandeln konnte, von dem Flitwick erzählt hatte, dann könnte er jetzt einfach durch den Boden sinken und dieser Situation entkommen. Er konnte so heftig auf sein Buch starren, wie er wollte, den Namen des magisches Krauts, mit dem man Unterwasser atmen konnte, konnte er trotzdem nicht erkennen.
„Vielleicht bin ich ja dumm“, gab Lily zurück, wobei ihre Stimme etwas kratzbürstiges annahm. „Vielleicht weiß ich einfach nicht, was in meiner Umgebung passiert.“
Es war sicher nicht das erste Mal, dass sie und Snape über Darren sprachen, soviel stand fest. Snape gab ein paar Geräusche von sich, die nach Schnappatmung und Seufzen klangen, dann sagte er: „Stell jetzt nicht mich als den Bösewicht hin, okay, ich habe dir von Anfang an gesagt, dass du Harper nicht trauen kannst!“
„Und warum sollte ich dir glauben?“
„Weil ich dein bester Freund bin! Ich bin mit dir befreundet, weil mir etwas an dir liegt, er ist es, weil er –“
„Weil er was?“ Lilys Stimme war so eisig geworden, dass Remus die Temperatur fallen spürte.
Unruhig rutschte er auf seinem Sitz herum. Wenn er lange genug nichts sagte, würden die beiden vielleicht vergessen, dass er auch da war.
Als hätte Remus in dem Moment ein glänzendes Schild auf sich gerichtet, riss Lily den Kopf zu ihm. „Was sagst du dazu, Remus?“
„Muss ich etwas sagen?“, fragte er leise.
„Musst du“, spuckte Lily ihm entgegen. „Mit Severus kann man ja nicht wie ein normaler Mensch reden, also –“
„Ach, jetzt bin ich wieder das Problem!“, erwiderte Snape laut, sodass nur einen Augenblick später ein hallendes Schnalzen der Bibliothekarin Madam Pince durch die Regale hallte. Snape lehnte sich zurück, sodass Remus einen Blick auf sein gerötetes Gesicht werfen konnte, ehe er mit leiser Stimme anfügte: „Ich weiß einfach nicht, warum du nie auf mich hörst!“
„Vielleicht weil du nicht darüber bestimmen kannst, mit wem ich befreundet bin und mit wem nicht?“
„Ich will nur helfen, damit du keinen dummen Fehler machst, Lily! Du weißt einfach nicht, wie Jungs sein können!“
Lily verschränkte die Arme so fest vor der Brust, dass es aussah, als würde sie sich selbst umarmen. „Wenn es ein dummer Fehler ist, andere Freunde zu haben, dann weiß ich nicht, warum ich überhaupt noch mit dir befreundet bin, Sev. Anscheinend ist neuerdings alles, was ich tue, dumm und unsinnig und du weißt es sowieso besser.“
„Dreh mir die Worte nicht im Mund herum“, zischte Severus. Er schüttelte den Kopf, sodass seine schwarzen Haare hin und her wackelten. „Du weißt nicht, wie Harper wirklich ist. Ich hätte auch nie gedacht, dass du jemand sein würdest, der sich vom Aussehen beeindrucken lässt…“
„Du bewegst dich auf dünnem Eis, Sev“, erwiderte Lily mit eisiger Stimme. „Selbst wenn ich mich komplett darauf verlassen würde, dass Darren nett wäre, weil er hübsch ist, würde es dir nicht das Recht geben, mir Vorschriften zu machen. Ich habe mich von allein dazu entschieden, dass ich gerne Zeit mit ihm verbringen möchte und wenn dir das nicht passt, dann kannst du deine Sachen packen und verschwinden. Ich werde nicht weiter mit dir darüber diskutieren.“ Lily entwirrte ihre Arme und griff so grob nach ihrer Feder, dass sie die Endspitze zwischen den Fingern zerdrückte. Sie wartete ein paar Momente, in denen Snape nicht den Anschein machte, als würde er noch etwas sagen oder wirklich abhauen, dann drehte sie den Blick zu Remus. In ihren Augen lag noch unterdrückte Wut, als sie ihn fragte: „Hast du noch etwas hinzuzufügen?“
Remus hatte inständig gehofft, dass Lily einfach vergessen würde, dass er existierte, aber dem schien nicht zu sein. „Selbst wenn ich Darren nicht mögen würde“, fing er vorsichtig an, während er seinen Blick auf Lilys viel zu ruhige Hand mit der Feder gerichtet hatte, „dann würde ich die Klappe halten. Außerdem scheint er bisher nett zu sein.“
Lily schnalzte mit der Zunge, blickte für einen Augenblick zu Snape, wie um ihm zu sagen: „Siehst du? So eine Antwort habe ich erwartet“, ehe sie sich wieder ihrer Hausarbeit zuwandte, als wäre nichts passierte. Abseits dessen, dass Lily etwas fester mit ihrer Feder übers Pergament kratzte, wirkte es so, als wäre rein gar nichts vorgefallen, als Darren einige Minuten später hinter einem Bücherregal wieder auftauchte und sich zurück auf seinen Platz setzte.
Zuvor hatte Remus gedacht, Darren würde nervös aussehen, aber das schien ebenso verflogen zu sein. Er fragte sich, ob Darren alles mitangehört hatte und zufrieden mit Lilys Antworten war oder ob er sich einfach nur selbst im Spiegel gut zugeredet hatte. Beide Optionen schienen in Remus´ Augen valide zu sein. Wäre es James, dann wüsste er direkt, was er getan hätte, aber so sehr er eine recht irritierende Ähnlichkeit von Darren und James nicht verneinen konnte, musste er sich doch eingestehen, dass er den Jungen aus Slytherin einfach nicht einschätzen konnte. Er hatte auch die gesamte Beziehung zwischen ihm und Lily nicht, hatte nur am Rande mitbekommen, dass sie sich gut verstanden hatten, dann, dass Lily ihm aus dem Weg gegangen war und dann hatte Darren sich in der Öffentlichkeit beim Quidditch-Spiel bei ihr entschuldigt. Was auch immer vorgefallen war, es musste nicht so drastisch gewesen sein, wenn Lily ihm so schnell verziehen hatte. Aus eigener Erfahrung her wusste er, dass Lily nicht immer sofort und ohne Konsequenzen verzieh. Den Plappertrank würde er wahrscheinlich so schnell auch nicht mehr vergessen.
Darren ließ sich nichts anmerken, als er ebenfalls wieder zu seiner Feder griff. Mit überraschend leichter Stimme sagte er: „Die Zaubertrank-Aufgabe hab ich schon fertig, falls du dir meine mal durchlesen willst, Lily.“
„Danke!“ Rasch griff sie nach seinem dargebotenen Aufsatz und ignorierte dabei das mehr als offensichtliche Schnauben, das von Snape kam. Dass ihre und Darrens Finger sich ebenfalls für den Bruchteil einer Sekunde streiften, gab keiner von ihnen zu erkennen.
In Remus´ Fall wäre das nichts gewesen, dass man hätte anerkennen müssen, aber er wusste ganz genau, dass Snape irgendwie Recht hatte, wenn er sagte, dass Darren sehr an Lily interessiert war. Und ein unschuldiges Fingerstreifen wurde weniger unschuldig, wenn zumindest eine Partei den körperlichen Kontakt mit mehr Eifer aufnahm, als es normal wäre.
„Remus, richtig?“, fragte Darren über den Tisch hinweg und lächelte ihn an. Wenn er hämisch oder bösartig war, dann konnte er es verdammt gut verstecken. „Kannst du mir zufällig beim Kräuterkunde-Aufsatz behilflich sein? Ich fürchte, was Pflanzen angeht, bin ich eine komplette Niete.“
Ob Darren bei seinem Namen wirklich Schwierigkeiten hatte oder ob es ein Versuch der raschen Ablenkung war, konnte Remus nicht sagen. Allgemein konnte er den Slytherin nicht wirklich deuten, sei es in der Körpersprache noch in der Art, wie er redete. An sich wirkte er nett, er wirkte er jeder andere Schüler an Hogwarts, aber Remus konnte nicht anders, als ihn verdächtig zu finden. Er hatte zwei Jahre Zeit gehabt, sich mit Lily anzufreunden, es aber nicht getan – wieso also hatte er sie erst jetzt angesprochen?
„Du kannst dir meinen durchlesen“, antwortete Remus zögernd, ehe er Darren sein Pergament über den Tisch schob.
Lily strahlte ihn an.
Den Rest der Stunde verbrachten die vier Schüler in recht einstimmiger Stille, immer nur mal wieder unterbrochen vom Rascheln der Buchseiten oder Eintunken der Feder ins Tintenfass. Nach einiger Zeit war es kaum noch erkennbar, dass Remus nicht wusste, wer Darren war und was er für Pläne hatte; sie arbeiteten still nebeneinanderher, als wären sie seit Jahren schon nicht mehr, nicht weniger als Mitschüler gewesen. Es gab für Remus keinen Grund, ihn irgendwie zu verdächtigen und trotzdem konnte er auf dem Weg in den Gryffindor-Gemeinschaftsraum nicht anders, als Lily an der Ecke zum sechsten Stock anzuhalten.
„Ich muss mit dir reden“, sagte er knapp angebunden.
„Oh, ich auch!“, erwiderte sie. „Weißt du noch, als Madam Pomfrey mir vor ein paar Wochen gesagt hat, sie würde mir ein wenig Heilmagie und Tränke zeigen und erklären? Sie hat mir vor zwei Tagen eine Eule geschickt, dass ich ihr am Sonntag mit dem Herstellen von neuen Heiltränken behilflich sein kann, wenn ich noch Interesse habe!“ Lily grinste über beide Ohren, als sie erzählte.
Remus fühlte sich irgendwie schlecht, weil er nicht gedacht hatte, dass sie es so ernst mit ihrer Idee gemeint hatte. Er setzte ein Lächeln für sie auf. „Das ist großartig, Lily. Madam Pomfrey weiß echt ´ne ganze Menge, ich bin sicher, sie kann dir viel beibringen.“
„Das hoffe ich“, sagte Lily und seufzte. „Ansonsten wüsste ich echt nicht, was mich noch interessieren könnte, weißt du?“ Sie gab sich wieder in Bewegung und fragte: „Worüber wolltest du reden?“
Sein Herz verkrampfte sich, als Remus ihr folgte. Mit einer Hand umfasste er den Griff seiner Tasche so fest, dass der Stoff sich in seine Haut schnitt und die andere presste er so fest an seine Seite, dass er seinen Hüftknochen spüren konnte. Remus war sich nicht sicher, wie er es ansprechen sollte, aber er würde keine bessere Chance bekommen als diese. Er holte tief Luft. „Darren Harper“, entgegnete er, seine eigene Stimme wie die eines Fremden in seinen Ohren. „Ich – ich weiß einfach nicht, wie ich ihn einschätzen soll und ich will nicht, dass du verletzt wirst, Lily, denn du bist meine Freundin und ich sorge mich um dich.“
Sie waren kaum ein paar Schritte in den Gang gelaufen, als Lily anhielt. „Oh.“ Sie schlang ihre Finger ebenso etwas fester um ihre Tasche. „Verstehe.“
„Ich habe nichts gegen ihn“, fügte Remus rasch an. „Und ich will dir nicht vorschreiben, mit wem du dich treffen kannst oder nicht, aber… ich kann nicht anders, als es etwas merkwürdig zu finden.“
„Merkwürdig, weil ein Junge Interesse an mir zeigt?“, fragte Lily hohl.
„Nein!“
„Schon gut, Remus, ich weiß selbst, dass ich nicht… keine Ahnung. Ich schätze, du hast irgendwie Recht. Es ist merkwürdig, nicht wahr?“ Sie drehte sich zu ihm um und Remus konnte einen trüben Blick in ihren Augen erkennen. „Ich hab ihn nur ganz zufällig getroffen und plötzlich scheint er alles daran zu setzen, Zeit mit mir zu verbringen. Es war seine Idee, beim Lernen dazuzukommen, weißt du, nicht meine.“
„Oh.“ Remus fühlte sich wie ins Gesicht geschlagen. „Das erklärt auch, warum er so nervös war.“
Lily lächelte milde. „Ja, ich hab ihm gesagt, dass das wahrscheinlich keine gute Idee ist und dass er sich bei Sev nicht beliebt machen wird, aber er wollte unbedingt Zeit mit mir verbringen, also… tut mir leid, dass ich dich da mit reingezogen hab, Remus. Ich hatte gehofft, Sev würde sich beherrschen, wenn du auch noch da bist.“
Remus knirschte mit den Zähnen. „Ich schätze, das hat nicht geklappt.“
„Nicht unbedingt. Wobei er erstaunlich zivil war, oder? Jedenfalls für Sevs Verhältnis.“
„Er hat ihn immerhin nicht in eine Buchstütze verwandelt“, erwiderte Remus trocken und Lily lachte.
„Ganz ehrlich, ich kann dir auch nicht sagen, was Darrens Plan ist. Er… ich meine, wir sind zusammen nach Hogsmeade gegangen und es war eigentlich echt gut, aber seitdem hat er nicht einen Hinweis darauf gegeben, dass er es wiederholen will oder überhaupt noch mehr will. Ständig fragt er mich nur, ob wir zusammen zur Klasse laufen oder ob wir uns in der Bibliothek treffen. Ich“, Lily stockte, seufzte erneut und begab sich langsam in Bewegung. „Ich weiß auch nicht, ich schätze, ich hab gedacht, es wird alles ein wenig aufregender laufen.“
Das half ihm zwar nicht, um zu verstehen, was genau Darren vorhatte, aber es gab ihm zumindest genügend Verständnis, damit Remus erleichtert die angespannten Schultern senken lassen konnte. „Wenn du mich fragst“, sagte er langsam, seine Schritte an Lilys angepasst, „dann weiß er genauso wenig was er tut wie du und hofft einfach darauf, dass es irgendwie richtig ist.“
Lily blickte überrascht zu ihm, ehe sie leise lachte. „Meinst du echt? Wobei es schon irgendwie Sinn ergibt, wenn ich ehrlich bin. In Hogsmeade hatte er seinen Plan und alles lief gut, bis sein Plan unterbrochen wurde und dann ist alles seltsam geworden. Dann hat er diese idiotische Show beim Quidditch abgezogen, die er bestimmt auch geplant hat und jetzt… weiß er wohl wieder nicht, was er tun soll. Mein Gott, sind Jungs eigentlich alle gleich?“
„Ich will uns nicht alle verdammen“, meinte Remus lachend, „aber ja, irgendwie schon.“
Lily vergrub das Gesicht in einer Hand und seufzte ausgiebig. „Gott, ist das alles anstrengend. Es wäre so viel einfacher, wenn es einfach einen Kurs darüber geben würde, was man tun muss, wenn man auf ein Date geht, oder?“ Sie hob den Blick wieder. „Ich hätte einfach auf mein Bauchgefühl hören und ihm sagen sollen, dass ich viel zu jung dafür bin, dann hätte ich diese Probleme jetzt gar nicht.“
„Ich weiß nicht, ob das geholfen hätte. Einige Jungs sind echt schwer von Begriff“, fügte er mit Gedanken an James hinzu.
„Wem sagst du das“, murrte Lily, als sie die Treppe in den siebten Stock erklommen. „Wenn das nächste Mal irgendein Junge was von mir will, dann höre ich auf Marlene.“
„Wieso, was hat sie gesagt?“
Lily drehte sich grinsend zu ihm. „Ich soll ihm einfach zwischen die Beine treten.“
***
Sirius Black hatte eines der schlimmsten Wochenende seines Leben hinter sich und es half nicht, dass Peter seine schmutzigen Socken auf seine Seite des Schlafsaals geworfen hatte. Mit einem Schwung seines Zauberstabes verwandelte er Peters Socken in Kakerlaken und sah zu, wie sie in den Ritzen unter der Tür verschwanden, bevor er sich stöhnend auf sein Bett fallen ließ und das Gesicht in einem der Kissen vergrub. Wenn es nach ihm ging, dann würde er für die nächsten zweiundsiebzig Stunden mit niemanden reden, niemanden ansehen und niemanden in seiner Nähe auch nur existieren lassen, aber für den Moment würde ihm sogar ein wenig wohlverdiente Ruhe genügen. Sirius hatte ein gesamtes Wochenende lang mit seiner Familie und den schrecklichen Heiligen Achtundzwanzig auf engstem Raum existieren müssen, hatte so tun müssen, als wäre er der perfekte kleine Sohn, den seine Mutter die ganze Zeit haben wollte, er hatte sogar lächeln müssen, als die grauenhafte Perelope Avery einen noch grauenhafteren Witz über einen Muggel und einen Hauselfen erzählt hatte.
Er hatte es zwar durchgestanden, nichts anzustellen und sich soweit zu benehmen, dass niemand etwas gegen ihn hätte sagen können, aber er wusste trotzdem, dass es nicht genug gewesen war. Nicht einmal hatte er das Gesicht verzogen, hatte über jeden Witz gelacht, jede Bemerkung über sich ertragen, jeden Stich und jeden Hieb gegen Gryffindor und Hogwarts und Dumbledore und die Potters und andere reinblütige Familien ertragen, die in den Augen der Achtundzwanzig nicht gut genug waren, er hatte es alles ertragen und trotzdem hatte seine Mutter nicht gesagt, dass sie stolz auf ihn war.
Nicht, dass er es hören wollte. Es würde ihm nichts bringen, genauso wenig wie es ihm etwas gebracht hatte, dass sein Vater irgendwie stolz auf ihn gewesen war. Es hatte nichts weiter getan, als den heftigen Knoten in seinem Inneren ein wenig zu lockern und ihn für den Moment ein wenig Wärme in einer Familie spüren lassen, die sonst nur Kälte verbreiten konnte. Nicht das erste Mal in seinem Leben fragte er sich, ob seine Mutter ihn als Baby überhaupt gehalten hatte, oder ob er schon immer nur in sein Zimmer gesperrt wurde, wenn er die Ruhe gestört hatte. Hatte seine Mutter dafür gesorgt, dass er gefüttert war, oder war das Kreachers Aufgabe gewesen?
Das einzig Gute, das er aus diesem schrecklichen Wochenende voll viel zu enger Festumhänge, kleinen Krabbenhäppchen und überteuertem Feenwein holen können, war das Versprechen seiner Mutter, dass er Weihnachten auf Hogwarts verbringen durfte. Noch immer konnte er sein Glück nicht richtig fassen. Nicht nur, dass Narzissa ihr Wort gehalten und seine Mutter dazu überredet hatte, seine Mutter hatte auch noch zugestimmt und ihm seine flapsige Ausrede geglaubt, dass er sich an den Hausarbeitsüberschuss gewöhnen musste, den zwei Extra-Fächer mit sich brachten. Das hätte nicht weiter von der Wahrheit entfernt sein können, fand er. Die Extra-Arbeiten, die Muggelkunde und Pflege Magischer Geschöpfe mit sich brachten, waren kaum der Rede wert, zumal er sich immer mit James für Pflege zusammensetzen konnte und bei Muggelkunde darauf vertrauen konnte, dass Lily ihm aushalf. Wahrscheinlich hätte er wie Remus noch ein drittes Fach wählen können und wäre trotzdem nicht überfordert gewesen.
Die Tür zum Schlafsaal wurde aufgestoßen, knallte lautstark gegen die Wand und dröhnte unangenehm in Sirius´ Ohren nach. Normalerweise freute er sich immer über den Anblick von James Potter, aber in diesem Moment wollte er einen Kitzelfluch nach ihm werfen und sich tiefer in seiner Matratze verstecken.
„Da bist du ja endlich!“, sagte James, der offensichtlich vom Quidditch-Training kam. Seine Haare klebten feucht an seiner Stirn und er trug seinen Besen unter einem Arm, das Bündel mit seiner Quidditch-Kleidung unter dem anderen. Hinter ihm betrat Monty ebenfalls den Schlafsaal, der James um gut einen halben Kopf überragte und fast so groß war, dass er gegen den Türrahmen laufen konnte. „Hab schon gedacht, ich müsste dich retten kommen“, grinste James, warf seine Schuhe in die Ecke und riss dann eins der Fenster weit auf.
„Urgh, sei doch leise“, murrte Sirius, dem der Kopf brummte und schmerzte. Wahrscheinlich hätte er doch nicht so viel von dem Feenwein trinken sollen, wenn niemand hingesehen hatte. „Dich hören ja alle auf dem Gelände.“
„Ich rede ganz normal, Kumpel“, erwiderte James. „Was los mit dir? Zu viele Hors D'oeuvres gefuttert, oder was?“
Sirius warf blindlings ein Kissen nach ihm, dem Geräusch nach zu urteilen, landete es allerdings nur auf dem Boden.
„Da kann man ja fast froh sein, dass du doch nicht fürs Team vorgespielt hast“, sagte James lachend.
„Halt die Klappe, Potter.“
„Nö!“
„Ich schwöre, ich hex dir die Beine zusammen, wenn du nicht –“
„Dafür müsstest du erstmal den Kopf anheben und ich glaub, das wird dieses Jahr sowieso nichts mehr.“ Die Federn in Sirius´ Matratze knarzten, als James sich darauf niederließ und mit dem Finger Sirius´ Bein anstupste. „Komm schon, erzähl mal. Wie langweilig war dieses Treffen?“
„Lässt du mich danach in Ruhe?“, fragte Sirius in sein Kissen, der einfach nur schlafen wollte.
„Vielleicht.“
„Falls du Potter heute Nacht umbringen willst, dann geb ich dir ein Alibi“, meinte Monty. „Irgendjemand muss ja mal dafür sorgen, dass er die Klappe hält.“
„Hey!“, beschwerte sich James und Sirius lachte in sein Kissen.
„Danke, Monty, du bist ein echter Kumpel.“ Angestrengt und mit schmerzenden Schläfen hob Sirius den Kopf an.
Montana hatte seine Quidditch-Kleidung ebenfalls auf einen Haufen geworfen, sich aber in der Zwischenzeit bereits ein Polierset aus seinem Schrank geschnappt und sich die neuste Ausgabe von Quidditch Heute unter die Achsel geklemmt. Wenn Sirius nicht wissen würde, dass er mit ihnen eingeschult wurde, könnte er glauben, er hätte sich im Schlafsaal geirrt. „Ich verstehe deinen Schmerz“, sagte er. „Beim Training weiß er auch nie, wann er ruhig sein soll.“
„Ich fühle mich hier nicht gerade wertgeschätzt“, entgegnete James schmollend. Eins seiner Beine war über Sirius geworfen, sodass dieser nicht einmal aufstehen könnte, selbst wenn er wollte. „Wenn das so weiter geht, muss ich vielleicht über einen Hauswechsel nachdenken.“
Monty lachte lediglich und verabschiedete sich mit seinem Besen und dem Quidditch-Magazin in den Gemeinschaftsraum, womit er James und Sirius allein zurückließ. Kaum war die Tür hinter ihm zugefallen, rollte Sirius sich auf den Rücken, wobei er James erfolgreich von sich stoßen konnte. James verschränkte die Arme hinter dem Kopf und ließ sich aufs zweite Kissen neben Sirius sinken. Für ein paar Minuten lang starrten sie gemeinsam an die Decke von Sirius´ Himmelbett, bis das scharlachrot sich in ihre Augen gebrannt hatte, dann fragte James: „Also, erzähl schon, Black. Hat man dich gut behandelt?“
„Wie ein Zootier“, erwiderte Sirius.
„Hä? Ein was? Was soll das bitte sein?“
Augenrollend wedelte er mit der Hand. „Unwichtig. Ein Muggel-Ding. Man hat mich verholen von allen Seiten angestarrt und ich wette mit dir, das jeder einzelne in diesem verdammten Raum alles über mich wusste. Mum hat sich natürlich nichts anmerken lassen, aber dann wiederum hat sie sowieso kaum mit mir geredet. Sie war zu beschäftigt mit irgendwelchen wichtigen Leuten zu flüstern und Tonnen an Geld zu tauschen. Wahrscheinlich irgendwelche Geschäfte, die sie vor Dad geheim halten will.“
James verzog das Gesicht. „Sorry, Kumpel.“ Er drückte einen seiner Ellbogen kurz gegen Sirius´ Schläfe. „Aber hey, dafür bist du jetzt wieder hier. Was ist mit Weihnachten? Steht das noch?“
„Ich darf hierbleiben“, sagte Sirius, dessen Herz dabei einen kleinen Freudensprung vollführte. „Mum war zwar nicht gerade begeistert, aber sie hat sich drauf eingelassen und es mir erlaubt.“
„Und dein Bruder?“
„Was soll mit dem sein?“, erwiderte Sirius bitter. „Reg hat die letzten zwei Tage nicht mal in meine Richtung geguckt. Kann mir auch egal sein, was er tut. Wahrscheinlich freut er sich insgeheim schon drauf, Weihnachten allein zu sein, dann kann er sich so fühlen, als wäre er der einzige Sohn.“
James schnaubte langsam. „Du solltest zu mir kommen“, sagte er. „Zu Weihnachten. Mum und Dad hätten nichts dagegen.“
„Ich würde gern“, meinte Sirius, der sich nichts besseres vorstellen konnte, als die Weihnachtsferien bei James und seiner Familie zu verbringen. Im Gegensatz zu seinen eigenen Eltern, freuten sich die Potters immer, wenn Sirius bei ihnen war. Unruhig wackelte er ein wenig auf dem Bett herum. „Aber ich glaub, Mum würde ausflippen.“
„Du musst es ihr nicht sagen. Komm einfach mit und dann –“
„Sie würde es rausfinden, glaub mir“, unterbrach er seinen besten Freund. „Ich werd nicht der einzige sein, der im Schloss bleibt und irgendjemand wird bestimmt für sie spionieren. Würde mich nicht wundern, wenn´s Narzissa ist.“
Erneut verzog James das Gesicht zur Grimasse. „Meinst du echt? Ich dachte, sie hätte deine Mum davon überzeugt, dass du Weihnachten hierbleiben kannst.“
„Schon“, gab er zurück, „aber sicher nicht, weil ich ihr so am Herzen lege.“
Die Jungs verfielen in Schweigen, aber so war es Sirius lieber. Er schloss die Augen und versuchte den dröhnenden Schmerz aus seinem Kopf zu verbannen, während der langsame, beständige Atem von James neben ihm wie ein beruhigender Trank wirkte. Er war warm und ruhig, die Personifikation von Zuhause, wenn Sirius ehrlich war. Er war erst wirklich dann Zuhause, wenn er bei James war, so kitschig es sich auch anhören mochte. Selbst er musste ein wenig das Gesicht verziehen, als er daran dachte, aber das machte es nicht weniger wahr. James war die einzige Person in seinem Leben, die ihn immer mit Wärme und Freundschaft empfangen hatte. Peter und Remus waren auch da und er würde sich ein Leben ohne sie nicht vorstellen können, aber sie waren nicht James. Niemand war wie James.
Sirius war wirklich froh, dass er James Potters Freund sein durfte.
Seine sentimentalen Gedanken wurden einige Minuten später durch die Schlafsaaltür ein weiteres Mal unterbrochen. Er öffnete die Augen und wurde vom Licht geblendet, während James neben ihm brummte.
„Geht raus“, murmelte er. „´S war so gemütlich.“
„Ihr seid wirklich süß“, ertönte die trockene Stimme von Remus, der einen Moment später hinter einem der zugezogenen Vorhänge auftauchte. Er ließ sich mit schmerzerfüllter Miene auf sein Bett nieder, bevor er zwei Pergamentrollen aus seiner Tasche zog und sie Sirius und James an den Kopf warf. „Die hat Slughorn mir mitgegeben“, fügte er erklärend hinzu. „Keine Ahnung, was das ist, ich durfte sie nicht öffnen.“
Sirius löste das samtene Band, entrollte das Pergament und stöhnte, als er die Einladung sah.
Sehr geehrter Mister Sirius Orion Black,
hiermit lade ich Sie dazu ein, meinem persönlichen Treffen beizuwohnen.
Am 3. November 1973 plane ich ein Zusammenkommen meiner blendendsten Schüler,
intelligentesten Studenten und hellsten Sterne am Magierhimmel.
Ich würde mich für einen wahrhaft glücklichen Mann halten, wenn Sie es schaffen können, diesem Treffen beizuwohnen.
Förmliche Kleidung ist erwünscht, für Speis und Trank ist gedient. Treffpunkt ist im zweiten Stock, 19 Uhr, vor dem Portrait von Wyndoline der Herrscherin.
Senden Sie mir Ihre Zusage über einen der üblichen Wege.
Mit freundlichen Grüßen!
Horace Slughorn.
„Merlin, ich glaub´s nicht“, murmelte Sirius, nachdem er sich die Einladung zweimal durchgelesen hatte. „Und das auch noch an meinem Geburtstag.“
James hatte seine Rolle ebenfalls angesehen. „Wo ist deine Einladung, Remus?“
„Hab keine“, antwortete dieser achselzuckend. „Nur ihr, glaub ich. Oh, und Lily.“
„Evans hat eine bekommen?“, fragte James, der sich prompt etwas aufrechter hinsetzte.
Sirius verdrehte die Augen. „War doch klar. Sie ist ja auch Sluggys Liebling. Aber wieso hast du keine, Lupin? Du bist immerhin fast Klassenbester überall.“
Remus zuckte erneut mit den Achseln, bevor er das Gesicht ein weiteres Mal schmerzerfüllt verzog. „Reicht ihm wohl nicht ganz.“
„Was hast du?“
„Gar nichts. Nackenschmerzen. Glaube, meine Muskeln sind alle eingegangen, weil ich die ganze Zeit nur nach unten gestarrt hab.“
Sirius zog eine Augenbraue nach oben. „Wieso das?“
Seufzend erzählte er ihnen von seiner miserablen Zeit in der Bibliothek mit Lily, Snape und Darren Harper, bevor er sich rücklings auf sein Bett fallen ließ. „Es war grauenvoll, echt. Nicht nur Snape, sondern auch die ganze Stimmung. Und dann, als ich gerade dachte, ich hätte alles hinter mir, hat Slughorn uns fast am Portraitloch eingeholt und eine halbe Stunde mit Lily geredet, während ich nur danebenstehen konnte. Ich glaube, er wusste nicht mal mehr, wer ich war, als er mir eure Einladungen gegeben hat.“
James schnaubte, bevor er sein Pergament zu Boden fallen ließ. „Wir gehen natürlich nicht hin“, sagte er. „Entweder wir alle gehen oder keiner, so sind die Rumtreiber-Regeln.“
„Seit wann haben wir bitte Regeln?“, fragte Sirius.
James machte eine wegwerfende Handbewegung. „Stell nicht alles in Frage, Kumpel, oder willst du etwa zu Sluggys komischem Club gehen?“
„Bloß nicht! Das ist sowieso nur da, damit er sich besser fühlen kann, weil er aus irgendeiner langweiligen Familie kommt, die keiner kennt. Ihr wisst ja, dass er sich immer nur bei den Schülern einschleimt, die entweder aus wichtigen Familien kommen oder total talentiert sind.“
„Deswegen hat Snape auch keine Einladung bekommen“, erwiderte Remus trocken.
Sirius und James lachten zustimmend, bevor sie das Thema abhakten und den Slug Club vergaßen.
***
Der Slug Club wollte sie allerdings nicht vergessen. In den darauffolgenden Tagen wurde der Zaubertränke-Professor nicht müde davon, James und Sirius daran zu erinnern, dass sie ihm noch keine Antwort auf seine Einladung gegeben hatten. Jedes Mal wurden seine Versprechen, wieso der Abend so unvergesslich sein würde, ausschweifender und unsinniger. Dass er eine Bande von Skeletten gebucht hatte, die die Drinks servieren würden, war gerade noch glaubhaft, aber als es dann hieß, dass er einige seiner alten Kollegen gebeten hatte, die Quidditch-Nationalmannschaft einzuladen, damit sie ein kleines Vorspiel geben konnten, wurde es selbst für Slughorns Verhältnisse unglaubwürdig. Zwar wäre das ein Grund für James gewesen, dem Treffen doch beizuwohnen, doch wie Remus schnell herausgefunden hatte, war die Quidditch-Nationalmannschaft mitten in einer geheimen Trainingssession irgendwo in den Bergen, so zumindest der Tagesprophet.
Wenn es nach James und Sirius ging, dann konnte nichts mehr die Jungs davon überzeugen, dem Clubtreffen beizuwohnen.
„Es ist wahrscheinlich sowieso nur ein vollgestopfter Raum mit Essen und Getränken, die es auch in der Großen Halle geben würde“, sagte James an einem späten Oktoberabend. „Ich meine, wie sonst will er dafür sorgen, dass seine Gäste nicht sofort wieder abhauen?“
„Ich hab gehört, dass er eine Band gebucht hat“, meinte Peter aufgeregt klingend. „Vielleicht könnten wir ja zumindest kurz reinhören und –“
„Du hast aber keine Einladung, Pettigrew“, erwiderte Sirius mit scharfer Stimme, wofür James ihm einen warnenden Blick zuwarf. Mit etwas sanfterer Stimme fügte er an: „Außerdem gibt es keine Band auf der Welt, für der ich zu seinem Club gehen würde.“
„Nicht mal David Bowie?“, fragte Remus leise und grinste, als Sirius die Lippen zusammenpresste. „Wusst ich´s doch.“
„Das sind unfaire Mittel, die du verwendest, Lupin.“
„Redet ihr von Slughorns Party?“, klinkte Marlene sich ins Gespräch mit ein, die zuvor noch auf einem Sessel am Feuer gesessen hatte. Sie quetschte sich neben Sirius und Peter auf die Couch. „Ihr beiden und Lily seid die einzigen Drittklässler, die er eingeladen habt.“
„Noch ein Grund mehr nicht zu gehen“, sagte James auf dem Boden. „Auf den Partys von meinen Eltern muss ich schon immer mit zu vielen Erwachsenen abhängen, das kann ich hier nicht auch gebrauchen.“
„Lily wird gehen“, meinte Marlene lächelnd. „Und zwar mit Begleitung.“
Das ließ James aufhorchen. Er ließ sein Besenpflegeset sinken und runzelte die Stirn. „Was soll das heißen?“, fragte er in einer ihm möglichst neutralen Stimme. Es interessierte ihn zwar schon, was Lily machte, aber nicht in der Art, wie es wirkte. Eigentlich konnte er sie gar nicht leiden, aber sie war nun mal seine Klassenkameradin und irgendwie war sie auch ganz hübsch. Wenn man sie denn lang genug anstarrte. Was er noch nie getan hatte. „Auf der Einladung stand davon aber nichts.“
„Nein“, gab Marlene gewinnend zu, die so aussah, als hätte sie gerade den Hauspokal gewonnen. „Sie hat Sluggy gefragt, ob sie nicht jemanden mitbringen kann, damit sie nicht so allein ist den ganzen Abend und er hat es ihr erlaubt. Wahrscheinlich hätte sie auch fragen können, ob sie den Riesenkraken mitnehmen kann und er hätte es ihr erlaubt“, fügte sie augenrollend hinzu. „Sluggy kann Lily einfach nichts ausschlagen.“
„Bisschen unheimlich“, kommentierte Sirius, der einen amüsierten Blick mit Remus tauschte.
„Wen nimmt sie denn mit?“, fragte James. Als er bemerkte, dass er sich beinahe instinktiv vorgelehnt hatte, tat er schnell so, als würde er einen Fussel von seiner Hose ziehen und lehnte sich schnell wieder zurück. Sein Blick klebte sich auf seinen Besenstiel, die glatt polierte, hölzerne Oberfläche wie eine anziehende Kraft, der er nicht entkommen konnte. Er wusste genau, was seine Freunde denken würden, wenn er zu viel Interesse zeigte. „Wahrscheinlich Snape, oder? Das würde dem schleimigen Idioten bestimmt gefallen“, fügte er murmelnd hinzu.
„Es ist nicht Snape“, sagte Marlene grinsend. „Sie hat Snape nicht mal gefragt. Nicht mal in Erwähnung gezogen, wirklich. Ihre Worte.“
Die Antwort war so offensichtlich, dass James sie schon auf der Zunge schmecken konnte, aber er weigerte sich, länger darüber nachzudenken, als es notwendig war. Es interessierte ihn nicht und es sollte ihn auch nicht interessieren. Wer würde sich schon dafür interessieren, was Lily machte? Er konnte sie ja nicht mal wirklich leiden, auch wenn er ihre Nähe ziemlich genoss und sich jedes Mal irgendwie darauf freute, wenn sie in ein Argument verfielen. Er schüttelte rasch den Kopf.
„Sie geht echt mit Darren Harper?“, sagte Peter laut, sodass sich ein paar Leute irritiert zu ihnen umdrehten. Mit pinken Wangen senkte er die Stimme und fragte an Marlene gewandt: „Sie geht echt mit Harper? Immer noch?“
Marlene zuckte mit den Schultern. „Ich weiß auch nicht, warum. Ich meine klar, er ist ganz nett anzusehen, aber sonst scheint er mir doch sehr einfach zu sein. Dann wiederrum sagt Lily, ich würde ihn nicht richtig kennen, also muss er ja irgendwas haben… wobei sie das über Snape auch sagt.“
„Evans hat einfach keinen Geschmack“, meinte Sirius kopfschüttelnd, als wäre damit alles gesagt. „Wir gehen aber sowieso nicht hin, also –“
„Wir sollten hingehen“, unterbrach James seinen besten Freund mit rascher Stimme. Marlene und die anderen starrten ihn an, Sirius mit offenem Mund und Remus mit wissendem Lächeln. Schnell fügte er an: „Um Chaos zu stiften, natürlich. Wir können Remus und Peter einschleusen und dann die Party krachen. Wozu haben wir sonst Zonkos leergekauft?“
„Sicher, dass das der einzige Grund, wieso du auf einmal gehen willst?“, fragte Remus lächelnd.
„Klar. Sicher. Ich meine, was für einen Grund sollte ich haben? Es gibt keinen anderen Grund, meine ich. Was soll das schon sein? Ich lebe nur für Chaos und Terror, mehr nicht.“ James spürte, wie seine Handinnenflächen schwitzig wurden und klammerte sich fest an seinen Besten. „Es gibt überhaupt keinen anderen Grund.“
Der einzig andere Grund wäre es, Darren Harper öffentlich zu blamieren, aber das konnte James nicht aussprechen. Das würde noch Kontroversen auslösen, die er nicht bereit war, zu durchleben.
Chapter 43: 43. Jahr 3: Der Slug-Club
Chapter Text
„Wer auch immer sich diese Festumhänge ausgedacht hat, gehört im Schwarzen See ertränkt.“
„Okay, wow“, erwiderte James, der sich neben Sirius im Spiegel betrachtete. „Wenn du schon bei der Anprobe so reagierst, ist es vielleicht doch nicht so schlau, wenn wir wirklich hingehen.“
Sirius zog mit einem Finger am Kragen und zog ein angewidertes Gesicht. „Das wäre mir auch wesentlich lieber, ich will da gar nicht hin.“
„Du musst mal ein bisschen Engagement zeigen“, erwiderte James. „Wir gehen im Namen von Chaos hin, nicht weil wir Sluggy so gern haben. Ich dachte, du wärst immer für sowas zu haben?“
Im Spiegel war zu sehen, wie Sirius seinen Kragen losließ und mit den Augen rollte. Sie beide trugen schwarze, schlichte Umhänge, die an den Hüften etwas enger geschneidert waren, als bei Umhängen üblich. Zu Festumhängen gehörten noch weiße Hemden, die sie darunter trugen und eine weite Faltenhose. James fühlte sich in den Klamotten zwar mehr als unwohl, aber er hatte sie bereits oft genug auf den Feiern seiner Eltern getragen, dass er wusste, wie er sich selbst anziehen musste, um es erträglicher zu machen. Die Hosen konnten sie ganz einfach durch Trainingsshorts ersetzen und auch das Hemd musste nicht unbedingt eines der widerlich teuren Sorte sein, die einfach nur an der Haut kratzten. Sicher würden sie irgendwo ein Shirt finden, das passen würde. Der Festumhang an sich war zwar unangenehm zu tragen, aber der beste Teil des ganzen Outfits, da man in den weiten Ärmeln Dungbomben und Zischende Frisbees verstecken konnte.
James drehte sich einmal um die eigene Achse, dann sagte er: „Das müsste gehen, oder?“
„Klar“, brummte Sirius zustimmend. „Siehst gut aus. Zum Anbeißen fast schon.“
„Sag noch mehr solcher Dinge und vielleicht muss ich dich als meine Begleitung nehmen“, entgegnete James und zwinkerte ihm zu.
„Das wird Evans sicher eifersüchtig machen.“
James überging Sirius´ Kommentar. Seit er angekündigt hatte, dass sie Slughorns Einladung zu seinem Club annehmen sollten, damit sie seine Feier zerstören konnte, hatte Sirius nicht mehr damit aufgehört, ständig Bemerkungen über Lily in seiner Nähe fallen zu lassen. Es hatte damit angefangen, dass Sirius sehr offensichtlich erkannt hatte, dass James nur deswegen zur Party wollte, weil er Darren blamieren wollte, aber damit hatte es lange nicht aufgehört. Mittlerweile war Sirius dazu übergegangen zu sagen, dass James Lily eifersüchtig machen wollen würde. Was absoluter Unsinn war. Nichts dergleichen hatte er geplant. Es wäre nämlich dämlich von ihm, Lily eifersüchtig zu machen, wenn er sie doch überhaupt nicht in irgendeiner Form mögen würde.
Egal, wie oft er das Sirius und den anderen versucht hatte zu erklären, keiner wollte ihm glauben.
„Kann ich euch sonst noch bei etwas helfen, meine Lieben?“ Eine blondierte Hexe kam aus dem Nebenzimmer zurück und hielt die beiden Hemden in den Händen, die James und Sirius sich ausgesucht hatten. Sie sah die beiden im Spiegel an, dann schnalzte sie zufrieden mit der Zunge. „Der Schnitt steht euch wirklich ausgezeichnet, Jungs!“
James schenkte der Hexe ein Lächeln. „Vielen Dank, das wäre schon alles.“
„Kein Problem, kein Problem! Kommt, ich packe euch das ein, ja?“ Die Hexe eilte mit den Hemden davon, ihre blondierten Haare wippten dabei wie eine einzige Masse auf ihrem Kopf auf und ab.
Sirius schnaubte, bevor er sich den Umhang über den Kopf zog und nur noch in Unterwäsche da stand. Während er in seine Hose schlüpfte, sagte er: „Vielleicht solltest du sie als Begleitung nehmen. Ich glaub, sie steht auf dich.“
„Widerlich, Black. Sie ist mindestens zwanzig Jahre älter als ich. Außerdem bin ich minderjährig.“ James zerrte sich den Umhang ebenfalls vom Körper und betrachtete sich selbst im Spiegel. Er drückte die Schultern durch und versuchte den Rücken gerade zu halten. Wenn er die Augen ein wenig zusammenkniff, dann erkannte er immer mehr seinen Vater in seinen eigenen Zügen. Wahrscheinlich würde er bald wie sein alter Herr aussehen. Ob ihm ein Bart wohl stehen würde?
„Das stört in meiner Familie auch niemanden“, erwiderte Sirius achselzuckend und warf sich seine Jacke über. „Da wird man auch schon mit fünfzehn an den nächstbesten Verwandten verheiratet. Hey!“, rief er aus, bevor er James sein T-Shirt an den Kopf warf. „Hör auf dich selbst anzuschmachten, wir haben noch zu tun.“
James verdrehte die Augen, riss aber den Blick von sich selbst, bevor er sich anzog. Im vorderen Teil des Ladens überreichten sie der blondierten Hexe ihre Festumhänge, die diese ebenfalls mit in ihre Taschen steckte, sie bezahlten ihren Einkauf und verließen das Kleidungsgeschäft in Richtung Hauptstraße. Hogsmeade lag verschlafen vor ihnen. Nur wenige der Bewohner waren auf den kargen Straßen, die von heruntergefallenen Blättern und Pfützen gespickt waren, unterwegs, während goldenes Licht aus den Schaufenstern auf die Umgebung fiel.
Professor McGonagall hatte ihnen eine Sondererlaubnis erteilt, Hogsmeade zu besuchen, damit sie sich für Slughorns Party einkleiden konnten, nachdem der Zaubertrankmeister selbst ein gutes Wort bei ihr eingelegt hatte. Er war so glücklich darüber gewesen, dass James und Sirius zugesagt hatten, seiner Feier beizuwohnen, dass er ihnen sogar angeboten hatte, sie nach Hogsmeade zu begleiten. Mit der Bedingung, dass sie nicht mehr als zwei Stunden wegbleiben durften, hatte McGonagall ihnen schließlich erlaubt, das Dorf zu besuchen, auch wenn sie die beiden mit zusammengezogenen Augenbrauen gewarnt hatte, keine Dummheiten anzustellen.
Gut erzogenen Jungs würde sowas selbstverständlich nie in den Sinn gekommen.
James warf einen Blick auf seine Uhr. Sie hatten weniger als eine Stunde, bis ihre Hauslehrerin sie am Schlosseingang mit ihrem Einkauf erwartete. „Na los, komm schon“, sagte er leise und zerrte Sirius in Richtung Hauptplatz. Trüb hing der Himmel über ihnen, wie ein endlos graues Gemälde in einem der vielen Gänge Hogwarts´. Es war kaum genug los, damit alle Passanten ein Klassenzimmer hätten füllen können. Nicht die ideale Voraussetzung, die James sich erhofft hatte, aber es würde auch gehen. Solange sie nicht allzu auffallend waren, würde wohl keiner der Bewohner einen zweiten Blick in ihre Richtung werfen. Lässig schlendernd überquerten sie den Hauptplatz, passierten dabei die Statue des Dorfgründers, dessen Namen James schon wieder vergessen hatte, und betraten dann Zonkos, als würden sie den Laden zum ersten Mal sehen.
Statt des üblichen Trubels lag der Laden schon beinahe ausgestorben vor ihnen. Ein paar Jungs, die kaum älter als neun sein konnten, kicherten verhalten über das neue Stimmverzerrungspulver, während ein gelangweilt aussehender Typ am Tresen hockte und mit seinem Zauberstab kleine Luftblasen dirigierte. Er würdigte ihnen nicht einmal eines Blickes, als sie eintraten.
„Perfekt“, murmelte Sirius. „Dann mal los.“ Geschickt manövrierten die beiden Gryffindors sich durch den Laden, beluden ihre Arme mit Dungbomben, Knallfröschen und zeitverzögerten Rauchzaubern, ehe sie die Masse an neuen Chaos-Utensilien auf dem Tresen fallen ließen.
Der gelangweilte Typ verdrehte kaum merklich die Augen, bevor er die Waren durchzählte. „Darf´s noch ´ne Tüte sein?“
„Liebend gern“, sagte James, der bereits ein paar Münzen herausgekramt hatte.
„Wenn´s denn nicht zu viele Umstände macht“, fügte Sirius grinsend an.
Mit ihren neuen Scherzartikeln beladen, verließen sie Zonkos, wo Sirius James direkt in Richtung Honigtopf schob. Ihnen blieben kaum dreißig Minuten, um zurück zum Schloss zu kommen. „Der Umhang“, zischte Sirius. „Zieh ihn über.“ In einer Seitengasse gab Sirius darauf acht, dass niemand in der Nähe sie sehen konnte, dann zerrte James den Unsichtbarkeitsumhang aus seiner Tasche und warf ihn sich über. Die beiden tauschten Tüten, sodass Sirius ihre Festumhänge und James die Scherzartikel trug, dann machten sie sich daran, den Honigtopf zu betreten.
„Ich werd versuchen den Ladenbesitzer abzulenken“, murmelte Sirius, „aber du wirst wahrscheinlich kaum fünf Minuten haben.“
„Reicht“, sagte James. „Zwei würden mir genügen.“
„Übertreib nicht.“ Sirius drückte die Tür zum Honigtopf auf und sie wurden direkt von warmer Luft und dem Duft nach Schokolade erschlagen. „Merlin“, murrte er. „Beeil dich bloß, oder ich kann für nichts garantieren.“ Mit hungrigen Augen ging Sirius schnurstracks auf die Schokofrösche zu.
James schüttelte den Kopf, ehe er sich mit leisen Schritten um die Regale schlich und schließlich die Tür erreichte, die in den Keller führte. Sie war verschlossen, wie er erwartet hatte und von der Theke aus mehr als gut zu sehen. Er wartete darauf, dass Sirius die Ablenkung einleiten würde, während er sich selbst zusammenreißen musste, sich nicht einfach ein paar verlockend süß aussehende Weingummimäuse einzustecken, die leise vor sich hin quiekten.
„Oh, Verzeihung, könnten Sie mir wohl behilflich sein?“, ertönte einige Momente später Sirius´ Stimme im Laden.
Ein in die Jahre gekommener Zauberer sah von seiner Ausgabe des Tagespropheten auf, die er auf dem Tresen ausgebreitet hatte. Sein massiver Schnurbart wackelte mit jedem Schritt auf und ab, den er tiefer in den Laden tat, bis er hinter einer Ecke verschwand. James konnte seine tiefe Stimme hören, als er fragte: „Was macht ein Schüler heute hier?“
James verschwendete keinen Moment. Er zückte den Stab, murmelte: „Alohomora“, und schlüpfte dann durch die Kellertür, die sich lautlos öffnete. Mit vorsichtigen Schritten huschte er die Treppe herunter, bis er im dämmrig beleuchteten Kellerraum ankam, der voll mit Boxen, Kisten und Fässern gestellt war. Es dauerte nicht lang, bis er die Steinplatte entdeckte, die mit dem Geheimgang nach Hogwarts verbunden war; mittlerweile hatten sie den Gang so oft benutzt, dass er ihn im Schlaf beherrschte. Mithilfe des Schwebezaubers brachte er die Steinplatte dazu, sich aus ihrer Vertiefung zu erheben, bevor er die Falltür nach unten mit einem Fuß auftrat. James lagerte ihren Scherzartikelvorrat in einer schattigen Ecke des geheimen Gangs und hoffte, dass die Tüten nicht umfallen und ihren Inhalt die steinernen Stufen hinab verteilen würden. Darauf bedacht, keine Geräusche zu verursachen, ließ er die Steinplatte zurück an ihren Platz schweben, dann eilte er die Stufen zurück in den Verkaufsraum.
Gerade, als er die Tür schloss, hörte er Sirius sagen: „- und wissen Sie, mein kleiner Bruder ist wirklich schwer erkrankt – Drachenpocken hat er, der Ärmste – und deswegen wollte ich ihm eine besondere Schokofroschkarte zur Aufmunterung schenken.“
James schlich um die Regale, bis er bei Sirius und dem alten Zauberer ankam, der den Schüler mit einer verdrossenen Miene anstarrte. „Drachenpocken?“
„Oh, ja, Sir, es ist schrecklich. Am ganzen Körper ist er grün und voll mit diesen juckenden Pusteln. Er muss in Quarantäne bleiben, ich habe ihn seit zwei Jahren nicht mehr gesehen!“ Sirius gab wirklich sein Bestes, einen falschen Trauerblick und hängengelassenen Schultern, mit allem drum und dran. Wenn James ihn und Regulus nicht kennen würde, dann würde er ihm die Geschichte vielleicht sogar abkaufen.
„Ich kann aber nicht in die Karten reingucken, Junge“, brummte der Zauberer, der tatsächlich so dreinblickte, als würde Sirius ihm leidtun.
James ging auf Zehnspitzen um ihn herum, tippte Sirius vorsichtig gegen den Unterarm und wartete mit angehaltenem Atem, als dieser laut die Luft einsog.
„Das verstehe ich, Sir“, sagte er schnell, womit er es so aussehen ließe, als hätte er schwer geseufzt. „Trotzdem vielen Dank für Ihre Mühe. Sie sind ein Heiliger, wirklicher.“ Bevor der Zauberer noch etwas hätte sagen können, wandte Sirius sich um und eilte mit James im Schlepptau auf den Ausgang zu. Noch bevor er die Tür erreicht hatte, lachte er bereits unterdrückt.
Kaum im Freien, zog James Sirius zurück in die Gasse, wo er sich den Umhang vom Kopf riss und fragte: „Drachenpocken? Was anderes ist dir nicht eingefallen?“
Sirius grinste. „Tragische Schicksale sind doch immer gut, oder nicht? Wäre doch langweilig, wenn ich erzählen würde, ich würde nicht an die Eismäuse rankommen.“
Kopfschüttelnd wandte James sich um. „Wir sollten zurück, bevor dir noch irgendwelche schwerkranken Familienmitglieder einfallen, die du ausnutzen kannst.“
„Ein paar Onkel und Tanten hab ich sicher noch.“
Am Schlosstor erwartete sie Professor McGonagall bereits mit stoischer Miene und streng zusammengebundenen Haaren. Sie hatte die Arme so fest verschränkt, dass es so aussah, als würde sie sich versuchen selbst zu verknoten. Als Sirius und James vor ihr stehen blieben, löste sie eine Hand aus ihrer Verschränkung und streckte sie nach den Tüten aus. „An Ihrer Pünktlichkeit werden wir noch arbeiten, meine Herren“, sagte sie. „Sie haben Ihr Limit um zehn Minuten überschritten.“
„Tut uns leid, Professor“, sagte James mit engelsgleicher Miene. „Es wird nicht wieder vorkommen.“
„Das hoffe ich für Sie.“ Professor McGonagall inspizierte mit spitzen Fingern die Festumhänge, die die beiden gekauft hatten, bevor sie zurück in ihre Tüten legte und ihnen reichte. „Das sieht gut aus. Gehen Sie rein .“
„Sehr wohl, Professor“, meinte Sirius. „Vielleicht werden wir Sie ja auch auf Professor Slughorns Party sehen?“
McGonagall verzog die Lippen, als hätte sie in eine Zitrone gebissen. „Wohl eher nicht, Mr. Black. Mir liegt eine solche Veranstaltung nicht sonderlich.“
„Wie schade“, erwiderte Sirius grinsend, als sie an ihr vorbeigingen. „Ich hätte gerne mit Ihnen getanzt, Professor.“
Wenn James sich nicht irrte, dann hatte ein Lächeln für den Bruchteil einer Sekunde an McGonagalls Lippen gezuckt, als sie den Kopf geschüttelt hatte. Er und Sirius brachten ihre neuen Festumhänge in den Schlafsaal, der, wie sie es vermutet hatten, leer war. „Sie müssten eigentlich gleich hier sein“, sagte er.
„Wenn Filch sie nicht erwischt hat“, meinte Sirius, der sich auf sein Bett geworfen hatte.
James warf ein Kissen nach ihm.
Zwanzig Minuten später traten Peter und Remus mit den Einkaufstüten aus Zonkos in den Armen in den Schlafsaal. „Das ganze Ding ist umgefallen“, meckerte Remus, kaum dass die Tür zugefallen war. „Eine der Dungbomben ist hochgegangen und hätte fast den Geheimgang verraten, wenn Peter nicht diesen Windzauber benutzt hätte.“
Peter, dessen Gesicht ein schmaler Kratzer oberhalb seiner Braue zierte, zuckte mit den Schultern. „Ich konnte ja schlecht unseren Weg zum Honigtopf aufgeben. Ein Mann braucht seine Kesselkuchen.“
„Wie auch immer“, sagte Remus, ehe er die Tüten auf James´ Bett warf. „Es war ´ne Menge Arbeit, die ganzen Sachen wieder einzusammeln, also hoffe ich für euch, dass euer Plan auch funktioniert.“
„Hat irgendeiner unserer Pläne jemals nicht funktioniert?“, fragte Sirius lachend.
Die Stille war Antwort genug.
***
Nur eine Sache war sicherer, als dass die Rumtreiber sich eine Gelegenheit nicht entgehen lassen würden, um Chaos zu stiften und diese kam in Form eines kleinen Umschlags, der am Morgen des dritten Novembers auf Sirius´ Frühstücksteller fiel. Die Eule, die den Brief gebracht hatte, hatte sich so schnell wieder verzogen, dass er nur noch einen dunklen Federschleier ausmachen konnte, der ihm verriet, dass es sich um eine Eule seiner Mutter handeln musste. Wenn nicht der Vogel, dann hätte die Schrift sie letztlich verraten.
Sirius schnaubte. „Den sollte ich gleich verbrennen. So ich wie meine Mutter kenne, ist da Gift drin oder so.“
„Obwohl du dich diesen Sommer so benommen hast?“, fragte James mit zusammengezogenen Augenbrauen.
„Wahrscheinlich eher genau deswegen.“ Mit zwei Fingern hob Sirius den kleinen Umschlag an, wog die Möglichkeit hin und her, bis er sich schließlich dafür entschied, den Brief zu öffnen. Sicherlich wäre nicht einmal seine Mutter so kaltherzig und würde ihren eigenen Sohn an seinem Geburtstag direkt vor den Augen der gesamten Schülerschaft vergiften. Zumindest hoffte er das.
„Und? Was steht drin?“, fragte Peter neugierig, der versuchte sich über den Tisch beugen und dabei fast die Karaffe mit Honigwasser umgestoßen hätte.
„Nichts besonders“, sagte Sirius erleichtert. Er senkte die Stimme und las die wenigen Zeilen seiner Mutter vor. „Sirius. Wie bereits mit dir abgesprochen ist, darfst du die Weihnachtsferien dieses Jahr in Hogwarts verbringen. Zwar sind wir nach wie vor nicht sehr glücklich über diese Entscheidung, aber dein Vater hat mir versichert, dass du deine schulische Bildung so ernst wie noch nie nehmen würdest, deswegen werde ich es nicht verhindern. Falls du vorhaben solltest, deinem Bruder oder einem deiner anderen Familienmitglieder eine Nachricht zukommen zu lassen, dann schick sie nicht an unsere Adresse. Über die Feiertage werden wir im Ausland sein und an einer Feier einer bekannten Familie teilnehmen. Falls du uns etwas schicken willst, dann tu es vor oder nach den Feiertagen. Ich hoffe, du nutzt deine Zeit angemessen. Gezeichnet…“ Sirius verdrehte die Augen und blickte auf. „Tolle Geburtstagswünsche, oder?“
James verzog die Miene und klopfte ihm auf die Schulter. „Wenigstens haben alle wichtigen Leute an dich gedacht.“
Laut aussprechen würde Sirius es nie im Leben, aber es tat trotzdem weh, dass seine eigene Mutter nicht einmal an seinen Geburtstag gedacht hatte. Er war sich ziemlich sicher, dass sie genau wusste, welcher Tag heute war und sie wusste auch, dass er jetzt vierzehn Jahre alt war, aber sie tat lieber so, als hätte sie andere Dinge zu tun. Wahrscheinlich war es nur eine neue Erziehungstaktik, die sie unbedingt testen musste. Wenn sie so tat, als wäre Sirius nicht einmal wichtig genug, damit er ein Jahr älter werden würde, dann würde er bestimmt von allein ein perfekter kleiner Engel werden, der ihr jeden Wunsch erfüllte. Das, oder sie hatte es wirklich vergessen und Sirius wusste nicht, was schlimmer war.
Wie auf ein unsichtbares Kommando tauchte Lily mit Marlene und Mary im Schlepptau an ihrem Teil des Tisches auf. „Alles Gute, Sirius“, sagte sie und streckte ihm die Hand mit einer, wie es aussah, selbstgebackenen Tüte Kekse hin. „Ich kann nicht versprechen, dass sie essbar sind, aber ich habe mein Bestes gegeben.“
Wärme und Dankbarkeit breitete sich wie eine weiche Decke um ihn herum aus und Sirius konnte sein Grinsen nicht verhindern. „Danke, Lily“, erwiderte er, bevor er das Geschenk annahm. Er war sich nicht einmal sicher, ob er wusste, wann Lily Geburtstag hatte, nahm sich aber vor, ihr auch etwas zu schenken. Immerhin, so seltsam es auch war, waren sie fast sowas wie Freunde. Fragte sich nur, wie lange noch, wenn sie herausfinden würde, wer an diesem Abend für das ausbrechende Chaos in Slughorns Club verantwortlich sein würde.
Marlene quetschte sich ohne viel Federlesen neben ihn und Remus, während Lily und Mary neben Peter Platz nahmen. „Also, wie sieht´s aus, gibt’s heute wieder eine Sirius Black patentierte Party oder was?“
„Normalerweise würde ich direkt zusagen“, meinte Sirius, ehe er Marlenes Hand wegschlug, die sich von seinem Toast bedienen wollte, „aber wir haben heute Abend schon Pläne.“
Ungläubig starrte Mary ihn an, bevor sie zu James blickte. „Der spinnt, oder? Du hast irgendjemand anderen als Sirius verkleidet und hierhin gesetzt, denn das kann unmöglich der richtige Sirius Black sein.“
James lachte lauthals auf. „Es stimmt aber. Wir“, fügte er an und legte Sirius einen Arm um die Schulter, „gehen heute Abend auf eine exklusive Party vom guten alten Sluggy.“
Lily verschluckte sich an ihrem Kürbissaft, sodass Marlene ihr auf den Rücken klopfen musste. „Bitte was tut ihr?“, fragte sie fast schon entsetzt klingend.
„Du hast ihn verstanden“, meinte Sirius lachend, der es überaus genoss, wenn Lily komplett rot im Gesicht wurde und mal wieder so tat, als würde sie James nicht ausstehen können. Es war fast schon niedlich, wie sehr sie darauf beteuerte, James zu hassen, wenn sie sich doch immer wieder freiwillig in seine Nähe begab. „Slughorn hat mich und Potter in seinen Club eingeladen. Dich auch, oder?“
Mit knallroten Wangen verzog Lily die Lippen. „Hat er“, presste sie hervor. „Wer hat euch –“, sie stockte und ihr Blick glitt zu Remus, der mit Unschuldsmiene sein Toast zwischen den Fingern zerriss. Lily sah aus, als wäre sie bereit, einen Mord zu begehen und jeden Zeugen mit sich zu nehmen. „Soviel zum Thema, du hast deinen Freunden nichts erzählt.“
„Ich hab nur gesagt, dass du auch eine Einladung bekommen hast“, erwiderte er achselzuckend. „Du wolltest nur nicht, dass ich ihnen nicht sage, dass du hingehst.“
Sirius war ein wenig schockiert, mit was für einer Leichtigkeit Remus Lily ins Gesicht log – war das ein Talent, dass er kürzlich gelernt hatte, oder konnte er einfach nur dann nicht lügen, wenn es um wirklich wichtige Dinge gab? Sirius konnte sich sehr gut daran erinnern, dass Remus es nicht einmal fertiggebracht hatte, ihnen das erste Jahr über glaubwürdige Ausreden aufzutischen, aber plötzlich konnte er ohne mit der Wimper zu zucken lügen? Das war etwas, das Sirius unbedingt im Auge behalten musste.
„Ich wüsste auch nicht, wieso das ein Geheimnis sein sollte“, meinte James mit etwas zu schneller Stimme. „Es ist ja nicht so, als würden wir nur wegen dir hingehen oder so. So wichtig bist du nun auch wieder nicht, Evans.“
Über den Tisch hin fing Sirius Peters Blick auf und sie mussten sich zusammenreißen, nicht laut zu prusten. Wenn Remus gelernt hatte, wie man log, dann hatte James es noch nie gekannt. Sirius stieß James mit dem Ellbogen in die Seite, sodass dieser japsend zusammenzuckte. Ungläubig schüttelte er den Kopf. „Hör nicht auf ihn, Lily“, sagte er. „In seinem Kopf schwingt mal wieder nur Trollrotze hin und her.“
„Also alles wie immer“, gab Marlene zurück, die es endlich geschafft hatte, sich einen gebutterten Toast von Sirius´ Teller zu klauen. Als er sie dabei erwischte und anstarrte, leckte sie die gebutterte Seite quer an. „Was ist?“, fragte sie mit klimpernden Wimpern.
„Du hast Glück, dass ich meinen Stab in der Tasche hab“, gab er zurück, ehe er sich ein neues Toast nahm.
Marlene grinste. „Du würdest mich nicht verfluchen, dafür hast du mich viel zu gern, Black.“
„Fraglich.“
„Autsch.“
„Warum bitte wollt ihr zu Slughorns Party?“, fragte Mary, die zwischen Sirius und James hin und herblickte. Mit einer Hand wischte sie sich durch die dicken Locken, bis sie eine zu fassen bekam und wickelte sie immer wieder um ihren Finger. Sie biss sich auf die Lippe. „Ich hab gehört, er lädt nur Leute ein, die entweder einen bekannten Namen haben, oder in irgendwas total talentiert sind.“
Lily verschränkte die Arme vor der Brust. „Wir wissen alle, dass er euch nicht wegen irgendeines Talents eingeladen hat.“
„Immer so feurig, Evans“, kommentierte James. „Da muss man ja Angst haben, sich nicht zu verbrennen.“
Für einen Moment sah Lily so aus, als würde ihr eine schnippische Bemerkung auf der Zunge liegen, aber dann schüttelte sie nur den Kopf. „Was auch immer.“ Sie lockerte die Arme und stand auf. An Mary gewandt sagte sie: „Ich geh schon mal nach oben.“
„Gut, ich hol Em und bring sie dann hoch.“
„Danke.“ Lächelnd verabschiedete Lily sich von den anderen Anwesenden, wobei sie James allerdings keines weiteren Blickes würdigte. Mit wippenden Haaren marschierte sie in Richtung Ausgang.
„Sie weiß wirklich wie man einen Abgang abzieht“, murmelte James, der Lily hinterhergestarrt hatte.
Es war für Sirius ein Rätsel, wie James mit zu den Klassenbesten gehören konnte, aber selbst noch nicht realisiert hatte, dass er Lily mochte. Für jeden war es überaus deutlich zu sehen, dass diese Beziehung, die zwischen James und Lily herrschte, nicht nur auf Akzeptanz und Toleranz fungierte. Was auch immer es war, es war nicht normal und es war lange nicht nur freundschaftlich.
„Wen nehmt ihr denn mit?“, fragte Marlene, die bereits auf Sirius´ zweites Toast geierte.
Er schob seinen Teller zur Seite. „Niemanden.“
„Was? Wieso das denn?“, erwiderte Mary überrascht.
„Wozu sollten wir?“
„Naja, es ist doch ein schickes Essen, oder? Lily nimmt ja auch – au! Hey!“
„Was denn?“, fragte Marlene unschuldig klingend.
„Du hast mir gegens Schienbein getreten“, entgegnete Mary, die eine Hand unter den Tisch schob. „Das tat richtig weh.“
„Ich weiß nicht, wovon du redest.“
„Schon gut“, meinte Remus. „Ich hab ihnen schon gesagt, dass Lily Darren Harper mitnimmt.“ Der schnellen Bewegung nach zu urteilen, die Remus vollführte, wich er dem nächsten Tritt von Marlene gekonnt aus.
„Warum machst du sowas?“, beschwerte diese sich. „Bist du noch bei allen Sinnen?“
Remus zuckte mit den Schultern. „Ich wüsste nicht, warum ich es nicht erzählen soll. Spätestens in ein paar Stunden hätte es sowieso jeder gesehen.“
Marlene schüttelte den Kopf, ehe sie wieder zu Sirius blickte. „Ihr könnt nicht ohne Begleitung auftauchen“, sagte sie. „Schon gar nicht, wenn man bedenkt, aus was für Familien ihr kommt. Zählt es da nicht zum guten Ton, dass man überall eine Begleitung hinnimmt?“
„Wenn ich es nicht besser wüsste, dann würde ich fast glauben, du willst, dass wir euch einladen, McKinnon“, erwiderte Sirius.
Zu seiner Überraschung zeichnete sich ein schmaler, pinker Streifen auf ihrem Gesicht ab und mit gerecktem Kinn antwortete sie: „Vielleicht will ich das ja.“
„Marls!“, sagte Mary zischend.
James schnalzte anerkennend mit der Zunge. „Direkt wie immer, McKinnon. Ich wusste nicht, dass solche Partys was für dich sind.“
„Du weißt vieles nicht über mich, Potter“, erwiderte sie. Marlene erhob sich ebenfalls von der Bank und griff über den Tisch nach Marys Arm, damit sie sie mit sich ziehen konnte. „Dann werden wir uns fertig machen gehen, ja? Ihr holt uns ja sicher ab.“ Sie ließ den Jungs keine Chance mehr etwas zu sagen, sondern lief mit federnden Schritten Richtung Ravenclaw-Tisch, wo Sirius sehen konnte, wie sie und Mary sich zu Dorcas, Emmeline und Benjy setzten.
Kaum da angekommen, streckten sie die Köpfe zusammen.
„Mädchen“, murrte er. „Die ergeben doch alle keinen Sinn.“
„Wem sagst du das“, entgegnete James, der wie vom Blitz getroffen aussah.
„Ihr seid solche Idioten“, seufzte Remus.
***
Niemand hätte Mary auf die Hirnschmelze vorbereiten können, die sie ereilen würde, kaum hätte sie ihre erste Einladung auf eine Party erhalten. Auch wenn sie schon auf einigen Partys gewesen war, es war etwas anderes, wenn man einfach nur ging, weil man hingehen wollte, als wenn man hinging, weil man explizit eingeladen wurde. Und das auch noch von einem Jungen! Wahrscheinlich gingen ihre Hormone da mit ihr durch, aber sie war sich ziemlich sicher, dass sie noch nie so aufgeregt gewesen war. Die Abschlussprüfungen vom letzten Jahr waren ein Witz gewesen.
Mit der Last-Minute-Einladung kam allerdings ein gravierendes Problem. „Was zum Teufel sollen wir bitte anziehen?“, fragte sie panisch, die Türen zu ihrem Kleiderschrank weitaufgerissen, während alles in ihrem Besitz entweder zu normal oder zu langweilig aussah.
„Wen interessiert das bitte?“, erwiderte Lily, die mit dem Rücken zu ihr auf ihrem Bett saß.
Emmeline, die im Schneidersitz vor ihr saß, und damit beschäftigt war, eine aufwendige Flechtfrisur in Lilys Haare zu binden, warf einen kurzen Blick über die Schulter. „Zur Not geht immer eine schicke Hose und Bluse. Ich kann dir auch noch die Haare machen, wenn du willst.“
„Wäre das nicht zu schlicht?“, fragte Mary. „Ich will schon gut aussehen, wenn wir da hingehen, ich meine, das ist doch was besonderes, oder nicht?“
„Es ist nur Slughorn“, sagte Marlene, die auf ihrem eigenen Bett lag und eine Packung Bertie Botts Bohnen verspeiste. Sie verzog das Gesicht, als sie eine feuerrote Bohne zerbiss, dann fügte sie zerknirscht klingend an: „Und es sind nur die Jungs. Die sehen uns sowieso jeden Tag.“
Mary schnaubte leise. „Lily macht sich für Darren auch hübsch, obwohl sie ihn jeden Tag sieht. Außerdem weiß ich nicht, warum du das nicht ernst nimmst, immerhin hast du uns erst in diese Lage gebracht!“
„Pah“, meinte Marlene, stützte sich auf die Ellbogen auf und beäugte Mary kritisch. „Ich hab das nur für dich getan, okay?“
Es fühlte sich an, als hätte jemand eine Grube unter ihr gegraben und Mary wäre geradewegs auf die Falltür getreten. Ihr Herz stolperte ein paar Mal. „Wie bitte?“
Marlene presste die Lippen aufeinander, seufzte dann und blickte zu Lily. „Du weißt es doch auch, oder?“
„Was weiß ich?“
Emmeline, die aufgehört hatte, Lilys Haare zu flechten, blickte zwischen Mary und Marlene hin und her, als wären sie ein äußerst spannendes Tennisspiel. „Kann mich jemand aufklären?“, fragte sie. „Ich glaub, ich hab was verpasst.“
„Ich auch“, knirschte Mary, ehe sie wieder zu ihrer Freundin blickte. „Ich weiß nämlich nicht, wovon du redest, Marls, und ich – ich glaube nicht, dass es eine gute Idee wäre, wenn wir zu dieser Party gehen. Das ist – ich weiß auch nicht.“ Verloren ließ sie sich vor ihrem Schrank nieder, wobei die gut zwei Dutzend herausgerissenen T-Shirts ihr als gutes Kissen dienten. „Da gehören wir nicht hin, oder? Außerdem…“
„Außerdem was?“, fragte Marlene mit überraschend sanfter Stimme, als Mary nicht weiterredete.
„Außerdem bin ich mir sicher, dass wir nur aus Mitleid eingeladen wurden.“
Lily gab ein lautes Schnauben von sich. „Das würde mich bei den beiden auch nicht überraschen“, erwiderte sie.
„Lily!“, flüsterte Emmeline laut genug, für alle zu hören und schlug ihr gegen den Oberarm.
„Au, lass das. Es stimmt nun mal, da kann ich ja nichts für. Die Jungs sind nur mal Idioten, was soll ich denn noch sagen? Mary kann mit der Wahrheit umgehen, nicht wahr?“
Wahrscheinlich konnte sie das, aber es schickte ihr dennoch schmale, heiße Schübe der Scham durch den Körper, dass sie sich überhaupt so viele Gedanken gemacht hatte. Sie sollte nicht überrascht sein, dass James und Sirius sie nicht wirklich eingeladen hatten, weil sie unbedingt mit ihnen hingehen wollten, sondern weil Marlene sie fast schon dazu gezwungen hatte, aber sie konnte nicht verhindern, dass es nicht trotzdem wehtat, es ausgesprochen zu hören. Vielleicht war es ihre eigene Schuld, dass sie sich auf dem gesamten Weg in den Gemeinschaftsraum in unsinnigen Fantasien verloren hatte, wie der Abend ausgehen würde, dass sie sich vorgestellt hatte, dass jemand sie ansehen würde, als wäre sie es wirklich wert angesehen zu werden. Wenigstens für ein paar Stunden hätte sie zumindest gerne so getan, als würde sie in diese Welt gehören, die alles daran setzte, sie nicht willkommen zu heißen.
Emmeline ließ von Lilys Haaren und glitt vom Bett, ehe sie neben Mary auf dem Boden ankam. Vorsichtig legte sie ihr eine Hand auf den Oberarm. „Alles okay?“, fragte sie leise.
„Klar.“ Mary konnte Lilys stechenden Blick und Marlenes Augen auf sich spüren, aber sie konnte es nicht über sich bringen, aufzusehen. Es war ihre eigene Schuld gewesen, dass sie sich überhaupt in Fantasien verlaufen hatte, es wäre nicht fair, es an ihren Freundinnen auszulassen. Sie versuchte sich an der Schranktür hochzuziehen, damit sie sich für ein paar Minuten im Badezimmer einsperren könnte, als sie Emmelines Finger an ihren Locken spürte.
„Eine Flechtfrisur bekomme ich so schnell nicht hin“, sagte sie, ohne darauf einzugehen, dass Mary ganz und gar nicht in der emotionalen Verfassung war, um über ihre Haare nachzudenken. „Was haltet ihr von Space Buns? Die hab ich mal in einer Muggelzeitschrift gesehen.“
Ein paar viel zu lange Sekunden lang war es ruhig, dann sagte Lily: „Zu locker. Lass mich mal, ich hab eine Idee.“ Obwohl ihre eigenen Haare gerade einmal halbfertig waren, rutschte Lily ebenfalls vom Bett und ließ sich neben Mary nieder. Sie schenkte ihr ein aufmunterndes Lächeln. „Die werden es bereuen, das nicht ernst zu meinen, ja?“
„Absolut“, fügte Marlene auf. „Wenn sie dich sehen, werden sie sich darum reißen, mit dir tanzen zu können, aber du wirst viel zu beschäftigt damit sein, von all den anderen Jungs bewundert zu werden.“
Mary lachte auf und presste sich eine Hand auf den Mund. „Ihr seid doch übergeschnappt“, sagte sie. „Das ist –“
„Genau was du verdienst“, unterbrach Lily sie. Von irgendwoher hatte sie eine dicke Holzbürste geholt, mit der sie durch Marys schwarze Locken fuhr, um die kleinen Kletten zu lösen, die sich den Tag über gebildet hatten. „Tut mir leid, dass ich so unsensibel war.“
„Und mir tuts leid, dass ich dich quasi zwinge, hinzugehen“, sagte Marlene von ihrem Bett aus mit vollem Mund.
Emmeline warf eins von Marys T-Shirts nach ihr. „Du solltest lieber selbst zusehen, was du anziehst.“
„Wieso? Reicht das nicht?“ Marlene deutete an ihrem ausgeleierten Quidditch-Shirt und einer babyblauen Jogginghose herunter.
Drei weitere T-Shirts flogen ihr gegen den Kopf.
Die nächsten Stunden füllten sie damit aus, sich gegenseitig die Haare zu machen, Emmeline ihre Make-Up-Fertigkeiten austesten zu lassen und verschiedene Outfits anzuprobieren. Es ließ Mary zumindest kurzzeitig vergessen, dass sie nicht wirklich auf diese Party eingeladen wurde und dass sie nicht wirklich hinging, um einen schönen Abend mit James zu verbringen. Das war ihr vielleicht von Anfang an auch schon bewusst gewesen, aber selbst nachdem sie sich im Spiegel betrachtet und ihre Haare von allen Seiten begutachtet hatte, fiel es ihr schwer, es zuzugeben.
Lily hatte ganze Arbeit geleistet, das musste sie zugeben. Ihre Mutter hätte es wahrscheinlich besser hinbekommen, aber dafür, dass Lily eigentlich von Afrohaaren keine Ahnung hatte, war das Ergebnis doch sehenswert. Die Haare auf ihrem Kopf waren mit ein wenig Sleekeazy Haargel bearbeitet, sodass sie fast schon wie eine glatte Fläche lagen, während der Rest in einem breiten, weichen Zopf steckte, der bei jeder Kopfbewegung hin und her wackelte. Mithilfe ihres Zauberstabs hatte Lily ein paar weiße Blütenblätter in ihre Haare gewoben, sodass es aussah, als wäre sie geradewegs durch ein Blumenfeld gerannt. Es war kitschig und viel zu übertrieben, aber Mary war begeistert.
Passend zu den weißen Blüten hatte Mary sich für ein ärmelloses weißes Kleid entschieden, das sie mit ihrer Mutter in den Sommerferien gekauft hatte, war aber bei ihren bequemen Turnschuhen statt denen mit Absatz geblieben, so wie Emmeline es ihr empfohlen hatte. Jedes Mal, wenn sie einen Schritt tat, kitzelte der luftige Rüschenstoff ihres Kleids an ihren Beinen und Mary fühlte sich fast schon, als wäre sie auf dem Weg zu einem wichtigen Ball.
Marlene tauchte neben Mary im Spiegel auf, die Haare in einem ähnlichen dicken Zopf gebunden, allerdings ohne passende Blüten. Stattdessen sorgte ein dunkler Haarreif für ein wenig Farbe auf ihrem Kopf, während der Rest ihres Outfits für ihre Verhältnisse fast schon ausgefallen wirkte. Statt eines ausgeleierten Shirts hatte sie sich für eine dunkelgrüne kurze Langarmbluse entschieden, über die sie eine Jeansjacke gezogen hatte und dazu trug sie eine weite Hose, deren Beine bei jedem Schritt schlackerten sowie schwarze Stiefel, die so aussahen, als könnte sie sie auch zum Quidditch nutzen. Emmeline hatte zwar versucht ihr Accessoires anzudrehen, aber Marlene hatte nichts außer dem Haarreif zugelassen. Im Spiegel fuhr sie sich mit einer Hand durch den Zopf, dann stieß sie Mary mit der Schulter an. „Wir könnten fast schon Zwillinge sein.“
Mary schnaubte. „Klar, wenn man die Augen zusammenkneift.“
Die Badezimmertür zu ihrem Schlafsaal öffnete sich und Lily trat endlich aus einer Wolke aus Dampf und Parfüm. Emmeline hatte ganze Arbeit mit ihren Haaren geleistet; nicht nur waren sie geflochten und filigran ineinander gearbeitet, sie hatte es auch noch geschafft, den geflochtenen Zopf irgendwie in eine Hochsteckfrisur zu verwandeln, womit Lily einen wesentlich älteren Eindruck machte, als ihr blassrosa Kleid es vermuten ließ. Es war nicht ganz Lilys Farbe, das wussten sie alle, aber es war das einzige, was sie hatte, was nicht so aussah, als wäre es aus einer Gardine recycled worden. Zwar hatte Emmeline versucht es mit einem Farbwechsel-Zauber zu belegen, sodass es eher in einem blassen Blau oder Grün glänzen würde, aber jegliche Magie hatte ihre Wirkung verfehlt, sodass sie sich darauf geeinigt hatten, so zu tun, als wäre es perfekt.
„Meinetwegen können wir“, sagte Lily ein wenig atemlos klingend.
„Wir haben nur auf dich gewartet“, erwiderte Marlene, ehe sie sich bei Mary unterhakte. Sie machten sich auf den Weg die Treppe herunter, Emmeline irgendwo hinter ihnen, die auf die Schnelle ihre ganzen Haar- und Schminkutensilien zusammengesucht hatte. „Wenn sich das alles hier nicht lohnt“, sagte Marlene auf halbem Weg, „dann werde ich euch nie wieder auf eine Party begleiten.“
„Keine Sorge“, meinte Lily, „ich bin mir ziemlich sicher, dass Slughorn uns nach diesem Abend sowieso nie wieder einladen wird.“ Der bittere Tonfall in ihrer Stimme ließ mehr als klar werden, dass sie dabei nicht über ihr eigenes Verhalten redete.
Im Gemeinschaftsraum angekommen, wurden sie direkt mit einem ziemlich ungewöhnlichen Anblick begrüßt. In ihren schwarzen Festumhängen, die anscheinend maßgeschneidert auf ihre pubertierenden Körper waren, sahen James und Sirius zwar um einiges ansehnlicher aus, als sie es sonst schon taten, aber es gab ihnen auch einen irgendwie lächerlichen Eindruck. Besonders Sirius, der immer wieder verstohlen an seinem Kragen zerrte, schien sich dessen auch bewusst zu sein.
Auf den letzten zwei Treppenstufen musste Mary all ihren Mut zusammenfassen, um nicht gleich wieder umzukehren und sich im Bad einzuschließen. Mittlerweile war ihr mehr als klar, dass sie sich in James verknallt hatte, vielleicht mehr als das, aber das half ihr nicht gerade dabei, besser mit der Situation umzugehen. Sie wollte diese Gefühle nicht haben, zumindest nicht für ihn. Wenn es für jeden anderen Jungen gewesen wäre, für Sirius oder Remus oder Peter, dann würde sie nicht in einer Bredouille stecken. James war mehr als hübsch anzusehen in seinem Festumhang und den unordentlichen dunklen Haaren und seinen haselnussbraunen Augen, die wie immer schelmisch hinter seiner Brille glänzten. Sein Anblick ließ Marys Herz ein wenig schneller schlagen, voll von Zuneigung und Schuld, dass sie sich unbedingt in den Jungen verguckt hatte, der der Erzfeind ihrer besten Freundin war. Erzfeind war vielleicht sogar etwas hart ausgedrückt, immer war sie fest davon überzeugt, dass Lily ihn eigentlich sogar gern hatte, aber solange Lily nicht soweit war, das auch zuzugeben, mussten sie alle weiterhin so tun, als könnten sie sich nicht leiden. Es war eine beinahe lächerliche Scharade, die nicht half, damit Mary sich besser fühlte. Wenn sie wenigstens wüsste, dass Lily ihn wirklich nicht leiden konnte, dann würde sie sich nicht so schuldig fühlen, weil sie ihn mochte.
Um ihnen allen – und besonders sich selbst – einen grauenvollen Abend und schreckliche Gefühlsduselei zu ersparen, wollten ihre Füße sie sie an Sirius´ Seite tragen, wurden aber im letzten Moment daran gehindert, als Marlene an ihrem Arm zog. Statt etwas zu sagen, drückte sich Marlene lediglich mit einem Zwinkern an ihr vorbei und stellte sich mit breitem Lächeln neben Sirius, sodass Mary nichts anderes übrigblieb, als sich an James´ Seite zu begeben. Wenn es nicht mit einigen Wochen Nachsitzen drohen würde, dann würde sie Marlene jetzt in eine Ratte verwandeln und in den Kerkern aussetzen. (Nicht, dass sie die Magie dazu beherrschte, aber in ihrer Vorstellung konnte sie es.)
„Ist das nicht toll?“, sagte Marlene noch immer lächelnd. „Wir haben uns alle so schön herausgeputzt.“
Nicht nur Sirius warf ihr einen beinahe giftigen Blick zu. „So hatte ich mir meinen Geburtstag nicht vorgestellt“, grummelte er.
Marlene verdrehte die Augen, ehe sie sich bei ihm unterhakte, was den seltsamen Anblick nur noch untermalte. „Hör auf zu heulen, Black. Kommt schon, wenn wir Glück haben, dann gibt es wenigstens richtig guten Nachtisch.“
„Wenn Slughorn keine zwölf verschiedenen Torten auftischt, drehe ich mich wortlos um und gehe wieder“, erwiderte er.
„Abgemacht.“
Neben Mary räusperte James sich vernehmlich, bevor er ihr ebenfalls den Arm darbot. Sein Lächeln war fast schon brillant, als er sagte: „Sollen wir dann auch?“
Mary traute sich nicht, den Mund zu öffnen, um eine angemessene Antwort zu geben, deswegen nickte sie lediglich und legte ihr Hand um seinen Unterarm. Wahrscheinlich bildete sie sich das vor lauter Aufregung ein, aber sie konnte die Hitze seiner Haut durch seinen Umhang spüren. Es trieb ihr die Röte in die Wangen und ließ ihr Herz noch schneller schlagen, als es das ohnehin schon tat.
Der Weg runter in die Eingangshalle war erfüllt von Stille und Verlegenheit. Niemand wollte als erstes reden, schon gar nicht Lily, die zwei Schritte vor den Jungs und ihren Begleiterinnen ging. Mary fühlte sich ziemlich unwohl in ihrer Haut und hatte das Gefühl, jeden Moment irgendetwas peinliches zu tun, womit sie sich nur noch mehr blamieren würde, als sie es ohnehin schon hatte. Beinahe wäre sie in eine der Trickstufen getreten, wenn James sie nicht vorher mit einem lausen Raunen gewarnt hätte, womit nur noch mehr Hitze in ihr Gesicht strömte. Beinahe hoffte sie, das das alles nur ein schlimmer Traum war, den sie durchleben musste, bevor sie jeden Moment von Marlenes viel zu lauten Schritten auf dem Weg ins Bad geweckt wurde.
In der Eingangshalle wartete Darren bereits auf sie. Er hatte sich ebenfalls in einen schlichten schwarzen Festumhang geworfen (Mary beneidete die Jungs, die sich kaum Gedanken über ihr Aussehen machen mussten), wobei seiner nicht ansatzweise so maßgeschneidert und, es gab kein anderes Wort dafür, teuer aussah. Er war tatsächlich so schlicht und schwarz, dass Lily, die neben ihm stehenblieb, fast schon strahlend aussah. Sie vermutete stark, dass er sich ebenfalls eine ganze Menge Sleekeazy Haargel in die Haare geschmiert hatte, denn seine Frisur deutete an, als hätte ein Hippogreif, ihm ein paar Mal über den Kopf geleckt. Mary kannte ihn nicht gut genug, um ihm zu sagen, dass es nicht sein Style war.
„Lily, du siehst – ich meine, wow. Guck dich mal an!“, sagte Darren und hielt ihr seine ausgestreckte Hand hin.
Sie ergriff sie und ließ sich einmal von ihm um die eigene Achse drehen, wie Mary es schon dutzende Male in alten Hollywood-Filmen gesehen hatte.
„Aber ich wusste nicht, dass du deine“, er warf James und Sirius einen zweifelnden Blick zu, „Freunde mitbringst.“
Lilys Miene verdüsterte sich. „Beachte sie einfach nicht. Slughorn hat sie auch eingeladen.“
„Oh.“ Darren drehte den Kopf zu James. „Ich wusste nicht, dass man für mittelmäßige Quidditch-Fähigkeiten schon zu elitären Kreisen geladen wird.“
„Natürlich weißt du das nicht, Harper“, erwiderte James mit säuerlicher Stimme. „Du wurdest ja auch nicht eingeladen.“
Darren öffnete den Mund, um zu antworten, aber Lily zog an seinem Unterarm. „Lass es einfach, okay? Lass uns – lass uns gehen. Mary, Marls, wir sehen uns später?“
Marlene nickte ihr zu, dann drehten sich Lily und Darren um, ihre Hand noch immer auf seinem Unterarm und verschwanden in Richtung der Tür zu den Kerkern. Sie konnten ihre Schritte auf den Treppen noch hören, als Marlene sagte: „Wenn ihr euch beide diesen Abend nicht benehmen könnt, dann werde ich persönlich dafür sorgen, dass man euch nicht mehr von Flubberwürmern unterscheiden kann, kapiert?“
Sirius lachte bellend auf. „Seit wann bist du bitte so kratzbürstig drauf, McKinnon?“
„Reiz mich nicht, Black.“ Ohne noch etwas zu sagen, krallte sie sich in seinen Arm und zerrte ihn ebenfalls zum Kerkereingang.
„Ich wusste nicht, dass ihr so ein Abend so wichtig ist“, meinte James leise.
Mary zuckte mit den Schultern. „Ich auch nicht.“ Sie war sich ziemlich sicher, dass Marlene das nur tat, damit sie sicherstellen konnte, dass Lily einen schönen Abend mit ihrem Date hatte, auch wenn sie es wohl nie zugeben würde. Und wenn sie schon so dabei war, dann konnte Mary zumindest auch versuchen, die Zeit mit James zu genießen, auch wenn sie kein Date hatten. Sie räusperte sich vernehmlich, dann fragte sie: „Wollen wir dann auch?“
„Ich schätze schon“, gab er zurück, schenkte ihr ein fahriges Lächeln und bot ihr seinen Arm an.
Seufzend nahm sie ihn an. „Was soll schon großartig passieren?“
***
Die Kerkerräume, die Slughorn für seinen Club nutzte, waren weiträumiger, als sie hätten sein sollen. An den Wänden hingen glänzende Gläser voll mit lebendigen Feen, dutzende kleine Tische waren überall aufgestellt, auf denen Getränke und Snacks bereitstanden und in der Mitte des Raumes befand sich ein massiver Eichenholztisch, über dem ein goldener Kronleuchter hing, der die ganzen Räumlichkeiten in gelbliches Licht tauchte. Statt den kühlen Steinplatten war der Boden mit aufwendig gewebten Teppichen bedeckt und gegenüber der Eingangstür spielten einige klassische Instrument von allein Musik.
Es hatten sich bereits einige Leute eingefunden, die sich mit kristallinen Weingläsern in den Händen leise unterhielten. Der Mann der Stunde, Professor Slughorn, redete mit einem kleinen, buckligen Zauberer ohne Haare, als er James und Mary in der Tür entdeckte und freudestrahlend auf sie zukam. „Ah, der junge Potter! Und wie ich sehe, haben Sie die liebreizende Miss Macdonald dabei.“ Slughorn hatte sich einen schrecklichen violettfarbenen Mantel über seinen khakifarbenen Umhang geworfen, womit er wie eine zu groß geratene Weintraube aussah. Sein Schnurrbart vibrierte mit jedem Wort, das er sagte. „Ich habe Mr. Black und Miss McKinnon bereits losgeschickt, um sich ein paar Erfrischungen zu holen, warum schließen Sie sich ihnen nicht an? Das Essen geht in Kürze los und ich bin sicher, Sie haben alle genügend Appetit mitgebracht!“ Er klopfte James auf die Schulter, als wären sie gute Freunde, ehe er sich wieder abwandte, um mit dem buckligen Hexer zu reden.
James hatte wenig Lust, sich mit Leuten abzugeben, die er nie wieder sehen würde, deswegen hielt er nur Ausschau nach Sirius. Zwar hatte Marlenen ihnen einen ziemlichen Strich durch die Rechnung gemacht und sie hatten kaum Scherzartikel mit zur Party schmuggeln können, aber die große Überraschung stand noch immer. Er würde sich einfach ein wenig gedulden müssen, Zeit mit Mary verbringen, vielleicht ein paar Süßigkeiten in sich reinschaufeln, bevor er Remus und Peter das Signal geben konnte. Auch wenn er Marlene abkaufte, dass sie ihn und Sirius in Flubberwürmer verwandeln würde, sollten sie irgendwas anstellen, konnte er auch nicht umhin, als zu denken, dass sie ihnen ein perfektes Alibi kreiert hatte. Wie konnten sie denn etwas anstellen, wenn sie die ganze Zeit mit ihren Begleiterinnen getanzt haten?
Vielleicht war es Mary gegenüber unfair, dass er sie dafür ausnutzte, aber James bezweifelte, dass sie überhaupt Lust auf diese ganze Party hatte. Zwar hatte sie sich wirklich hübsch gemacht, hatte aber die ganze Zeit nicht ein einziges Mal seinen Blick getroffen. Wenn er eine These aufstellen müsste, dann, dass Marlene unbedingt Lily begleiten wollte, aber von Darren übertrumpft wurde und deswegen ihn und Sirius gezwungen hat, sie mitzunehmen. Er schätzte, dass Mary einfach Kollateralschaden war.
Auf der Suche nach Sirius und Marlene fragte er Mary: „Was findet Lily überhaupt an Harper?“, und hoffte, dass er einen ziemlich beiläufigen Ton angeschnitten hatte.
Ihre Hand an seinem Arm verkrampfte sich für einen Augenblick. „Bin nicht sicher, aber er scheint nett.“
„Nett“, wiederholte er ungläubig. „Ich bin auch nett, trotzdem hat sie mich nicht eingeladen. Nicht, dass ich das will oder so, aber du verstehst schon.“
Marys Lächeln war fahrig. „Schon klar. Lily meinte nur, dass er nett ist und sie sich gut mit ihm unterhalten kann. Außerdem hört er ihr zu und behandelt sie gut. Ich…“, sie schien kurz zu überlegen, dann zuckte sie mit den Schultern. „Ich denke, das ist irgendwie alles, was man von einem guten Freund will, oder?“
„Da fragst du den Falschen“, sagte er, musste ihr aber zustimmen, dass das alles so klang, als wäre er ein guter Freund, auch wenn er nicht wusste, wieso Lily sich dafür unbedingt einen Slytherin hatte aussuchen müssen.
Viel Zeit, sich einen ruhigen Platz zu suchen, hatten sie nicht, denn kaum hatte James Sirius´ Kopf in der Menge entdeckt, ertönte ein glockenheller Klang im Raum. „Meine lieben Gäste“, sagte Slughorns magisch verstärkte Stimme um sie herum, „es wird Zeit, dass wir uns alle setzen. Das Abendessen wird jede Minute aufgetischt.“
James zog eine Grimasse und murmelte: „Wehe, es gibt keine Stampfkartoffeln“, und Mary lachte leise.
„Verweigerst du dann das Essen?“
„Ich kann äußerst kleinlich sein, wenn ich will. Als Kind hab ich mich geweigert, mein Gemüse zu essen, wenn es vorher das Fleisch berührt hat.“
Mary schüttelte den Kopf. „Komm schon, sonst müssen wir noch neben Slughorn sitzen.“ Mit ihrer Hand an seinem Arm zog Mary ihn zum riesigen Tisch in der Mitte des Raumes. Die meisten Plätze waren noch offen, sodass sie das Glück hatten, welche zu finden, die weit genug von Slughorn entfernt waren. Sirius und Marlene saßen einige Sitze neben ihnen, Lily und Darren Harper ihnen beinahe gegenüber. James würde es Lily zutrauen, dass sie sich absichtlich so weit weg wie möglich von ihnen gesetzt hatte, auch wenn das bedeutete, dass sie damit ziemlich in die Nähe von Slughorn gerutscht war.
Was auch immer sie an ihm finden musste, er musste zumindest irgendwie witzig sein, wenn er sie so laut zum Lachen bringen konnte, dass sie sich die Hand vor den Mund schlug.
Professor Slughorn erhob sich an seinem Platz. Seine laute Stimme hallte durch den Raum, als er sagte: „Es ist mir wirklich eine unfassbare Freude, euch alle heute hier begrüßen zu dürfen. Für diejenigen, die bisher noch nicht in den Genuss meiner Dinner-Partys gekommen sind, wird es heute ein wahres Fest werden! Für alle anderen wird es das sicherlich auch, aber ihr werdet nicht mehr ganz so beeindruckt sein!“ Er lachte lauthals auf, wobei sein Bauch gegen die Knöpfe seines Mantels drückte. „Wenn ich mich so umgucke, dann bin ich wirklich froh, wie viele von euch es heute Abend geschafft haben, herzukommen. Harriet, grüßen Sie mir doch die Ministerin, wenn Sie Sie sehen, ja? Es ist schade, dass sie es nicht geschafft hat, aber sie ist eine geschäftige Frau, da kann ich es doch verstehen.“
James versuchte sich nicht unendlich zu langweilen, aber es war schwer, die Aufmerksamkeit aufrecht zu erhalten, während Slughorn mit unbekannten Hexen und Zauberern sprach, die allesamt so aussahen, als würden sie Galleonen zum Frühstück essen. Es war leicht zu erkennen, wieso er ihn und Sirius eingeladen hatte; wenn der Rest seiner Freundschaften bereits so nach Geld und Einfluss aussah, dann konnte Slughorn sich wahrscheinlich einem Black und einem Potter nicht entziehen. Von seinem Vater wusste James bereits genug von dem, was Slughorn mit seinen kleinen Treffen vorhatte und wenn er es nicht absolut unterirdisch finden würde, den Einfluss anderer Leute auszunutzen, dann müsste er ihm dafür applaudieren, dass er seine Kontakte so gut pflegte und noch immer nutzte. So hässlich der violette Mantel auch war, billig war der sicher nicht gewesen und James bezweifelte stark, dass Hogwarts so gut bezahlte.
„Aber ich will wirklich nicht so viel reden, wenn ihr doch alle mit leeren Mägen hier sitzt“, fügte Slughorn endlich an, nachdem er sich mit einer Hexe in vollkommen grauer Kleidung unterhalten hatte. „Kommt, setzen wir uns und essen!“
„Das wird auch Zeit“, murmelte James, während er gold-glänzendes Besteck zur Hand nahm.
„Du musstest ja auch so lange hungern“, erwiderte Mary ebenso leise.
„Ich hatte noch kein Abendessen.“
„Aber sicher Unmengen an Snacks in deinem Schlafsaal.“
„Erwischt.“
Sie lächelte, wollte seinen Blick aber immer noch nicht treffen. Es war merkwürdig, fand James, aber nicht merkwürdig genug, damit er sich von dem plötzlich erschienenem Essen ablenken konnte. Wenn es zumindest eines gab, womit er Slughorn neben seinem Wissen von Zaubertränken trauen würde, dann war es Hauptgerichte. Es gab so ziemlich alles, was das Herz überhaupt begehren konnte und genug davon, um halb Hogwarts zu sättigen. Braten, von denen noch Dampf aufstieg, Kannen voll mit brauner, deftiger Sauce, ganze Schüsseln voll mit gedämpften Bohnen, Karaffen voll blutrotem Wein oder goldenem Kürbissaft, Töpfe, die bis zum Rand mit gebratenem Gemüse gefüllt waren und, selbstverständlich, Kartoffeln in allen Formen, von geschnitten und gebraten, bis hin zu gestampft und gewürzt. James lief bereits das Wasser im Mund zusammen, wenn er nur daran dachte, was er alles essen würde.
Die Karaffen mit Getränken füllten ihre Gläser von allein auf, sodass es nie ein leeres Glas gab und während James sich eine großzügige Portion Kartoffeln auf seinen Teller schmiss, bemerkte er, dass auch der Topf sich mit jeder Keller wieder auffüllte. Die Hauselfen leisteten ganze Arbeit und James hatte den Verdacht, dass Slughorn sie dafür bezahlte, so einen guten Eindruck zu hinterlassen. Ob er damit gerechnet hatte, dass die Zaubereiministerin doch auftauchen würde? Es würde zumindest das koboldgearbeitete Besteck und mit Silber verzierten Kelche erklären.
Über den Tisch hinweg bemerkte James, dass Lily und Harper zu sehr in ihr Gespräch vertieft waren, um wirklich zu essen. Schnaubend wandte er den Blick von ihnen ab. Es sollte ihn wirklich nicht interessieren, was sie taten, aber es war schwierig nicht zu sehen, wenn sie ihm genau gegenüber saßen. Ob Lily das mit Absicht gewählt hatte, damit er sie immer sehen musste? Würde sie so fies sein?
„Ich hätte nicht gedacht, dass es dich so sehr stören würde“, sagte Mary leise neben ihm. Mit der hochwertigen Gabel in der Hand stocherte sie lieblos in ihrem Gemüse herum. „Mit Lily und Darren, meine ich“, fügte sie an.
„Tut es nicht“, erwiderte er. „Ich bin… ich meine, Lily kann tun und lassen, was sie will, nicht wahr? Es ist eher Harper, der mich stört, aber das hat nichts mit ihr zu tun.“ Selbst als er die Worte aussprach, spürte er die bittere Lüge ihrer auf seiner Zunge. Er schluckte schwer. „Gut, vielleicht hat es auch mit ihr zu tun, aber nicht, wie du denkst.“
„Was denke ich denn?“, fragte sie matt.
„Dass ich sie mag“, presste er hervor. „Das tu ich nicht. Ich – keine Ahnung, aber so zumindest nicht. Nicht, wie ein Junge ein Mädchen mögen soll oder so, weißt du? Ich schätze einfach, dass ich Harper nicht traue, keine hinterlistigen Gedanken zu haben. Slytherin und so.“ Er spießte ein Stück Braten auf seine Gabel, hatte aber keine Lust, es auch zu essen. Stattdessen tunkte er es so in Sauce, als würde er versuchen, es zu ertränken. Das Metall gab einen quietschenden Ton sich, als er übers Porzellan strich und er löste seinen Griff schnell davon. „Die meisten Slytherins haben keinen guten Eindruck bei mir hinterlassen.“
Mary gab einen leisen, zustimmenden Ton von sich. „Snape“, sagte sie. „Und Mulciber.“
„Zum Beispiel.“
„Ich weiß, was du meinst“, erwiderte sie langsam, steckte sich ein Stück Brokkoli in den Mund, kaute darauf herum und schluckte schließlich. „Lily ist meine beste Freundin und… ich schätze, ich will einfach nicht, dass sie verletzt wird.“
James drehte ihr den Blick zu, aber Mary starrte nur auf ihren Teller. In der Reflektion ihres Kelches konnte er ihre Augen sehen, die beinahe unbewegt wirkten. „Das will keiner von uns“, gab es zu. „Etwas anderes, als ihn im Auge zu behalten, können wir aber wohl nicht tun, oder?“
„Nicht wirklich.“
„Dann tun wir genau das, aber“, er stieß sie sanft mit dem Ellbogen an, in der Hoffnung, dass sie endlich aufsehen würde, „in der Zwischenzeit können wir uns trotzdem amüsieren, oder?“
„Deiner Definition von amüsieren traue ich nicht“, gab sie mit einem Zungeschnalzen zurück.
„Wie unhöflich“, sagte James grinsend. „Ich lasse dich gerne wissen, dass ich eine herausragende Partybegleitung bin. Ich kann Smalltalk führen, an den richten Stellen über schlechte Witze lachen und beim Tanzen bin ich zumindest nicht so eine Katastrophe wie Sirius. Ich garantiere dir sogar, dass du mit all deinen Zehen zurückkehrst.“
Mary presste sich lachend eine Hand auf den Mund, ehe sie endlich den Kopf anhob und ihn ansah. „Du und Tanzen? Du meinst dieses wilde mit den Armen wedeln?“ Ihre Augen funkelten und wenn er sich nicht täuschte, dann erkannte er eine Art Verschmitztheit darin, die er zuvor nicht bemerkt hatte. „Davon muss ich mich selbst überzeugen.“
Er hob eine Augenbraue an. „Soll das eine Herausforderung sein, Macdonald?“
„Vielleicht“, entgegnete sie, wobei sie seine Augenbraue imitierte. „Am Ende des Abends gebe ich dir eine Bewertung, dann wirst du ja wissen, ob du wirklich so eine herausragende Begleitung bist.“
„Wirst schon sehen“, murrte er. „Ich hau dich von den Socken.“
„Ich kanns kaum erwarten, Potter.“
Den Rest des Essens öffnete Mary sich wieder, wie er es gewohnt war. Sie riss Witze, gab ihm eine geflüsterte Imitation von Slughorn zu Gute, die dem Echten schon fast zu nah kam und schien vergessen zu haben, was auch immer sie zuvor bedrückt hatte. James mochte diese Mary wesentlich lieber, auch wenn es ihm ein schlechtes Gewissen bereitete, dass sie darüber sprachen, was sie diesen Abend noch tun wollten, wenn er im Hinterkopf bereits plante, wann er Remus und Peter das Signal geben wollte. James war niemand, der von einer Herausforderung oder einem Versprechen zurücktreten würde, aber er wusste nicht, ob er es wirklich über sich bringen konnte, die Party zu ruinieren, wenn Mary und die anderen so viel Spaß zu haben schienen.
„Ich hoffe doch, ihr habt noch genügend Platz für ein wenig Dessert gelassen!“, schwang Slughorns Stimme zu ihnen herüber und riss James aus seinen Gedanken. „Wer schon möchte, kann sich natürlich auch die Beine vertreten und das Parkett mit ein paar Tanzschritten beehren.“ Er wedelte einmal mit seinem Zauberstab in der Luft, woraufhin die Reste des Abendessens verschwanden, neue, blankpolierte Bestecke und Gläser auf dem Tisch erschienen und einen Moment später ungefähr zweihundert verschiedene Nachspeisen das Holz zum Ächzen brachten.
James konnte sich gar nicht an den vielen Torten, Kuchen, Eissorten und Leckereien sattsehen. „Ich glaube nicht, dass ich heute noch tanzen kann“, sagte er mit dem Blick auf eine besonders große Erdbeertorte, die seine Zunge allein beim Ansehen schon in Zucker hüllte. „Du wirst mich zurück in den Schlafsaal rollen müssen.“
„Ha“, erwiderte sie leise, bevor Mary sich eine massive Kelle voll mit Sorbet in eine Schüssel füllte. „Und wer soll mich dann tragen? Ich stehe hier nicht auf, ehe ich nicht alle Sorten Eis probiert habe, nur damit du Bescheid weißt.“
„Trifft sich gut, ich muss sowieso alle Torten testen.“ Er grinste, als Mary sich einen Löffel voll Sorbet in den Mund schob und die Augen schloss, ehe er sich ebenfalls daran machte, seinen Nachtischhunger zu stillen. Er hatte sich gerade ein Stück Schoko-Nuss-Bombe neben eine ordentliche Portion Vanillepudding gestellt, als er Sirius´ Blick auffing, der die Augenbrauen anhob. James schüttelte kurz den Kopf.
Sirius zuckte mit den Schultern, ehe er aufstand, Marlene im Schlepptau. Entgegen James´ Erwartungen gesellten sich die beiden tatsächlich zu den wenigen anderen auf der Tanzfläche, auch wenn James nicht unbedingt davon ausgehen würde, dass Sirius tatsächlich tanzte. Er und Marlene schafften es immerhin mit ihren wilden Bewegungen, dass sich niemand in ihre Nähe traute.
„Ich muss sagen“, ließ ihn Slughorns Stimme zusammenschrecken, „dass ich doch ein wenig überrascht von Ihnen bin, Mr. Potter.“ Ohne, dass James es mitbekommen hatte, hatte Slughorn sich ein paar Stühle weiterbewegt, sodass er jetzt neben ihm und Mary saß, ein rötlicher Glanz auf seinen Wangen und ein wenig Milchschaum in seinem Schnurrbart.
James verschluckte sich beinahe an seinem Tortenstück. „Inwiefern denn, Sir?“, presste er atemlos hervor. Er klopfte sich auf die Brust und nahm das Wasserglas dankend an, das Mary ihm hinschob.
„Na, ich hätte gedacht, Sie hätten sich längst mit den Leuten hier bekannt gemacht! Wussten Sie denn nicht, dass der ehemalige Kapitän der Chudley Cannons hier ist? Und die derzeitige Jägerin der Hollyhead Harpies hat es auch geschafft! Bei Ihrem Talent und Ihrer Hingabe zum Quidditch hätte ich gedacht, dass sie sofort versuchen würden, ein kleines Training herauszukitzeln.“ Slughorn lachte bellend auf und tätschelte sich den Bauch. „Aber vielleicht wollen Sie auch warten, bis der Abend ein wenig fortgeschrittener und die Nerven etwas gelockerter sind, nicht wahr? Das hätte Ihr Vater sicherlich getan, das alte Schlitzohr.“
James versuchte sich an einem Lächeln. „Ich bin nicht sicher, ob ich das möchte, Sir.“
„Unsinn, mein Junge, es wäre zu Ihrem Besten! Selbst wenn sie jetzt noch keine Chance haben, in eines der Teams aufgenommen zu werden, schadet es nie, sich bereits früh mit Kontakten einzudecken, die einem den späteren Weg erleichtern werden. Oder wollen Sie mir sagen, Sie sind etwa nicht an einer Karriere im professionellen Quidditch interessiert?“
„Ich weiß es noch nicht, Professor“, sagte James wahrheitsgemäß. „Ich halte mir meine Optionen gerne offen und bisher habe ich nicht den Drang, mich nur auf eine Sache zu konzentrieren.“
Eine massive Hand klopfte James mit voller Wucht auf die Schulter und Slughorn lachte lauthals auf. „Das ist eine gesunde Einstellung! Sie sind ja auch noch jung, ich denke, Sie haben alle Zeit der Welt, sich für etwas zu entscheiden.“ Er wandte den Blick zu Mary, die nichts gesagt hatte, seit er sich gesetzt hatte und seine heitere Miene fiel für einen Moment in sich zusammen. „Schön Sie zu sehen, Miss Macdonald.“
Als Slughorn sich schnaufend von seinem Stuhl erhob, war James sich fast sicher, dass er Enttäuschung auf seinem Gesicht sah, ehe sein breites Lächeln seinen Schnurrbart zum Zittern brachte. Er ließ ihnen keine Zeit, darauf zu reagieren oder überhaupt das Gespräch fortzusetzen, denn er hatte sich bereits zu den nächsten Opfern begeben.
Mary atmete lauthals aus, als der Zaubertrankprofessor verschwunden war. „Gott sei Dank bin ich nicht interessant genug für ihn.“
„Hoff lieber darauf, dass du keine bekannten Verwandten hast, die er ausgraben kann, ansonsten lässt er nicht mehr locker, um dich für seine Sammlung zu gewinnen“, murrte James. Von seinem Vater hatte er in den Ferien genügend Geschichten über Slughorn gehört, dass er ganz genau wusste, dass er nur so wenig wie möglich mit ihm zu tun haben wollte. Sein Professor mochte ein talentierter Zaubertrankmeister sein und sicherlich auch ein gutes Auge für die Menschen um sich herum haben, aber solange er James nur als weiteren Gewinn für seinen Club ansehen würde, hatte James keine Lust, sich auf seine Spielchen einzulassen, auch wenn das bedeutete, dass er dann die Jägerin der Hollyhead Harpies nicht kennenlernen konnte.
„Da kann er bei mir lange graben“, erwiderte Mary, die noch immer dabei war, ihre Schüssel Sorbet zu leeren. „Bei einer Familie wie meiner wird er nichts finden, es sei denn, er ist sehr von den vielen festen Freunden beeindruckt, die meine Tante so hat.“
Nachdem James und Mary sich durch die Nachtische gegessen und so ziemlich jede Sorte probiert hatten, fühlte er sich zwar ein wenig zu voll, um überhaupt ans Aufstehen zu denken, aber er konnte Mary schlecht versprechen, ihr eine perfekte Partybegleitung zu sein, wenn er nicht einmal mit ihr tanzen würde. James erhob sich und streckte die Hand aus. „Erweist du mir die Ehre?“
Mary bekam dunkle Wangen, ergriff aber seine Finger mit ihren eigenen. „Liebend gerne.“
Klassische Musik war nicht seine liebste Wahl, wenn es ums Tanzen ging, trotzdem zog er Mary mit aufs Parkett, ehe er eine Hand auf ihre Hüfte legte. „Bist du bereit, komplett aus den Socken gehauen zu werden?“
„Weniger Reden, mehr Tanzen, Potter“, erwiderte sie lachend, bevor sie ihre freie Hand auf seine Schulter legte.
James versuchte sich an die Tanzstunden zu erinnern, zu denen seine Eltern ihn gezwungen hatten. Er schob einen Fuß vorsichtig vor, zog den anderen hinterher und hoffte, dass Mary mitziehen würde. Da er auf keinen ihrer Zehen trat, war er hoffnungsvoll, dass dieser Tanz wirklich ohne Zwischenfälle ausgehen würde.
„Schon beeindruckt?“, fragte er einige Augenblicke später.
Mary schüttelte den Kopf. „Der Sohn meiner Nachbarn kann genauso tanzen und der ist acht. Da musst du dich wirklich mehr anstrengen, James.“ Ihre roten Wangen glänzten unter dem Licht des Kronleuchters und jeder ihrer Schritte hinterließ ein leises Geräusch auf dem Parkett, das mit denen von James beinahe im Einklang war.
Er hob eine Augenbraue. „Warum bezweifele ich das?“
„Unterstellst du mir etwa, dass ich lüge? Unerhört.“ Mary schnalzte mit der Zunge. „Wenn Remus das hört, dann zieht er dir hoffentlich die Ohren lang.“
„Remus macht mir keine Angst“, entgegnete er. „Außerdem steht er auf meiner Seite.“
„Vielleicht, aber nicht, wenn ich ihm sage, du hättest Lily den ganzen Abend über auch noch genervt.“
James atmete übertrieben erschrocken ein. „Das würdest du nicht wagen!“
„Würde ich!“, sagte sie grinsend. „Es sei denn, du strengst dich hier mal ein wenig an. Ich meine“, sie zuckte mit dem Kopf zur Seite, „sogar Sirius bekommt das besser hin.“
James folgte ihrem Kopfzucken und wurde mit einem Anblick belohnt, von dem er noch nicht wusste, ob er dafür Schadensersatz fordern konnte. Sirius hatte Marlene an beiden Händen gepackt und wirbelte sie stetig im Kreis, während ihre langen blonden Haare hinter ihr herflogen. Es war unglaublich, dass noch niemand in ihrer Nähe verletzt oder Marlene sich vor Schwindel übergeben hatte. James blickte zurück zu Mary und seine Hand zuckte in ihrer. „Du willst geschleudert werden?“
Sie kniff ihm in die Schulter. „Natürlich nicht, aber es sollte schon etwas aufregender als das sein, oder? Alles, was du machst, ist die simple Schritttechnik wiederholen. Wir haben uns nicht mal von der Stelle bewegt.“
Wärme stieg ihm ins Gesicht. „Na schön.“ Er war sich sicher, dass seine Mutter ihn dafür schelten würde, aber er entfernte sich von den einfachen Schritten, mit denen er niemanden verletzen würde und grub etwas tiefer in seiner Trickkiste. Zwar hatte er nie vorgehabt, diesen Abend mit Tanzen zu verbringen, aber ein Potter war immer vorbereitet. Mit spitzen Fingern ließ er seinen Zauberstab aus dem Ärmel in seine Hand gleiten und richtete ihn auf die Instrumente in der Ecke. Ein simpler Zauber später und die langsame, klassische Musik hatte sich in ein schnelles, rockiges Tempo verändert. Er verstaute seinen Stab sicher in seiner Tasche, bevor er wieder nach Marys Hand griff. „Wie gefällt dir das?“
„Schon wesentlich besser“, lächelte sie.
Während er Mary im Kreis drehte, sie von sich wegstieß und wieder heranzog oder mit ausschweifenden Bewegungen die Tanzfläche unsicher machte, konnte er nicht anders, als immer wieder Blicke zum Tisch zu werfen, wo Lily und Harper sich noch keinen Meter wegbewegt hatten. Entweder Lily war tanzfaul, oder Harper forderte sie nicht auf. James wusste noch nicht, was ihm lieber war. Er und Mary tanzten für was sich Stunden anfühlte, ehe sie schließlich beide atemlos stehenblieben, die Gesichter rot und feucht. Seine Brust hob und senkte sich mit jedem Atemzug und er musste sich mit dem Handrücken über die Stirn wischen, damit ihm der Schweiß nicht in die Augen tropfte.
Mary zog ihren Zauberstab hervor, als sie sich wieder auf den Weg zum Tisch machten, um sich eine Erfrischung zu holen und wirbelte ihn einmal um sich. Ein beinahe eisiger Wind wehte um sie und James schloss entspannt die Augen, als er sich setzte. „Das war anstrengender, als ich gedacht hätte“, gab Mary schwer atmend zu. Sie leerte ein Glas voll Kürbissaft in einem Zug und starrte es abwartend an, während es sich langsam wieder auffüllte.
„Ich hab doch gesagt, ich bin eine klasse Partybegleitung“, erwiderte er keuchend.
„Ja, ja, du hattest Recht“, sagte sie. „Das war… ziemlich gut.“
„Das liebe ich zu hören.“
„Bild dir nichts darauf auf.“
„Zu spät.“ James grinste sie lahm an und Mary verdrehte die Augen. „Weißt du, ich bin irgendwie froh, dass ihr mitbekommen seid. Ich dachte schon, der Abend wird langweilig und ich müsste mich die ganze Zeit selbst davon abhalten, nicht ein paar Dungbomben zu zünden, aber es hat tatsächlich richtig Spaß gemacht.“
Marys Wangen hatten die Röte noch nicht ganz verloren, als sie den Blick abwandte und lächelte. „Danke, dass du mich mitgenommen hast, James. Ich –“, sie stockte und biss sich auf die Unterlippe.
„Du?“, fragte James, nachdem sie nicht weitersprach.
Langsam schüttelte sie den Kopf. „Nein, egal. Nicht wichtig. Das ist – ich meine, egal. Danke.“
„Komm schon“, sagte er und stieß sie mit dem Ellbogen an. „Du kannst mit mir reden, Mary.“
Sie presste die Lippen zusammen, sodass sie wesentlich heller als der Rest ihrer Haut wirkten. Mary legte beide Hände auf den Tisch und verschränkte die Finger so eng ineinander, dass er jeden ihrer Fingerknöchel sehen konnte. „Lieber nicht“, erwiderte sie leise.
James zog die Augenbrauen zusammen. „Was soll das denn heißen?“
„Das verstehst du nicht. Das könntest du auch nicht verstehen.“
„Okay?“ Wenn er ehrlich war, verstand er jetzt schon nichts mehr. Den einen Moment hatten sie eine grandiose Zeit miteinander, tanzten und lachten zusammen, als wären sie die besten Freunde und den nächsten konnte sie ihn wieder nicht ansehen. James stellte einen Ellbogen auf den Tisch und stützte sein Kinn mit der Hand ab, dann fragte er: „Soll ich Marlene holen? Ist das so ein Mädchen-Ding?“
„Es ist kein –“, fing sie an, brach dann aber ab und schüttelte den Kopf. „Lass gut sein, James. Wirklich.“
„Na gut“, meinte er achselzuckend und wandte den Blick ab, wobei er direkt in die Augen von Lily sah, die in just dem Moment entschieden hatte, ebenfalls über den Tisch zu blicken. Für den Bruchteil einer Sekunde fühlte James sich wie erschlagen, dann lächelte er sie an. Zu seiner Überraschung lächelte sie kurz zurück, ehe sie sich wieder ihrer Begleitung zuwandte. Ob sie es tat, weil James in ihre Richtung blickte oder ob sie nur ihren Mut zusammen nehmen musste, konnte er nicht sagen, aber kaum hatte sie wieder Blicke mit Darren Harper gekreuzt, griff sie über den Tisch nach seiner Hand, die er vor sich liegen hatte.
Für einen Moment wurde ihm heiß, dann kalt, dann wieder heiß und James wandte den Blick schnell ab. „Sie scheint ihn auch gut leiden zu können“, murmelte er mehr zu sich selbst als zu Mary.
„Wie?“ Er musste nicht sagen, wen er meinte; Mary blickte ebenfalls zu Lily und Darren, schluckte schwer und sah zurück auf ihre eigenen Hände. „Oh.“
„Oh? Ich dachte, du freust dich für Lily.“
„Das tue ich. Das ist es auch nicht. Ich bin… keine Ahnung. Das verstehst du nicht.“
„Anscheinend verstehe ich eine ganze Menge nicht, wenn man sie mir nicht erklärt“, erwiderte er.
Mary schnaubte belustigt. „Liegt daran, dass du ein Junge bist. Ihr Jungs versteht sowie nie irgendwas.“
„Meine Noten sagen was anderes.“
„Idiot“, entgegnete Mary seufzend.
James löste sein Kinn von seiner Hand und lehnte sich weit in seinem Stuhl zurück, sodass er einen guten Blick auf die Tanzfläche hatte. So ziemlich alle Gäste hatte es jetzt aufs Parkett verschlagen, er und Mary, Lily und Harper sowie Slughorn und ein paar der älteren Gäste waren die einzigen, die nicht tanzten. Sirius und Marlene schienen noch lange nicht müde zu sein, auch wenn er nicht wusste, woher die beiden die ganze Ausdauer nahmen. Es wäre zwar ein perfekter Augenblick, um sich kurz zu entschuldigen, aus dem Raum zu verschwinden und Remus das Signal zu geben, aber… James blickte wieder zu Mary, die ihre ineinander verschränkte Finger anstarrte.
Nicht jeder Abend musste in heillosem Chaos enden, auch wenn es eher zum Stil der Rumtreiber passte.
„Willst du nochmal tanzen?“, fragte er.
Überrascht blickte sie auf. „Willst du denn noch tanzen?“, stellte sie die Gegenfrage.
James grinste. „Nicht unbedingt, aber ich würde, wenn du noch willst. Das macht eine gute Begleitung so. Und ein guter Freund sowieso.“
Mary holte langsam Luft, dann lächelte sie. „Das ist wirklich lieb von dir, aber ich glaube, wenn ich noch mehr tanze, dann komm ich die Treppen in den Gemeinschaftsraum nicht mehr hoch.“
„Bei so einer schrecklichen Ausdauer müsste ich dich eigentlich zwingen, dich meinen wöchentlichen Runden um den Schwarzen See anzuschließen.“
„Ha, ja, genau. Im Traum vielleicht.“ Mary schüttelte den Kopf. „Wir können einfach sitzen und reden. Oder noch mehr Nachtisch futtern.“
Ein Lächeln nahm seine Lippen ein. „Okay. Aber ich will nachher nicht hören, ich hätte mich nicht genügend angestrengt, um dir einen schönen Abend zu präsentieren, klar?“
„Was immer du sagst, James“, erwiderte sie augenverdrehend.
***
„Soll ich dir ein Geheimnis verraten?“, fragte Sirius mit raunender Stimme.
Marlene lächelte mit geröteten Wangen. „Was denn?“
„Ich hab was von dem Wein in die Karaffe mit Kürbissaft gemischt“, erwiderte er, ehe er einen großzügigen Schluck nahm.
„Sirius Black, hast du mich unschuldiges Mädchen etwa zum Trinken von Alkohol ausgetrickst?“
„Unschuldig, ja, klar.“ Er stellte sein halbleeren Glas auf einem der Tische ab, bevor er sich mit einer Hand über die heiße Stirn fuhr. „Wir sind jung und außerdem hab ich Geburtstag. Ich finde, niemand sollte da etwas gegen sagen können.“
Marlene atmete laut aus, aber trank ebenfalls einen ordentlichen Schluck aus ihrem Glas. „Du hast Glück, dass ich dich so gut leiden kann, ansonsten hätte ich das längst Sluggy gesteckt.“
„Glaub ich dir nicht“, meinte er. „Dafür hast du viel zu viel Spaß mit mir gehabt.“
„Red dir das ruhig ein, Black.“
„Das muss ich gar nicht, ich hab den Beweis ja vor mir.“ Grinsend nahm er seinen gestreckten Saft auf. „Oder möchtest du etwa verneinen, fast drei Stunden lang mit mir getanzt zu haben, weil du so viel Spaß hattest?“
Sie verdrehte die Augen. „Du hast mich ganz offensichtlich dazu gezwungen, außerdem werde ich ohne meinen Anwalt gar nichts mehr sagen. Du könntest mich vor den Zaubergamot zerren und ich würde es niemals zugeben.“
Sirius schnaubte belustigt, bevor er den Blick durch den Raum streifen ließ. In den letzten knapp zwei Stunden hatte sich die Partylaune der anderen Gäste erheblich gesenkt und ein Großteil der Leute hatte sich an Tische zurückgezogen, um ruhige Konversationen zu führen oder sie waren bereits gegangen. Sirius kannte sich nicht wirklich in der Kunst der Partyplanung aus, aber er war sich ziemlich sicher, dass Slughorn kein Händchen dafür hatte. Mehr als ein schickes Abendessen und ein paar verzauberte Instrumente hatte er nicht zusammenstellen können. Wahrscheinlich wäre es für die Party nur positiv gewesen, wenn er und James für ein wenig Chaos gesorgt hätten.
Irgendwie war dieser Plan aber ins Wasser gefallen. Während Sirius sich die Zeit mit Marlene beim wilden Tanzen vertrieben hatte, hatte er James dabei beobachtet, wie er mit Mary geredet hatte. Was auch immer die beiden besprochen hatten, es hatte gereicht, damit James von ihrem Chaos-Plan abgesehen hatte und den Abend normal ausklingen lassen wollte. Das war Sirius zwar auch Recht, aber er hätte das lieber direkt am Anfang gewusst, dann hätte er sich nie die Mühe machen müssen, Dungbomben in seinen Ärmeln zu verstecken und eine Fangzähnige Frisbee in das Futter seines Anzugs zu nähen. Sein Blick fand James und Mary, die sich ein weiteres Mal auf die Tanzfläche begeben hatten und dieses Mal zu den ruhigen, langsamen Klängen der Instrumente tanzten, James´ Hände an Marys Hüften und ihre Arme um seinen Hals gelegt. James musste nach unten sehen, damit er Mary in die Augen gucken konnte, aber das schien ihn nicht zu stören. Die ganze Zeit über waren die beiden nur am Lachen und Kichern und Flüstern und Sirius verstand nicht, was James auf einmal an Mary fand.
Klar, sie war nett und hatte einen guten Humor, aber das hatte ihn vorher auch nicht überzeugt, einen gesamten Abend lang mit ihr zu verbringen und ihn, seinen besten Freund, einfach links liegen zu lassen. Er hatte nicht einmal versucht, mit Sirius zu reden! Nicht ein einziges Mal! Und sowas schimpfte sich einen loyalen Gryffindor. Er hoffte inständig, dass James einfach nur die ganze Zeit an Marys Seite war, weil er ihr einen netten Abend bereiten wollte und nicht, weil sein bester Freund den pubertären Hormonen verfallen war. Das könnte er nicht überleben. Sirius war nicht gut darin, zu teilen und wenn er seinen besten Freund mit einem Mädchen teilen müsste, dann würde das einem Weltuntergang gleichkommen.
„Die beiden verstehen sich echt gut, oder?“, riss ihn Marlenes Stimme aus den Gedanken.
Er drehte den Kopf zu ihr. „Findest du?“
Sie lächelte und ihre geröteten Wangen verzogen sich dabei. „Klar! Ich finde, sie passen auch echt gut zusammen.“
Sirius verzog das Gesicht zur Grimasse. „Sag sowas nicht“, murrte er und nahm einen Schluck Kürbissaft-Wein. „Für sowas ist mein kleiner James noch viel zu jung.“
„Sicher?“, fragte sie mit dem Kinn auf einer Hand abgestützt. „Es sieht für mich nämlich so an, als würden die beiden sich wirklich gut verstehen.“
Grummelnd versuchte Sirius nicht zu seinem besten Freund zu blicken, der seine Augen nicht von Mary genommen hatte. Er lachte über etwas, dass sie sagte und Sirius musste zugeben, dass James zumindest ansatzweise so aussah, als würde er Spaß abhaben. Er zwang sich dazu, den Kopf abzuwenden und sein Blick glitt zum großen Eichentisch in der Mitte des Raums. Im Gegensatz zu ihm und Marlene und James und Mary, hatte Lily nicht ein einziges Mal mit ihrer Begleitung getanzt. Sirius mochte es nicht unbedingt, Vermutungen anzustellen, aber er hoffte darauf, dass der Slytherin-Junge sich einfach weigerte, mit Lily zu tanzen. Zwar würde er sich für Lily freuen, jetzt wo sie sowas wie Freunde waren, aber er konnte sein Gewissen nicht damit beruhigen, dass Darren Harper ein schmieriger Slytherin war, der die letzten zwei Jahre nicht einen Blick in Lilys Richtung geworfen hat, aber auf einmal nicht mehr genug von ihr bekommen konnte.
Entweder Lily war wirklich gut darin, ihre Gefühle zu verstecken, während sie mit Harper ausgelassen redete, oder sie wollte einfach nicht mit ihm tanzen. Vielleicht musste Sirius zugeben, dass auch Slytherins menschliche Rechte verdient hatten und nicht einfach nur aus nutzlosen, schmierigen, egoistischen Vollidioten bestanden, die ihre eigene Mutter für ein Ohnegleichen verkaufen würden. Zugegeben, Sirius würde seine Mutter für ein paar seltene Schokofroschkarten tauschen, aber das hatte nichts mit seiner Person zu tun.
„Komm schon, wir sind keine kleinen Kinder mehr“, meinte Marlene lachend, ehe sie ihn mit der Schulter anstieß. „Immerhin hast du selbst heute Geburtstag, nicht? Vierzehn ist doch sicher alt genug, um ein paar neue Gefilde zu erkunden.“
„Ja, im Verbotenen Wald vielleicht“, murrte Sirius. „Aber doch nicht bei… anderen Leuten.“ Schon gar nicht bei Mädchen, fügte er in Gedanken hinzu. „Das ist einfach nur absurd.“
„Oh, werd erwachsen, Sirius“, meinte sie augenverdrehend. „Es ist ja nicht so, als würden sie vor aller Augen hier rumknutschen und sich halb ausziehen.“
„Bitte sag sowas nie wieder, oder ich werde diese Bilder nie mehr aus meinem Kopf bekommen.“
Ein weiteres Mal verdrehte sie die Augen. „Wer hätte gedacht, dass gerade der rebellische Sirius Black so ein Spießer sein würde.“
„Ich bin kein Spießer!“, echauffierte er sich. „Wie kannst du es überhaupt wagen, dieses Wort und meinen Namen in einem Satz zu verwenden? Ich bin wenn dann das Gegenteil von einem Spießer, auch wenn ich nicht weiß, wie man das nennt. Ich will einfach nur nicht, dass mein kleiner James korrumpiert wird.“ Er ließ eine kleine Pause, dann fügte er an: „Von Mädchen.“
„Oh Mann“, murmelte Marlene. „Jungs.“
Es war Fluch und Segen zugleich, dass in just diesem Moment Slughorn erneut das Wort ergriff. Seine magisch verstärkte Stimme hallte durch den Raum und es wurde bereits von den ersten Worten an klar, dass er ebenfalls ein paar Gläser von dem guten Wein getrunken hatte, auch wenn Sirius bezweifelte, dass sein Zaubertranklehrer diesen mit Kürbissaft verdünnt hatte. „Meine lieben Gäste!“, rief Slughorn aus, seine Stimme leicht lallend. Die Leute auf der Tanzfläche, James und Mary eingeschlossen, hielten in ihren Bewegungen inne und ließen voneinander ab, damit sie Slughorn ihre Aufmerksamkeit schenken konnten. „Ihr könnt gar nicht glauben, wie sehr es mich gefreut hat, euch alle heute hier zu haben! Meiner bescheidenen Meinung nach war das wieder ein ganzer Erfolg und ich bin sicher, Ihr könnt es kaum erwarten zu erfahren, wann wir uns das nächste Mal wiedersehen können, nicht wahr?“ Er lachte, wobei Sirius sehen konnte, wie die Knöpfe an seinem Mantel stark dagegen ankämpften, nicht aufzuspringen.
Niemand erwiderte etwas. Eine unangenehme Stille nahm den Raum ein, als selbst die Instrumente aufhörten zu spielen.
Slughorn räusperte sich vernehmlich. „Nun, Ihr müsst nicht lange warten! Zum neuen Jahr werde ich wieder eine kleine Runde öffnen und dann können wir uns alle mal ein bisschen besser kennenlernen, oder? Vielleicht kann ich Dumbledore dann auch mal überzeugen, vorbeizuschauen und das ein oder andere Glas Feenwein mit uns zu trinken!“ Erneut lachte der Zaubertränkeprofessor ausgiebig, während die Gäste ihm nur milde interessierte Blicke zuwarfen. „Es steht allen natürlich frei, noch ein wenig zu bleiben, die restlichen Getränke zu leeren oder ein paar Gespräche zu führen, aber für meine Seite war es das heute! Ich habe mich wirklich gefreut, euch alle zu sehen und ich hoffe, wir sehen uns bald wieder! Allen die gehen wünsche ich natürlich eine gute“, er hickste kurz auf, „Nacht, Verzeihung, und allen, die noch bleiben, noch ganz viel Freude.“ Slughorn nahm unter höflichen Applaus seinen Stab von seinem Hals.
„Die nächste Einladung wird direkt verbrannt“, murmelte Sirius in Marlenes Richtung. „Ich kann nicht glauben, dass ich für diese lahme Entschuldigung einer Party meinen Geburtstag nich gefeiert hab.“
„So schlimm war es auch nicht“, erwiderte sie. „Das Essen war echt gut. Und ich wette, Frank hätte dir nie erlaubt, Wein mit Kürbissaft zu trinken.“
Sirius schnaubte. „Frank ist nicht mein Vater.“ Er leerte den Rest seines Getränks und wurde sich der Hitze seiner eigenen Haut bewusst, als der Alkohol seine Kehle hinabfloss. Noch war er nicht überzeugt, ob er ein allzu großer Fan von Wein war, aber er wusste definitiv, dass es bei der nächsten Party nicht so lahm hergehen würde. „Außerdem würde er sich bestimmt selbst was davon gönnen.“
„Das würde Alice ihm nicht erlauben.“
Einen Moment wägte Sirius die hypothetische Situation ab, dann nickte er. „Okay, hast Recht. Ich will Alice nicht erleben, wenn sie richtig wütend wird.“
Marlene streckte die Hände über den Kopf und gähnte ausgiebig. Sie warf einen Blick zum Tisch, dann zur Tanzfläche, dann wieder zurück zu Sirius. „Begleitest du mich in den Gemeinschaftsraum?“
„Hm?“
„Bei Merlins Bart“, murrte sie, ehe sie nach seinem Arm griff und ihn mit sich zog. „Komm schon, wir hauen ab.“
„Was ist mit den anderen?“, fragte er und befreite sich aus ihrem Klammergriff, bevor er sich die Stelle rieb. Marlene hatte ziemlich kräftige Finger.
„Sehen die so aus, als würden die sich in nächster Zeit von der Stelle bewegen?“, stellte Marlene die Gegenfrage.
„Aber –“ Sirius stockte. Obwohl Slughorn schon längst aus dem Raum gewankt und gut die Hälfte der Partygäste mit sich genommen hatte, hatten weder James und Mary noch Lily und Darren Harper sich einen Meter vom Fleck bewegt. Lily war erneut tief ins Gespräch mit ihrer Begleitung vertieft und James und Mary… „Daran gebe ich nur dir die Schuld, ich hoffe, das weißt du“, brummte Sirius, als er sich vom Anblick seines besten Freundes abwandte, der die Augen geschlossen und sein Kinn auf Marys Kopf abgestützt hatte, während Mary ihren Kopf auf seiner Schulter stützte. Sie sahen schrecklich vertraut miteinander aus.
Marlene hakte sich bei ihm unter und zerrte ihn wieder zur Tür. „Schon gut“, sagte sie, tätschelte seinen Unterarm und öffnete die Tür mit einem Fußtritt. „Du wirst drüber hinwegkommen.“
Er ließ zu, dass Marlene ihn bis zur Treppe rauf in die Eingangshalle zerrte, bis ihm ein schrecklicher Gedanke kam. Mitten in der Bewegung stockte er, sodass Marlene ebenfalls gezwungen war, stehenzubleiben. „Du wusstest es“, sagte er leise.
In den Halbschatten auf der Treppe, die nur spärlich durch das Fackellicht aus dem Kerkergang beleuchtet wurde, sahen ihre roten Wangen aus, als würde sie jeden Moment Feuer fangen. Sie lächelte ihn an. „Was wusste ich?“
„Tu nicht so“, gab er zurück. „Du wusstest, dass Mary – du wusstest, dass sie James gut findet. Deswegen wolltest du unbedingt, dass ihr mitkommen könnt.“
Marlenes Lächeln wurde ein wenig breiter. „Wusste ich das? Vielleicht. Aber vielleicht hab ich auch nur die Gelegenheit beim Schopf gepackt. Vielleicht finde ich dich ja gut, hast du das schon in Betracht gezogen?“
Genauso gut hätte sie ihm eine Faust in die Magengrube rammen können. Sirius blieb der Atem weg, als er Marlene auf der halbdunklen Treppe anstarrte. Er öffnete den Mund, aber die Fähigkeit zu Reden war ihm kurzzeitig abhanden gekommen. Stattdessen schloss er den Mund wieder und ging einen Schritt nach hinten.
Einen Augenblick später drückte Marlene sich eine Hand auf den Mund und prustete. „Oh Merlin, du hättest dein Gesicht sehen sollen!“, presste sie zwischen ihren Fingern hindurch. „Das war ein Witz, du Idiot.“
Sirius stieß all seine Luft aus den Lungen und versuchte sein plötzlich rasendes Herz zu beruhigen. „Darüber macht man keine Witze“, erwiderte er keuchend.
Augenverdrehend wandte sie sich um. „Wie auch immer. Natürlich wusste ich, dass Mary James gut findet. Sie ist eine meiner besten Freundinnen und sie ist auch nicht gerade subtil damit.“
„Was?“ Sirius, noch immer mit rasendem Herz und eine Milliarden Horrorszenarien im Kopf, die alle damit endete, dass er und Marlene sich auf der Treppe… er wollte den Gedanken nicht einmal beenden, so schrecklich fand er ihn, obwohl er Marlene wirklich gut leiden konnte. „Bist du sicher?“
„Natürlich bin ich sicher, du Holzkopf, oder willst du mir sagen, keiner von euch will mitbekommen haben, wie Mary James immer mal wieder verstohlene Blicke zugeworfen hat oder einfach unnatürlich nervös in seiner Nähe geworden ist? Es war ja wohl klar, dass sie ihn gut findet.“ Sie warf ihm ein rasches Grinsen über die Schulter zu, während sie die Wendeltreppe nach oben gingen.
Seine Beine brannten und sein Kopf stand unter Wasser. „Mir war das nicht klar“, gab er mit matter Stimme zurück. „Und James sicher auch nicht.“
Seufzend antwortete sie: „Selbstverständlich nicht, ihr seid ja auch Jungs. Von sowas habt ihr einfach keine Ahnung.“
Die offensichtliche Beleidigung überging er. In der Eingangshalle angekommen, fragte er: „Also hast du mich wirklich ausgetrickst? Heute Morgen?“
Marlene zuckte mit den Schultern. „Klar. Mary hätte James von sich aus niemals gefragt, schon gar nicht mit… egal. Jedenfalls dachte ich, dass das die perfekte Gelegenheit wäre, zu klären, ob er auch an ihr interessiert sein könnte, wenn ich sie einfach zwinge, Zeit miteinander zu verbringen.“ Vor der Marmortreppe blieb sie stehen und drehte sich zu Sirius um. Mondlicht ließ ihre blonden Haare fast weiß erstrahlen. „Ich hatte Recht.“
„Was ist mit Lily?“
Seine Frage ließ Marlens Lächeln in sich zusammenfallen. „Was soll mit ihr sein?“, erwiderte sie leise. „Sie hat Darren, oder?“
Sirius biss sich auf die Zunge. Es war für ihn ein offenen Geheimnis, dass James irgendwelche Gefühle für Lily hegte, auch wenn dieser sich dieser noch nicht ganz bewusst war. Er wusste nicht, ob es fair wäre, wenn er die jetzt aussprechen würde, zumal Marlene Recht hatte. Lily hatte Darren. Selbst wenn James sie gut finden würde – er hätte im Moment sowieso keine Chance. Kopfschüttelnd sagte er: „Du hast Recht, ignorier das.“
Marlene blieb einen Moment lang still, dann seufzte sie leise. „Ich will ihr nur helfen, okay?“
Ob sie Mary oder Lily meinte, wusste er nicht, aber er nickte trotzdem. „Ich weiß.“
„Tut mir leid, dass ich dich ausgenutzt hab.“
„Schon gut. Es war zu einem höheren Zweck und“, Sirius schluckte schwer, bevor er mit Schultern zuckte, „wahrscheinlich hast du beiden einen Gefallen damit getan.“
Die Stille und Dunkelheit im Schloss schien erdrückend zu sein, als Sirius einen Schritt weiterging und neben Marlene stehenblieb. Er schenkte ihr ein wackliges Lächeln. Wenn James glücklich war, dann war er auch glücklich, selbst wenn das hieß, dass er plötzlich an Mädchen interessiert war. Er hielt Marlene den Arm hin und wartete, bis sie sich einhakte.
Ihre Finger schlossen sich fest um seine Haut und er war sich sicher, dass er ihre Hitze durch seinen Festumhang spüren konnte. Das Mondlicht malte schattige Umrisse auf ihr Gesicht und Sirius wandte den Blick ab. „Nächstes Mal musst du mich nicht austricksen, wenn du unbedingt auf eine Party gehen willst.“
Marlene lächelte, ohne zu ihm zu sehen. „Ich weiß.“
Mädchen, dachte Sirius verwirrt, bevor er mit Marlene den langen Weg in den Gemeinschaftsraum antrat.
Chapter 44: 44. Jahr 3: Kurzweiliger Bruch
Chapter Text
Es war sehr schnell sehr kalt geworden, sodass Peter selbst in seinem dicksten Winterumhang noch fror. Die Luft auf dem Gelände war kratzig und eisig, der Boden war mit Reif besetzt und knirschte bei jedem seiner Schritte und sein Atem stieg in weißen, hellen Wolken vor seinem Mund in den Himmel. Er hatte seit gut zwei Wochen kaum ein Wort mit James und Sirius gewechselt und das Wetter schien die eisige Stimmung, die im Gryffindor-Schlafsaal herrschte, zu teilen.
„Das ist das perfekte Wetter“, ertönte Professor Kesselbrands Stimme ein paar Meter vor ihm, „um zu beobachten, wie die Salamander sich für ihre Überwinterung vorbereiten. Wenn wir Glück haben, sehen wir vielleicht sogar, wie sie ihr Feuer einfrieren.“
Einmal mehr führte der vernarbte Professor sie in den Verbotenen Wald, die hohen Wipfel der Bäume wie ein abschirmendes Dach vor dem graublauen Winterhimmel. Nadeln und feuchte Blätter säumten den Weg, sowie reifbedecktes Moos und in den Boden gefrorene Abdrücke von Tieren und magischen Wesen. Ihre Schritte knirschten über die Blätter.
Noch bevor sie die Lichtung erreichten, die Professor Kesselbrand für den Unterricht immer wieder nutzte, ließ Peter sich zurückfallen, bis er neben Benjy angekommen war, der die Hände tief in seinen Taschen vergraben hatte. Ein rosiger Glanz lag auf seinen sonst blassen Wangen und es sah aus, als würden die Gläser seiner Brille jeden Moment einfrieren. „Meinst du, es fällt auf, wenn wir einfach abhauen und es uns in der Großen Halle gemütlich machen?“
„So gerne ich jetzt eine heiße Schokolade trinken würde“, murmelte Benjy grinsend neben ihm, „ich kann es mir nicht erlauben, sowas zu verpassen. Wann kann man denn schon mal sehen, wie Salamander sich zur Überwinterung vorbereiten?“
Peter zog die Augenbrauen zusammen. „Soll ich dir einen zu Weihnachten schenken? Dann kannst du es jedes Jahr sehen.“
„Red keinen Unsinn, Pete, Salamander sind keine guten Haustiere, das hat Kesselbrand uns letzte Stunde erst erzählt. Wahrscheinlich würde er das Waisenhaus abfackeln, wenn ich ihn mitnehmen würde.“ Er hielt für einen Moment inne, dann holte er zu Peter auf. „Bei genauerer Überlegung wäre das gar keine so schlechte Idee.“
„Ne, lieber nicht, ich will nicht Schuld sein, deine pyromanischen Gedanken zu unterstützen.“
„Das war einmal!“
„Das reicht vollkommen aus, um –“
„Ich darf die Herrschaften in der letzten Reihe doch auch um Ruhe bitten, oder?“ Professor Kesselbrand war auf der Lichtung stehengeblieben, hatte seine ungleichen Arme verschränkt und tippte mit der hölzernen Hand ungeduldig auf seinem Unterarm herum. Eine seiner Augenbrauen war bis in seine vernarbte Stirn gezogen, während er Peter und Benjy betrachtete. Ein Großteil der Klasse hatte ebenfalls zu ihnen gesehen.
Peter wurde schrecklich heiß und presste die Lippen zusammen. Er versuchte James oder Sirius´ Blick nicht zu treffen, aber das erwies sich als schwieriger als erwartet; James stand ein paar Schritte vor ihm, den Nacken bis auf den Anschlag verdreht und Sirius lehnte zu seiner Rechten an einem der Bäume. Beide sahen eindeutig zu ihm, eine stumme Bitte in den Augen.
Nur ein Blick reichte aus, damit Peter die Schultern durchdrückte und die Hände zu Fäusten ballte. Er würde nicht weich werden und nachgeben. Er war sauer auf die beiden und nur weil sie gerne mit ihm abhängen würden, hieß das nicht, dass er ihnen sofort vergeben würde. Peter schüttelte kaum merklich den Kopf.
Professor Kesselbrand lockerte seine Haltung. „Wie ich gerade sagte, können wir die Salamander dabei beobachten, wie sie sich einen Unterschlupf graben und dabei mit ihrem langen Schweif ihre Spuren verwischen. Sie sind wirklich intelligente Wesen und…“
Es war spannend, aber nicht spannend genug, damit Peter sich dazu zwingen konnte, zuzuhören. Zu sehr war er damit beschäftigt, überall hinzusehen, außer zu seinen Freunden. Zu seinen ehemaligen Freunden, wohl eher. Es war ihm schleierhaft, wie Remus ihnen einfach verzeihen konnte. Peter hatte schon viel über sich ergehen lassen, seit er mit James und Sirius befreundet war, hatte Nachsitzen ertragen, wurde verhext und verflucht und zum Gespött gemacht, aber jedes Mal waren die beiden zumindest an seiner Seite gewesen, um ihm zu helfen. Er hätte nie gedacht, dass sie es mal sein würden, die ihn einfach im Stich lassen würden. Er verstand nicht, was in sie gefahren war. Sie hatten einen Plan gehabt, sie hatten alles vorbereitet, alles war perfekt und es hätte der perfekte Abend sein können, aber… sie hatten ihn hängen lassen. Ihn und Remus, aber es schien, als wäre Remus nicht in der Lage, ihnen böse zu sein.
Peter schnaubte lautlos. Sollte ihm Recht sein. Solange keiner von ihnen wirkliche Anzeichen machte, dass es ihnen leid tat, sah Peter auch keinen Grund, wieso er sich weiter in einer Freundschaft aufhalten musste, in der er nicht gleichberechtigt war. Zwar würde er es nicht zugeben, aber er hatte oft darüber nachgedacht, ob die anderen nicht Recht gehabt hatten… dass er nur ein Mitläufer gewesen war und das James und Sirius nur mit ihm befreundet waren, weil er tat, was sie wollten. Nun. Was auch immer es war, damit war es zu Ende. Peter hatte damit abgeschlossen, ein Rumtreiber zu sein. Er wollte seine restliche Zeit an Hogwarts damit verbringen, sich mit den Leuten abzugeben, die seine Freundschaft nicht als selbstverständlich ansahen und wenn er dafür soweit gehen musste, seine früheren Freunde fallen zu lassen – dann war das wohl leider so. Er war kein Boxsack und er würde sich auch nicht so behandeln lassen.
Ein Ellbogen in seiner Seite ließ ihn aufblicken. Benjy starrte ihn herausfordernd an.
„Was?“
„Ich hab gefragt, ob du das mit mir machen willst“, sagte er geduldig klingend.
„Was machen?“
Benjy rollte mit den Augen. „Die Salamander-Aufgabe.“ Er wartete einen Moment, dann seufzte er. „Meine Güte, komm mit. Sonst fällst du noch durch.“
Peter wurde sich bewusst, dass er die letzten Minuten komplett ausgeblendet und überhaupt nichts vom Unterricht mitbekommen hatte. Der Großteil der Klasse hatte sich bereits in Gruppen zusammengefunden und mit Pergament und Feder bewaffnet die umgrenzenden Bäume und Büsche unter die Lupe genommen. Zu niemandes Überraschung hatten James und Sirius sich in eine Gruppe geworfen, sowie Mary und Marlene in eine andere und obwohl Peter nicht zugehört hatte, war er sich ziemlich sicher, dass es nicht der Sinn der Aufgabe war, zu viert auf einem Haufen zu hocken und leise zu tuscheln. Wut brodelte in seinem Magen auf und er wandte rasch den Blick ab, als Mary die Hand vor den Mund legte und über etwas lachte, das einer der beiden gesagt hatte.
„Bist du immer noch sauer?“, fragte Benjy leise, als er ihn ein wenig außerhalb der Lichtung zu ein paar dichtstehenden Baumstämmen gezerrt hatte. Ein dünner Frostfilm bedeckte die Rinde an einigen Stellen und ein paar heruntergefallene Blätter sahen so aus, als wären sie komplett gefroren und zersprungen.
„Ich bin nicht sauer“, erwiderte er. „Ich bin durch mit denen.“
„Aber du willst mir immer noch nicht sagen, wieso?“ Benjy hatte einen Fetzen Pergament aus seiner Tasche gezerrt und begann in krakeliger Schrift ein paar Notizen zu nehmen, die Peter beim besten Willen nicht entziffern konnte. Benjys Schrift war schlimmer als die von Sirius. Zumindest würde er das denken, wenn er noch an Sirius denken würde, aber das tat er nicht, denn er war mit durch mit ihm.
„Gibt keinen Grund“, murmelte er und hockte sich neben Benjy. „Was genau sollen wir tun?“
„Lass mal.“ Benjy beendete einen Punkt auf seinem Pergament, dann wandte er den Blick zu ihm. Seine Brillengläser reflektierten das wenige Licht, das durch die gefrorenen Baumkronen drang, sodass ein Teil seiner Augen verspiegelt war. Es ließ ihn verwegener aussehen, als er wirklich war. „Selbst wenn ich es cool finde, dass du zum Essen bei uns sitzt, das ist doch dämlich, Peter. Ihr seid Freunde, oder nich´?“
Peter seufzte ungeduldig. „Nicht mehr“, erwiderte er. „Zumindest will ich nicht mit Leuten befreundet sein, die mich einfach links liegen lassen.“
„Das kann ich nicht beurteilen, wenn du dich weiterhin weigerst, irgendwas darüber zu sagen.“
„Dann musst du mir wohl einfach glauben.“
Benjy fixierte ihn für ein paar Augenblicke mit seinem Blick, die Augen hinter seiner Brille leicht verschattet und ein Ausdruck in ihnen, den Peter nicht deuten konnte, dann seufzte er und zuckte gleichzeitig mit den Schultern. „Wenn du das sagst. Dann stellen wir aber zumindest die Regel auf, nicht mehr darüber zu reden, alles klar?“
„Liebend gerne“, erwiderte Peter strahlend. Er fragte sich, wie er überhaupt die ganze Zeit mit seinen Schlafsaalgenossen befreundet sein konnte, wenn Benjy viel verständnisvoller war, als sie alle zusammen genommen. Noch hatte er nicht ganz verstanden, was ihre Aufgabe für die Stunde war, aber mit Benjys Anleitung und fast alleiniger Beteiligung schafften sie es, ein paar Pergamentseiten vollzukritzeln und am Ende der Stunde Professor Kesselbrand zu geben.
Dieser achtete kaum auf sie, denn zu sehr war er damit beschäftigt, James und Sirius vor versammelter Klasse zur Schnecke zu machen. „In all meinen Jahren als Lehrer“, und, „noch nie habe ich gesehen, wie“, sowie, „das werde ich eurer Hauslehrerin mitteilen!“, wurde einige Male genannt, während die beiden nur so aussahen, als würden sie sich fragen, was es zum Mittagessen gab. So wie Peter sie kannte, stimmte das wahrscheinlich auch.
Er wandte den Blick von ihnen ab und ging mit Benjy zurück zum Schloss. In der Großen Halle setzte er sich wieder mit an den Ravenclaw-Tisch, wo Dorcas und Emmeline bereits in die neuste Ausgabe der Hexenwoche vertieft waren. Sie blickten nur kurz auf, als sie sich setzten, dann widmeten sie sich wieder ihren wesentlich interessanteren Beschäftigungen. Dorcas kreuzte mit der Feder immer wieder etwas im Magazin an, während Emmeline leise Auskünfte gab oder kicherte. Es war für Peter ein beinahe unlösbares Rätsel, was die beiden so sehr an der Hexenwoche fanden.
Peter war gerade dabei sich eine ordentliche Portion Gemüseauflauf in den Mund zu schaufeln, als er ein paar altbekannte Stimmen hörte, die vom Gryffindor-Tisch kamen. Er musste sich nicht umdrehen, um James und Sirius zu erkennen, die einmal mehr mit den Mädchen redeten. Unter ihre Stimmen hatten sich Lily und Remus gemischt und sie alle schienen sich dem Gelächter nach prächtig zu verstehen. Die Kanten seiner Gabel schnitten tief in seine Haut, als er die Hand festzusammendrückte.
Benjy beobachtete ihn, sagte aber nichts.
„Oh, nein, das kann nicht stimmen“, sagte Dorcas plötzlich und faltete die Hände über dem Kopf zusammen.
„Bitte nicht“, murmelte Emmeline lachend.
„Was is´?“, fragte Benjy und Peter war dankbar für die Ablenkung.
Dorcas blickte auf und in ihren dunklen Augen schwamm eine Mischung aus Belustigung und Horror. „Das Quiz kann nicht stimmen“, sagte sie, bevor sie Benjy die Hexenwoche zuschob.
Er runzelte die Stirn und las vor: „Welches Hogwarts-Haus wird Ihnen die besten Liebhaber hervorbringen?“ Seine Stimme brach ab und der Mund hing ihm offen.
Peter konnte es ihm nicht verdenken, warf aber trotzdem einen Blick über seine Schulter, um sich die Quizfragen durchzulesen. Ihm fielen die kleinen Kreuze auf, die Dorcas ins Heft gemalt und damit ihre Antworten markiert hatte. Am Ende gab es eine Liste mit den vier Häusern, allesamt mit einem kurzen Text ausgestattet. „Welches Haus hast du bekommen?“
Emmeline brach in lautloses Gelächter aus, während Dorcas das Gesicht zur Grimasse verzog. „Slytherin“, sagte sie, als würde ihr etwas bitteres auf der Zunge liegen.
„Die Schlange ist nicht umsonst das Hauswappen der Slytherins – mit ihrem Einfallsreichtum, ihrer Begierde nach Erfolg und einer Verbindung zum alten Adel, ist es nicht weiter verwunderlich, dass viele Slytherin-Zauberer nicht nur in der Karriere großen Erfolg verspüren. Die renommierten Hexenwochen-Umfragen haben außerdem ergeben, dass Slytherin die Liebhaber hervorbringt, die besonders auf den Erfolg der Partnerin aus sind.“ Ein widerwärtiges Gefühl überkam ihn und Peter schüttelte sich am ganzen Leib. „Seid ihr sicher, dass ihr nicht aus Versehen die Erwachsenen-Ausgabe erwischt habt?“
Emmeline brachte weiterhin keinen Ton hervor, während Dorcas immer weiter auf ihrem Sitz herunterrutschte. „Das ist das schlimmste Schicksal, bei Weitem.“
„Das ist doch nur Unsinn“, sagte Benjy, der sich wieder gefangen hatte. „Die denken sich irgendwas aus, um Seiten zu füllen und die Leute zu beschäftigen. Ich meine, die haben sicherlich nich´ jeden ehemaligen Slytherin befragt, was er so… also, wie er im… ihr wisst schon.“ Seine Wangen wurden schrecklich rot und er schob die Zeitschrift mit spitzen Fingern von sich.
„Das vielleicht“, brachte Emmeline zwischen Lachanfällen heraus, der bereits die Tränen in den Augen standen und die so aussah, als würde sie jeden Moment vom Stuhl kippen. Ihr ganzes Gesicht hatte eine angestrengt rötliche Färbung angenommen. „Wir konnten nur nicht anders und mussten uns das direkt für unsere Slytherins vorstellen, wie sie –“, weiter kam sie nicht, denn ein weiterer Lachkrampf nahm sie ein. Emmeline krümmte sich vor Kichern und presste sich beide Hände auf den Mund, um keine weitere Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen.
Peter wurde heiß, dann kalt, dann wieder heiß und dann wurde ihm übel, als er über Dorcas´ Schulter hinweg zum Tisch der Slytherins blickte. Vielleicht könnte er einigen von den für ihn namenslosen älteren Schülern noch zutrauen, die Kriterien der Hexenwoche zu erfüllen, aber wenn er sich Exemplare wie Snape, Mulciber und Avery ansah, dann konnte er Dorcas wirklich verstehen. „Ist ja widerlich“, murmelte er, ehe er den Blick schnell wieder nach unten zerrte.
„Das reicht“, sagte Dorcas schließlich, packte die Zeitschrift und stopfte sie in ihre Tasche. „Ich werde dieses Ding nie wieder anfassen. Es hat meine Unschuld verdorben und ich werde nie wieder reine Gedanken haben können. Vielleicht bestell ich lieber die Quidditch Heute Zeitschrift.“
„Hab noch nie verstanden, wieso ihr das überhaupt lest“, erwiderte Benjy, der lustlos in seinen Kartoffeln stocherte. Es war offensichtlich, dass ihm der Appetit vergangen war.
„Es ist unterhaltsam“, meinte Emmeline kichernd. Sie zuckte mit den Schultern und holte tief Luft, bevor sie sich mit beiden Händen übers Gesicht wischte und sich die dunklen Strähnen aus der Stirn schob. „Außerdem echt witzig, ein Welcher-Zauberer-steht-heimlich-auf-dich-Quiz um zwei Uhr nachts zu machen, wenn man nicht schlafen kann.“
Benjy seufzte leise, ehe er seinen Teller von sich schob. „Euch ist nicht mehr zu helfen.“
Eine idiotische und gleichzeitig geniale Idee leuchtete in Peters Hirn auf. Aufgeregt drehte er sich zur Seite, um James davon zu erzählen – nur um einen Moment später zu realisieren, dass er nicht neben James saß, sondern neben einem Fünftklässler aus Ravenclaw, der ein wenig von ihm wegrutschte. Peter biss sich auf die Zunge. Er war sich sicher, dass seine Idee einen unfassbar guten Streich generieren würde, aber… er würde es nicht allein hinbekommen. Seine Augen wanderten langsam zu Emmeline, die sich mit den Fingern durch die Haare fuhr, zu Dorcas, die sich immer wieder auf die Wangen schlug, um die Hitze daraus zu verbannen, bis zu Benjy, der seine Brille abgenommen hatte und sich den Nasenrücken rieb. Wer sagte denn, dass er nur dann Streiche spielen konnte, wenn er mit James und den anderen abhing?
„Ich hab eine Idee“, sagte er leise und die Blicke seiner Freunde blitzten auf.
***
„Habe ich eigentlich schon mal erwähnt, dass ihr Gryffindors alle unheimlich seid?“, sagte Emmeline leise, während sie sich hinter Peter an der Kerkerwand entlang schlich.
„Ja, zwei Mal, in den letzten drei Tagen“, erwiderte er flüsternd.
„Gut, ich wollte nur sichergehen. Ihr seid nämlich unheimlich. Ich meine, wie kommt man dann bitte auf die Idee, sich nachts in den Kerkern herumzuschleichen?“
„Keine Sorge, ich hab schon Übung darin, wir werden schon nicht erwischt.“
Emmeline murmelte etwas, dass sich sehr nach: „Das werden wir ja sehen“, anhörte, sagte dann aber nichts mehr.
Mit gespitzten Ohren drückte Peter sich an der Wand weiter. Zugegeben, ohne James´ Tarnumhang fühlte er sich etwas unsicherer, in den Kerkern herumzuschleichen, aber solange er die Ohren nach in der Ferne kommenden Schritten offen hielt, sollte nichts passieren, was er nicht bewältigen könnte. Das würde nicht nur beweisen, dass er die anderen nicht brauchte, sondern auch, dass er auf niemanden angewiesen war, um etwas auf die Beine zu stellen. Vielleicht war sein Plan nicht so gut ausgearbeitet, wie er es wäre, wenn James oder Sirius ihm geholfen hätten und vielleicht hatte er nicht die magische Expertise, über die Remus verfügte, mit der noch so komplizierte Streiche zu gelingen schienen, aber das war nicht wichtig. Es war nicht wichtig, was ihm fehlte, sondern was er zu bieten hatte.
„Der Slytherin-Gemeinschaftsraum liegt gleich da vorne“, sagte Peter, als er an einer Ecke anhielt. Er deutete mit der Hand nach vorne.
„Und wie kommen wir da bitte rein, ohne gesehen zu werden?“, fragte sie zweifelnd.
„Gar nicht. Müssen wir auch nicht“, fügte er an, bevor sie fragen konnte. „Wir warten hier, bis Snape den Gemeinschaftsraum verlässt und dann belegen wir ihn mit dem Zauber und unsere Arbeit ist getan. Es gibt nichts einfacheres als das.“
„Mir würden da ungefähr zwanzig Sachen einfallen“, murmelte sie.
Peter verdrehte die Augen. „Hab ein wenig Selbstvertrauen, Em. Der Zauber ist echt gut.“
„Das weiß ich. Ich weiß nur nicht, wieso ich ihn wirken muss.“
„Weil du besser in Zauberkunst bist als ich. Außerdem bist du noch nicht in den Genuss gekommen, wie es ist, jemandem einen Streich zu spielen.“
„Muss ich das denn?“, fragte sie zweifelnd.
Peter unterdrückte ein genervtes Stöhnen. Mit James, Sirius und Remus hätte er diese Probleme nicht gehabt, aber daran wollte er nicht denken. Mit denen war er durch und das würde sich so schnell auch nicht mehr ändern. „Du musst nicht“, sagte er. „Aber du wirst es bestimmt bereuen. An seinen ersten Streich erinnert man sich sein Leben lang.“
Von Emmeline kam ein leises Zungeschnalzen. „Warum klingt das so, als würde ich in einen Kult aufgenommen werden?“
Irgendwie war es ja auch so, dachte Peter, hatte aber keine Zeit mehr, ihr auch zu antworten. Von der steinernen Wand kam ein leises Zischen und er drückte sich tiefer in den Schatten der Kerker, in der Hoffnung, dass niemand sie sehen würde. Die dunkelgrauen Ziegelsteine spalteten sich in einer hypnotisierenden, schlängelnden Bewegung auf und gaben einen schmalen Durchgang preis, der in den Slytherin-Gemeinschaftsraum führte. Aus dem schimmernd grünlichen Licht des Durchgangs traten eine Gruppe an Sechstklässlern, die sich über irgendeine Hausarbeit unterhielten. Ihre Stimmen und Schritte verschwanden im Echo, bis der Gang wieder still wurde. Der Eingang in den Gemeinschaftsraum verschwand nahtlos in die Wand.
Hinter ihm atmete Emmeline hörbar aus. „Komm schon, das ist doch doof“, sagte sie leise. „Man erwischt uns noch, wenn wir länger hier herumlungern. Können wir nicht einfach in die Große Halle gehen und eine Runde Schach spielen?“
„Ich zwing dich nicht hierzubleiben“, presste Peter durch seine zusammengebissenen Zähne hindurch. Zwar würde er es lieber haben, wenn Emmeline den Zauber wirkte, weil er ihn nicht vollends beherrschte, aber er würde sie auch nicht dazu überreden, ihm unbedingt zu helfen. Er mochte Emmeline und seine anderen Freunde aus Ravenclaw wirklich gern und er war ihnen ziemlich dankbar, dass sie ihn quasi nahtlos in ihre Gruppe aufgenommen hatten, aber er musste auch zugeben, dass es mit ihnen einfach nicht dasselbe war. James oder Sirius würden sich nicht beschweren, wenn sie ein paar Minuten geduldig sein müssten. Remus würde sich vielleicht beschweren, aber er würde es trotzdem aushalten. Sie würden sich gegenseitig mit Witzen und Planungen unterhalten, bis die Zeit gekommen wäre, aber Peter musste sich irgendwie auch eingestehen, dass er nicht wirklich wusste, worüber er sich mit Emmeline unterhalten sollte. Bisher war er noch nie mit ihr allein gewesen.
„Du würdest mir aber ein schlechtes Gewissen machen“, brummte sie missmutig. „Wenn Dorcas nicht unbedingt Quidditch üben wollte, hätte sie mit dir gehen können.“
Er versuchte geduldig zu sein, aber es fiel ihm schwer, nicht genervt zu sein. „Wenn du wirklich nicht helfen willst, dann kannst du auch gehen“, sagte er, auch wenn er den Biss nicht ganz aus seiner Stimme verbannen konnte. Kaum hatte er ausgesprochen, fühlte er sich schlecht deswegen.
Emmeline schnaubte leise. „Vielleicht mach ich das auch einfach.“
„Okay.“
„Gut.“
Peter atmete tief ein und hörte Emmeline dasselbe tun. Er wusste nicht, wieso es ihn so reizte, dass sie nicht wie seine ehemaligen Freunde war und er wusste nicht, wieso es ihn überhaupt noch kümmerte. Es sollte ihn nicht kümmern, dass Emmeline nicht wie James war und es sollte ihn noch weniger kümmern, dass er sich wünschte dass James hinter ihm warten würde und nicht Emmeline und das war Emmeline einfach nur unfair gegenüber, aber er konnte es nicht abstellen. Er rang sich dazu ab, zu murmeln: „So meinte ich es nicht, Em.“
Die Ravenclaw stieß hörbar die Luft aus. „Es ist ja schön und gut, dass du meinst, dass du nichts mehr mit deinen Gryffindor-Freunden zu tun haben willst, aber du kannst nicht einfach herkommen und so tun, als würden wir sie ersetzen, Peter. Entweder du bist mit uns befreundet, weil du uns magst, oder du sitzt von heute an allein.“ Er konnte sich gut vorstellen, dass sie unentschuldigt mit den Schultern zuckte. „Ich hab keine Ahnung, wieso du nicht mehr mit den anderen abhängst, aber das heißt nicht, dass du so tun kannst, als wären wir jetzt deine Ersatzfreunde.“
„Das tue ich nicht“, brachte er leise hervor. „Das will ich auch gar nicht. Ich –“, er brach ab, als ihm die nächsten Worte im Hals stecken blieben.
Wahrscheinlich war ihm das Schicksal Hold, denn in dem Moment ertönte erneut das leise Zischen der Wand und einen Augenblick später, schob sich der Durchgang ein weiteres Mal durch die Steine. Severus Snape trat mit einem dicken, ledergebundenen Buch unterm Arm und in Begleitung von Mulciber, Avery und – Peter trocknete der Mund aus – Regulus Black aus dem Gemeinschaftsraum in den düsteren Kerkergang.
Der abgehackte Satz ihrer Unterhaltung flog zu ihm.
„ – können uns wieder in Hogsmeade treffen“, sagte Mulciber.
„Aber Black kann nicht mitkommen“, entgegnete Snape mit etwas, das wie Belustigung klang, in der Stimme.
Regulus gab ein schnaubendes Geräusch von sich. „Dein Lachen kannst du dir sparen, Snape. Ich muss nicht zu irgendwelchen geheimen Treffen eingeladen werden, um genau zu wissen, was vor sich geht. Oder glaubst du wirklich, Bella hätte mir nichts erzählt?“ Ein kühles Lächeln schwang in seiner Stimme mit, als sie um die nächste Ecke verschwanden. „Außerdem solltest du nicht so laut reden, wer weiß…“
Den Rest konnte Peter nicht mehr hören. Er stand an die Wand gepresst, sein Atem ging schwer und nahm langsam die Hand vom Mund, die er sich vor die Lippen gedrückt hatte, um nicht erwischt zu werden. Ihre Chance, Snape oder die anderen Slytherins mit einem Zauber zu belegen, war vorbei, aber Peter fühlte sich nicht so, als hätte er etwas verpasst.
„Worüber haben die geredet?“, fragte Emmeline leise. „Geheimes Treffen? Hogsmeade? Ist das ein Club, den ich nicht kenne?“
„Sicher kein Schul-Club“, murmelte er, ehe er sich die feuchte Stirn mit dem Handrücken abwischte.
Sein erster Gedanke war, dass er das unbedingt Sirius erzählen musste.
Sein zweiter Gedanke war, dass er Sirius nicht unter die Augen treten wollte.
Und sein dritter Gedanke war, dass er es leid war, sich immer nur verstecken zu können.
„Und was machen wir jetzt? Peter?“ Emmeline tippte ihn vorsichtig an, als er nicht antwortete und Peter schreckte zusammen.
„Was?“ Er begegnete ihrem fragenden Blick und drückte die Schultern durch. „Oh. Ich schätze, wir gehen zurück. Mission fehlgeschlagen.“ Er wartete, ob sie etwas sagen würde, dann fügte er an: „Ich könnte jetzt wirklich eine Runde Schach vertragen.“
„Sicher?“, fragte sie hohl. „Dabei haben wir so viel Zeit damit verbracht, diesen tollen Zauber auszuprobieren…“
„Okay, tut mir leid, dass ich dich da mit reingezogen hab, ich – ich schätze, ich wollte einfach nur, dass sich nichts wirklich ändert.“ Peter kniff die Fingernägel in seine Handinnenflächen. „Ihr seid nicht nur meine Ersatzfreunde.“
Mit federnden Schritten ging Emmeline um ihn herum, bis sie vor ihm stand. Sie fuhr sich nachdenklich mit einer Hand durch die hüftlangen schwarzen Haare, mit der anderen tippte sie unnachgiebig auf ihrer Hüfte herum. „Es würde dir wahrscheinlich viel eher helfen, wenn du uns einfach mal erzählen würdest, was passiert ist. Ich kauf dir nicht ab, dass du einfach keine Lust mehr auf die drei hast.“
„So ist es auch nicht.“
„Was ist es dann?“
„Das –“
„Wenn du jetzt sagst, dass das kompliziert ist, dann hau ich dir den Zauber um die Ohren und seh zu, wie du den ganzen Tag Hexenwochen-Artikel von dir gibst.“
Peter unterdrückte ein Lächeln. „Das wollte ich nicht, aber gut zu wissen.“
Emmeline seufzte ausgiebig. „Meine Güte“, murmelte sie, hörte auf, sich durch die Haare zu fahren und stemmte beide Hände in die Hüften, wobei sie Peter damit ein wenig an seine Schwester Phyllis erinnerte. Was sie wohl sagen würde, wenn sie ihn so sehen würde? „Weißt du, ich hab keine Ahnung, was passiert ist und wenn ich ganz ehrlich bin, weiß ich auch nicht, ob ich es wissen will.“
Damit hätte er nicht gerechnet. „Wirklich nicht?“
„Naja, es sei denn, es lässt sich richtig rumerzählen“, meinte sie schulterzuckend, „aber ich schätze mal, das ist es nicht, sonst hätte ich schon längst was gehört.“
Er lächelte träge. „So spannend ist es wohl nicht“, sagte er. Dann fügte er an: „Lass uns Benjy und Dorcas suchen, dann erzähl ich es euch.“
***
Dorcas blickte ihn teilnehmend an und Benjy sah aus, als könnte er sich zwischen Ärger und Mitleid nicht entscheiden, während Emmeline die Arme fest verschränkt hatte und auf eine Stelle am Boden starrte.
Es auszusprechen, hatte die ganze Sache realer gemacht, als er es zuvor realisiert hatte. Peter sog scharf die Luft ein und versuchte dann in einem lockeren Ton zu sagen: „Aber mit denen bin ich ja jetzt durch, also –“
„Sie haben wirklich gar nichts zu gesagt?“, unterbrach Benjy ihn. „So überhaupt gar nichts?“
„Zumindest nichts, was einer Entschuldigung nahe gekommen wäre“, erwiderte Peter, dessen Stimme sich wie dickflüssiger Honig anfühlte Er schluckte mehrmals heftig, aber das seltsame Gefühl wollte nicht aus seinem Rachen verschwinden. „Sie haben es als selbstverständlich angenommen, dass ich die halbe Nacht da unten gewartet hab und sind nicht mal auf die Idee gekommen, mich wissen zu lassen, dass die Aktion abgesagt ist.“
„Das ist wirklich unter aller Sau“, entgegnete Dorcas säuerlich klingend. Sie hatte sich nur widerwillig von ihrem Quidditch-Training lösen lassen, sodass sie Besen und Ausrüstung immer noch neben sich auf dem Boden liegen hatte. Dass sie eigentlich noch ein paar Stunden durch die Luft fliegen wollte, schien sie mittlerweile allerdings vergessen zu haben. „Sie haben dich einfach vergessen?“
Peter zuckte mit den Schultern. „So schien es zumindest. Sie hatten wohl besseres zu tun“, fügte er bitter an, als er daran dachte, wie James ihm gesagt hatte, dass es nur wegen Mary und Marlene so war, dass sie doch keinen Streich gespielt hatten. „Das ist mir im Nachhinein auch nicht ganz so wichtig“, gab er wahrheitsgemäß zu, „aber es stört mich nur, dass sie nicht eine Sekunde an mich verschwendet haben. Ich war sowieso nur für die Drecksarbeit zuständig und trotzdem wurde ich noch im Dunkeln stehen gelassen.“
Die Erinnerung an die kühle, dunkle Kerkerumgebung, in der er nahe des Veranstaltungsraums für den Slug Club gehockt hatte, hatte sich regelrecht in seine Haut gebrannt. Noch immer war er sich sicher, den steinernen Boden zu spüren, der durch seinen Winterumhang an seine Haut presste, noch immer hörte er in der Ferne Musik und Gelächter und wartete auf ein Signal, das nicht kommen würde. Er hatte gedacht, James würde irgendwann zu ihm kommen, und ihm sagen, dass es abgeblasen war. Er hatte gedacht, Sirius würde auf dem Weg zum Klo einfallen, dass Peter noch wartete. Er hatte gedacht, irgendeiner der beiden hätte auch nur ansatzweise mal an jemand anderen gedacht, aber da hatte er sich geirrt. Selbst wenn sie an jemand anderen dachten, stand er nicht an oberster Stelle.
„Ich versteh trotzdem eine Sache nicht“, sagte Emmeline und zog damit Peters Blick auf sich. Seit den Kerkern war sie ein wenig distanziert gewesen, seit er ihr und den anderen erzählt hatte, wieso er mit James und Sirius nicht mehr befreundet war, war sie still. Es war das erste Mal, dass sie etwas sagte, seit sie die anderen beiden zusammengesucht hatten. „Ihr scheint euch doch öfter zu streiten, oder?“
„Das würde ich nicht streiten nennen“, erwiderte er, mit dem Gedanken an die vielen Kabbeleien, die er mit den Jungs schon hinter sich hatte.
„Aber dann müsstest du doch bisher wissen, dass sie einfach so sind, nicht?“, fragte sie. „Nicht, dass es das irgendwie besser macht, aber du müsstest doch zumindest verstehen, wieso sie es getan haben, nicht wahr?“
„Nur weil ich es verstehe, heißt das nicht, dass ich ihnen verzeihen muss.“
„Ich weiß, ich weiß, es ist nur so…“, sie brach ab und seufzte ausgiebig. Kopfschüttelnd fügte sie an: „Weiß doch auch nicht. Ihr wart von Tag Eins so unzertrennlich, ich finds einfach irgendwie schade.“
Peter musste sich schwer zusammenreißen, die Stimme nicht zu erheben. „Ja, ich auch, stell dir vor.“
„Hey“, sagte Benjy, „kein Grund, Em anzufahren. Ich stimme ihr zu, es ist schade.“ Hinter seinen Brillengläsern glänzten seine Augen unheilvoll, was Peter schmerzhaft an James erinnerte. „Glaubst du denn echt, dass es keine Chance mehr für euch gibt? Ich meine, ihr habt sogar einen eigenen Namen für euch entwickelt.“
„Das war auch nur James´ Idee“, murrte Peter.
„Aber ihr habt sie alle abgesegnet“, meinte Dorcas. „Außerdem ist der Name echt cool. Ich wünschte, wir hätten so einen Gruppennamen.“
„Um den Namen geht es doch nicht“, erwiderte Benjy augenverdrehend. „Es geht darum, dass ihr euch so nahe steht. Willst du das alles wegwerfen? Wegen einem Streit?“ Er zuckte mit den Achsel und lehnte dann den Rücken weiter durch. „Im Heim vergeht eigentlich kein Tag, an dem ich mich nicht mit irgendjemandem dort streite und trotzdem bleiben wir am Ende immer irgendwie Freunde und ich bin nicht mal ansatzweise so sehr mit irgendjemandem dort befreundet, wie du mit den anderen hier. Versteh mich nicht falsch, ich versteh voll, warum du dich so fühlst und warum du sie lieber abservieren willst, aber… sie sind deine besten Freunde, oder?“
Peters Brust zog sich schmerzhaft zusammen und er musste Benjys Blick ausweichen, damit er nicht sofort einknickte. Jeden Tag wollte er sich nur zurück zum Gryffindor-Tisch setzen, zusammen mit Remus die Hausaufgaben besprechen und zusehen, wie Sirius und James Idioten aus sich machten. Er wollte aufwachen und liegen bleiben und zuhören, wie das Wasser im Bad lief, weil Sirius zu lange unter der Dusche brauchte und er wollte nicht allein aus dem Gemeinschaftsraum nach unten laufen, weil er ihnen nicht unter die Augen treten wollte. Er war müde und hatte in den letzten zwei Wochen kaum geschlafen, weil er immer als letzter ins Bett ging und als erster wieder aufstand, noch vor James´ morgentlicher Joggingrunde. Ohne Remus´ Hilfe verhaute er manche Hausarbeiten, er kam in Verteidigung nicht mehr wirklich mit, weil James ihm nicht erklärte, was er nicht verstand und er hatte in kaum einem Unterricht richtig Spaß gehabt, weil Sirius nicht neben ihm Grimassen schnitt. Wenn er wirklich ehrlich war, dann war Peter nicht sauer auf seine Freunde. Er wollte einfach zurück gehen und alles vergessen, aber auch er hatte Stolz.
Wenn James und Sirius sich aufrichtig bei ihm entschuldigen würden, dann würde er die letzten zwei Wochen in Sekundenschnelle vergessen. Dann würde er zu ihnen zurückkehren und alles wäre wieder gut, aber…
„Sie sind meine besten Freunde“, sagte er leise. „Aber sie haben sich immer noch nicht die Mühe gemacht, sich bei mir zu entschuldigen. Sie haben nicht mal versucht, mich zu fragen, was los ist. Seit zwei Wochen sitze ich nicht mehr bei denen und noch nicht einmal ist einer von ihnen zu mir gekommen, um mich zu fragen, ob irgendwas los ist. Wisst ihr eigentlich, wie sich das anfühlt? Selbst meine besten Freunde interessieren sich nicht für mich.“
Dorcas und Benjy tauschten einen mitleidigen Blick, während Emmelines harte Miene weicher wurde. „Glaubst du das wirklich?“, fragte sie.
„Nein“, erwiderte er. „Ja. Keine Ahnung.“ Peter seufzte und wischte sich mit einer Hand übers Gesicht. „Ich weiß es doch auch nicht. Ich weiß nur, dass es einfach scheiße ist.“
„Das kannst du laut sagen“, murmelte Benjy.
Peter hätte gedacht, er würde sich besser fühlen, nachdem er darüber geredet hatte, aber in Wahrheit fühlte er sich jetzt nur noch schlechter. Er wollte nicht daran denken, dass er nur darauf wartete, endlich James´ oder Sirius´ Stimme zu hören, die ihm endlich sagen würden, dass sie sich wie Idioten benommen hatten und ob er ihnen noch vergeben würde. Er wollte einfach nur, dass es aufhörte, weh zu tun, wenn sein Herz schlug. Wieso musste er die ganze Zeit leiden?
Die Stille wurde unentbehrlich für ihn. Peter stand auf, klopfte sich den Staub vom Umhang und fragte dann: „Jemand Lust auf eine Runde Zauberschach?“
„Klar“, sagte Emmeline und drückte sich ebenfalls hoch. „Und danach lassen wir uns was einfallen, okay?“
„Was denn? Wofür?“
„Wirst schon sehen“, meinte Dorcas lächelnd, die Benjy mit auf die Beine zog.
„Genau.“
In der Großen Halle war kaum etwas los; die Tische waren von Besteck und Gedeck befreit und wurden von einigen Schülern zum Hausaufgaben erledigen, lernen oder spielen benutzt. Überall standen leere Kannen, die mit einem Zauberstabschwenk mit Tee oder Saft gefüllt werden konnten und in der gesamten Halle konnte man das leise Flüstern der Schüler und der Kaminfeuer hören.
Es fiel Peter nicht schwer, sich in der Leichtigkeit der Ablenkung fallen zu lassen, besonders dann nicht, wenn er mit seinen Freunden zusammen war, aber etwas nagte dennoch an seinem Unterbewusstsein, das er nicht ganz ausschalten konnte. Eine kleine, fiese Stimme, die überraschende Ähnlichkeit mit der seiner Mutter hatte, flüsterte ihm immer wieder zu, während er über Spielzüge nachdachte, dass er das Problem war, dass er sich nur etwas darauf einbildete, dass man ihn gar nicht so sehr mögen konnte, selbst wenn man es versuchte. Er war doch nur Peter, nicht einmal so begabt oder engagiert wie seine Schwester, die bereits einen tollen Job im Ministerium bekommen hatte, nicht so begabt wie seine Mutter, die dutzende Zauber übereinanderlegen und wirken konnte oder so begabt wie seine Freunde, die mit Reichtum im Mund und Talent in den Fingern geboren wurden. Er war nur Peter und er war nicht besonders.
Und er würde nie besonders sein.
Peter versuchte sein Bestes, um die widerliche Stimme auszublenden, versuchte alles, um sich auf das Spiel vor ihm und seine Freunde zu konzentrieren, aber er konnte nicht anders, als jeden Spielzug dutzende Male zu überdenken. Und in dieser Zeit hatte sein Unterbewusstsein genügend Raum, um ihm jede Menge hässliche Wahrheiten entgegenzuwerfen, die er liebend gerne vergessen würde.
Drei Jahre mit James und den anderen befreundet zu sein, hatte ihn aber verändert. Vor Hogwarts hätte er der Stimme sicher zugestimmt und nur genickt, aber heute wusste er, dass er nicht nur Peter war. Er war Peter Pettigrew, Mitglied der Rumtreiber. Er hatte sich einige der besten Streiche mitausgedacht, er war auf die Idee mit den Animagi gekommen, er war eines der wichtigsten Zahnräder, die die größten Pläne zusammenhielten und ohne ihn, würde alles zusammenbrechen. Er mochte nur Peter sein, er mochte nicht so talentiert und begabt und gutaussehend und reich wie andere sein, aber er war stolz darauf, Peter zu sein. Er hatte gelernt, dass er sich nicht darauf verlassen musste, was seine Mutter von ihm wollte oder was seine Schwester vormachte oder was seine Freunde bereits besser konnten. Er verließ sich auf das, was er bereits konnte.
Er setzte Emmeline in vier Zügen Schachmatt und besiegte Dorcas in drei von vier Spielen. Benjy hielt für sechzehn Züge durch, bis Peter ihn in die Ecke gedrängt hatte.
Es war egal, was er nicht konnte, denn dafür konnte er eine ganze Menge, die andere nicht konnten. Keiner aus seinem Jahrgang war so gut in Zauberschach wie er. Keiner aus seinem Jahrgang hatte eine bessere Note in Kräuterkunde als er. Selbst in Pflege magischer Geschöpfe war er, wenn er denn aufpasste, ein herausragender Schüler, den Professor Kesselbrand bereits mehrfach gelobt hatte. Peter hatte ein Auge für Details, er hatte Ideen, die anderen nicht einfielen. Mit jedem Sieg wurde die Stimme leiser. Er konnte sie noch immer hören, aber es war wesentlich leichter zu auszublenden, wenn er gemeinsam mit Benjy lachte und kürbisförmige Kekse aß oder Dorcas dabei zuhörte, wie sie über eine neue Quidditch-Strategie redete oder mit Emmeline durch den Abendpropheten blätterte, in der Hoffnung ein Kreuzworträtsel zu finden.
Er wusste, dass er nicht besonders war und dass er wahrscheinlich nie besonders sein würde, aber das war auch gut so. Peter Pettigrew zu sein, reichte ihm vollkommen aus.
***
Die Ländereien waren im späten November so kalt, dass Peter sich zum wiederholten Male fragte, wieso Benjy ihn unbedingt hier draußen treffen wollte, wenn es doch ein wunderbar warmes Kaminfeuer in der Großen Halle gab. Er steckte die Hände tief in seine Manteltaschen und beobachtete, wie sein Atem in weißen Wolken von seinem Mund aus gen Himmel flog. Obwohl es helllichter Tag war, waren die Ländereien wie ausgestorben. Reifbedecktes Gras so weit seine Augen reichten und die spiegelglatte graue Oberfläche des Schwarzen Sees waren alles, was er sehen konnte. Nicht ein Schüler hatte sich bei diesen Temperaturen herausgewagt – abgesehen von den wenigen schwarzen Punkten, die er in der Ferne beim Quidditch-Stadion sehen konnte. James würde wahrscheinlich sowas sagen, wie: „Man muss auf jedes Wetter vorbereitet sein, Pete, wir können uns nicht nur darauf verlassen, dass es schönen Sonnenschein gibt!“
Der Gedanke an James tat weh. Er hatte seit über zwei Wochen nicht mehr mit ihm, Sirius oder Remus geredet. Peter schloss für einen Moment die Augen und atmete lang und ausgiebig aus.
Benjys Stimme ließ ihn aufblicken. Der Ravenclaw kam in einen dicken Schal gewickelt über den reifbedeckten Rasen geeilt, wobei jeder seiner Schritte knirschte und knackte. Seine Wangen und Nasenspitze waren rot und Peter meinte sogar ein paar Schneekristalle an seinen Brillengläsern zu erkennen, die sich vor Kälte dort gebildet hatten. Benjy blieb vor ihm stehen und atmete hörbar aus. „Schottland ist echt kacke“, waren seine Begrüßungsworte. „Warum bitte ist es hier so verdammt kalt?“
„Du wolltest dich doch unbedingt draußen treffen“, murmelte Peter in seinen Kragen.
„Ja, schon, aber“, Benjy schüttelte den Kopf und schüttelte sich dann am ganzen Körper. „Gott, ist ja nicht auszuhalten. Komm schon, lass uns gehen, bevor ich noch festfriere.“
Mit eiligen Schritten führte Benjy Peter über die Ländereien, bis er an der massiven Hütte von Hagrid vorbeikam, dem Wildhüter, den Peter manchmal durch die Fenster beobachten konnte, wie er in den Wald stapfte. In den Wald führte Benjy ihn immerhin nicht, auch wenn er gefährlich nahe daran vorbeiging.
„Willst du mir auch sagen, wohin wir gehen?“
„Kannst du dich gedulden?“
„Ist nicht eine meiner Stärken“, gab Peter zu.
„Das scheint dein Problem zu sein“, erwiderte Benjy lächelnd. „Keine Sorge, wir sind gleich da.“
Benjys Schritte knirschten und knackten und kamen der Grenze des Verbotenen Waldes gefährlich nahe. Die Bäume thronten dunkel und eisig über ihnen, wie ein Wall aus Holz und gefrorenen Blättern und Nadeln und wenn sie sich dazu entscheiden sollten, ein paar Schritte hinein zu tun, würde die Dunkelheit sie verschlucken. Benjy schien den Wald entweder nicht als wirklich bedrohlich einzustufen, oder er hatte vor, Peter einem der monströsen Unwesen zu opfern, die darin hausten, um dessen Gunst zu erlangen.
Peter war sich noch nicht sicher, was er davon schlimmer fand.
Als Benjys Schritte schließlich langsamer wurden und der Junge vor einem massiven Gebüsch stehenblieb, das einen der Baumstämme vom Verbotenen Wald umschlang, atmete Peter lautlos und erleichtert auf. Benjy ging vor dem Gebüsch in die Hocke und schob ein paar der Äste mit vorsichtigen Fingern beiseite. „Da“, sagte er leise. „Ich hab sie gestern entdeckt.“
Ebenso langsam ging Peter neben Benjy in die Hocke, bis er erkennen konnte, was Benjy im Gebüsch entdeckt hatte. In den Boden war ein rundes Loch gegraben worden, aus dem orange-rötliches Licht schien. Rund um das Loch herum war der Boden von Reif und Frost befreit und selbst die Blätter des Busches glänzten in sattem Grün. „Was ist das?“
„Ein Salamander-Unterschlupf“, erklärte Benjy. „Professor Kesselbrand hat uns doch erzählt, dass sie jetzt anfangen, zu überwintern und wenn wir Glück haben, finden wir vielleicht einen ihrer Baue. Den hab ich gefunden.“
Ein leises, fast nicht zu hörendes Schnarchen drang aus dem Loch im Boden und eine winzige Flamme stieg über die Erde, die jedoch so schnell wieder verschwand, wie sie erschienen war. „Er scheint noch nicht lange zu schlafen“, sagte er.
Benjy schüttelte den Kopf, ehe er die Äste wieder an ihre richtige Position fallen ließ. „Wahrscheinlich nicht. Aber ich wollte, dass du ihn auch siehst, bevor ich Professor Kesselbrand davon erzähle. Er meinte, dass viele Salamander im Winter zu schwach werden, um sich gute Verstecke zu suchen und deshalb schnell von Raubtieren gefunden werden. Wenn er einen einfachen Schutzbann um den Unterschlupf legt, dann können wir zumindest sichergehen, dass der Salamander den Winter übersteht.“
Überrascht blickte Peter zu Benjy. „Das ist echt cool“, sagte er.
Eine dunkle Röte schlich sich auf Benjys Wangen. „Ist nichts besonderes“, murmelte er. „Ich hätte es nur ziemlich schade gefunden, wenn irgendjemand seinen Schlaf gestört hätte, also…“
„Trotzdem“, meinte Peter. „Nicht viele Zauberer würden überhaupt einen Teil ihrer Zeit darauf verschwenden, sich um überwinternde Salamander zu kümmern. Ich finds richtig gut von dir.“
Ein unsicherer Grinsen erschien auf Benjys Lippen und er rückte seine Brille zurecht. „Danke!“ Für ein paar Augenblicke sahen sie sich einfach an, der schlafende Salamander nur wenige Zentimeter von ihnen entfernt, dann fiel Benjys Lächeln wieder in sich zusammen. „Das ist aber eigentlich nicht der Grund, wieso ich dich hier draußen treffen wollte.“
Peter runzelte die Stirn. „Nicht?“
„Nein, ich – “
Bevor Benjy hätte erklären können, was er wollte, erklang eine genervt klingende Stimme hinter ihnen, die Peter nur allzu bekannt vorkam. „Fenwick! Erzählst du uns jetzt endlich mal, was der Mist hier soll, oder warum sollten wir unbedingt herkommen?“
Benjy verzog das Gesicht zur Grimasse, als Peter ihm einen düsteren Blick zuwarf, ehe er sich umdrehte und Sirius und Remus entgegenblickte, die ein paar Schritte vor ihnen stehen geblieben waren. Die unangenehme Stille wurde nur noch länger ausgeweitet, als James Potter nur Sekunden später in seiner Quidditch-Uniform auf seinem Besen neben ihnen landete. Sie starrten sich alle für ein paar Momente lang an.
„Was soll das?“, zischte Peter, drehte sich um und blickte Benjy herausfordernd an. „Hast du mich hierher gelockt, damit – keine Ahnung, was tue? Was soll der Mist? Ich dachte, wir wären Freunde!“
„Das sind wir!“, rief Benjy aus. „Hör mir einfach zu, Pete, komm schon.“
Brodelnd machte sich die Wut in seinem Körper breit und vertrieb jedwede Kälte, die die morgendliche Spätnovemberluft mit sich brachte. Er wandte sich von Benjy und den anderen ab und war drauf und dran, zurück zum Schloss zu stapfen, als James sprach.
„Vor einer Konfrontation wegzulaufen, ist nicht gerade sehr Gryffindor von dir, Peter.“
Peter hielt inne.
„Genau, Pettigrew, was soll das alles?“, fragte Sirius. „Erst ignorierst du uns die ganze Zeit und jetzt läufst du weg? Was ist los mit dir?“
„Mit mir?“ Peter drehte sich um, sodass er Sirius ins Gesicht sehen konnte, der die Augenbrauen zusammengezogen hatte. In seinen grauen Augen konnte er etwas erkennen, dass er nicht sehen wollte; Abneigung. „Was ist euer Problem ist die bessere Frage, oder nicht?“
„Peter, komm schon –“, fing Benjy an, aber Peter unterbrach ihn lautstark.
„Nein! Du hast mich reingelegt, obwohl du genau wusstest, was ich davon halte! Du bist nicht besser als die!“ Mit einer vor Wut zitternden Hand deutete er auf James und Remus, die abseits standen und Sirius, der ihn mit grauem Blick fokussierte.
„Komm mal runter, Pettigrew“, zischte Sirius.
„Sirius, lass das“, erwiderte Remus mit ruhiger Stimme.
„Was ist denn überhaupt los?“, fragte James.
Peter konnte nur lachen. „War klar, dass du wieder keine Ahnung hast, Potter“, spuckte er James entgegen. „Du tust gerne so, als wäre alles großartig und die Welt würde sich glücklich um deine persönliche Sonne drehen, aber kaum geht etwas nicht so, wie du es gerne hättest, lässt du die Menschen links liegen, die immer an deiner Seite gestanden haben. Ich meine – ich – was soll das, James? Was soll der Scheiß?“ Peter ballte die Hände zu Fäusten und war froh, dass er seinen Zauberstab sicher im Innenfutter seines Winterumhangs verstaut hatte, andernfalls wüsste er nicht, ob er nicht schon längst zu einem Zauber gegriffen hätte.
„Das würde ich gerne von dir erfahren!“, sagte James und kam einen Schritt auf ihn. „Von einem Tag auf den anderen ignorierst du uns und redest nicht mit uns und sagst uns nicht, was dein Problem ist. Was soll ich denn bitte denken?“
„Es würde mich überraschen, wenn du überhaupt mal an andere denken würdest“, erwiderte Peter höhnend.
„Hey, halt die Luft an, Pettigrew.“
„Sirius!“
„Was ist? Ist doch wahr, er bläst sich hier total auf, als wäre er der Moralapostel oder was weiß ich“, schnaubte Sirius anfeindend. „Keiner von uns hat ihm was getan, aber er tut so, als wären wir plötzlich irgendwelche… keine Ahnung, Fanatiker oder so.“
Ein höhnisches Lachen entkam. „Merlin, du bist wirklich so dumm, wie du aussiehst“, sagte Peter zu Sirius. „Wenn du auch nur eine Sekunde lang nachdenken würdest, dann würdest du bestimmt darauf kommen.“
„Was hast du –“
„Sirius!“ Remus richtete seinen Zauberstab auf dessen Brust. Seine Hand zitterte und sein Atem ging schwer und laut. „Halt jetzt einfach mal die Klappe.“
„Remus, komm schon –“
„Nein“, unterbrach er ihn. „Nein, du bist jetzt ruhig. Peter“, wandte Remus sich an ihn, jegliche Freundlichkeit und Geduld aus seinen braunen Augen war verschwunden, „entweder du redest jetzt mit uns oder das war es endgültig. Ich habe lange genug mitangesehen, wie du alles in dich reinfrisst und nie den Mund öffnest, aber wenn du weiterhin so tun willst, als würdest du über allem stehen, dann wirst du letztlich allein enden. Benjy hat das offensichtlich auch so gesehen, ansonsten hätte er dich nicht austricksen müssen, um dich hierherzubringen. Also los.“
Peter wich einen Schritt zurück. So hatte er Remus noch nie erlebt und da war er nicht allein. Sirius starrte ihn mit weitaufgerissenen Augen an und James, der etwas hatte erwidern wollen, blickte ebenfalls mit offenhängendem Mund ins Leere. Lediglich Benjy schien sich gefangen zu haben. Er sah von Remus zu Peter und wieder zurück.
„Sag ihnen, was du uns gesagt hast“, meinte Benjy leise.
„Jetzt“, sagte Remus mit lauter Stimme, „oder ich nehme die beiden wieder mit und das wars dann.“
„Schön!“, rief Peter aus, seine Stimme hallte zwischen den Stämmen des Verbotenen Waldes wider und er presste die Finger so fest zusammen, dass seine Nägel tief in sein eigenes Fleisch schnitten. „Ich bin es leid, dass ihr mich wie einen Handlanger behandelt, den man einfach so vergessen kann! Ich bin es leid, dass es bei allen Sachen, immer nur darum geht, wie ihr euch fühlt! Und ich bin es leid, dass keiner von euch auch nur auf die Idee gekommen ist, mich zu fragen, ob ich überhaupt einverstanden mit dem ganzen Plan war!“ Das Gras rund um seine Füße begann zu tauen, als Peters angesammelte Wut eine Welle an Magie auslöste, die aus ihm ausbrach. Es interessierte ihn nicht weiter. Er ging einen Schritt auf Sirius zu. „Hast du auch nur daran gedacht, dass ich nicht meinen gesamten Samstagabend damit verbringen wollte, im Kerker zu hocken, um auf dein Signal zu warten?“ Er drehte sich zu James. „Und hast du dich auch nur einmal daran gedacht, dich bei mir zu entschuldigen, als du vergessen hast, mir bescheid zu geben, dass ihr zurück in den Gemeinschaftsraum geht? Selbstverständlich nicht, die ganze Welt dreht sich doch nur um euch! Da kann es doch egal sein, was der dumme Peter Pettigrew will!“
James starrte ihn ungläubig an. „W-Woah, Peter, Kumpel, hey.“ James hob die Hände an, als würde er sich verteidigen wollen. „Ich hab dir doch erklärt, warum –“
„Ja, und?“, unterbrach er ihn. „Mary wollte tanzen, meinetwegen. Wenn Mary will, dass du dich vom Astronomieturm wirfst, machst du’s dann auch?“
„Komm schon, jetzt wirst du lächerlich“, sagte Sirius schnaubend. „Wir haben einen Abend eben mal mit den Mädchen verbracht, na und? Du hast selbst gesagt, du wolltest nicht mit zur Party kommen.“
„Es geht nicht um die scheiß Party.“ Peters Stimme war gefährlich leise geworden. Er hatte aufgehört, vor Wut zu zittern. Stattdessen war er still. Kein Muskel rührte sich. Er starrte Sirius an und überlegte, wann der beste Zeitpunkt wäre, ihm die Nase zu brechen. „Es geht darum, dass ihr mich behandelt habt, als wäre ich unwichtig. Uns beide, eigentlich“, fügte er an und deutete mit einem Finger auf Remus, der die Arme verschränkt hatte.
„Das ist deine Sache, Peter“, erwiderte er.
Verräter, dachte Peter bitter. „Ich habe stundenlang im dunklen Kerker gewartet, dass einer von euch mir ein Signal geben würde, oder dass einer von euch kommen würde, um mich abzulösen, oder dass auch nur einer von euch fragen würde, wie es mir geht. Ich habe stundenlang Scherzartikel festgehalten und auf ein Zeichen gewartet, dass nicht kommen würde, während ihr euch amüsiert habt. Habt ihr einmal an mich gedacht? Habt ihr einmal daran gedacht, was ich für euch getan habe?“ Peters Augenwinkel begannen zu brennen, aber er hatte nicht die Energie, sich mit der Hand darüber zu wischen. Sollten sie ruhig sehen, dass er es ernst meinte.
James war der erste, der die Fassung wiedererlangte. „Merlin, Pete, ich wusste nicht, dass du… warum hast du nichts gesagt?“, fragte er mit leiser Stimme. Er hatte die Stirn sorgenvoll in Falten gezogen und seinen Besen mit lockerer Hand neben sich abgestellt. „Wenn du doch – “
„Wieso muss ich erst etwas sagen, damit es dir auffällt?“, stellte Peter die Gegenfrage. „Wieso bist du nicht von allein zu mir gekommen und hast dich entschuldigt? Ich dachte, wir wären Freunde. Freunde entschuldigen sich, wenn sie Mist bauen.“
„Oh, bitte“, sagte Sirius schnaubend. „Freunde halten sich so einen Mist auch nicht ewig vor. Freunde vergeben einander, oder nicht?“
„Hast du dich bei mir entschuldigt?“, erwiderte Peter bissig.
Sirius blasses Gesicht nahm eine dunkle, rote Färbung an. „Schön, tut mir leid, dass du eine miese Zeit hattest. Zufrieden?“
„Wow“, sagte Peter. „Und das soll ich ernst nehmen?“
James ging erneut einen Schritt auf Peter zu und ließ seinen Besen los, der mit einem dumpfen Aufschlag auf dem Boden aufkam. Er rang mit den Händen, ehe er eine davon ausstreckte. „Können wir kurz eine Pause einlegen?“, fragte er. Seine Stimme klang leise und traurig, als ob er irgendeinen Grund dazu hätte. „Bitte?“
„Und was dann?“
„Wir nehmen jetzt eine verdammte Pause“, sagte James mit barscher Stimme. Er runzelte die Stirn. „Niemand kommt irgendwie voran, wenn wir uns gegenseitig anmotzen.“ James schüttelte den Kopf, bevor er anfügte: „Wir können keine Gedanken lesen, Pete. Ich weiß, dass ist keine Entschuldigung dafür, wie wir dich behandelt haben, aber wir konnten nicht einfach wissen, was dich beschäftigt, wenn du nicht darüber redest. Ich will nicht, dass du glaubst, dass ich dich für selbstverständlich nehme.“
„Dann solltest du es auch mal zeigen“, murrte Peter, der nicht anders konnte, als die Arme verteidigend vor der Brust zu verschränken. Obwohl er nichts mehr wollte, als alles zu vergessen und wieder mit James, Sirius und Remus befreundet zu sein, konnte er nicht einfach weiter so machen, wenn er sah, wie wenig sie sich wirklich dafür interessierten, wie es ihm ging. Von Sirius erwartete er keine netten Worte, dafür kannte er ihn zu gut, aber zumindest von James hatte Peter erwartet, dass er von allein etwas merken würde. „Wieso musste Benjy euch erst herholen, damit ihr mit mir redet?“
„Du bist auf Distanz gegangen“, sagte James. „Es sah nicht so aus, als würdest du gerne mit uns reden wollen.“
Peter biss sich heftig auf die Lippen. „Tja, also. Das war so aber nicht.“
„Woher sollten wir das wissen?“, frage Sirius.
„Als meine Freunde hättet ihr das wissen müssen.“
„Als deine Freunde“, meinte Remus mit langsamer Stimme, „haben wir dir den Freiraum gegeben, den du offensichtlich haben wolltest. Du kannst uns nicht dafür verurteilen, dass wir keine doppelten Hinweise verstanden haben, die du vielleicht gelegt hast, Pete. Entweder, du willst Abstand nehmen, oder du willst, dass wir mit dir reden. Du kannst nicht beides haben.“
Frustriert krallte er die Finger in seinen Unterarm. „Ich wollte doch nur – “
„Dass wir uns entschuldigen“, unterbrach James ihn. „Ich weiß.“ Noch immer hatte er eine Hand nach ihm ausgestreckt und wartete darauf, dass Peter einschlug. „Es tut mir leid, dass ich dich vergessen habe. Es war dumm, es war selbstsüchtig und das war nicht richtig von mir. Ich wollte dich nicht verletzen.“
„Freunde können auch Fehler machen, Peter“, meldete Benjy sich wieder zu Wort. „Du hast…“, er brach ab und biss sich auf die Lippe, dann holte er Luft. „Du hast dich mir, Em und Dorcas auch nicht gerade perfekt verhalten und wir haben dir auch verziehen. Das machen Freunde, oder etwa nicht?“
Unschlüssig versuchte Peter seine Defensivhaltung aufrecht zu erhalten, aber je länger er in James´ glänzende Augen sah, oder je länger Benjy ihn mit seinem Blick fokussierte, desto eher wollte er einfach alles vergessen. Er wollte nicht sauer sein und nicht mit seinen Freunden reden, aber er wollte auch nicht, dass alles einfach wieder so weiter ging, wie es vorher war. „Wer sagt mir denn, dass ihr mich nicht wieder vergesst, wenn irgendjemand anderes eure Aufmerksamkeit will?“
„Niemand“, sagte Sirius bissig. „Ganz ehrlich, wir werden trotzdem Fehler machen, Peter, das heißt nicht, dass wir dich als Freund nicht wertschätzen. Ihr habt alle zu mir gehalten, als ich euch immer nur angeschnauzt habe und wir haben alle zu Remus gehalten, als wir –“, er brach ab. Sein Blick flog zu Benjy. „Ihr wisst schon. Dafür sind Freunde da.“
Benjy räusperte sich vernehmlich.
„Und es tut mir auch leid, dass wir dich vergessen haben“, fügte Sirius an. Er seufzte und der aggressive Blick verschwand aus seinen grauen Augen. „Wirklich. Das war total uncool und ich kann verstehen, warum du so sauer bist.“
Peter blickte von Sirius zu James zu Remus und wieder zurück. „Wenn du mir deine Sammelkarte von Ignatia Wildsmith gibst, kann ich dir vielleicht vergeben.“
„Treib‘s nicht zu weit.“
„Okay.“ Peter lockerte seine Hände und ließ sie wieder an seine Seite fallen. „Dann nehme ich deine Entschuldigung an.“
„Was ist mit mir?“, fragte James, der noch immer mit ausgestreckter Hand da stand.
„Deine auch.“
„Und?“
Seufzend ergriff Peter seine Hand, aber statt einem Handschlag, zog James ihn am Unterarm zu sich und presste ihn in eine halsbrecherische Umarmung, die Peter für einen Augenblick den Atem aus den Lungen presste.
„Wenn wir uns das nächste Mal wie Arschlöcher verhalten, dann kannst du uns das ruhig sagen“, sagte James.
Peter legte ihm eine Hand auf den Rücken und schloss die Augen. „Abgemacht.“ Benjys leises Seufzen drang an seine Ohren und Peter löste sich von James´ kräftiger Umarmung. Er blickte zur Seite, bis er Benjys Blick traf. „Danke.“
„Wofür sind Freunde da?“
Chapter 45: 45. Jahr 3: Schnee und Tränen
Chapter Text
Selbst beim dritten Besuch konnte Lily sich nicht an Hogsmeade sattsehen. Der Winter hatte endlich angefangen und das Zaubererdorf in schneeweiße Decken und Mützen gehüllt, sodass es aussah, als wären sie in einem Bild aus einem Märchenbuch gefangen. Die Schornsteine, die sich zwischen dem frischen Schnee hervorkämpften, stießen schlohweißen Rauch in den Himmel und die Wege waren mit wackligen Schneemännern, dem Duft nach Gebäck und in Zaubern eingefangenen Blumen gesäumt. Überall sah es aus, als würde jede Sekunde der Geist der Weihnacht aus den Häusern strömen, ein Schwall an Geschenken verteilend. Es war herrlich, es war wunderbar, es war magisch.
Lily hatte sich dicke, braune Handschuhe über die Finger gezogen und fror trotzdem noch. Sie rieb ihre behandschuhten Hände einander und sagte: „Ich brauche dringend ein Butterbier.“
„Du wirst noch süchtig, wenn du so weiter machst“, erwiderte Darren neben ihr, die Hände in den Taschen seiner Jeansjacke vergraben. Obwohl es bereits Minusgrade hatte, schien Darren das nicht viel auszumachen. Er trug nicht mal eine Mütze.
„Lieber das als zu frieren“, meinte sie mit einem Seitenblick auf seine roten Ohren.
„Ich friere nicht. Nie.“
„Du lügst.“
„Das tue ich auch nie.“
„Jungs“, seufzte sie, ehe sie ihre Hände fallen ließ. „Ihr seid wirklich alle gleich. Es wird euch nicht umbringen, eine Mütze zu tragen. Oder zumindest einen Schal, weißt du.“
Darren schenkte ihr ein zähneblitzendes Lächeln. „Ich weiß, aber“, er zwinkerte ihr zu, „ich bin ein Zauberer, Lily. Ich beherrsche den Wärmezauber, den Flitwick uns das zweite Jahr in Folge beibringt.“
„Ah.“ Lily verschränkte die Arme. „Du schummelst also.“
Er lachte und weißer Atem stieg aus seinem Mund, als würde sein Geist versuchen zu entkommen. Es war skurril anzusehen, fand Lily, aber sie sah nicht weg. Sie sah ihn gerne an. Es war beruhigend geworden. Beinahe fand sie das lächerlich. Beinahe. „Auf jeden Fall, wie sonst könnte ich das Leben gewinnen, wenn ich ehrlich sein würde?“
„Typisch Slytherin“, seufzte Lily gespielt übertrieben. „Es sollte mich wirklich nicht wundern.“
„Mich auch nicht“, meinte er. „Während ich meinen Grips eingesetzt habe, um nicht zu frieren, bist du ganz die Gryffindor und erträgst die Kälte ganz mutig.“ Sein Lächeln wurde ein wenig breiter. „Man könnte sich fast vor dir verneigen.“
„Nur fast?“
Darren zuckte mit den Achseln, bevor er in eine Seitengasse einbog und Lily ihm folgte. Frischer, unberührter Schnee bedeckte ein paar schräge Treppenstufen und das eiserne Geländer; von den Fensterbänken rieselte es immer noch herunter und wenn man genau hinsah, konnte man kleine Abdrücke von Vögeln erkennen, die es sich für ein paar Sekunden unter den Dächern gemütlich gemacht hatten. „Ein wenig musst du dich schon noch anstrengen. Nur ein paar Handschuhe anziehen reicht nicht, damit ich dich verehre.“
„Das scheint mir aber dann eher dein Problem zu sein und nicht meins“, erwiderte sie. „Ich finde ja, ich bin jetzt schon sehr verehrungsvoll.“
„Das ist doch kein Wort.“
„Zweifelst du deine Hoheit etwa an?“
„Würde ich nicht wagen“, sagte er grinsend und oh. Oh, Lily war sich sicher, dass sie sich nie an diesem Grinsen sattsehen könnte. Es war ihr fast schon unheimlich, wenn sie ganz ehrlich war, aber sie hatte es wirklich liebgewonnen. Wenn Darren grinste, dann zeigte er die meisten seiner Zähne und sie konnte erkennen, dass einer seiner Zähne ein wenig schief lag und sie fand es irgendwie bezaubernd. Es erinnerte sie an ihren liebsten Cartoon aus Kindheitstagen und den Pinienduft, den ihr Vater immer aufgetragen hatte, wenn er sein Auto gereinigt hatte. Es erinnerte sie an frischen Schnee und stählernd blauen Himmel und vergangene Versprechen. Sie hatte Angst, dass sie sich zu sehr daran gewöhnte.
Dieses Mal führte Darren sie nicht in den kleinen Buchladen, den sie ebenfalls so lieb gewonnen hatte, sondern vorbei an mehreren schrägen Häusern mit noch schrägeren Dächern, durch eine Handvoll an schmalen Gassen und Gängen, bis sie durch ein quietschendes, gusseisernes Tor traten, das Lily ein wenig an den Garten ihrer Großmutter erinnerte. Sie hatte auch ein quietschendes Tor, das ihr Vater immer ölen wollte, aber immer vergessen hatte, denn Großmutter Marigold wollte viel lieber ihren neuen Tee servieren, als dass ihr Schwiegersohn Arbeit in ihrem Garten verrichtete. Lily vermisste ihre Eltern.
Die ganze Zeit über schwang seine linke Hand neben ihm, während die rechte tief in seiner Jackentasche vergraben war. Lily blickte immer wieder auf seine schlanken Finger, während sie liefen. Sie fragte sich, ob er sie absichtlich draußen ließ, obwohl die Haut an seinen Knöcheln schon gerötet vor Kälte war. Sie fragte sich, ob er wollte, dass sie nach ihr griff. Sie fragte sich, warum er nicht einfach fragte und ob sie ja sagen würde. Was würde sie sagen?
Lily holte zischend Luft, als Darren sie an einem schrägen Haus vorbeiführte. Sie standen vor einem weiten Feld, umrandet mit hüfthohen Steinmauern, ausgestattet mit einer winterlich gekleideten Vogelscheuche, die eine Mütze aus Schnee auf dem mit Heu gefüllten Kopf trug und belebt von wollig weißen Schafen, die durch den Schnee wateten, um die letzten Grashalme zu finden, die noch nicht aus der Erde gerissen wurden. Noch hinter der Vogelscheuche stand eine riesige Weide, deren Äste bis zum Boden hingen und einen Vorhang bildeten. Ihre kleinen Blätter waren längst abgefallen, sodass der Vorhang nur aus dünnen Zweigen bestand und jedermann hindurchsehen konnte, aber Lily stellte sich trotzdem vor, dass man sich dahinter verstecken könnte.
„Oh, wie schön“, sagte sie leise.
„Willst du sie streicheln?“, fragte Darren, dem das Lächeln ins Gesicht gehext schien. Er hatte nicht mehr aufgehört zu lächeln, seit sie von Hogwarts aus losgegangen waren.
„Darf man das denn?“
„Wenn man mutig genug ist“, erwiderte er achselzuckend.
Es war nicht die Antwort, die sie erwartet hatte, aber eine, die sie gerne annahm. Mutig – wie war man mutig? War man mutig, wenn man über einen Steinzaun kletterte und Schafen den Kopf streichelte? War man mutig, wenn man die Feier seines Quidditch-Teams verpasste, um mit einem Mädchen zu reden? War man mutig, wenn man sich seine Fehler eingestand? Lily konnte nur lächeln und folgte Darren über die Mauer. Er reichte ihr die Hand, aber sie ergriff sie nicht. In Cokesworth war sie oft genug über Mauern und Zäune geklettert, um keine Hilfestellung zu haben, auch dann nicht, wenn sie die Hand des Jungen eigentlich gerne halten wollte.
Darren ging durch den Schnee voran und schnitt eine Bresche für sie, während Lily sich in seinem Schatten aufhielt und die Umgebung betrachtete. Es sollte ihr nicht fremd sein, dass es wunderschöne Orte wie diesen in der Zaubererwelt gab, so unberührt von allem, so ländlich und einfach und doch wollte es nicht in ihren Kopf gehen, dass sie noch immer von Magie umgeben war. Sie hatte ihren eigenen Zauberstab in der Tasche ihrer Jacke verstaut, sicherlich hatte Darren seinen auch dabei, sie befanden sich nur Meter von einem Dorf voller Zauberer… aber dieses Gefühl, das sie hatte, wenn sie die weite Wiese betrachtete, die grasenden Schafe, die blattlose Weide, die Vogelscheuche. Es gab ihr das Gefühl, als wäre sie nicht mehr in Hogwarts, nicht mehr in Hogsmeade, nicht mehr umgeben von Magiern, die sie in ihrer Welt nicht wollten. Hier war es still und friedlich. Sicher hatte Darren ihr den Ort nur gezeigt, weil er schön und abgelegen war, aber er war so viel mehr als das.
„Danke“, sagte sie zu seinem Rücken.
Sie konnte sein Gesicht nicht sehen, aber wusste, dass er lächelte. Dieses Lächeln. Ein verbotenes Versprechen. Ein heimliches Refugium. Frühling im Winter und Krokusse auf eisigem Grund. „Ich wusste, es würde dir gefallen. Nichts für ungut, aber du scheinst mir der Typ Mädchen zu sein, die nicht viel von Schnickschnack halten.“
„Ich weiß ja nicht, gegen eine diamantene Halskette hätte ich nichts einzuwenden.“
Darren lachte ausfallend, seine Stimme hallte über das leere Feld wider und ließ die Schafe aufhorchen. Eines der Tiere kam neugierig auf sie zu, wahrscheinlich in der Hoffnung, dass sie Futter dabeihatten. „Ich fürchte, dafür reicht mein Taschengeld nicht ganz aus, aber ich kann dir ein Butterbier kaufen.“ Über die Schulter warf er ihr sein Grinsen zu.
Lily seufzte. „Also schön. Aber ich werde darauf zurückkommen.“ Sie trat neben ihn, als das Schaf bei ihm angekommen war und seine ausgestreckte Hand betrachtete. Vorsichtig hob es seine Schnauze an und schnüffelte laut.
„Das kitzelt“, murrte er.
„Ertrag es wie ein Mann“, sagte Lily. Sie zupfte sich die Handschuhe von den Händen, ignorierte die eisige Luft, die sofort Besitz von ihrer Haut ergriff und zog ihren Zauberstab aus der Tasche hervor. Gamps Gesetze der Zauberei lagen ihr noch frisch im Gedächtnis – sie konnte kein Essen erschaffen, das nicht vorher bereits vorhanden war. Allerdings musste es, wenn es hier Schafe gab, auch einen Stall in der Nähe geben und in einem Stall würde es Futter für die Schafe geben. Sie wusste nicht genau, wo es sich befand, aber schaffte es trotzdem, sich ein wenig trockenes Heu auf die Hand zu beschwören.
Das Schaf ließ sofort von Darren ab, als er erkannte, dass er kein Futter dabeihatte und trottete durch den Schnee zu Lilys ausgestreckter Hand. Heißer Atem streifte ihre Haut, als das Schaf das Heu aus ihren Fingern fraß. Mit der anderen Hand fuhr sie dem Tier über den Kopf und lächelte. „Es hat Ähnlichkeit mit dir, findest du nicht?“
Empört blickte Darren sie an. „Okay, das reicht. Ich lass dich hier stehen und gehe sofort zurück.“ Wenn sie sein Grinsen nicht auch ohne es zu sehen erkannt hätte, dann hätte sie fast gedacht, er würde ihren Scherz zu ernst nehmen. „Ähnlichkeit mit einem Schaf, also bitte.“
Lily sah zu ihm herüber. „Das war ja wohl ganz klar ein Kompliment“, sagte sie, Kinn erhoben, während das Lachen in ihrer Kehle kratzte.
Darren atmete hörbar aus. „Wirklich?“, fragte er zweifelnd. „Ist es, weil ich auch durch den Schnee waten würde, um etwas Essbares zu finden?“
„Nein“, erwiderte sie, bevor sie noch mehr Heu beschwörte und es auf dem Boden verteilte, damit die anderen Schafe, die neugierig auf sie zugekommen waren, auch etwas fressen konnten. Sie wischte die Finger an ihrer Hose ab, verstaute den Zauberstab wieder in ihrer Tasche und drehte sich vollends zu Darren, der die Augen auf eines der Schafe gerichtete hatte, während seine linke Hand geistesabwesend durch schmutzige Wolle fuhr. Einen Augenblick lang war sie abgelenkt von den geschmeidigen Bewegungen, die er machte. Schneeflocken schmolzen auf seiner Wange und hatten sich in seinen unbändigen blonden Haaren verfangen. Kleine Kristalle glänzten im Sonnenlicht und wenn er den Kopf richtig legte, dann würden sie sicherlich ein magisches Mosaik auf den Boden werfen. „Schafe sind unfassbar süß.“
Sein Blick fand ihren. Obwohl seine Lippen schon lange nur zum Lächeln benutzt waren, erschien es Lily, als würden sie sich noch mehr verziehen. Er musste nicht fragen, als er die freie Hand ausstreckte.
Lily verflocht ihre Finger mit seinen und versuchte das immense Klopfen ihres Herzens zu ignorieren, das keine Ruhe mehr geben wollte, wann immer Darren in der Nähe war. Sie nahm es als gutes Zeichen. Genauso gut, wie seine Hand sich auf ihrer anfühlte. Vor ein paar Stunden hatte sie nicht verstanden, wieso so viele der älteren Schüler immer darauf bestanden hatten, Händchen zu halten.
Jetzt verstand sie. Lächelnd verstärkte sie den Griff.
***
James´ Rücken brachte ihn um. Von seinen brennenden Fingern ganz zu schweigen, die sich anfühlten, als würden sie jeden Moment unter dem Gewicht von den bis zum Rand gefüllten Plastiktüten abreißen. Er wusste nicht, womit er es verdient hatte, als persönlicher Packesel von Mary Macdonald zu dienen, aber er vermutete, in seinem letzten Leben musste er etwas wahnsinnig Schreckliches angestellt haben. Vielleicht hatte er kleine Niffler-Babys ertränkt. Oder den Verbotenen Wald gepflanzt. Andernfalls konnte er sich nicht vorstellen, warum gerade er sein letztes Hogsmeade-Wochenende des Jahres dafür nutzen musste, um die Shopping-Tüten von Mary zu tragen.
Mit wenig grazilen Bewegungen kam Sirius, nicht minder viel beladen, auf ihn zu, ehe er eine der Tüten fallen ließ, die Marlene ihm aufgezwungen hatte. Der Ärmel eines beigen Pullovers fiel in den Schnee.
„Hey, pass auf! Mach ihn nicht gleich kaputt“, hallte Marlenes säuerliche Stimme zu ihnen herüber.
Sirius grunzte, bückte sich und stopfte den Pullover zurück in die Tüte, bevor er sich hochkämpfte und sagte: „Töte mich.“
„Niemals“, entgegnete James. „Wenn ich leiden muss, dann du auch.“
„Du bist ein schrecklicher bester Freund.“
„Das ist mir so egal, Kumpel, aber ich werde sicher nicht als einziger mein Wochenende verschwenden.“
„Sollen wir da nochmal rein?“, fragte Mary aufgeregt und deutete auf eine Ladenfront, die aussah, als hätte jemand eine ganze Besenladung Glitzer ausgekippt. „Die sollen richtig hübsche Kesselsets haben.“
„Was willst du denn mit hübschen Kesselsets?“, entgegnete James, der sich jede Sekunde mehr wünschte, er würde sich spontan in eine Schnecke verwandeln und einfach davongleiten. Sicherlich wäre sein Tag damit auch gleich viel spannender, wenn er den tödlichen Sohlen der dutzenden Hogwarts-Schüler ausweichen musste, die ihn zertrampeln könnten. „Du hasst Zaubertränke.“
Mary drehte sich zu ihm um und legte den Kopf schief. „Aber vielleicht liegt das daran, dass mein Kessel so hässlich ist. Ich meine, wer soll sich denn bitte konzentrieren können, wenn vor einem immer nur dieses hässliche Ding steht?“
„Lily schafft es auch, obwohl sie mit Schniefelus arbeitet“, murmelte Sirius.
Die beiden Mädchen verkniffen sich ein Lachen und Marlene warf ihm einen gereizten Blick zu. „Sag sowas nicht“, meinte sie. „Das ist… echt gemein.“
„Auch wenn es stimmt?“ Sirius lehnte sich gegen James und legte den Kopf auf seine Schulter. „Ich kann nicht mehr. Können wir nicht eine Pause machen? Wieso müssen wir das überhaupt noch durchziehen?“
Mary stemmte die Hände in die Hüften. „Also bitte, wer hat denn so lautstark verkündet, dass ihr alles machen würdet, was wir wollen, wenn wir besser in dem Zauberkunst-Test abschneiden würden?“ Sie schüttelte den Kopf. „Das habt ihr nun mal davon, ihr Sexisten!“
James sog scharf die Luft ein. „Das nimmst du zurück! Ich bin kein Sexist! Ich bin total für den Feminismus. Das klingt total gut! Gleichberechtigung!“ Wenn Sirius nicht an ihm lehnen würde, dann würde er zur Veranschaulichung die Faust in die Luft heben. „Wenn dann sind wir davon ausgegangen, dass ihr wie immer in Flitwicks Unterricht nicht aufgepasst habt. Die letzten drei Stunden habt ihr in der Hexenwoche geblättert und die Quizze ausgefüllt.“
„Die Hexenwoche ist ein sehr bildendes Magazin“, sagte Marlene mit dunklen Wangen. „Und jetzt hör auf, dich zu beschweren, ihr habt fair verloren und müsst jetzt tun, was wir verlangen.“
„Mädchen sind echt eine Pest“, murmelte Sirius.
„Das hab ich gehört“, sagte Marlene. „Dafür gehen wir noch mal zurück in Madam Puddifoots.“
„Merlin, alles, aber das nicht!“
James nahm sich vor, nie wieder mit Mary oder Marlene um irgendetwas zu wetten. Von vornherein war er sowieso dagegen gewesen, mit den beiden zu wetten, aber er hatte sich von Sirius überzeugen lassen und jetzt steckte er in dem Schlamassel fest. Er hatte nicht mal Remus oder Peter, um ihn abzulenken. Peter hatte sich, obwohl das Kriegsbeil zwischen ihnen begraben wurde, mit Benjy Fenwick verabredet, um ins Dorf zu gehen und Remus, guter alter Remus, war im Schloss geblieben, weil er sich kaum bewegen konnte. Der Vollmond war am Montag und obwohl James, Sirius und Peter ihm hundertfach angeboten hatten, bei ihm zu bleiben, damit er nicht so allein war, hatte er sie nur wieder verscheucht, um allein in seinem Elend zu bleiben. Wahrscheinlich würde er in irgendwelchen Lehrbüchern lesen, so wie James ihn kannte. Oder seine Hausaufgaben erledigen, während alle anderen einen Wintertag in Hogsmeade verbrachten. Er war nun mal ein wenig seltsam.
Die Stunden in Hogsmeade waren in James´ Meinung noch nie so langsam vergangen. Es hatte offensichtlich damit zu tun, dass er und Sirius persönliche Diener spielen mussten, aber er hätte niemals gedacht, dass der Tag nicht vorbei gehen würde. Oder dass Mary und Marlene in so viele Läden gehen konnten, um noch mehr Zeug zu kaufen. Woher hatten sie überhaupt das ganze Geld? James musste dringend mit ihren Eltern über ihr Taschengeldvermögen reden.
In seiner bescheidenen Meinung war es nicht einmal das schlimmste Nachmittag, den er bisher verbracht hatte. Mary und Marlene waren noch immer gute Freundinnen und er verbrachte gerne Zeit mit ihnen, auch wenn er es lieber aus freien Stücken heraus tat. Sicherlich hätte er nicht einmal etwas dagegen gehabt, mit den beiden auf eine Einkaufstour zu gehen, wenn er die Wahl gehabt hätte. Gezwungen wurde er ungerne, auch wenn er wohl irgendwie selbst schuld war. Nun. Sirius war Schuld, aber da er und Sirius ein Zweiergespann waren, war er auch irgendwie schuld.
Mary hielt vor einem Geschäft für Quidditch-Umhänge an und legte den Kopf schief. „Sollen wir da mal rein?“, fragte sie.
„Seit wann interessierst du dich für Quidditch?“, fragte James zweifelnd, der sich mental bereits auf einen weiteren mit Glitzer überschütteten Laden eingestellt hatte.
„Tut ich nicht“, erwiderte sie achselzuckend. „Aber du.“ Sie drehte sich zu ihm um, ein breites Grinsen auf den Lippen, sowie eine feiner, roter Schleier auf den Wangen. „Komm schon, guck nicht so. Kann ich nicht nett sein und dir was Gutes tun wollen?“
„Heute nicht“, antwortete Sirius, der ebenso zweifelnd klang. „Heute müssen wir tun, was ihr wollt.“
„Und wir wollen, dass ihr jetzt da reingeht und euch umguckt und gute Laune habt“, sagte Marlene mit autoritärer Stimme. „Also bitte, wofür haltet ihr uns? Irgendwelche Monster?“ Sie zog die Augenbrauen zusammen, als Sirius bereits den Mund öffnete, um zu antworten. „Kommt schon. Den Tag sollen wir alle genießen, oder nicht?“
James, der seine Finger nicht mehr spüren konnte, wusste nicht ganz, was er davon halten sollte. „Dann wart ihr jetzt genug einkaufen?“
Mary tauschte einen Blick mit Marlene. „Vielleicht“, erwiderte sie grinsend.
„Vielleicht aber auch nicht“, fügte Marlene an. „Das findet ihr wohl heraus, wenn ihr fertig seid, oder?“
„Falls noch mal irgendwer behaupten würde, Evans wäre die gruseligste von den Mädchen, dann muss ich wohl oder übel ihre Ehre verteidigen“, grummelte Sirius, als er James und Mary in den Quidditch-Laden folgte.
Marlene schlug ihm gegen den Hinterkopf.
Bei den Accessoires für Jäger, gesellte sich Mary zu ihm, die Arme hinter dem Rücken verschränkt und ein leichtes Lächeln auf den Lippen. „Also“, fing sie an.
„Also“, erwiderte James unschlüssig, während er zwei Handschuhe verglich. Er brauchte zwar keine neuen, aber wenn ihm schon die Pause gegönnt war, dann würde er die auch ausnutzen.
„Was hältst du davon, wenn wir Sirius und Marlene alleinlassen und zu zweit ein bisschen durchs Dorf gehen?“
„Um was zu tun?“, fragte er.
Mary presste die Lippen zusammen. „Gar nichts. Ich meine – ich meine, es wäre doch nett, oder nicht?“
„Nett, sicher. Aber warum müssen wir die anderen dafür alleinlassen?“
„Oh mein Gott“, murmelte sie neben ihm und James bekam aus dem Augenwinkel mit, wie sie sich an die Stirn fasste, auch wenn er nicht ganz wusste, was er jetzt schon wieder angestellt hatte. Vielleicht hatte sie ja auch Kopfschmerzen und wollte deswegen lieber allein sein. „Geht wirklich gar nichts in deinen Dickschädel rein?“
„Hey!“
„Okay, tut mir leid, aber du stellst dich wirklich ziemlich dumm an“, sagte Mary, ehe sie die Arme verschränkte. „Weißt du was? Vergiss es einfach. Vergiss, dass ich gefragt hab.“
James runzelte die Stirn und wollte zu einer Antwort ansetzen, aber Mary wandte sich ab und ging am Regal vorbei, bevor er auch nur ein Wort herausbekommen hatte. Irritiert blickte er ihr nach, auch als ihr lockiger Haarschopf bereits außer Sichtweite war. „Was sollte das denn?“, flüsterte er verwirrt.
James schmiss die Handschuhe zurück in ihr Regalfach, schnappte sich die Plastiktüten und machte sich auf, um Sirius zu finden. Der stand gelangweilt an der Wand beim Eingang, hellte seine Miene aber auf, als James neben ihm stehenblieb. „Marlene ist einfach abgehauen“, sagte er.
„Was? Warum?“
„Keine Ahnung“, erwiderte Sirius achselzuckend. „Sie meinte nur, sie muss mit Mary reden und dann sind sie aus der Tür raus. Frag mich einer, was das soll.“
„Ich hab keine Ahnung“, entgegnete James und ließ die Tüten auf den Boden fallen. „Mary war auch total komisch drauf. Wollte unbedingt, dass wir euch alleinlassen und dann durchs Dorf gehen, als hätten wir nicht bereits jeden Laden hier mindestens zwei Mal besucht.“ Er schüttelte den Kopf, lehnte sich neben Sirius an die Wand und atmete lauthals aus.
„Sie wollte mit dir allein sein?“, fragte Sirius.
„Jep.“
„Und du hast sie abblitzen lassen?“
„Naja, nicht wirklich, ich hab nur –“
„Du hast ihr gesagt, du willst keine Zeit allein mit ihr verbringen?“
„Hey, so hab ich das nicht –“
Sirius schlug James so hart gegen den Oberarm, dass der Schmerz durch seinen kompletten Nerv zuckte. „Du bist so ein Trottel.“
„Aua, was sollte das denn?“, beschwerte sich James, während er sich den schmerzenden Arm rieb. „Warum schlägst du mich bitte?“
„Vielleicht bringt das deine drei Gehirnzellen ja mal dazu, auch mitzuarbeiten“, erwiderte sein bester Freund. „Also echt jetzt, Mary wollte unbedingt mit dir allein sein und du hast sie abblitzen lassen und kapierst nicht, was du falsch gemacht hast?“
James senkte den Blick. „Naja, wenn du es so formulierst, klinge ich einfach nur wie ein Arschloch. Aber sie hätte sich auch ruhig deutlich ausdrücken können.“
„Hat sie das jemals? Hat irgendeins der Mädchen sich jemals deutlich ausgedrückt?“
„Keine Ahnung, aber es wäre nett, wenn sie damit anfangen würden. Ich kann immerhin keine Gedanken lesen. Woher sollte ich bitte wissen, dass sie unbedingt allein mit mir sein will? Warum fragt sie nicht einfach?“
Sirius schlug ihm erneut gegen den Arm. „Hat sie doch. Du bist nur zu blöd, um es richtig zu deuten. Bitte, zwing mich nicht, es dir zu erklären. Geh“, er deutete mit unschlüssigen Handbewegungen zur Tür, „geh sie einfach suchen. Klär das.“
„Mann, auf wessen Seite stehst du eigentlich?“, murmelte James, ehe er sich – immer noch den Arm reibend – zur Tür wandte und auf die verschneite Straße von Hogsmeade trat. Im Dorf wimmelte es nur so von Hogwarts-Schülern, die das letzte Wochenende des Schuljahres nutzen wollten, um ein paar Einkäufe zu erledigen, vor den Feiertagen noch mit ihren Freunden abzuhängen oder einfach nur den zugigen Hallen des Schlosses zu entkommen, das in den letzten tausend Jahren noch nie viel von beheizten Gängen oder Klassenzimmern gehalten hatte. James vergrub die Finger in den Tiefen seiner Jackentasche und blickte sich auf dem Straße um.
Wenn er Mary wäre, wo würde er dann hinlaufen? Er hoffte, dass sie sich nicht in Madam Puddifoots verschanzte, da würde er nämlich freiwillig keinen Fuß mehr reinsetzen. James hatte keine Ahnung, was Marys Problem war, aber zumindest musste er Sirius zustimmen, dass er das mit ihr klären musste, auch wenn sie, seiner bescheidenen Meinung nach, ein wenig unsinnig reagierte. Sie hatten immerhin bereits den halben Tag miteinander verbracht, da hätte ihr doch früher einfallen können, dass sie auch mal nur mit ihm reden wollte, oder nicht? James würde wohl nie aus Mädchen schlau werden.
Mary war, Merlins löchrigen Socken sei Dank, nicht im Madam Puddifoots. Sie und Marlene hatten sich in eine Seitenstraße nur wenige Schritte vom Quidditch-Laden entfernt zurückgezogen und, wenn James Marlenes Gesichtsausdruck richtig lesen konnte, nicht gerade erfreut darüber, dass er ebenfalls aufgetaucht war. Als sie ihn erkannte, drehte Mary den Kopf zur Seite. „Was willst du?“
„Mit dir reden“, erwiderte er ein wenig erschlagen. „Wusste nicht, dass du gleich wegrennen würdest.“
„Oh, sei ruhig, Potter“, sagte Marlene. Sie wedelte ungeduldig mit ihrer Hand in seine Richtung. „Siehst du nicht, dass du unpassend kommst?“
„Bin ich jemals passend?“, entgegnete er grinsend, woraufhin Marlene die Augen verdrehte und Mary schnaubte.
„Hör auf über ihn zu lachen!“ Marlene wirbelte zu Mary herum, die sich eine Hand auf den Mund presste.
James rieb sich irritiert den Hinterkopf. „Also soll ich wieder gehen?“
„Ja“ , sagte Marlene im gleichen Moment, in dem Mary: „Nein“, sagte.
Die beiden sahen sich einen Augenblick lang an, dann seufzte Marlene. „Meine Güte, also wirklich.“ Sie schüttelte den Kopf. „Ich weiß nicht, warum ich dir überhaupt helfe.“
„Weil du meine allerliebste Lieblingsfreundin bist“, erwiderte Mary leicht nasal klingend, ehe sie sich mit dem Ärmel über den Mund rieb.
„Wie auch immer.“ Marlene drehte sich um und ging an James vorbei, auch wenn sie es offenbar nicht lassen konnte, ihm noch einmal auf den Fuß zu treten. Auf eine Entschuldigung wartete er vergebens.
Als er sich sicher war, dass sie nicht nur auf der anderen Seite des Hauses wartete, sagte James: „Jetzt sind wir ja doch allein.“
Mary schniefte. „Schon gut, du musst nicht so tun, als würdest du es gern machen. Ich… ich schätze, ich hab mich in was reingesteigert.“
Das verwirrte ihn nur noch mehr. James ging einen vorsichtigen Schritt auf die Gasse zu, in der Mary stand und, ein weiteres Mal, nicht in seine Richtung sehen wollte. Er wurde wirklich nicht aus Mädchen schlau. „Keine Ahnung“, meinte er achselzuckend, „aber ich verbringe gerne Zeit mit dir, Mary. Ich weiß aber nicht, warum da so eine große Sache draus gemacht wird.“
„Schon gut, das weiß ich. Ich hab auch nicht erwartet, dass du es verstehst“, erwiderte sie.
„Okay, Autsch? Warum geht denn jeder davon aus, dass ich ein Idiot bin?“ Die Stille war Antwort genug. „Schon kapiert.“
Mary seufzte leise. „Ist schon gut, James. Du kannst – du kannst wieder zurückgehen und mit Sirius abhängen, oder was auch immer du sonst so tust. Ich geh einfach zurück zum Schloss oder so.“
James reckte den Kopf, sodass er den Himmel sehen konnte. Schlohweiß hingen die Wolken über ihnen, ein graublauer Ozean, der die Sternen von ihnen trennte und nur ganz schwach meinte er die Sonne erkennen zu können, die den Kampf noch nicht ganz aufgeben wollte. Das Wetter war zwar ungemütlich, aber es war noch lange nicht soweit, dass sie zurück zum Schloss gehen sollten. Sie hatten noch nicht einmal Butterbier getrunken, was für James einer der Hauptgründe war, wieso er sich überhaupt auf die Ausflüchte ins Dorf freuen konnte. „Das ist doch dämlich“, sagte er und ging noch einen Schritt auf sie zu. „Es ist viel zu früh dafür, und außerdem hängt sowieso jeder hier im Dorf ab. Du wärst nur ganz allein.“
„Manchmal will ein Mädchen auch nur allein sein, James. Das verstehst du wahrscheinlich nicht.“
„Nein“, gab er ehrlicherweise zurück, denn seit James in Hogwarts angekommen war, hatte er sich noch nie gut mit Einsamkeit gestellt. Er konnte sich nicht vorstellen, seinen Freunden absichtlich aus dem Weg zu gehen. Mit wem sollte er denn reden? „Aber da du vor nicht mal zehn Minuten noch nicht allein sein wolltest, weiß ich nicht, woher der plötzliche Sinneswandel kommt.“
Mary hob den Blick an, rötlicher Rand an ihren Augen und glitzernde Schneeflocken auf ihren Wangen, die nichts weiter, als Feuchtigkeit hinterlassen hatten. „Manchmal frage ich mich wirklich, wieso es gerade du sein musst“, sagte sie. „Du hast wirklich keine Ahnung von irgendwas, oder?“
„Meine Noten sagen was anderes.“
„Du bist echt ein Idiot“, erwiderte, ehe sie den Kopf wieder zur Seite drehte. „Du willst mich wirklich zwingen, es auszusprechen, weil du es sonst nicht verstehst, oder? Ist es das? Du willst, dass ich mich lächerlich mache.“
Frustriert warf James die Hände in die Luft. „Merlin, keine Ahnung, was du willst, Mary, ich weiß nicht, was du überhaupt meinst. Tut mir leid, dass ich deine Gedanken nicht lesen kann, oder dass ich nicht… keine Ahnung. Tut mir leid, dass ich nicht perfekt bin, vermutlich. Das scheint ja mein Verbrechen zu sein. Ich weiß nicht, wo das jetzt alles auf einmal herkommt, aber ganz ehrlich, ich hab auch keine Lust mehr darauf. Du machst alles unnötig kompliziert und sagst nicht, was du wirklich willst, aber wenn ich das nicht verstehe, dann bin ich auf einmal der Bösewicht. Ich dachte, wir hätten uns auf der Party von Slughorn gut verstanden und hätten ´ne Menge Spaß gehabt, aber –“ Er atmete tief ein und aus, bevor er die Hände fallen ließ. „Schon gut. Was auch immer.“
Bevor James die Chance hatte, sich umzudrehen und Sirius zu holen, wandte Mary sich wieder zu ihm um. In ihren Augen schimmerten ein paar Tränen, auch wenn er nicht wusste, warum sie auf einmal anfangen musste, zu heulen. Mädchen waren einfach nur ein reinsten Mysterium. Er wünschte sich, Remus wäre hier. Er würde wissen, was das alles sollte.
„Okay, tut mir leid, dass ich nicht hundertprozentig ehrlich mit dir war, weil ich Angst hatte, dass du mich auslachen oder abweisen würdest“, sagte sie mit zitternder Stimme. „Aber schön, wenn du es unbedingt willst, dann sag ich direkt, was ich will.“ Sie ging zwei rasche Schritte in seine Richtung, dann blieb sie kurz vor ihm stehen. Die wenigen Sonnenstrahlen, die es durch die dichten Wolken schafften, ließen ihre Haut glänzen und ihre Augen glitzern. Mary presste die Lippen zusammen und sah ihm direkt in die Augen. „Ich – ich habe mich in dich verliebt, James Potter. Da! Jetzt ist es raus, jetzt kannst du lachen.“
James fühlte sich, als hätte man ihm die gesamte Gryffindor-Quidditchmannschaft gleichzeitig in den Magen geschlagen. Sein Herz setzte einen Schlag aus, dann rutschte es ihm bis in die Kniekehlen. „Was?“ Er wusste nicht, ob das ein schlechter Scherz sein sollte, oder ob Mary wirklich das gesagt hatte, was er glaubte gehört zu haben. Sie hatte – aber das konnte nicht – es war -
„Gott, du bist so ein Idiot“, sagte sie zum wiederholten Male. Ein paar dicke Tränen kullerten über ihre Wangen und landeten auf dem Saum ihrer Jacke. Aggressiv wischte sie sich über die Augen. „Du hast wirklich überhaupt nichts verstanden.“
„Nein, warte, ich – wirklich?“
„Was, wirklich?“, fragte sie laut.
„Bist du wirklich…“ Er ließ den Rest ungesagt. Er wusste nicht, wie er damit umgehen sollte, aber plötzlich machte alles so viel mehr Sinn. Der heutige Tag, Marys Verhalten auf der Party, ihr Verhalten am Anfang des Jahres, wie sie seinem Blick manchmal nicht begegnen wollte, wie sie immer als Erstes über seine Witze gelacht hatte. Als hätte ihm endlich jemand das letzte Puzzlestück gegeben, das ihm gefehlt hatte, fiel alles in seinen Platz. „Ich hatte keine Ahnung.“
„Natürlich hattest du keine Ahnung“, sagte sie schnaubend. „Du bist ein Junge. Du hast nie eine Ahnung von irgendwas und – Gott, ich weiß gar nicht, wieso es unbedingt du sein musstest, wenn du doch so ein Volltrottel bist. Du hast mir wirklich Hoffnungen gemacht, weißt du das?“ Sie schüttelte den Kopf und wischte sich erneut über die Augen. „Auf dieser dämlichen Party. Marlene wollte unbedingt, dass ich den Abend mit dir verbringe und du warst so lieb zu mir und so zuvorkommend, dass ich so dumm sein musste, und mir auch noch Hoffnungen gemacht habe. Ich dachte wirklich, du könntest… aber natürlich nicht. Ich bin nicht – ich bin nicht Lily.“
Die Welt kippte für einen Moment zu Seite und James musste sich an der Häuserwand festhalten, um nicht die Balance zu verlieren. „Was hat Evans mit der Sache zu tun?“
„Gar nichts.“ Mary seufzte und vergrub das Gesicht in den Händen. „Gar nichts, James.“
James wusste nicht, was er tun sollte. Er mochte Mary – aber nicht auf die Art, wie sie ihn mochte. Er wollte ihr nicht wehtun, aber er wollte ihr auch keine Lügen auftischen, geschweige denn ihr noch mehr Hoffnungen machen, wie er ihr wohl bereits gemacht hatte. Sein Inneres zog sich heftig zusammen, als er daran dachte, wie viel Spaß sie gemeinsam gehabt hatten, wie sie geredet, gelacht und getanzt hatten und die ganze Zeit über hatte er nicht bemerkt, dass sie viel mehr von ihm wollte, als nur Freundschaft. Er fühlte sich so unendlich dumm. Es war gerechtfertigt, dass ihn alle einen Idioten nannten. Was sollte er denn jetzt tun? Was sollte er jetzt sagen, um Mary nicht weh zu tun, sie aber auch nicht zu verlieren? Nur weil er sie nicht… nur weil er keine Gefühle für sie hatte, hieß das nicht, dass er sie nicht als Freundin haben wollte.
Vorsichtig öffnete er den Mund und versuchte, seine Gedanken irgendwie in Worte zu packen. „Mary, hör zu, ich… ich weiß nicht, was du jetzt von mir erwartest.“ Er brach ab, dann lachte er leise. „Vergiss das. Natürlich weiß ich es. Du willst, dass ich auch in dich verliebt bin, aber… das bin ich nicht. Ich will dich nicht anlügen oder dir irgendwelche Hoffnungen machen, aber ich habe diese Gefühle nicht für dich. Ich finde dich großartig und wenn es jemals wieder eine Party geben würde, für die ich eine Begleitung brauche, mit der ich den gesamten Abend verbringen kann, dann wärst du immer meine erste Wahl, aber – aber nicht so, wie du es dir wünscht. Ich – ich hoffe, wir können trotzdem Freunde bleiben.“ Sein Magen tat weh. Er vollführte Saltos und Hechtrollen und schmerzte mit jedem Atemzug. James konnte nichts mehr sagen. Er fand, er hatte alles gesagt.
Die Sekunden zogen sich wie Bubbles bester Blasenkaugummi dahin, seine Nerven waren zum Reißen gespannt. Um sie herum konnte er die Geräusche Hogsmeades vernehmen, das Lachen anderer Schüler, das Echo fremder Gespräche, klirrende Ladentüren und läutende Glocken, herunterfallende Einkäufe, ein Rufen in der Ferne, die Suche nach der richtigen Person, das entfernte Plätschern des Bachs. Wieso die Zeit nicht anhielt, wusste er nicht. Wieso konnten alle anderen ihren Tag weiterleben, während er und Mary hier standen? Wieso drehte die Welt sich weiter?
„Okay“, antwortete Mary nach einer Ewigkeit. Sie ließ die Hände sinken. Frische Tränen bedeckte ihre Wangen und ertränkten ihre Wimpern. Sie sah aus, als würde sie jeden Moment zusammenbrechen. Vielleicht war sie das auch schon. „Aber nicht so. Nicht jetzt. Ich…“, was auch immer sie hatten sagen wollen, ging in einem Krächzen unter. Sie drückte die Lippen zusammen und schüttelte den Kopf.
James verstand zum ersten Mal auch ohne Worte, was sie sagen wollte. „Okay“, erwiderte er leise. „Soll ich Marlene schicken?“
Marys Lippen zitterten, als sie nickte.
Er wusste, was kommen würde, also drehte er sich rasch um. „Warte einfach hier.“ Er ging los, hatte die Häuserecke erreicht, als er noch einmal innehielt. „Tut mir leid, Mary.“
„Geh einfach“, würgte sie hervor.
James hörte, wie sie weinte und es riss ihm das Herz entzwei. Er war Schuld, auch wenn er vollkommen unschuldig war.
***
Mit James, der sich miesepetrig und mit wenigen Worten und Grunzern zum Quidditch-Feld verabschiedet hatte, war Sirius nichts anderes übriggeblieben, als zurück zum Gryffindor-Gemeinschaftsraum zu gehen, die Scharen an Erst – und Zweitklässlern zu ignorieren, die die großen Sofas am Feuer eingenommen hatten und direkt in den Schlafsaal zu gehen. Peter schien noch im Dorf zu sein und von Monty fehlte ebenfalls jede Spur – Quidditch-Feld, vermutlich – sodass Sirius nur Remus als Ablenkung hatte, der jedoch wie ein nasser Sack voll Mehl in seinem Bett lag, die Decke so fest um sich geschlungen, dass nur die honigfarbenen Kurven seiner Haare herausguckten. Wenn sich der Lumpen, der Remus war, nicht langsam auf und ab bewegen würde, müsste Sirius fast fürchten, Remus wäre in ihrer Abwesenheit an einem tragischem Langeweile-Tod verendet.
Anstatt ein guter Freund zu sein und Remus seine Ruhe zu lassen, warf sich Sirius auf dessen Bett. „Reeeeeeemus“, maulte er, während ebenjener versuchte ihn von sich zu treten.
„Was willst du?“, knurrte Remus schlaftrunken. „Warum bist du nicht im Dorf?“
Sirius breitete die Arme aus, sodass er wie ein Seestern auf dem Bett lag, ein Arm über Remus´ Kopf, der andere hing vom Bettrand. Er seufzte tief. „James hat mich verlassen“, sagte er. „Kannst du das glauben? Er hat mich einfach stehenlassen. Den lassen wir hier nicht mehr rein, klar?“
Murrend stieß Remus Sirius´ Arm von sich und streckte seinen Kopf aus dem Deckengewühl. Dunkle Ringe belegten seine Augen und tiefe Falten hatten sich in seine Haut gegraben. Er sah gleichzeitig wie dreizehn und dreiundachtzig aus. „Vielleicht hatte er auch einfach nur keine Lust mehr auf dich, so wie ich gerade. Geh runter von meinem Bett.“
„Ich kann nicht“, sagte Sirius. „Ich kann mich nicht bewegen. Zu sehr schmerzt es mich, was James mir angetan hat. Ich glaube, mein Herz schlägt nicht einmal mehr.“ Blindlings griff er nach Remus´ Arm und zerrte dessen Hand auf seine Brust. „Da. Es ist tot.“
„So wie du gleich, wenn du nicht runter gehst.“ Remus entzog sich seinem Griff und setzte sich halbwegs aufrecht auf. Müdigkeit tropfte aus jeder seiner Poren und wenn Sirius nicht bereits wissen würde, was los mit seinem Freund war, dann würde ihn spätestens jetzt die Sorge packen. So müde sollte niemand am helllichten Tag aussehen, schon gar nicht wenn es ein Tag war, an dem man Butterbier und Honigtopfs beste Schokolade kaufen konnte. „Was hat er angestellt?“
Sirius zuckte lahm mit den Schultern. „Irgendwas mit Mary. Keine Ahnung, sie und Marlene sind abgehauen, bevor ich fragen konnte und James wollte mir keine Antwort geben. Hat nur gesagt, er hätte was mit Mary besprochen und jetzt keine Lust mehr aufs Dorf. Mann“, fügte er seufzend an und drehte den Kopf zu Remus, „ich kann nicht mal mehr das Dorf mit meinem besten Freund genießen, ohne dass doofe Mädchen alles kaputt machen.“
„Warum gehst du direkt davon aus, dass die Mädchen Schuld haben?“
„Als ob James Fehler machen kann.“
„Sicher, dass du ihn nicht vielleicht lieber daten solltest?“
Sirius schnaubte. „Bitte, darüber macht man keine Witze. Außerdem wäre all das hier“, er deutete auf sein Gesicht, „an James verschwendet.“ Sirius presste seinen Oberkörper hoch und stützte sich auf den Ellbogen auf. „Diese ganze Mary-Sache ist sowieso viel zu verwirrend.“
„Was ist verwirrend, Sirius? Was verstehst du nicht?“ Remus grinste, als er dafür einen aggressiven Blick zugeworfen bekam. „Aber ganz ehrlich, es ist wirklich einfach, nicht wahr? Und das weißt du auch.“
„Müssen wir darüber reden?“, beschwerte Sirius sich.
„Du hast angefangen. Ich habe unschuldig geschlafen, bis du mich mit dieser Sache geweckt hast.“ Remus gähnte ausgiebig, wobei Sirius einen guten Blick auf seine scharfen Schneidezähne bekam. Wenn er wollte, könnte Remus ihm bestimmt ein Stück aus dem Arm beißen. „Ich will lieber weiterschlafen.“
„Zu viel Schlaf ist ungesund.“
„Sagt wer?“
„Sage ich.“
Remus lachte. „Dann kann es ja nur falsch sein.“
„Ey!“ Sirius wollte Remus das Kissen klauen und ihm damit eine verpassen, aber der andere Junge war schneller und hatte das Kissen bereits in den Fingern, bevor Sirius überhaupt den Arm bewegen konnte. „Oof“, gab er von sich, als das federweiche Kissen ihn mitten ins Gesicht traf.
Remus beugte sich über Sirius, öffnete die Schublade seines Nachttisches und zog ein Heft hervor, dass er Sirius direkt auf die Brust fallen ließ. „Mach dich wenigstens nützlich“, murmelte er, während er sich wieder in seine Decke wickelte. „Du schreibst für mich, wenn ich schon wach sein muss.“
Irritiert blickte Sirius auf das Heft auf seiner Brust und inspizierte es mit spitzen Fingern. „Merlin, nicht wirklich“, sagte er, als er erkannte, dass es sich um ein Heft voll mit Kreuzworträtseln in allen Größen und Formen handelte. „Wie alt bist du bitte?“
„Hör auf zu meckern und fang an vorzulesen“, kam es aus dem Deckenknäuel. Irgendwie schaute nur Remus´ Gesicht daraus hervor, womit es so aussah, als wäre er direkt aus den Decken gewachsen, wie ein sehr müdes, nicht gerade bedrohliches Geschwür. Er warf Sirius einen genervten Blick zu, als dieser nur lachte. „Entweder du machst mit oder gehst und lässt mich schlafen.“
„Niemals“, erwiderte er, schlug das Heft auf und schnappte sich eine Feder vom Nachttisch. „Also gut. Merlin, was sind das für Fragen? Wie nennt man den gemeinen Gartengnom noch? Äh, 11 Buchstaben.“ Sirius starrte auf die Spalte, dann auf die Frage, dann wieder auf die Spalte. „Das kann doch keiner wissen“, sagte er.
„Gernumblies“, meinte Remus langsam. „Müsste es sein.“
Sirius zog die scharfen Augenbrauen kritisch zusammen. „Das hast du dir gerade ausgedacht.“ Trotzdem füllte er die Spalte langsam aber sicher mit Remus´ Antwort aus und zu seiner Überraschung passte es. „Woher weißt du sowas bitte? Sowas weiß niemand. Niemand weiß das. Warum weißt du das?“
„Ich passe im Unterricht auf. Professor Sprout hat es im ersten Jahr gesagt und Kesselbrand hat es letzte Stunde auch noch mal erwähnt.“ Unter den Massen an Decken zuckte er mit den Schultern – zumindest sah es für Sirius so aus – und fügte an: „Außerdem ist das noch eines der leichteren Rätsel.“
„Du bist doch vollkommen übergeschnappt“, murmelte er, ging aber über zur nächsten Frage.
Sirius würde es niemals freiwillig zugeben, aber nach ein paar Minuten hatte er richtig Spaß daran gefunden. Zusammen mit Remus über die verrückten Fragen nachzudenken, deren Antworten Remus natürlich meistens auch noch wusste, war witzig und sorgte dafür, dass die Zeit verdammt schnell verging. Gerade noch war der Himmel vor den zugezogenen Fenstern stählern-grau gewesen, als sie mit der Seite durch waren, schimmerte er allerdings bereits im schönsten mitternachtsblau und ihre knurrenden Mägen verrieten ihnen, dass es Zeit fürs Abendessen war.
James und Peter gesellten sich dazu wieder zu ihnen, aber James wollte immer noch nicht darüber reden, was passiert war und keines der Mädchen hatte sich auch nur in ihre Nähe gesetzt, sodass Sirius sie nicht fragen konnte. Den ganzen Abend über mieden sie in ihre Richtung zu sehen, auch als sie im Gemeinschaftsraum alle in der Nähe des Kaminfeuers landeten. Mit leisen, tuschelnden Gesprächen entfernten Lily und Mary sich schließlich in den Schlafsaal und ließen Marlene allein zurück, die direkt zu ihnen herüberkam.
Sie verschwendete keine Zeit. „Du hast Glück, dass bald Weihnachten ist und ich in festlicher Stimmung bin, Potter, ansonsten hätte ich vielleicht den ein oder anderen Fluch an dir ausprobiert.“
„Du weißt genau, dass das mir gegenüber ziemlich unfair wäre“, erwiderte er leise.
„Nun“, meinte sie und verschränkte die Arme vor der Brust. „Vielleicht. Aber meine Loyalitäten liegen bei Mary, also kann ich nicht nett zu dir sein, auch wenn du nichts falsch gemacht hast. Nachdem was sie erzählt hat, warst du sogar richtig zuvorkommend.“ Marlene schüttelte den Kopf. „Wirklich, es hätte viel schlimmer sein können, schätze ich, aber“, fügte sie achselzuckend hinzu, „trotzdem bekommst du dieses Jahr nichts zu Weihnachten deswegen.“
„Okay, fair“, sagte James lächelnd. „Wie geht’s ihr?“
Marlene seufzte. „Scheiße. Aber das überrascht mich nicht.“
Sirius wusste immer noch nicht, worum es wirklich ging, aber zumindest konnte er sich zusammenreimen, dass James Mary einen Korb verpasst hatte. Er hatte es schon einmal gesagt und er würde es immer wieder sagen, aber Mädchen verkomplizierten alles nur unnötig. Es war am besten, wenn sie einfach nur zu viert waren und niemand sich mit den Mädchen kloppen müsste. Schon schlimm genug, dass James unterbewusst ständig um Lilys Aufmerksamkeit buhlte, er musste nicht auch noch mit einer der anderen anbändeln. Sirius seufzte lautlos. Das war vielleicht fies, aber er war wirklich froh, dass James Mary eine Abfuhr verpasst hatte.
„Tut mir leid“, murmelte James ins Feuer starrend. „Ich hab versucht es ihr sehr schonend beizubringen.“
„Schon gut“, erwiderte Marlene. „Wahrscheinlich ist sie im neuen Jahr drüber hinweg und alles ist wieder beim Alten.“ Sie wandte sich zum Gehen um, blieb an der Treppe allerdings noch einmal stehen und drehte sich um. „Ach, und Sirius?“
„Hm? Was?“
„Du bekommst auch nichts zu Weihnachten.“
Er lachte bellend auf, als sie die Treppe hoch zu ihrem Schlafsaal verschwand.
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