Work Text:
Dezember 2024
„Sie haben was?“ Ungläubig blickte Magda ihren Vorgesetzten an. Ich hab mich doch jetzt verhört, oder?
„Mich für den Feiertagsdienst eingetragen, sagte ich doch gerade.“ Murot sah sie verwirrt an, ebenso verwirrt starrte Magda zurück. „Wieso, stimmt was nicht?“
„Ähm, na ja, ich …“ Warum macht der so ’nen Scheiß? „Also nicht bloß einfach Rufbereitschaft, sondern Sie wollen wirklich hier an Weihnachten im Büro hocken?“, versicherte sie sich.
„Nun … ja.“
Sie nahm sich einen Moment Zeit, um darüber nachzudenken. Es ergab noch immer keinen Sinn für sie. „Warum?“
Murots Blick wanderte ziellos durchs Büro. „Na ja, ich dachte, ich zeig mal ein bisschen guten Willen und …“
Magda hob die Hände; er verstummte sofort. „Nein, der echte Grund: warum?“
Er atmete tief durch, schien sich einen Augenblick sammeln zu müssen, ehe er sich wieder ihr zuwandte, diesmal jedoch den Blick fest auf sie gerichtet. „Wächter, Sie haben fast das gesamte letzte Jahr damit verbracht, mich irgendwie im Job zu halten. Sie haben fast Ihre gesamte Freizeit geopfert. Sie waren für mich da, wenn ich jemanden gebraucht habe und ich bin nur dank Ihnen überhaupt noch am Leben …“
Und was unterscheidet dieses Jahr von den letzten fünfzehn? Sie stellte die Frage nicht laut.
Murot faltete die Hände, lehnte sich zu ihr hinüber. „Jetzt tu ich mal was für Sie. Ruhen Sie sich mal aus von mir. Machen Sie mal in Familie, ja? Feiern Sie mit Valerie, haben Sie paar schöne Tage. Machen Sie sich keine Gedanken um mich. Ich hab so viele Weihnachten im Büro bei der Arbeit verbracht, ich hab das ehrlich schon vermisst.“ Sein Lächeln bestand nur wieder aus diesem kurzen Zucken seines linken Mundwinkels.
Magda wusste nicht, was sie sagen sollte. „Also eigentlich …“ Hilflos brach sie ab. Klar wollte ich mit Vally feiern, aber … ich kann ihn doch nicht einfach so hier allein im Büro sitzen lassen!
„Wächter, wirklich. Ich mach mir hier einen ruhigen Abend mit paar Akten, ganz wie früher. Sie haben doch sonst Ihre Feiertage für mich geopfert, Sie werden doch sicher mal wieder mit Ihrer Familie feiern wollen.“
Sicher nicht! Noch so etwas, das sie lieber nicht laut aussprach. Er schien wirklich überzeugt davon, ihr einen riesen Gefallen zu tun. „Aber Sie stellen nichts an in der Zwischenzeit, oder?“, versicherte sie sich. „Keine lebensgefährlichen Aktionen, ja?“
„Versprochen.“ Ein kurzes Grinsen huschte über sein Gesicht, das immerhin echter wirkte als sein Lächeln zuvor. „Ich bin ganz brav.“
*
Das Drama begann eigentlich schon, sobald die Tür hinter ihr ins Schloss gefallen war, angefangen vom „Du kommst spät!“ ihrer Mutter, dem „Ach, da bist du ja. Hab Vally nicht geglaubt, als sie gesagt hat, dass du kommst“ ihres Vaters bis hin zu dem „Kommst du direkt von der Arbeit?“ ihrer Schwester.
„Nein, wieso?“, antwortete Magda verwirrt, hatte dadurch kaum Gelegenheit, Valerie zu begrüßen, nahm sie dennoch in den Arm, weil ihre Tochter eigentlich der einzige Grund für sie war, sich ein Weihnachten mit der Familie anzutun. Wenn das alles vorbei war, würden sie zusammen nach Frankfurt zurückfahren und die restliche Zeit zwischen den Jahren gemeinsam verbringen. Bis dahin war es aber noch ein langer Abend. Ein sehr langer Abend. Und vermutlich zwei sehr lange Tage.
„Ich dachte nur, so wie du ausschaust …“
„Wieso, wie schaue ich denn aus?“ Geht das wieder los …
„Na ja, wie eben direkt aus dem Büro.“ Vanessa musterte sie, ihr Lachen konnte nicht über ihren kritischen Blick hinwegtäuschen. „Feierlich bist du ja nicht gerade angezogen.“
Wieso? Die Bluse ist doch eine von den guten …, dachte Magda gekränkt, sagte aber nichts dazu. Sie entschuldigte sich bei ihrer Mutter mit einem Unfall auf der Autobahn (die Verkehrsmeldung im Radio war so lang gewesen, dass vielleicht nicht auffallen würde, dass ihre Strecke nicht betroffen gewesen war), ließ die Bemerkung ihres Vaters unkommentiert und beschloss, ihre Schwester so gut es ging zu ignorieren.
Wie jeder Plan überstand auch dieser nicht den Kontakt mit der Realität.
„… und diese Frisur! Wirklich, Magda, du solltest unbedingt etwas mit deinen Haaren machen, so wie du rumläufst, damit siehst du ja glatt zehn Jahre älter aus! Sieh mich an, ich bin fünf Jahre jünger als du und werde für 40 gehalten!“
Von Sehbehinderten? Magda verkniff sich die Rückfrage. Ging ins Wohnzimmer, weil sie ehrlich gesagt nicht wusste, was sie sonst mit sich anfangen sollte, und in der Hoffnung, dass sich dort ein anderes Gesprächsthema ergab, und vielleicht auch einfach, um den Weihnachtsbaum zu sehen …
„Wirklich, du solltest mal probieren, die Haare offen zu tragen, mit dieser altmodischen Hochsteckfrisur –“
„Und, Vally? Gute Herfahrt gehabt?“, erkundigte Magda sich bei ihrer Tochter, entschlossen, Vanessa zu ignorieren.
Valerie zuckte mit den Schultern. „Jaah, Flixbus und die Öffis waren ziemlich voll, aber war okay.“
Magda wollte etwas darauf erwidern, ihr Vater kam ihr allerdings zuvor:
„Ich hab nie verstanden, warum du keinen Führerschein gemacht hast.“
„Ich hab einen Führerschein“, betonte Valerie.
Mit dem du hier nicht fahren darfst, ergänzte Magda in Gedanken. Sie musterte den geschmückten Baum, unterdrückte ein Seufzen. Rot-goldene Kugeln, natürlich. Was sonst. Zuhause – also, Zuhause-Zuhause, das, was sie sich über die Jahre aufgebaut und verloren und wieder aufgebaut hatte – war der Baum immer bunt gewesen, da kamen höchstens Farben und Anhängerformen dazu …
„Dann kauf dir doch ein Auto wie jeder normale Mensch. Deine Oma und ich würden dir was dazugeben …“
„Ich hab ein Deutschlandticket, ich brauch kein Auto“, entgegnete Valerie mit der Überzeugung eines Menschen, der in einer Großstadt lebte.
Und Lametta. Scheiße, ich glaube, früher war sogar weniger Lametta …
„Trotzdem, das ist doch keine –“
„Und, Mom, viel Stress in der Arbeit?“ Offenbar hatte Vally keine Lust, mit ihrem Großvater über ein eigenes Auto zu diskutieren.
„Nö, wie immer eben.“ Magda wandte sich von dem Baum ab, der so ein klassisch-stilvolles Ambiente ausstrahlte, dass er schon unecht wirkte, und zuckte mit den Schultern, tat so, als bereitete sie sich innerlich nicht auf die verschiedenen unangenehmen Richtungen vor, in die dieses Gespräch kippen konnte. „Jetzt zum Jahresende hin ist es eh mehr Papierkram.“
„Man sollte annehmen –“, begann ihr Vater, wurde diesmal jedoch von Mutter, die just in diesem Moment hereinkam, mit der übertrieben fröhlichen Frage „Will jemand Suppe?“ abgewürgt.
Natürlich wollten sie. ‚Nein‘ sagen war keine Option, auch wenn Magda wusste, dass es die gleiche Selleriesuppe wie schon in ihrer Kindheit geben würde, und ebenso lange hasste sie diese Suppe auch … Sie gingen in die Essecke. Magda setzte sich auf den gleichen Platz am Tisch wie immer. Nicht darüber nachdenken, dass der Platz neben ihr nicht gedeckt war. Nicht darüber nachdenken, dass es Zeiten gegeben hatte, in denen hier jemand gesessen hatte. Nicht darüber nachdenken, dass dieser Platz nie freigehalten worden war. Sie war doch kein Mensch für so kitschige Bräuche …
Die Phase trügerischer Ruhe begann. Magda ließ sich davon nicht täuschen, hatte über Jahre die Erfahrung gemacht, dass es immer mit dem Auftischen der Vorspeise einen kurzen Moment gab, in dem wirklich höchstens über Harmlosigkeiten geredet wurde (wenn überhaupt), aber dass dieser Frieden nie den Boden des Suppentellers erreichte. Jahr für Jahr hatte Magda sich gefragt, warum es nicht den ganzen Abend über so sein konnte, warum konnte es nicht einmal so bleiben, keine Vorwürfe, keine Sticheleien, keine abfälligen Bemerkungen? Wenn es doch für ein paar Minuten gutging, warum denn dann nicht auch für ein paar Stunden, so selten, wie –
„Schön, dass die ganze Familie mal wieder beisammen ist“, sagte Mutter und läutete damit das Ende des Weihnachtsfriedens ein.
Magda, ohnehin darauf konzentriert, sich nicht anmerken zu lassen, wie wenig sie die Suppe mochte (als wäre das nicht ohnehin seit Jahrzehnten bekannt), sagte nichts. Worauf der Kommentar abzielte, wusste sie sowieso; die Wahrscheinlichkeit, dass es nicht darum gehen würde, wie selten sie sich bei ihren Eltern blicken ließ, ging gegen Null.
„Ja, nicht wahr, Schwesterherz?“ Natürlich konnte Vanessa Mutters Satz nicht einfach so stehen lassen.
Magda schluckte. „Ja“, hörte sie sich sagen, „sicher.“ Sie griff nach ihrem Glas, schenkte sich Mineralwasser ein. Ruhig bleiben, mahnte sie sich. Das kennst du alles schon und du weißt, dass du es mit jedem Jahr, in dem du nicht hier auftauchst, es auch nicht besser machst …
„Das letzte Mal ist jetzt … wie lange her?“
„Oh, das muss so sechs, sieben Jahre her sein, oder? Magda?“
„Ja, haut hin.“ Noch zwei, drei Löffelvoll und dann hast du das geschafft … Und da sie die Bemerkung ihrer Schwester nicht einfach so auf sich sitzen lassen wollte, fügte sie bissig hinzu: „Danach kam eine Pandemie, falls du dich noch erinnerst, und dann war es ein bisschen schwierig mit Familienfeiern.“
„Als wäre das der Grund gewesen, warum du –“
„Freuen wir uns doch einfach, dass Magda da ist“, sagte Mutter laut, füllte allen ungefragt Suppe nach, wobei sie – Absicht oder nicht – bei Magdas Teller begann. „Ist doch schön.“
Was soll das? Sie unterdrückte ein Seufzen, als sie wieder nach ihrem Löffel griff. Bin ich denn die einzige, die in den letzten Jahren Familienfeiern verpasst hat? Was ist mit den Jahren, wenn Valerie sich kurz vor Weihnachten überraschend nach Amerika oder Indien oder sonst wo hin verabschiedet hat? Ist das etwa in Ordnung? Und Vanessa? Ist die wirklich jedes Jahr hier, braves Mädchen, wie sie ist? Sie warf ihrer Schwester einen kurzen Seitenblick zu, musterte sie. Perfekt sitzender Hosenanzug, perfekt gestylt, wie immer, wenn sie sich sahen, Madam mit ihrem perfekten Leben und ihrer perfekten Karriere –
„Und, Valerie, wann bringst du denn endlich mal einen Freund zum Essen mit?“, fragte Mutter auf einmal und legte tatsächlich noch sofort den absoluten Killer-Satz nach: „Ich will es doch noch erleben, dass ich meine Urenkelchen begrüßen darf.“
Magda erstarrte. Blieb tatsächlich mit offenem Mund reglos sitzen, den Löffel vor sich in der Luft schwebend, und versuchte zu begreifen, wie ihre Mutter – oder überhaupt irgendjemand – so dreist sein konnte, diese Frage einfach so zu stellen. Laut ins Gesicht, wie selbstverständlich quasi nebenbei beim Essen.
Valerie gab ein erstickt klingendes Geräusch von sich. „Oma, ich habe dir schon vor Ewigkeiten gesagt, dass ich nicht vorhabe, Kinder in diese Welt zu setzen“, erwiderte sie und Magda merkte ihr deutlich an, wie schwer es ihr fiel, höflich zu bleiben.
„Denk dran, du wirst auch nicht jünger“, mahnte Mutter sie, „du wirst dein Zögern noch früh genug bereuen –“
„Mama, lass es, bitte“, sprang Magda ihrer Tochter beiseite, „das ist allein Vallys Entscheidung.“
Mutter kniff missmutig die Lippen zusammen, aber ein kurzer Blick hinüber zu Vally sagte Magda, dass diese über ihr Eingreifen definitiv nicht unglücklich war. Innerlich den Kopf über Mutters Dreistigkeit schüttelnd, begab Magda sich wieder in ihren Kampf gegen die Suppe.
„Und, was gibt es Neues?“
Magda sah auf, als niemand antwortete. „Entschuldigung, ging die Frage an mich?“ Scheiße.
„Musst sie ja nicht beantworten, wenn du nicht willst“, gab ihre Mutter statt einer Antwort zurück, „niemand zwingt dich dazu.“ Ihr Tonfall machte deutlich, dass es an diesem Tisch kein Aussageverweigerungsrecht gab. Vor allem jetzt nicht mehr und vor allem nicht für Magda.
„Oh, ähm …“ Scheiße. Hektisch überlegte Magda; die Antwort, die sie sich auf der Herfahrt zurechtgelegt hatte, wollte ihr natürlich nicht mehr einfallen. „Also eigentlich gibt es da nicht wirklich Spannendes zu erzählen …“ Mein Kollege hat sich fast umgebracht und wär um ein Haar aus dem Dienst geflogen. Meine Chefin wollte uns „zu unserem eigenen Besten“ bei seiner Rückkehr trennen. Mein Nicht-Beziehungs-Freund und ich sind wieder zusammen, falls man das so nennen kann. Alles nichts zum Erzählen, vor allem nicht in diesem Rahmen. Vor allem nicht das Letzte. „Arbeit eben“, sagte sie mit einem schwachen Lächeln und zermarterte sich das Hirn in der Hoffnung, dass ihr irgendetwas Harmloses einfiel. „Das ist in der Realität nicht so spannend wie im Fernsehen, das weißt du doch“, versuchte sie sich dann an einer Antwort.
„Nun ja.“ Der offenkundigen Enttäuschung ihrer Mutter nach zu schließen hatte sie sich wohl mehr Informationen erhofft.
Verdammt noch mal, was soll ich denn erzählen? Wenn ich euch die letzten Male wirklich von meiner Arbeit erzählt habe, bekam ich „Lass doch diese Horrorgeschichten“ zu hören!
„Und du bist jetzt seit wie vielen Jahren auf dem Posten da?“, fragte ihr Vater plötzlich. „Zehn? Würde es dann nicht langsam mal Zeit, dass sie dich befördern? In jedem anderen Beruf wärst du schon längst befördert worden, wenn du ordentliche Arbeit machst.“
„Bei der Polizei läuft das etwas anders“, murmelte Magda, spürte, wie sie automatisch in den Verteidigungs-Modus schalten wollte, weil sie das Gefühl hatte, dass man ihr unterstellte, keine ordentliche Arbeit zu leisten, weil sie wusste, dass sie mit ihrer Dienstakte auf keine Beförderung mehr hoffen durfte, weil sie eigentlich auch ganz zufrieden war mit allem, so wie es war … und das waren mehr als zehn Jahre, viel mehr …
Vater schnaubte. „Ja, ja, das sagst du jedes Mal. Aber du musstest ja unbedingt zur Polizei gehen anstatt …“ Der Rest ging in unverständlichem Gemurmel unter, als er sich dem Rest seiner Suppe widmete.
„Hast du dich wenigstens auf eine höhere Stelle beworben?“
Bei jeder anderen Person hätte dieser Satz vielleicht einen nicht ganz so vorwurfsvollen Unterton gehabt wie bei Vanessa. Oder bilde ich mir den nur ein?, fragte Magda sich verunsichert, weil ich schon davon ausgehe, dass von ihr nichts Nettes kommt? „Nein“, antwortete sie langsam, atmete tief durch, weil ihr die zweite Portion Selleriesuppe inzwischen wirklich zu viel wurde.
„Wusste ich’s doch“, murrte Vater, „war wieder nichts frei?“, fügte er spöttisch hinzu, nahm Magdas Erklärung vom letzten Mal vorweg.
„Jetzt lass das Kind doch mal in Ruhe“, griff Mutter beschwichtigend ein, „ist doch Weihnachten.“ Sie begann, die Suppenteller abzuräumen.
Vanessa war weniger gnädig gestimmt. „Herrgott, Magda, warum nicht? So kommst du ja nie voran!“
Magda schluckte die erste Antwort, die ihr auf der Zunge lag, mit dem letzten Löffel Suppe herunter. „Vielleicht bin ich glücklich, da, wo ich bin“, erklärte sie dann scharf, war froh, den nun leeren Teller ihrer Mutter in die Hand drücken zu können. „Schon mal darauf gekommen?“
„Na, siehst du.“ – Magda war sich nicht sicher, ob ihre Mutter das zu ihr oder zu ihrer Schwester sagte – „Und überhaupt, es muss ja auch nicht jeder Karriere machen.“ Womit sie die Möglichkeit, dass sie einmal keine Partei ergreifen könnte, gleich wieder zunichtemachte.
Vanessas verächtliches „Pah!“ brachte die erste Faser von Magdas Geduldsfaden zum Zerreißen.
„Ich habe dieses Jahr geholfen, einen Kriegsverbrecher zu verhaften“, entgegnete sie ihr, „und was hast du so Nützliches getan?“ Es rutschte ihr heraus, ehe sie darüber hatte nachdenken können, welche Diskussion sich daraus ergeben konnte. Sich innerlich verfluchend biss Magda sich auf die Zunge, bekam gerade noch so mit, wie Vanessas nächster Kommentar von Mutter auf dem Weg nach draußen mit einem „Nicht streiten, Kinder!“ abgewürgt wurde und dass die zum Glück sehr leise Bemerkung ihres Vaters von Valerie übertönt wurde.
„Stimmt, ich hab dich im Hintergrund bei der PK gesehen“, erzählte sie breit grinsend und zeigte Magda einen Daumen hoch. „War schon cool, Mom.“
Na, wenigstens etwas … „Danke, Vally.“ Und du warst damals auch die einzige, die mich danach angeschrieben hat, erinnerte Magda sich warm, auch wenn sie eigentlich versucht hatte, den ganzen Kameras zu entgehen.
*
Immerhin trat damit für ein paar Augenblicke selige Stille ein, in der nur die klassische Weihnachtsmusik im Hintergrund (momentan eine Instrumentalversion von »Maria durch ein Dornwald ging«, wenn Magda sich nicht verhörte) vor sich hin spielte. Ruhig bleiben, mahnte sie sich selbst, das bringt doch alles nichts, egal, was du sagst, du hast doch eh schon verloren … ganz ruhig bleiben … Gott, ich will nach Hause!
Mutter kam aus der Küche zurück, eine riesige gebratene Gans auf einer Platte balancierend, die von den Wartenden mit angemessener Begeisterung aufgenommen wurde.
Magda schob hastig das dekorative Tannenzweiggesteck inklusive Kiefernzapfen und brennender Kerze (natürlich klassisch rot) beiseite, damit der Vogel Platz auf dem Tisch fand. Schaffte es zum Glück gerade so, dass das flüssige Wachs nur auf die Zweige tropfe und die Tischdecke verschont blieb. „Soll ich dir helfen, Mama?“, fragte sie, stand schon halb auf.
„Nein, nein, ich mach das schon, bleib sitzen, Kind.“
Magda ließ sich wieder auf ihren Stuhl zurücksinken, fragte sich plötzlich, ob Vanessa oder Valerie die gleiche Antwort zu hören bekommen hätten. Sie verwarf den Gedanken als paranoid, konzentrierte sich darauf, sich ihre Verunsicherung nicht anmerken zu lassen. Warten, während Mutter die Schüsseln mit Klößen, Sauce und Rotkraut brachte. Bedauern, dass Mutter nie Omas gutes Weinkraut machte. Zusehen, wie Vater die Gans anschnitt. Das Essen loben. Sich fragen, wer zur Hölle diesen Wein ausgesucht hatte, der mit dem Braten einfach nur eine Kombination des Grauens ergab.
„Ähm …“, machte Valerie.
„Ja?“
„Irre ich mich oder ist der Bordeaux nicht etwas zu jung für die Gans?“ Anscheinend war Valerie nach der „Urenkelchen“-Nummer auf Krawall gebürstet, dass sie das wirklich ansprach (allerdings überwog bei Magda in dem Moment der Stolz, dass ihre Versuche, ihrer Tochter etwas Wein-Kultur beizubringen, offenbar gefruchtet hatten).
„Den hat Vanessa mitgebracht“, antwortete Mutter, als wäre das eine Erklärung. Was es vermutlich auch war. „Der ist aus Kalifornien.“
„Siehst du, ich habe ja gleich gesagt, der passt nicht“, warf Vater verärgert ein – offenbar hatte Magda den ersten großen Streit des Abends verpasst gehabt –, „man schmeckt nur Holz!“
„Und den musste es unbedingt heute Abend zum Essen geben?“ Ja, Valerie war eindeutig not amused.
„Dann trink ihn halt nicht“, erwiderte Vanessa scharf.
„Gute Idee.“ Anscheinend hatte Vater nur darauf gewartet, dass sie das sagte. „Valerie, im Flur liegen meine Schlüssel, holst du bitte aus dem Keller einen guten Wein, der nicht die Gans mit der Tannin-Keule erschlägt?“
„Gerne.“ Entschlossen schob Valerie ihren Stuhl zurück und stand auf. „Bin gleich wieder da.“
Entgeisterte Blicke folgten ihr hinaus.
„Bin mal gespannt, womit sie zurückkommt“, sagte Vanessa dann verächtlich, „Coca Cola dürftet ihr ja wohl nicht haben.“
„Selbst Cola würde besser passen als dein Wein“, entgegnete Magda scharf, „wenn du das nicht aus dem Keller siehst, ist das nicht Vallys Schuld.“
Und zumindest dazu sagten ihre Eltern einfach mal nichts, was Magda auch als eine Form von Zustimmung wertete.
Essen. Auf Vallys Rückkehr warten. Sich anhören, wie Vanessa nach einem kurzen Moment des Schweigens wieder aus ihrem Leben zu erzählen begann; natürlich lief dort alles perfekt, die erfolgreiche Karrierefrau … und Magda fragte sich, wie viel davon eigentlich gelogen war, was ihre Schwester alles nicht erzählte, ob es da etwas gab, das sie ihren Eltern verschwieg, denn so ein bis zum Erbrechen perfektes Leben konnte doch unmöglich echt sein, oder? Aber immerhin, solange Vanessa redete, bestand wenigstens nicht die Gefahr, angesprochen zu werden.
Falsch gedacht.
„Und, Magda, hast du wieder jemanden?“
Magda verschluckte sich fast am Rotkraut. Oh, bitte nicht, bitte nicht, bitte nicht … „Entschuldigung.“ Sie räusperte sich. „Bitte?“
„Bist du wieder mit jemandem zusammen?“, wiederholte Mutter, diesmal etwas lauter, als wüsste sie nicht ganz genau, dass Magdas Zaudern nicht daran lag, dass sie plötzlich schwerhörig geworden war, sondern daran, dass das nun wirklich eines der letzten Themen war, über die sie mit ihrer Familie sprechen wollte. „Oder bist du immer noch alleine?“
Für den Bruchteil einer Sekunde war Magda versucht, einfach die Wahrheit zu sagen. „Es ist kompliziert“ und jeder normale Mensch hätte das Thema auf sich beruhen lassen. Aber das war in dieser Runde keine Option, weil das nur zu noch mehr Nachfragen und noch mehr Kommentaren führen würde … und sie war keine besonders gute Lügnerin … „Ich habe meine Kollegen und ich bin glücklich“, sagte sie, was zwar nicht die ganze Wahrheit umfasste, aber immerhin auch keine Lüge war, „reicht das nicht?“
„Natürlich.“ Mutter schürzte die Lippen, lehnte sich zurück, wandte sich wieder demonstrativ ihrer Gänsebrust zu.
Mhm. Ja. Klar. Und jetzt nichts weiter dazu sagen und hoffen, dass das Thema nicht weiter vertieft wurde –
„So, wie du rumrennst, brauchst du dich auch nicht wundern, wenn sich kein Mann für dich interessiert“, warf Vanessa spöttisch ein, spießte ein Stückchen Kloß auf.
„Wer sagt denn, dass sich kein Mann für mich interessiert?“, entgegnete Magda automatisch, bemerkte einen Moment später ihren Fehler; niemals Munition liefern … Scheiße auch!
„Ach ja? Wer denn zum Beispiel?“
Sich nicht weiter aufs Glatteis führen lassen. Das war jetzt sehr wichtig. Bloß kein falsches Wort … „Glaubst du wirklich, wenn ich mit jemandem zusammen wäre, würde ich dir von ihm erzählen?“, gab sie zurück, versuchte, nicht darüber nachzudenken, ob sie mit einer anderen Familie als der ihren wirklich bereit dafür gewesen wäre, nicht mehr Martin oder niemanden neben sich sitzen zu haben, sondern …
„Warum denn nicht? Du hast doch niemanden, gib’s zu! An uns liegt es ja wohl nicht, dass du –“
„Ach ja? Und wo ist dein Mann und wo sind deine Kinder? Wo du doch –“
„Ich habe euch doch alle für morgen zu Thomas und mir eingeladen!“
„Und dieser Thomas ist dein wievielter Partner dieses Jahr?“
„Und was willst du mir damit unterstellen?“
„Lass sie“, unterbrach Vater ihren Streit, an Vanessa gewandt, „bei ihrem Männergeschmack ist’s doch besser, wenn sie niemanden mitbringt.“
Entgeistert starrte Magda ihn einen Augenblick lang an. Wollte etwas erwidern. Wusste, dass sie von vornherein verloren hatte. Wollte nach ihrem Weinglas greifen. Wusste, wie das wirken würde. Sah stattdessen hinunter auf ihren Teller, stocherte im Essen herum. Ihre Wangen brannten vor Scham. Und wenn Vally nicht zum Glück gerade raus gegangen wäre, hättet ihr das vor meiner Tochter gesagt. Ihr gottverdammten – Sie wagte es nicht, aufzusehen. Wollte es nicht. Als hätte ich je – ich hab nie – mein Gott, als wär ich – Und auf einmal wurde dieser Drang zu fliehen so überwältigend, so übermächtig … Mit der linken Hand griff sie heimlich unter dem Tisch in ihre rechte Hosentasche, zog ihr Handy heraus, auch wenn das einiges an Fingerspitzengefühl und Herumrutschen erforderte (was ihr einen tadelnden Blick ihrer Mutter einbrachte, aber das war Magda gerade herzlich egal). Ungewohnt, es ohne hinsehen zu bedienen, noch ungewohnter mit der linken Hand, aber sie schaffte es, ihre Nachricht zu schreiben und abzusenden, ohne, dass ihr das Telefon herunterfiel oder es irgendwelche Signaltöne von sich gab. Erleichtert stopfte sie es in die andere Hosentasche. Ballte kurz die Hand zur Faust. Bohrte die Fingernägel in die Handfläche. Atmen. Sich nichts anmerken lassen. Hoffen, auch wenn sie nicht daran glaubte, dass –
„Nur zu deiner Information“, zischte Vanessa ihr gut vernehmlich zu, als Magda das nächste Mal von ihrem Teller aufsah, „ich war schon immer der Meinung, Kind oder Karriere, nicht beides so halb –“
„Ich hab weder ein halbes Kind noch eine halbe Karriere!“, warf Magda hitzig ein.
„– lieber gar keine Mutter als eine schlechte Mutter, anders als du.“
In Magdas Ohren rauschte es. Wortlos drehte sie sich um und ging hinaus, was bedeutete, dass sie irgendwann aufgestanden sein musste. Raus. Einfach raus. Stimmengewirr um sie herum. Nicht wichtig. Nicht hinhören, wenn sie nicht die Beherrschung verlieren wollte. Nur raus hier. Laute Stimmen, jemand rief ihr nach. Nach ihr? Wohl kaum. Rausgehen. Rieten die das nicht immer in diesen „Wie überlebt man die Festtage mit der Familie?“-Artikeln auf diversen Webportalen? Wenn der Streit zu schlimm wird, einfach mal rausgehen? Auch wenn da zugegebenermaßen nichts davon gestanden hatte, die Schuhe in die Hand zu nehmen und sich Mantel und Handtasche unter den Arm zu klemmen. Hauptsache, raus hier. Sie zog die Haustür hinter sich ins Schloss, fühlte vagen Stolz, dass sie sich genug beherrschte, um sie nicht einfach zuzuknallen. Eisige Luft schlug ihr entgegen, als sie nach draußen trat. Magda spürte es kaum. Auf dem Treppenabsatz hockte sie sich hin, schlüpfte in ihre Schuhe, nahm sich nicht die Zeit, auch den Mantel anzuziehen. Hauptsache, weg hier. Wie betäubt fragte sie sich, was sie eigentlich mit ihrer Gabel gemacht hatte, aber sie hatte sie nicht mehr in der Hand, also …
Nur weg, weg, weg. Mit großen Schritten eilte sie zu ihrem Kombi. Rief ihr jemand nach? Sie war sich nicht sicher. Auch egal. Einsteigen. Den Mantel auf den Beifahrersitz werfen; die Handtasche landete irgendwo im Fußraum. „Wenn die Stimmung zu hitzig wird, verändern Sie die Situation, indem Sie den Raum verlassen.“ Magda fuhr los.
*
An der nächsten Straßenecke klingelte ihr Handy. Ohne anzuhalten fischte – wollte Magda es aus der Tasche fischen, fand es aber nicht. Hä? Wo hab ich denn …? Einen Beinahe-Unfall später fiel ihr ein, dass sie es in der anderen Hosentasche hatte. Sie hielt am Straßenrand, zog mit zitternden Fingern das Telefon heraus. „Murot ruft an“, wurde angezeigt und Magda gestattete sich ein erleichtertes Seufzen, ehe sie das Gespräch annahm.
„Wächter? Tut mir leid, Sie am Heiligabend zu stören, aber ich brauche Sie wirklich ganz dringend –“
„Danke, dass Sie anrufen.“
Einen Moment herrschte Stille am anderen Ende der Leitung und sie sah ihn förmlich vor sich, wie er hektisch überlegte. „Ah“, machte er dann, „ist der Anruf nicht mehr nötig?“
„Doch“, antwortete sie, wollte auf einmal nur noch nicht alleine sein, „bitte legen Sie nicht auf.“ Es war ihr egal, wie erbärmlich-verzweifelt das klang. Für heute Abend war sie schon am tiefsten Punkt angekommen.
„Lief’s nicht so?“, erkundigte er sich etwas hilflos.
Magda starrte auf die roten Rücklichter eines Autos, das gerade an ihr vorbeiraste. So rot wie die hübschen klassischen Kugeln am Weihnachtsbaum zuhause. Zuhause. Was war das eigentlich? Gänsebraten, Selleriesuppe und das Gefühl, nicht gut genug zu sein für diese Familie? Erinnerung an früher, Hoffnung, anknüpfen zu können an glücklichere Zeiten? Auch wenn sie nicht wusste, wann diese glücklicheren Zeiten gewesen sein sollten? Immer wieder aufs Neue sich das antun, hinfahren, alles runterschlucken, was ihr an den Kopf geworfen wurde, weil es eben Weihnachten in der Familie war und das eben dazugehörte. Wer wusste schon, wie viele gemeinsame Weihnachten es noch geben würde? War das Grund genug, um sich das immer wieder anzutun? „Familie eben“, brachte sie hervor. „Wie immer, eigentlich.“ Und weil sie die Stille um sie herum und das Schreien in ihrem Kopf nicht mehr aushielt, fragte sie: „Darf ich ins Büro kommen? Bitte?“
„Natürlich“, antwortete er sanft, „Sie brauchen nicht zu fragen.“
*
Ich muss mit Manfred reden, dachte sie zum wiederholten Male, als auf den LKA-Parkplatz fuhr. Ob wir nicht doch nächstes Jahr einfach zusammen die Feiertage verbringen können, müssen ja nicht feiern, wenn er nicht will, aber einfach zusammensein … Aber sich einzugestehen, wie sehr sie ihn vermisste, tat auch weh und dass sie nach all den Jahren es mittlerweile – oder einfach gerade jetzt – scheiße fand, dass er darauf beharrte, jegliche Festtage getrennt zu verbringen, war keine schöne Erkenntnis. Aber immerhin war das etwas, wo noch Hoffnung bestand. Wenn er wieder da war und sie sich wiedersahen, konnte sie ihn darauf ansprechen und ihm sagen, dass sie seine „Keine gemeinsamen Feiertage“-Regel gerne aufweichen wollte … Scheiße, eigentlich brauchte sie gerade ihn, brauchte die Sicherheit, die er ihr gab, den Trost, den er ihr schenkte. Aber er war ja nicht da. Und wenn er den Freiraum brauchte, dann ließ sie ihn ihm eben. Nicht nachdenken. Nicht darüber nachdenken, nicht über ihre Familie oder über den Abend nachdenken. Entschlossen stieg sie aus. Die Arbeit wartete.
*
Im Büro brannte noch Licht, ganz, wie sie erwartet hatte, nicht das kalte Oberlicht, sondern das warme Licht von Murots Schreibtischlampe. Unweigerlich beschleunigte sie ihre Schritte. Das hier war Zuhause, so erbärmlich es auch war, hier gehörte sie hin, hier wollte sie sein. Durch die Glasscheibe sah sie ihn an seinem Schreibtisch sitzen, eine grau gewordene Gestalt, die Magda daran erinnerte, dass die letzten Jahre mit ihm auch selten ein Vergnügen gewesen waren. Aber er war da. Er war Familie, er war Zuhause. Und er akzeptierte sie als den Menschen, der sie war.
Er sah auf, als sie ohne anzuklopfen hereinkam. Stand auf und kam zu ihr herüber, musterte sie einen kurzen Augenblick lang und sie wusste, er sah ihr an, dass sie geweint hatte. „Ich hab Essen, Alkohol und Akten von ungelösten Fällen“, sagte er und wirkte auf einmal verunsichert, „was davon brauchen Sie als Erstes?“
Und Magda konnte nicht anders, als einfach ehrlich zu antworten: „Sie. Und den Alkohol.“
*
Einige Zeit später saßen sie beide zusammen an ihrem Schreibtisch, genossen den Nachtisch von Murots eigentlich nur für eine Person gedachten Heiligabend-Menüs (in der Mikrowelle heißgemachtes Fischfilet, Instant-Kartoffelbrei aus dem Becher und tatsächlich selbst gemachten Bohnensalat, den Murot in einer Tupperdose aus seiner Aktentasche hervorzauberte) und tranken Glühwein, den sie vorsichtig im Wasserkocher erhitzten. Was vermutlich zu interessanten Kaffeeerlebnissen in nächster Zeit führen würde, aber das war heute eher Nebensache. Murot hatte mit Magdas Einverständnis das Radio angeschaltet und nach einigem Suchen tatsächlich einen Sender gefunden, der erträgliche Weihnachtsmusik spielte. Er fragte nicht nach, was sie heute Abend so zur Verzweiflung getrieben hatte (vielleicht konnte er es sich auch denken, immerhin kannte er sie), aber er schien tatsächlich über die Maßen bemüht, nett zu ihr zu sein. Es erinnerte Magda an früher. Es irritierte sie. Es war wie ein Echo aus einer längst vergangenen Zeit und sie hatte heute doch schon so viel versucht, Vergangenem nachzujagen … Magda löffelte den Rest ihres Fruchtcocktails aus ihrem Kaffeebecher, der in Ermangelung von Dessertschalen herhalten musste, und schüttelte die düsteren Gedanken ab. Immerhin war heute Weihnachten.
*
„‘Heilige drei Typen‘? Ich bitte Sie, das waren Könige!“, widersprach Magda lachend, trank ihre Tasse aus. Es war mitten in der Nacht, sie saßen im Büro, waren inzwischen bei der letzten Flasche ihrer gesamten Weinvorräte angekommen und sie konnte sich nicht erinnern, wann sie sich das letzte Mal so entspannt in der Arbeit gefühlt hatte.
„Waren sie ganz bestimmt nicht“, widersprach Murot, holte den Wasserkocher-Weinerhitzer. „Das waren einfach nur Sterndeuter.“
„Hallo? Es heißt ‚Dreikönigstag‘, nicht ‚Dreisterndeutertag‘!“
„Warum sollten sich Könige auf den Weg machen, um die Geburt eines neuen Königs zu feiern?“, erwiderte er, schenkte ihr nach. „Das ergibt doch keinen Sinn.“
„Natürlich macht das Sinn“, widersprach Magda, nahm sich noch einen von den Lebkuchen, die sie im Büro als Nervennahrung gelagert hatten, „das waren weltliche Könige und sie suchen halt den neugeborenen himmlischen König. Der ist keine Konkurrenz für sie und Herodes hat das einfach nur nicht kapiert.“
Murot starrte sie einen Moment lang an, dann lehnte er sich zurück und blickte einen Moment ins Leere. „Ich wünschte, ich könnte meinen Vater fragen, was er von dieser Erklärung hält“, sagte er dann nachdenklich. „Mir kommt es trotzdem –“
Das Klingeln seines Handys unterbrach ihn. Sie zuckten beide zusammen. Irritiert stand Murot auf, ging zu seinem Schreibtisch und zog sein Handy aus der Tasche seines Jacketts, das er über seine Stuhllehne gehängt hatte. Stirnrunzelnd sah er aufs Display. „Es ist Valerie“, sagte er dann.
„Oh.“ Mehr fiel Magda gerade nicht ein.
„Sind Sie da oder soll ich Sie verleugnen?“
„Für Vally bin ich da“, antwortete sie, auch auf die Gefahr hin, dass sie es womöglich bereuen würde.
Er nickte, nahm den Anruf an. „Murot“, meldete er sich. „Ja, sie ist bei mir im Büro“, bestätigte er dann, „ja, es geht ihr gut … ja, ich richte es ihr aus. Frohe Weihnachten.“ Er legte auf, ließ das Telefon sinken. „Sie meint, Sie sollten mal auf ihr Handy sehen“, sagte er dann an Magda gewandt.
Dunkel erinnerte Magda sich, dass sie ihr Smartphone vorhin nach dem Telefonat mit Murot ausgeschaltet hatte. Mit einem unguten Gefühl schaltete sie es wieder ein. Sah die siebenundzwanzig Nachrichten, die Valerie ihr in der Zwischenzeit geschrieben hatte, die komplette Evolution von ‚WTF, was war los?‘ über ‚Ey, warum hast du nicht auf mich gewartet? Ich fahr jetzt mit dem Zug nach Frankfurt‘ hin zu besorgtem ‚Mom, ich mach mir Sorgen, bitte MELDE DICH MAL!!!‘ und einem abschließenden ‚WO BIST DU??? Ich sitze hier vor der Wohnungstür und alles ist dunkel. MOM, WO BIST DU???‘.
„Oh.“ Magda atmete tief durch. „Ich glaube, ich sollte sie wohl mal anrufen“, hörte sie sich sagen, auch wenn ihr einziger Gedanke gerade war, dass Valerie ihr nachgefahren war, dass sie nicht bei ihren Großeltern und ihrer Tante Vanessa geblieben war, sondern dass sie sich tatsächlich den weiten Weg mit den Öffis angetan hatte, um bei ihr, Magda zu sein …
„Tun Sie das“, antwortete Murot warm, „darf ich mich in der Zwischenzeit um ein Taxi für Sie nach Hause kümmern?“
Magda zögerte kurz, nickte dann heftig. „Danke.“ Sie deutete auf den Tisch, die Teller vom Weihnachtsessen, den Wasserkocher, die leeren Flaschen. „Für alles hier.“
Er lächelte, sein knappes Lächeln, bei dem er nur kurz den linken Mundwinkel hob. „Keine Ursache“, sagte er dann, „ich fand’s ganz schön.“ Mit großen Schritten ging er zur Tür, wandte sich noch einmal zu ihr um, während sie noch ihr Handy fest umklammert hielt und sich geistig auf den Anruf vorbereitete. „Und frohe Weihnachten, Wächter.“
