Chapter Text
Bob bückte sich, um die letzte, einzelne Sportsocke der Saison vom Boden der Hütte aufzuheben. Dass ein mit Staubflusen paniertes, alles andere als frisch anmutendes Kleidungsstück ihm mal ein wehmütiges Lächeln entlocken würde, hätte er vor seiner Zeit in Camp Arrow auch niemandem geglaubt. Mit spitzen Fingern deponierte er die Socke auf dem kleinen Häufchen von Fundsachen, das er auf dem schmalen Tisch unter dem Fenster angelegt hatte.
Die Hände in die Hüften gestemmt, wandte er sich noch einmal dem Schlafsaal zu. Die Hütte wieder so leer wie bei seiner Ankunft im Camp zu sehen, fühlte sich mehr als nur ein wenig merkwürdig an. Und doch war ja immer klar gewesen, dass dieser Tag irgendwann kommen würde. Gestern Nachmittag waren die Kids abgereist; das Gepäck hatte sich, umgekehrt wie zu Beginn des Camps, nach ihnen heute Morgen auf die Reise gemacht. Hütte 4 C war nun nicht viel mehr als vier Wände, ein Dach und ein Haufen Stockbetten, die darauf warteten, in gut zehn Monaten eine neue Gruppe Jugendlicher zu beherbergen und ihnen einen sicheren Ort in einem Sommer voller Abenteuer und neuer Erfahrungen zu bieten.
Bob seufzte einmal leise und erinnerte sich selbst daran, dass es okay war, ein bisschen melancholisch zu sein, solange er sich nicht in dem Gefühl verlor. Schwerer noch als den Kids Lebwohl zu sagen, war es gewesen, sich von Lee zu verabschieden. Der war vor zwei Stunden von seinem Freund Benny abgeholt worden, mit dem er noch eine Woche an der kalifornischen Nordküste Urlaub machen würde, bevor sie nach San Francisco zurückkehrten, wo sie beide studierten.
San Francisco war nur ein paar Stunden Fahrt von LA entfernt, sodass es zumindest nicht übermäßig schwierig wäre, sich ab und an mal zu treffen. Aber Bob wusste zu gut, wie die Dinge oft liefen — das Semester fing an und ehe man sich versah, war es Weihnachten, obwohl man noch nicht einmal das Gefühl hatte, wieder richtig auf dem Campus angekommen zu sein. Trotzdem hatte er sich fest vorgenommen, zumindest virtuell mit Lee in Kontakt zu bleiben. Nicht nur um wieder gut zu machen, wie viel er in ihren ersten Wochen im Camp dann doch vor ihm verschwiegen hatte, sondern weil er Lee wirklich vermissen würde.
Doch nun war es auch für ihn erst einmal Zeit, den Weg nach Hause anzutreten. Ein letztes Mal fuhr er gedankenverloren mit der Hand an der oberen Hälfte des Stockbetts, das Liam und Aaron bewohnt hatten entlang, spürte im Holz die Einkerbung, die entstanden war, als die Jungs vor zwei Wochen auf die grandiose Idee gekommen waren, ihre selbstgebaute Steinschleuder im Inneren der Hütte zu testen, bevor sie sie mit nach draußen nahmen.
„Na dann”, murmelte er und wandte sich von dem leeren Raum ab, bevor er noch vollends sentimental wurde.
Als sein Blick auf die Silhouette, die sich im Türrahmen gegen das helle Sonnenlicht draußen abzeichnete, fiel, zuckte er vor Überraschung kurz zusammen.
Mit einem zufriedenen Lächeln angesichts seiner Reaktion trat Darcy über die Schwelle ins Innere der Hütte. Manche Dinge änderten sich eben nie. So wie auch ihr heißgeliebtes Klemmbrett, das locker in ihrer Armbeuge ruhte.
„Bereit zur Abnahme?”
Bob ließ noch ein letztes Mal den Blick schweifen, bevor er sie anlächelte und mit den Schultern zuckte. „Schätze schon.”
???
Draußen auf den Verandastufen hörte er mit halbem Ohr zu, wie Darcy drinnen der Reinigungscrew, die eingetroffen war, als sie gerade mit der Abnahme fertig gewesen waren, ein paar Arbeitsaufträge gab. Die Holzstufen fühlten sich warm unter seinen Oberschenkeln an und er erlaubte sich, noch ein wenig durch die Erinnerungen zu driften, die er mit diesem ganz speziellen Ort verband. Hauptsächlich waren das natürlich Erinnerungen an Peter. Peter, dem er diesen Sommer auf eine Weise näher gekommen war, die er sich zuvor nie erträumt hätte.
Als Darcy sich schließlich neben ihm auf den Stufen niederließ, hatte sie ihr Klemmbrett ausnahmsweise mal zur Seite gelegt. Gemeinsam blickten sie auf die Reihen mehr oder weniger identischer Hütten, die sich vor ihnen erstreckten.
„Und, was steht bei dir jetzt an?”, fragte Bob schließlich in die — keineswegs unangenehme — Stille zwischen ihnen.
„Heute und morgen erst einmal noch ein riesiger Berg Abrechnungen”, antwortete sie, wirkte darüber aber nicht so zerknirscht, wie die meisten Menschen es vielleicht gewesen wären. „Danach fahre ich mit Darren hoch nach Seattle. Er will unbedingt, dass ich seine Mom und seinen Bruder kennenlerne.”
Bob musste unwillkürlich lachen. „Kommt es mir nur so vor, oder bereitet dir das deutlich mehr Unbehagen, als der Papierberg, den du in den nächsten 48 Stunden bewältigen musst?”
Darcy sah ihn hinter ihrem Brillengestell mit zusammengekniffenen Augen an, musste dann aber auch grinsen. Mit der Schulter stieß sie ihn an. „Tu mal nicht so, als ob sowas für dich kein Albtraum wäre.”
Mit einem gespielt empörten Luftschnappen legte Bob sich eine Hand auf die Brust. „Also entschuldige mal, ich bin die Art Schwiegersohn, von dem die meisten Eltern nur träumen können.”
Darcy musterte ihn kurz. „Weißt du was? Das glaube ich dir sogar.”
„Sag ich doch.” Bob grinste zufrieden. „Grüß Darrens Bruder von mir, wenn ihr dort seid. Ihm und seiner Leidenschaft für halsbrecherische Stunts auf dem Skateboard hab ich diesen Job schließlich erst zu verdanken.”
Diesen Job und so viel mehr.
Für ein paar Augenblicke saßen sie wieder still nebeneinander.
„Und, bist du nächstes Jahr wieder dabei?”
Darcys Frage traf Bob unvermittelt. Er kratzte mit dem Fingernagel an einem Tropfen getrockneter Farbe, der es auf mysteriöse Weise auf die Holzdielen der Veranda geschafft hatte. „Ich— Ich weiß nicht, ehrlich gesagt. Ich hätte angenommen, dass das Chaos, das ich dieses Jahr angerichtet habe, vielleicht allen gereicht hat.”
Darcy sah ihn mit hochgezogenen Brauen an. „Gutes Personal ist schwer zu finden, weißt du. Da drücken wir schon einmal ein Auge zu, wenn es um einen gewissen Hang zu dramatischen Aktionen geht.”
Bob lachte etwas beschämt über die Formulierung, während ihm gleichzeitig ganz leicht ums Herz wurde bei dem, was Darcy ihm auf diese Weise mitteilte. Wenn er wollte, dann wäre er auch nächstes Jahr hier wieder willkommen. „Ich überleg’s mir. Danke, Darcy. Für alles.”
Sie legte ihm die Hand auf die Schulter, als sie aufstand. „Keine Ursache, Andrews. Aber du weißt ja: Es erfolgt keine Einstellung—”
„—ohne vollständig ausgefüllten Personalbogen. Ich weiß und ich gelobe Besserung.”
„Das hört man gern.”
Sie grinsten einander noch für einen Moment an. Schließlich machte Darcy kehrt und verschwand mit einem letzten Winken ihres Klemmbretts zwischen den anderen Hütten.
Bob sah ihr nach, bevor auch er sich von den Verandastufen hochdrückte. Er blickte nicht mehr zurück, als er sich auf die Suche nach Peter machte.
???
Die Sonne, die durch die Scheiben ins Innere von Jeffreys Bus schien, brachte Bob dazu, seine Augen von der gigantischen Stadt, der sich langsam um sie herum entfaltete, loszureißen und den Blick zu senken. Peter anzuschauen, der mit dem Kopf in Bobs Schoß lag und zufrieden vor sich hindöste, war eigentlich sowieso viel schöner.
Nach LA zurückzukehren, war eine Erfahrung, die man mit allen Sinnen machte. Abgesehen von der tiefstehenden Sonne, die ein orangerotes Spektakel über dem Ozean, den man am Horizont erahnen konnte, veranstaltete, veränderte sich auch die Geräuschkulisse um sie herum, je näher sie der Stadt kamen. Nach Wochen, in denen der einzige Lärm jener gewesen war, den die Kids täglich veranstaltet hatten, waren die Motorengeräusche, das häufige Hupen und die diversen Baustellen, die sie passierten, mehr als befremdlich. Durch die Scheibe, die Jeffrey auf der Fahrerseite heruntergekurbelt hatte, driftete eine Mischung aus Abgasen, Essensgerüchen und — leider viel zu subtil — dem Duft des Pazifiks zu ihnen hinein, die abstoßend hätte sein sollen und doch gleichzeitig irgendwie aufregend war.
Noch vor ein paar Wochen hätte Bob gedacht, die Rückkehr nach Los Angeles würde ihn mit Grauen erfüllen. Grauen, dass nun alles direkt dort weitergehen würde, wo es aufgehört hatte. Und während ein gewisser Teil von ihm mit einer gewissen Unruhe daran dachte, dass ihm im nächsten Semester wahrscheinlich einige schwierige Entscheidungen bevorstanden, gab es da auch einen anderen Teil. Ein Teil, der sich darauf freute, sein Leben neu zu ordnen. Mit Peter an seiner Seite.
Was, wenn es nach Peter ging, offensichtlich schon bei der Rückfahrt in Jeffreys Bus begann. Als sie am frühen Nachmittag schließlich aus dem Camp aufgebrochen waren, war Peter wie selbstverständlich hinter Bob auf die Rückbank geklettert. Die neue Sitzverteilung war von Jeffrey mit einem Augenbrauenzucken quittiert worden.
„Na, dann spiele ich wohl den Chauffeur für euch Turteltäubchen, hm?”
Sein zufriedenes Lächeln war Bob im Rückspiegel dabei aber nicht entgangen.
Zufriedenes Lächeln und entspannte, belanglose Gespräche, mit denen sie sich die Fahrtzeit vertrieben, hin oder her, ließ Jeffrey es sich dennoch nicht nehmen, bei ihrer Ankunft am UCLA Campus so ruckartig auf die Bremse zu treten, dass Peter prompt von Bobs Schoß rollte und unsanft im Fußraum vor der Sitzbank landete.
„Hey, sag mal, spinnst du?”
Der zweite Detektiv rappelte sich auf und rieb sich mit der Hand den Hinterkopf. Jeffrey lachte nur.
„Selbst ist schuld, wer sich nicht anschnallt. Und jetzt raus mit euch, ich hab noch ein Date und gedenke nicht, dazu auch nur eine Minute zu spät zu kommen.”
Peter grummelte noch ein wenig vor sich hin, machte sich aber daran, seine langen Gliedmaßen zu entwirren und aus dem Bus zu klettern. Beim Aussteigen klopfte er Jeffrey noch kurz auf die Schulter. „Grüß Gabriel von mir. Wir sehen uns alle nächstes Wochenende beim Surfen?”
„Worauf du wetten kannst, Shaw. Der See ist ja ganz nett, aber die Wellen hab ich echt vermisst.”
Bob machte sich daran, Peter nach draußen zu folgen, hielt dann aber noch einmal inne. Im Rückspiegel fing er Jeffreys fragenden Blick auf.
„Ich—äh—wollte mich noch bei dir bedanken”, brachte er hervor, auch wenn er sich dabei ein bisschen dämlich vorkam. Er hätte schließlich Wochen Zeit gehabt, das loszuwerden, hatte es aber irgendwie immer noch ein bisschen hinausgezögert. „Nicht nur, weil du mir mehr als einmal geholfen hast in den letzten Wochen. Auch weil du mir zwischendurch mal den Kopf gewaschen hast. Das hab ich damals echt gebraucht, auch wenn ich es dir vielleicht nicht richtig zeigen konnte.”
„Keine Ursache.” Jeffrey lächelte. Einfach so, unbeschwert, als ob Bob nicht jahrelang ein ziemlicher Idiot in seiner Gegenwart gewesen wäre. Er nickte mit dem Kopf nach draußen, wo Peter bereits dabei war, ihre Sachen auszuladen. „Hat ja immerhin was genützt.”
Bob folgte seinem Blick, lächelte sanft. „Das hat es in der Tat.”
Er wollte schon aussteigen, als Jeffrey ihn noch einmal zurückhielt. „Und, Bob? Ich hoffe, bei solchen Treffen wie dem nächstes Wochenende bist du ab jetzt auch ab und an mal dabei. Und nicht jedes Mal auf mysteriöse Weise verhindert.”
Bob rieb sich den Nacken. Ganz unbemerkt war seine blöde Eifersucht auf Jeffrey während der letzten Jahre dann eben doch nicht geblieben. „Äh, ja. Ich schätze, das lässt sich einrichten.”
„Cool.” Jeffrey grinste und lehnte sich aus dem Fenster, um nach Peter zu sehen. „Alles bereit?”
Peter schlug die Kofferraumklappe zu. „Alles draußen!”
Jeffrey ließ den Motor an, während Bob zu Peter auf den Gehsteig kletterte und die Schiebetür hinter sich zuzog. Gemeinsam sahen sie Jeffrey nach, der sich mit einem letzten Winken wieder in den fließenden Verkehr einordnete. Schon bald war der knallige Bus nur noch ein kleiner, bunter Fleck zwischen den vielen moderneren Autos in ihren blassen Metallic-Tönen.
Peter stupste Bob mit der Schulter an. „Wollen wir?”
Bob brummte zustimmend und schulterte seinen Rucksack. Langsam machten sie sich auf den Weg über den Campus in Richtung der Wohnheime. Es war ein schönes Gefühl, immer wieder Peters Hand im Laufen zu streifen und nicht mehr, wie noch vor knapp zwei Monaten, jedes Mal die Sorge haben zu müssen, dass das vielleicht zu viel Nähe für eine normale Freundschaft sein könnte. Trotzdem wurde mit jedem Schritt Bobs Herz ein bisschen schwerer.
Im Camp hatten sie zwar nie so richtig viel Zeit am Stück für Zweisamkeit gehabt, aber dennoch hatten die regelmäßigen Abläufe dafür gesorgt, dass sie eigentlich immer voneinander wussten, wo der andere war. Sich nicht einmal verabreden mussten, um sich spätestens nach ein paar Stunden dann doch wieder über den Weg zu laufen. Wie würde das sein, in verschiedenen Wohnheimen, mit unterschiedlichen Freundeskreisen und Studiengängen, die sie in der Regel an ganz unterschiedliche Enden des Campus führten?
Bis sie die Weggabelung, an der ihre Wege sich logischerweise trennen würden, erreicht hatten, war Bob dermaßen gefangen in seinen Vorstellungen, auf welche vielfältigen Weisen seine Beziehung zu Peter scheitern könnte, dass er die Frage, die er eigentlich hatte stellen wollten, nicht mehr über die Lippen brachte. Die, ob sie einander später noch sehen würden, um die neu gewonnene Privatsphäre auszukosten.
„Und, wie wirst du deinen ersten freien Abend verbringen?”, fragte er stattdessen.
„Hm, der wird wahrscheinlich nicht besonders lang werden”, gab Peter zur Antwort. „Der Coach will alle, die schon wieder da sind, morgen ganz früh zu einer Trainingseinheit im Sportzentrum sehen.”
Klar. Jetzt wo Peter wieder zurück war, musste er natürlich seinen Trainingsplan priorisieren. Ihn zu fragen, ob er nicht doch noch zu Bob kommen wollte, wäre egoistisch gewesen. Schließlich brauchte Peter seinen Schlaf, um fit zu sein.
„Okay”, sagte Bob deshalb und verlagerte das Gewicht des Rucksacks auf seinem Rücken. „Dann trainier nicht zu hart.”
Peter grinste. „Nur so hart, wie nötig.”
Für einen Moment schauten sie einander an und irgendwie war es unangenehmer als sonst. Dann machte Peter einen halben Schritt nach vorn und beugte sich zu Bob, um ihm einen Kuss zu geben. Eher ein Schmatzer, der so schnell vorbei war, dass Bob nicht einmal Gelegenheit hatte, ihn so richtig zu erwidern, bevor Peter sich wieder aufgerichtet hatte.
Mit zur Seite geneigtem Kopf lächelte Peter sanft. „Meldest du dich?”
„Klar.”
Hilflos sah Bob dabei zu, wie Peter zwei, drei Schritte rückwärts lief, bevor er sich schließlich umdrehte und mit seiner großen Reisetasche auf der Schulter den gepflasterten Weg zu seinem Wohnblock entlangging. Mit seiner Unterlippe zwischen den Zähnen, um sich davon abzuhalten, Peter doch noch einmal nachzurufen, machte auch Bob kehrt und zwang seine Füße, sich in Bewegung zu setzen.
Alles war okay. Peter war nicht aus der Welt und vielleicht brauchten sie einfach beide noch ein wenig Zeit, sich an die neue Situation zu gewöhnen. Was leider nichts an dem akuten Gefühl von Sehnsucht änderte, das schwer auf seine Brust drückte.
???
Selbst ein großer Trekkingrucksack gab leider nur so viel an Gepäck her und als Bob auch die letzten Kleinigkeiten übertrieben ordentlich verstaut hatte und auf die Uhr sah, stellte er mit einem tiefen Seufzen fest, das gerade einmal eine gute Stunde vergangen war, seit er sich von Peter auf so unfassbar unfähige Weise verabschiedet hatte.
Sein Blick fiel auf sein Handy, das auf seinem Nachttisch am Ladegerät hing. Peter hatte ja gesagt, er solle sich melden. . . Aber damit hatte er sicherlich nicht gemeint, dass sie es nicht einmal ein paar Stunden ohne einander aushalten konnten. Damit, dass Bob so ein übertrieben anhänglicher Trottel war, konnte er schließlich nicht rechnen.
Mit einem frustrierten Schnauben pfefferte Bob den an seinem Dilemma vollständig unschuldigen Rucksack unten in seinen Kleiderschrank und knallte die Tür zu. Er ließ sich auf sein Bett fallen und starrte an die Decke.
Welcome home.
Er rollte den Kopf zur Seite und sah schon wieder zu seinem Nachttisch. Genervt von sich selbst griff er schließlich doch nach seinem Handy, stöpselte das Ladekabel aus und entsperrte sein Display. An seinem Chat mit Peter scrollte er geflissentlich vorbei, öffnete stattdessen den mit Maddie.
Ich sollte gegen 7 am Campus ankommen. Du?, hatte sie ihm um die Mittagszeit geschrieben.
Bob überprüfte noch einmal die Uhrzeit. Viertel nach Sechs. In Maddies Gesellschaft würde er sich vielleicht wenigstens nicht wie ein hoffnungsloser Idiot vorkommen.
Komm rüber, wenn du ausgepackt hast , hatte er schon getippt, aber noch nicht abgeschickt, als es an der Tür klopfte.
In einer flüssigen Bewegung stand er vom Bett auf und ging die drei Schritte, die nötig waren, um sein kleines Zimmer zu durchqueren. Er riss die Tür auf.
„Das ging ja—”
Er verstummte, als er sah, dass draußen gar nicht wie erwartet Maddie, sondern Peter stand. Peter, mit einem leicht verschämten Lächeln auf den Lippen und einem Bob nicht unbekannten Stoffbeutel über der Schulter.
„Hi, ähm—” Peter kratzte sich am Hinterkopf. „Hattest du jemand anderes erwartet?”
„Nein”, sagte Bob, viel zu schnell, und verzog das Gesicht. „Also, ja, Maddie, aber eigentlich erst viel später.”
„Ah, okay.” Peter trat ein wenig auf der Stelle. „Kann ich dann reinkommen?”
Bob riss sich aus seiner Starre. Das hier war schließlich genau das, was er sich gewünscht hatte. „Klar!” Er machte einen Schritt zur Seite, ließ Peter an sich vorbei ins Zimmer gehen. Als die Tür ins Schloss gefallen war, drehte er sich zu Peter um. „Willst du—”
Vielleicht was trinken , hatte er eigentlich fragen wollen, kam aber nicht so weit, weil Peter ihn gegen die geschlossene Tür schob und stürmisch küsste.
Die Türklinke drückte Bob in den Rücken, doch er würde den Teufel tun und Peter bei dem unterbrechen, was er hier offensichtlich vorhatte — Bob um das letzte bisschen Verstand zu bringen. Stattdessen neigte er den Kopf in den Nacken und begegnete Peters Lippen enthusiastisch mit seinen eigenen, während seine Hände sich Halt suchend um Peters starke Oberarme legten.
Ihre aktuelle Position — Peter der Länge nach gegen ihn gepresst und eins von Peters Knien zwischen seinen — ließ eigentlich keinen Zweifel daran, worum es hier ging. Als Peter ihren Kuss unterbrach, um keuchend Luft zu holen, fragte Bob trotzdem mit einem leisen Lachen, „Was wird das denn?”
Peter, die Wangen knallrot, kaute auf seiner Unterlippe. „Naja, ich dachte wir — na, du weißt schon, weil im Camp da. . .”
„Da?” Bob wusste natürlich ganz genau, worauf Peter hinauswollte. Die Situation im Camp hatte dazu geführt, dass sie ihre frische Beziehung nicht annähernd so ausleben konnten, wie sie das unter normalen Umständen vielleicht getan hätten. Die wenigen Momente, in denen sie dann doch von ihren Gefühlen füreinander überkommen worden waren, hatten mit eher unbequemen, gehetzten und irgendwie auch nie ganz zufriedenstellenden Zusammentreffen geendet. Das musste nun nicht mehr so sein. Trotzdem machte es Bob ein klein wenig Spaß, seinen Freund ein bisschen zappeln zu lassen. Während Peter, was körperliche Nähe anging, zwar alles andere als schüchtern war, wurde er, wenn es darum ging, seinen Wunsch nach Intimität auch in Worte zu fassen, immer auf sehr niedliche Weise ganz nervös.
So auch jetzt.
Peter fuhr mit den Händen Bobs Oberarme vom Ellenbogen zur Schulter auf und ab, sah ihm dabei nicht in die Augen. „Ich dachte, wir könnten. . . Ach, du weißt schon.”
„Hm.” Bob legte den Kopf schief, beschloss, Erbarmen mit Peter zu haben. Sein Blick fiel auf den Stoffbeutel, der von Peters Schulter gerutscht war und nun mit verhedderten Henkeln an seiner Armbeuge baumelte. „Zeig mal her, was hast du denn da mitgebracht?”
Falls möglich, wurde Peter noch röter, als Bob sich genug von ihm löste, um nach der Tasche zu greifen, ließ ihn aber trotzdem machen. Bobs Augenbrauen schossen nach oben, als er den Inhalt des Beutels sah.
„Hast du ‘nen Drugstore ausgeraubt?”, fragte er lachend, während sich bei der Vorstellung, was Peter wohl durch den Kopf gegangen war, als er ausgerechnet diese Artikel ausgewählt hatte, in seinem Unterbauch vor Aufregung etwas zusammenzog.
„Hm, ja, ich, äh. . . also ich hab ja noch nie mit—und ich wusste nicht, was du. . .”
Offensichtlich frustriert über sich selbst gab Peter ein Seufzen von sich und ließ den Kopf hängen. Mit einem sanften Lächeln auf den Lippen schloss Bob die kleine Lücke zwischen ihnen und stupste mit seiner Nase an Peters, um ihn dazu zu bringen, ihn wieder anzusehen.
„Das ist auch vollkommen okay”, versicherte er ihm. „Und wir müssen überhaupt nichts tun, mit dem du dich nicht wohlfühlst.”
„Aber ich will ja!”, platzte es aus Peter heraus. Er schaute sich kurz um, wahrscheinlich weil er sich daran erinnerte, wie dünn die Wände in den Wohnheimen waren. „Ich will das ja. . .alles”, wiederholte er etwas leiser. „Ich weiß nur nicht, wie ich es sagen soll. Und was—was du von mir erwartest.”
Bob schaute seinen Freund ruhig an. Den ganzen Sommer über — und eigentlich schon viel länger — hatte Peter alle von Bobs Launen mitgetragen, hatte seine Unsicherheiten mit einer Feinfühligkeit behandelt, die selbst Bob überrascht hatte. Jetzt war er dran, Peter ein sicheres Gefühl zu geben.
„Okay”, sagte er abermals. “Wie wäre es, wenn wir erst einmal hier anfangen—”, er neigte den Kopf, um Peter an einer sehr empfindsamen Stelle gleich unterhalb seines Kiefers zu küssen, „und dann vielleicht hier weitermachen.”
Mit sanftem Druck gegen Peters Brust brachte er ihn dazu, die wenigen Schritte bis zu Bobs Bett rückwärts zu gehen. Peter setzte sich automatisch, als er mit den Waden gegen den Bettrahmen stieß. Als hätte er noch nie woanders hingehört, folgte Bob ihm in einer einzigen flüssigen Bewegung, sodass er auf Peters Schoß saß, ein Knie links und eines rechts von dessen Hüfte. Den Stoffbeutel deponierte er auf seinem Nachttisch. „Und ob wir die Sachen da drin heute noch brauchen, sehen wir dann. In Ordnung?”
Peter blickte zu ihm auf, so voller Vertrauen und Zuneigung, dass Bob direkt einen Kloß in seinem Hals spürte. „In Ordnung”, nickte Peter.
Bevor er vollends gefühlsduselig werden konnte, legte Bob seine Hände an Peters Wangen und packte alles in seinen Kuss, was sie einander jetzt vielleicht (noch) nicht sagen konnten. Und Peter — Peter, der schob sich ihm entgegen, ließ nicht einmal den Hauch eines Zweifels aufkommen, dass er jemals irgendwo anders sein wollte, als genau hier, in Bobs Armen.
???
Am Horizont war nur noch ein Hauch von Violett zu sehen und Bob hatte längst seine Schreibtischlampe angeknipst, als Peter sich auf dem Bett rührte. Über den Rand seines Laptops sah Bob Peter amüsiert dabei zu, wie er sich genüsslich streckte und zwischen den Laken räkelte, so als würde es sich dabei um reine Seide und nicht um die günstigste, farblich noch halbwegs erträgliche Bettwäsche aus dem Discounter am Rande des Campus handeln.
„Na, ausgeschlafen?”
Peter hielt in seiner Bewegung inne und zog ein schmollendes Gesicht. „Also, wenn ich hier drüben nicht ganz alleine wäre, würde ich jetzt sicherlich noch weiterhin friedlich schlummern.” Er richtete einen bedeutungsschweren Blick auf das leere Stück Matratze neben sich.
Obwohl Bob es nach den Handlungen der letzte zwei Stunden ganz bestimmt nicht mehr nötig hatte, kratzte Peters eindeutige Einladung doch stark an seiner Selbstbeherrschung. Trotzdem blieb er auf seinem Schreibtischstuhl. „Auch wenn ich dich am liebsten die ganze Nacht in meinem Bett hätte, bin ich mir ein bisschen unsicher, wie viel erholsamen Schlaf wir auf der kleinen Matratze bekommen würden. Musst du nicht morgen ganz früh zum Training?”
„Ach, hör mir auf mit Training”, grummelte Peter. Ganz so egal war es ihm dann aber offensichtlich doch nicht, denn nachdem er sich noch ein paar Mal gestreckt hatte, schlüpfte er unter der Decke hervor und machte sich auf die Suche nach seiner Kleidung. Bob wollte schon den Blick abwenden, als er sich daran erinnerte, dass er das ja jetzt durfte. Peter anschmachten, seinen unfassbar attraktiven, durchtrainierten, wunderschönen Freund.
Als Peter seine Boxershorts und sein T-Shirt erfolgreich lokalisiert und angezogen hatte, richtete er sich auf und bemerkte Bobs Blick. „Na, gefällt dir, was du siehst?”, fragte er mit einem breiten Grinsen.
Mit warmen Wangen richtete Bob die Augen wieder auf seinen Bildschirm. „Ist ganz nett”, murmelte er.
Peter lachte. „Ich zeig dir gleich ganz nett.” Wie von Bob insgeheim gehofft, durchquerte Peter schnellen Schritts das Zimmer und ließ sich auf Bobs Schoß fallen.
Mit einem theatralischen Stöhnen ließ Bob den Kopf hinten über die Stuhllehne hängen. „Das nenne ich nicht ‚nett’, das nenne ich ‚schwer’.”
„Hey.” Peter piekste Bob in die Rippen. Er lehnte sich näher zu ihm um ihn zu küssen. Bob lächelte gegen seine Lippen, musste ein bisschen mit sich selbst kämpfen, um den Kuss im unschuldigen Bereich zu lassen. Aufgrund ihres Größenunterschieds war es ungewohnt, Peter auf seinem Schoß zu haben, fühlte sich aber gleichzeitig unfassbar schön an.
Bob schlang die Arme um Peters Taille und legte seine Stirn auf dessen Schulter ab. „Ob man laut der Wohnheimssatzung die Betten wohl gegen breitere austauschen darf?”
„Hm.” Peter drückte einen Kuss auf Bobs Scheitel. „Ich glaub nicht, dass man von den Möbeln welche entfernen darf.”
„Wahrscheinlich nicht”, seufzte Bob. Er hob den Kopf und grinste Peter an. „Stellt sich die Frage, wer das denn merken sollte.”
Peter erwiderte sein Grinsen mit einem „Die stellt sich in der Tat”, und küsste ihn.
Als sie sich voneinander lösten, wanderte Peters Blick zu Bobs Laptop. „Was tippst du denn da eigentlich so eifrig? Doch noch eine Last-Minute-Hausarbeit?"
„Nee.” Bob griff um Peter herum und klappte den Laptop zu. Unfertige Entwürfe hatte er noch nie gern mit anderen geteilt — in der Regel musste er sich seine eigenen Worte mindestens zehn Mal durchlesen und sie auf die Goldwaage legen, bevor er dazu bereit war. Jetzt war es jedoch ein anderer Grund, aus dem er zögerte und sich auf die Unterlippe biss. „Es ist der Essay für den Schreibworkshop.”
Eine tiefe Furche bildete sich zwischen Peters Brauen. „Ähm, ist der nicht schon vorbei?”
„Ja, schon längst.” Bob zuckte mit den Schultern. „Keine Ahnung. Ich dachte einfach, es würde sich gut anfühlen, ihn trotzdem noch zu schreiben. Nur so, ohne Zwang.”
Er sagte es, als wäre es bloß eine Nebensächlichkeit. Nichts, dass ihm großartig etwas bedeutete. Trotzdem atmete er erleichtert aus, als Peters Arm um seine Schulter ihn noch ein wenig fester drückte und er spürte, wie Peter seine Wange auf seinen Locken ablegte.
„Das ist eine tolle Idee. Und wenn du magst, würde ich ihn unglaublich gerne lesen, wenn er fertig ist.”
Ein Teil von Bob wollte erwidern, dass er sich noch gar nicht sicher war, ob er den Aufsatz auch wirklich zu Ende schreiben würde und, wenn ja, ob es dann nicht bloß absoluter Müll wäre. Er schluckte die Worte herunter. „Danke, Peterchen”, sagte er stattdessen.
Peter hob den Kopf und löste sich weit genug aus der Umarmung, um Bob anzulächeln. „Jederzeit, Bobbele.”
Sie sahen einander lange genug an, dass Bob spüren konnte, wie sich die Luft um sie herum stetig mit Spannung auflud. Noch ein paar Momente länger, und er hätte keine Verantwortung mehr dafür übernehmen können, wenn Peter am Ende doch völlig übermüdet zum morgigen Training kam. Sein Blick hatte gerade noch genug Zeit, zu Peters Lippen zu wandern, bevor es drei Mal schnell hintereinander an der Tür klopfte.
Peter zuckte etwas erschrocken zusammen, als die Tür dann auch direkt von außen geöffnet wurde. Bob seufzte bloß resigniert und drehte den Kopf, um Maddie anzuschauen, als sie das Zimmer betrat. Mit der flachen linken Hand hielt sie sich die Augen zu.
„Kann ich reinkommen oder besteht die Gefahr, dass ich dann für immer traumatisiert bin?”
Bob hielt Peter auf seinem Schoß fest, als der Anstalten machte, aufzustehen. „Wenn du befürchtest, dass das der Fall sein könnte”, sagte er zu Maddie, „wie wäre es dann damit, draußen zu warten, bis du reingebeten wirst?”
Maddie hielt inne, als wäre ihr diese Idee tatsächlich noch nie gekommen. Sie linste durch ihre Finger, schien die Situation als harmlos genug zu bewerten, und nahm die Hand dann ganz runter.
Während Bob eine mentale Notiz machte, seine Tür in Zukunft öfter mal abzuschließen, zuckte Maddie mit den Schultern und ließ sich auf sein Bett fallen. „Naja, ist ja nochmal gut gegangen." Sie lehnte sich zur Seite und zog Peters blaue Basketballshorts unter sich hervor. Mit einem Grinsen warf sie Peter das Kleidungsstück zu. „Hi Peter.”
Peter fing die Shorts mit hochroten Ohren auf. „Äh, hi Maddie. Hattest du, ähm, einen schönen Sommer?”
„Hmm, nicht so schön wie deiner vermutlich”, gab sie zurück und wenn Bob sich nicht so gefreut hätte, sie zu sehen, hätte er ihr jetzt wahrscheinlich den Hals umgedreht.
Weil er Peter nicht weiter in Verlegenheit bringen wollte, hielt er ihn dieses Mal nicht auf, als er sich von seinem Schoß erhob und schnell die Hose überstreifte. „Ich. . . sollte dann sowieso mal los. Training morgen, und so”, sagte Peter und rieb sich den Hinterkopf. Die Haare, die vorher schon ziemlich verwuschelt gewesen waren, standen ihm nun noch mehr zu Berge.
„Okay.” Mit einem warnenden Blick zu Maddie, den diese mit Engelsmiene erwiderte, begleitete Bob Peter noch zur Tür. An den Rahmen gelehnt, sah er zu, wie Peter sich die Sneaker überstreifte. „Sollen wir morgen Nachmittag zusammen Justus vom Busbahnhof abholen? Er freut sich bestimmt.”
Ganz leicht. Die Frage auszusprechen war ganz leicht, denn das hier war ja immer noch Peter und es gab keinen Grund, dass sie sich nicht wie zwei ganz normale Menschen für den nächsten Tag verabreden konnten.
Trotzdem verspürte Bob so etwas wie Erleichterung, als Peter ohne zu zögern lächelte. „Klar. Holst du mich vom Training ab? Gegen eins sollten wir fertig sein. Dann können wir noch was essen gemeinsam.”
„Klingt gut.” Klingt wunderbar und fantastisch normal.
Und weil das hier alles so viel einfacher war, als es sich noch vor ein paar Stunden angefühlt hatte, trat Bob noch den halben Schritt nach draußen zu Peter und küsste ihn. Er spürte Peter unter seinen Lippen lächeln, seufzte zufrieden, als Peter ihn noch ein wenig fester an sich zog. So ging das, mit dem Verabschieden.
„Ich kann euch nicht sehen, aber ich kann euch hören!”, tönte Maddies Stimme von drinnen.
Grinsend lösten sie sich voneinander.
„Ciao, Maddie!”, rief Peter. Leiser, sanfter, sagte er zu Bob: „Bis morgen?”
Der nickte bestimmt. „Bis morgen. Schlaf gut.”
Mit einem Lächeln, für das Maddie ihm wahrscheinlich gegen den Oberarm geboxt hätte, sah Bob Peter noch nach, wie er den Gang hinunter und dann durch die Tür ins Treppenhaus verschwand. Erst als sie ins Schloss gefallen war, kehrte er in sein Zimmer zurück.
Er lehnte sich von innen gegen die Tür, sein Blick streng. Maddie erwiderte ihn dermaßen unbeeindruckt, dass Bob es nicht lange aushielt. Lachend ließ er sich neben ihr aufs Bett fallen.
Sie schmunzelte. „Schön, dich so glücklich zu sehen. Ist ja schon eine Weile her.” Sie runzelte die Stirn. „Bloß irgendwie beschleicht mich das Gefühl, dass das mit dem Anschmachten eher immer schlimmer als besser wird."
Bob verschränkte die Arme hinter dem Kopf und grinste die Zimmerdecke an. „Da könntest du recht haben”, gab er zurück.
Und fühlte sich kein bisschen schlecht dabei.